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Robert Fischer / Peter Körte / Georg Seeßlen

Quentin Tarantino

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Redaktionelle Mitarbeit:

Bildsequenzen:

Fotonachweis:

Umschlagfotos: Uma Thurman und Daryl Hannah in KILL BILL VOL. 2 (DVD-Prints);

© Photographs: original copyright holders

Ein herzliches Dankeschön an:

E-Book/EPUB-Ausgabe

Inhalt

»Am Ende kommt eine Pastetenfüllung heraus«

Ein Interview mit Quentin Tarantino über digitale Bilder, Entenpressen, Blutbäder und KILL BILL

Von Peter Körte

Geheimnisse des Tarantinoversums

Manie, Manierismus und das Quäntchen Quentin – Wege vom Videoladen zum Weltruhm

Von Peter Körte

Zärtliche Zerstörungen

Anmerkungen zur Musik in Tarantinos Filmen

Von Georg Seeßlen

Die Filme

Von Robert Fischer

RESERVOIR DOGS

TRUE ROMANCE

NATURAL BORN KILLERS

PULP FICTION

FOUR FOOMS

FROM DUSK TILL DAWN

JACKIE BROWN

KILL BILL

Kommentierte Filmografie

Von Robert Fischer

Bibliografie

Über die Autoren

»Am Ende kommt eine Pastetenfüllung heraus«

Ein Interview mit Quentin Tarantino über digitale Bilder, Entenpressen, Blutbäder und KILL BILL

Von Peter Körte

PK: Sind Sie sehr nervös, nachdem Sie sechs Jahre lang keinen Film mehr gemacht haben und nun gleich mit zwei Filmen innerhalb von wenigen Monaten ins Kino kommen?

QT: Überhaupt nicht. Es ist aufregend, den Film überall zu zeigen, die Reaktionen des Publikums zu erleben. Ich habe mich ein Jahr lang auf diese Phase gefreut.

PK: Und die hohen Erwartungen, die alle an KILL BILL haben, belasten Sie die überhaupt nicht?

QT: Um Gottes Willen, nein, der Rummel und das ganze Drumherum sind toll. Wenn du ein heißer Rockstar bist und die Leute auf deine nächste Platte warten, brauchst du diese Aufregung, die Vorfreude. Wenn die nicht wäre, würde auch ein Teil meines Enthusiasmus verschwinden.

PK: Nervt es Sie nicht, dass in allen möglichen Artikeln Freunde von Ihnen zitiert werden, die lieber anonym bleiben wollen und die so freimütig Auskunft über Ihre Gemütsverfassung geben?

QT: Anonyme Freunde, das ist für mich ein Widerspruch in sich, es sind bloß Feiglinge. Lassen Sie es mich ein für allemal klarstellen: Ich hatte keinen writer’s block. Ich habe sechs Jahre lang nichts getan als zu schreiben. Mein Problem war nicht der writer’s block, ich konnte meine Sachen bloß nicht zu Ende bringen, weil ich so viel geschrieben habe. Ich bin jetzt in einer ähnlichen Position wie damals, als ich RESERVOIR DOGS gedreht habe, da hatte ich schon NATURAL BORN KILLERS, TRUE ROMANCE und FROM DUSK TILL DAWN geschrieben und kurz danach PULP FICTION. Und alle wurden gemacht. Die Leute haben mich gefragt: »Hey, wo warst du bloß die ganze Zeit?« Ich habe mich einfach zurückgezogen und ohne Ende geschrieben. Ich war nicht auf dem Radar. Jetzt habe ich jede Menge Stoff, und ich bin zurück im Geschäft.

PK: Haben Sie zwischendurch mal überlegt, statt eines Drehbuchs einen Roman zu schreiben? Sie haben ja Ihre Erzählweise häufig mit literarischen Vorbildern wie Salinger oder Charles Willeford verglichen.

QT: Bei jedem Drehbuch, das ich geschrieben habe, bin ich irgendwann an den Punkt gekommen, an dem ich mir gesagt habe: »Lass’ es stecken, mach’ vielleicht einen Roman daraus, es ist zu sperrig.« Aber dann bin ich um diese Klippe herumgekommen, und das Buch war fertig. Meine Drehbücher sind keine Blaupausen für den Film, den ich dann drehe. Wenn ich schreibe, geht es ganz klar um das geschriebene Wort auf der Seite. Drehbücher sollen geschrieben und gelesen werden, Filme sollen gedreht und gesehen werden.

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»Was ist falsch an girl power?«: Tarantino und Uma Thurman ...

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... drehen KILL BILL

PK: Sie haben Ihr Verfahren in KILL BILL mit einer Entenpresse verglichen, einem Küchengerät, mit dem man die Knochen zerquetscht, um mit dem Mark und dem Saft den Geschmack des Essens anzureichern.

QT: Stimmt. Nur dass ich in meine Entenpresse Spaghetti-Western ’reintue, einen billigen italienischen Thriller, Pop-Samurai-Filme, hier noch einen Monsterfilm, dort noch einen Rachefilm, und dann presse ich das aus. Am Ende kommt so eine kleine Pastetenfüllung heraus, und ich hoffe, der Geschmack bereichert den Film. Ich werfe einfach weg, was ich nicht mag, und behalte, was mir gefällt.

PK: Ihre Zutaten sind für ein normales Kinopublikum allerdings ziemlich exotisch. Ist es nicht mitunter schwierig, sowohl die Bedürfnisse des großen Publikums als auch die Fans von Kung-Fu-Filmen, Spaghettiwestern oder Samuraifilmen zufrieden zu stellen?

QT: Es ist nicht schwer, es ist einfach das, was ich tue, worin ich lebe, was ich zu bieten habe. Wenn ich in einer Szene sechs Anspielungen habe, fühlt sich ein Fan des asiatischen Kinos wie im Himmel, er hätte sich nie träumen lassen, so etwas in einem Hollywoodfilm serviert zu bekommen – ich im Übrigen auch nicht, deswegen habe ich es ja auch gemacht. Ich wollte etwas zeigen, was man noch nie gesehen hat. Wenn der Fan KILL BILL sieht, hat er festen Boden unter den Füßen. Jemand, der nicht mit diesem Kino aufgewachsen und dem es nicht zu einer Art zweiten Natur geworden ist, hängt ein wenig in der Luft. Alles ist neu, er hat keinen Kontext. Aber wenn es funktioniert, bekomme ich auch dieses Publikum mit beiden Beinen auf den Boden.

PK: An der Frage nach der Gewalt kommt man bei Ihren Filmen nie vorbei. In KILL BILL gilt das nicht nur für die Bilder; die Tonspur ist im Vergleich zu Ihren früheren Filmen auch ziemlich drastisch ...

QT: ... Sie machen besser auch die Ohren zu [lacht]. KILL BILL ist mein erster richtiger Actionfilm, und ich wollte auch den Ton so intensiv wie möglich haben, aber nicht so wie in den großen Hollywoodfilmen. Der Sound von TERMINATOR 3 [2003; R: Jonathan Mostow] beispielsweise ist sehr gut, aber ich halte es eher mit der alten Schule, ich liebe so krude Musikschnitte wie in alten Kung-Fu-Filmen. Viele Regisseure sehen sich ja ihren Film nach der Premiere nie wieder an, weil sie es nicht ertragen, ihn unter schlechteren als optimalen Bedingungen zu sehen. Ich bin in Kinos groß geworden, wo weit weniger als optimale Bedingungen herrschten. Ich hatte keine Ahnung, wie beschissen die Tonanlage war. Die Filme waren trotzdem gut. Ich bin da nicht so empfindlich. Selbst im allerbesten Kino sollte der allerbeste Sound bei der Erfahrung des Films nicht mehr als zusätzliche fünf Prozent ausmachen. Ich habe Kung-Fu-Filme in Raubkopien der fünften oder sechsten Generation gesehen, sie klangen beschissen, es sah manchmal aus wie im Aquarium, und es war immer noch ein cooler Film, der meine Welt erschütterte. Aber davon abgesehen, arbeite ich mit den besten Tontechnikern in der Branche.

PK: Für computergenerierte Spezialeffekte, wie sie in den großen erfolgreichen Hollywoodproduktionen dominieren, haben Sie aber wenig übrig, hört man. Warum?

QT: Ich sehe durchaus, was sie bewirken können. Als ich TITANIC [1997; R: James Cameron] sah, hat es mich umgehauen. Auch bei der Flugzeugszene in FIGHT CLUB [1999; R: David Fincher] oder bei manchen Dingen in TERMINATOR 3. Aber die sind ja auch ’rausgegangen, haben haarsträubende Actionszenen gedreht und dann computergenerierte Bilder hinzugefügt, weil alles andere lebensgefährlich gewesen wäre. Aber sie sind eben ’rausgegangen und haben die Kameras laufen lassen. Was mich wirklich krank macht, sind Regisseure, die zu faul sind. Ich sehe Szenen, die im Computer gemacht werden, die man früher einfach im wirklichen Leben gemacht hat. Wenn Larry Fishburne in MATRIX RELOADED [2003; R: Andy & Larry Wachowski] auf dem Lastwagen kämpft – ich bin übrigens ein großer Fan von THE MATRIX [1999; R: Andy & Larry Wachowski] –, ist das nicht wirklich. Oder wenn sie auf dem Freeway in die Gegenrichtung fahren. Zur Hölle, das hat man in Filmen wie TO LIVE AND DIE IN L.A. [Leben und Sterben in L.A.; 1985; R: William Friedkin] wirklich gemacht, ohne Bilder aus dem Computer. Warum soll ich dann von diesem ganzen Computer-Bullshit beeindruckt sein? Ich hatte bei KILL BILL ein klares Motto: Wenn wir es nicht in der Kamera machen können, können wir es gar nicht machen.

PK: Seit Ang Lees CROUCHING TIGER, HIDDEN DRAGON [Tiger & Dragon; 2000] gibt es in fast allen großen Actionfilmen von MATRIX RELOADED bis CHARLIES ANGELS: FULL THROTTLE [Drei Engel für Charlie – Volle Power; 2003; R: McG] gewaltige Schwertkämpferballette, am liebsten noch mit weiblichen Heldinnen. Haben Sie keine Sorge, dass das Publikum dieser Einlagen inzwischen ein wenig müde ist?

QT: Was ist falsch an girl power? Es ist ja auch nur ein Umgehen der Konventionen in der westlichen Kinotradition. Wenn man nach Asien schaut, ist nicht so sehr die Heldin als die Rächerin eine vertraute Figur. Und KILL BILL ist zuallererst ein Rachefilm. Gut, Uma Thurman ist sehr sympathisch, aber zugleich ist sie monströs, sie ist auf einer selbstmörderischen Mission, man soll auch ein bisschen Angst vor ihr haben. Aber ich sehe meinen Film gar nicht in Konkurrenz zu anderen. KILL BILL steht auf ganz eigenen Füßen. Ich mochte CROUCHING TIGER, HIDDEN DRAGON mit der Zeit und hatte Spaß beim ersten Teil von CHARLIES ANGELS [Drei Engel für Charlie; 2000; R: McG], den zweiten habe ich nicht gesehen. Ich habe auch jede Menge Schlachtszenen in den letzten Jahren gesehen. Sie kamen mir überraschend blutleer vor, als ob es auf nichts ankommt. Die beiden neuen STAR WARS-Filme [1999/2002; R: George Lucas] haben diese gewaltigen Schlachtszenen – aber wer kämpft denn da? Roboter! Man hat das ganze Gemetzel, aber es ist sicher, es ist ein Gemetzel für Jugendliche in Begleitung von Erziehungsberechtigten. Selbst im zweiten Teil von THE LORD OF THE RINGS [Der Herr der Ringe: Die zwei Türme; 2002; R: Peter Jackson] ist das so. Ich muss dazu sagen: Was Peter Jackson da macht, ist eines der ehrgeizigsten und erfolgreichsten Unternehmungen der Kinogeschichte. Ich war dennoch von der Schlachtszene in THE TWO TOWERS enttäuscht. Was passiert? Da kämpfen Skelette in Lumpen, nichts bedeutet etwas. Dasselbe in PIRATES OF THE CARIBBEAN [Fluch der Karibik; 2003; R: Gore Verbinski]: lauter Skelette, die da kämpfen. Auch in MATRIX RELAODED blutet keiner, es sind alles nur Computerchips. In meinem Film, da wird, kawusch, ein Arm abgehackt, das Blut spritzt. Ich glaube, selbst das prüdeste Publikum sieht, dass es um etwas geht, so verrückt es auch sein mag.

Erstabdruck in:

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.10.2003.

Geheimnisse des Tarantinoversums

Manie, Manierismus und das Quäntchen Quentin – Wege vom Videoladen zum Weltruhm

Von Peter Körte

I.

Er ist angekommen, schon lange, auch wenn er eine Weile weg war und manchmal noch immer so wirkt wie der Typ, der Ende der 80er Jahre in seinem Honda übernachten musste, weil er kein Geld hatte. Er geht noch immer, wie Jules und Vincent in PULP FICTION, mit Shorts und ausgeleiertem T-Shirt zum Frühstück, auch wenn er dann mitten unter Anzugträgern in einem jener Hotels sitzt, die im uniformen internationalen Stil eingerichtet sind, sodass man nie weiß, ob man gerade in London, Paris, Rom oder eben Berlin ist. Keine Absteigen wie in FOUR ROOMS oder wie das Safari Inn in TRUE ROMANCE. Hier herrscht das saubere Arrangement der Getränke auf den kleinen Tischchen in den immergleichen Suiten, und der Kellner serviert so lautlos Tee mit Zitrone, dass hinterher auf dem Band nichts mehr von seinem Auftritt zu hören ist. Quentin Tarantino weiß selbst nicht mehr, das wievielte Interview er in diesem Ambiente führt, wie viele Fernsehteams ihre Kameras aufgebaut haben. Er hat noch ein wenig Schminke im Gesicht von der letzten Session, und er sieht deshalb noch blasser aus als ohnehin schon. Quentin Tarantino ist erkältet. Er ist heiser. So heiser, dass seine Stimme bisweilen versagt oder kiekst wie im Stimmbruch, wenn er wild gestikulierend zu erläutern versucht, wie er eine Szene in KILL BILL choreografiert hat. »Ich habe zwei Wochen lang nur geredet«, krächzt er. Es gibt ja auch viel zu fragen, wenn einer nach sechs Jahren wieder einen Film gemacht hat. Nicht irgendeiner, sondern der Mann, der als Regisseur zum Popstar geworden ist, lange nachdem das Autorenkino einen seiner vielen Tode gestorben ist, der so berühmt geworden ist, wie er es sich als Junge gewünscht hatte. Alle wollen mit ihm reden. Einzeln oder in sogenannten »Round Tables«, bei denen fünf, sechs deutsche Journalisten mit ihm am Tisch sitzen; so haben die Briten gesessen, so werden die Italiener sitzen, die Franzosen und Australier.

Quentin Tarantino ist auf Weltreise mit KILL BILL. Er trägt eine Smokinghose, dazu schwarze Sneakers – es sind leider nicht die, welche er für den Mann von Vanity Fair trug, mit dem Aufdruck »Kill« auf dem einen und »Bill« auf dem anderen Schuh. Das T-Shirt ist blau und verwaschen, ein Doughnut-Hersteller hat es irgendwann mal bedruckt. Darüber trägt er eine leichte Lederjacke, der Schriftzug »Kill Bill« ist auf die Brust gestickt, auf dem Rücken finden sich blutrote Ornamente, die vage China-Assoziationen auslösen. Zum Glück gehört die Jacke nicht zu den Merchandising-Artikeln des Films. Wie er da so freundlich und entspannt hereinkommt, ist es einem fast peinlich, wenn man ihm zur Begrüßung ein Buch überreicht, die dritte Auflage des Buches, dessen vierte Auflage Sie jetzt in der Hand halten. Tarantino freut sich über das Buch: Er sammle Filmbücher, auch solche in fremden Sprachen, die er nicht lesen kann. Er bedankt sich überschwänglich, und man glaubt ihm die Freude, weil man es als Autor gerne glauben möchte. Zumindest wird das Interview auf diese Weise ein wenig länger. Tarantino gönnt einem eine Zugabe, fünf Minuten. Das ist nichts, diese knappe halbe Stunde, verglichen mit der Zeit, die amerikanische Kollegen mit ihm verbringen. Allein die großen Geschichten in Vanity Fair und im New Yorker lassen erkennen, dass man sich mehrfach getroffen hat, im Restaurant, in seinem Haus, am Schneidetisch in Los Angeles, inmitten der Materialberge von KILL BILL, den die Produktionsfirma Miramax zweigeteilt hat wie mit dem großen Samuraischwert, das Uma Thurman beim Blutbad einsetzt.

Man spürt, dass Tarantino es genießt, wieder zurück zu sein, und man ahnt nach dieser halben Stunde immerhin, dass er ein begeisterungsfähiger Mensch ist. Man kann sich mühelos vorstellen, wie er sich anstecken lässt von einer Idee, wie sie seinen Enthusiasmus entzündet, und umgekehrt glaubt man gern, dass Schauspieler es lieben, mit ihm zu arbeiten, weil er sie zu begeistern versteht für das, was in seinem Kopf herumspukt. Und ein bisschen ist er immer noch der »fan who turned his fantasies into reality«, wie die Sunday Times vor Jahren schrieb. Als er am Abend zur Premiere von KILL BILL VOL. 1 im Cubix-Kino am Berliner Alexanderplatz auf die Bühne kommt, da ruft er heiser und begeistert den Namen Alfred Vohrer ins Publikum, weil in seinem Tarantinoverse auch der Regisseur der Edgar-Wallace-Filme noch eine fixe Größe ist – wo auch immer er Kopien oder Kassetten der Hexer- oder Zinkerfilme aufgetrieben haben mag. Tarantino wirkt nicht so, als habe er all das schon ungezählte Male auf der Interview-Tour zu KILL BILL erzählt – selbst wenn er natürlich mehr oder minder überall das Gleiche gesagt hat, wie man den zahlreichen gedruckten Interviews entnehmen kann. Er ist ein Profi wie seine amerikanischen Kollegen, die in denselben Hotels absteigen, ungezählte Hände schütteln und sich am Ende von den zahllosen Pressebetreuern versichern lassen, man habe die wichtigsten Medien des jeweiligen Landes dabeigehabt. Aber er spielt dieses Spiel besser.

Das Gespräch läuft so, wie man es sich als Journalist wünscht. Viel mehr lässt sich in der Zeit nicht in Erfahrung bringen. Man schüttelt sich zum Abschied die Hand, er bedankt sich noch einmal für das Buch. Beim Verlassen der Hotelsuite bleibt Quentin Tarantino dann auf einmal stehen. Er dreht sich um, grinst und fragt: »Wenn Sie alle meine Filme gesehen und darüber so viel geschrieben haben, dann sagen Sie mir doch mal, wo ich mit KILL BILL angekommen bin?« Die Frage hat man nicht erwartet; man hätte sie, wenn überhaupt, eher befürchtet und sich vielleicht eine bessere Antwort zurechtgelegt. Aber der Weg bis zur Tür ist nur sehr kurz. »Ich glaube, Sie sind einen Schritt über PULP FICTION hinaus und einen hinter JACKIE BROWN zurückgegangen. Keine Ahnung, wohin dieser Weg führt.« Vorerst hat er zu KILL BILL VOL. 2 geführt, der wiederum nicht viel an dem verändert hat, was einem zu VOL. 1 eingefallen ist. Und er führt zurück, zu JACKIE BROWN, zu PULP FICTION, zu RESERVOIR DOGS, zu den Drehbüchern, die er verkauft hat, zu den Spuren, die auf KILL BILL verweisen oder einfach in eine Sackgasse münden; zurück in die Zeit, in der Quentin Tarantino noch kein Markenname, sondern der Name eines Angestellten von Video Archives war, den außerhalb von Manhattan Beach niemand kannte.

II.

Wenn es einen magischen Ort gibt, eine Art Hexenküche der Tarantinomania, dann ist es dieser Laden namens Video Archives, der Ende 1994 schließen musste, da nach dem Umzug in ein anderes Viertel die Kunden weggeblieben waren. Man kann ihn sich vielleicht so vorstellen wie den Comic-Laden in TRUE ROMANCE, der seinem Angestellten Clarence (Christian Slater) die beste aller möglichen Welten ist. Man kann sich ausmalen, wie bei Video Archives zur Geisterstunde all die kleinen Gespenster zu tanzen beginnen. Helden aus Robert Aldrichs KISS ME DEADLY begegnen dem Silver Surfer, die Partridge Family zieht im Treck durch Rio Bravo, und Mickey und Mallory treffen Godards Außenseiterbande in Ringo Lams City on Fire. Dazu rauscht, natürlich voll aufgedreht, K-Billy’s Super Sounds of the Seventies. Kung-Fu-Filme der ersten Generation flackern auf einem winzigen Bildschirm, Sonny Chiba ist da, Seijun Suzukis Tokyo Drifter schaut vorbei, Sergio Leones The Good, the Bad and the Ugly hängen lässig am Tresen, man kann Seven Bloodstained Orchids pflücken und sich dabei wie in The House with Laughing Windows fühlen [1].

Es sind die Helden und Leitsterne einer Kindheit und Jugend, die am 27. März 1963 in Knoxville, Tennessee, begann, mit einer geradezu schicksalhaften Namensgebung: Quentin, nach Burt Reynolds’ Figur Quint in der Fernsehserie Gunsmoke (Rauchende Colts; USA 1955-75), taufte die gerade 16-jährige Mutter den Jungen. Glaubt man den Biografen, stand auch das Mädchen Quentin aus William Faulkners The Sound and the Fury Pate, einem Buch, das die Mutter während der Schwangerschaft las. Und später, als ihr Sohn berühmt geworden war, da sagte Mutter Connie: »Ich wollte, dass der Junge einen Namen hat, der groß genug ist, eine ganze Leinwand zu füllen.« Die Kindheit fiel ins anbrechende Fernsehzeitalter, das der junge Quentin in der South Bay, am Südrand von Los Angeles, erlebte, und sie ging über in eine middle class-Jugend in Kinos und vorm TV, den Kopf über Comics gebeugt, während Recorder und Radio die Hintergrundmusik lieferten.

Ein hyperaktives Kind soll Quentin Tarantino gewesen sein, mit, laut Biografen, einem IQ von 160 und verschiedenen Vätern beziehungsweise Erziehungsberechtigten, ein Schulhasser, ein Legastheniker, der in der zehnten Klasse abging, um sich unter anderem als Kartenabreißer in einem Pornokino (im Pussycat Theatre in Torrance) zu verdingen und eifrig Schauspielunterricht zu nehmen, bevor er in den Video Archives einen Job fand, der Passion und Broterwerb in idealer Weise kombinierte. Angeblich soll er zwischenzeitlich auch morgens um fünf aufgestanden sein, um am Strand von Santa Monica Hundekot wegzuräumen, damit Dolph Lundgren ein Fitnessvideo drehen konnte, oder als Headhunter in der Luftfahrtindustrie gearbeitet haben, um wenigstens an ein Telefon zu kommen. Sehr schön auch die Story, dass er schon als kleiner Junge regelmäßig Geschichten für seine Mutter schrieb, in denen sie am Ende umkam. Für eine Unterbrechung sorgte lediglich ein kurzer Gefängnisaufenthalt, weil der Movie-Maniac die Tickets fürs Falschparken nicht bezahlen konnte. Und weil er und seine Video Archives-Gang schon längst in der Kino-Galaxis zuhause waren, in den kleinen Paradiesen der Fantasie, war es nur konsequent, dass der junge Tarantino seinen Lebenslauf ein wenig fiktionalisierte. Schon früh schrieb er sich Auftritte in Jean-Luc Godards KING LEAR (1987)– weil den Film in den USA ohnehin keiner kannte – und in George Romeros KNIGHTRIDERS (Ritter auf heißen Öfen; 1980) zu – weil er einem der Biker dort vage ähnelte. Seinen realen Auftritt als Elvis-Impersonator in The Golden Girls (USA 1985-92) hielt er dagegen für nicht so erwähnenswert. Das fiktive Godard-Gastspiel fand sogar Eingang in Leonard Maltins Movie & Video Guide. »If the legend becomes fact, print the legend«, heißt das bei John Ford.

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Young Tarantino

Mittlerweile sind auch diese und andere biografischen Daten unendlich oft wiederholt worden. Wer mit 33 Jahren schon auf drei Biografien zurückblicken konnte, bei dem ist schwer zu entscheiden, was Fakten und was Fiktionen sind. Und jetzt, nachdem der Mythos vom Wunderkind verblasst ist, nachdem alle Welt sich jahrelang den Kopf darüber zerbrochen hat, was nach JACKIE BROWN kommen würde, und nun in einer Art von postmoderner Kreml-Astrologie darüber spekuliert wird, was nach den beiden Volumes von KILL BILL kommen könnte, ist das auch einigermaßen gleichgültig. Wenn man all die Interviews zu KILL BILL gelesen hat, dann kennt man zumindest einen Bruchteil der Filme, die Tarantino in den letzten 25 Jahren gesehen hat. Sollte er je ein Buch schreiben wie Truffauts Die Filme meines Lebens, würde man es gar nicht drucken können, sondern gleich auf einem halben Dutzend CD-ROMs ausliefern müssen, weil der Speicherplatz eines Buches nicht ausreicht. Für einen Cineasten oder Kinoverrückten wie Tarantino ist das ohnehin die einzig angemessene Autobiografie, da Filme der Großteil seines Leben sind.

III.

Unter den Danksagungen in Jami Bernards Quentin Tarantino. The Man and the Movies (1995), dem ersten Buch über Tarantino, findet sich auch der Mann erwähnt, »der mir 800 Seiten Quentin-Klatsch aus dem Internet runtergeladen hat«. Jami Bernard, Filmkritikerin der New York Daily News, hat mit diesem Datenberg leider gar nichts anfangen können. Das bloße Kuriosum hat ihr gereicht, noch nicht einmal das Faktum war ihr einen Hinweis wert, dass sich schon Mitte der 90er Jahre zu kaum einem Regisseur mehr Verweise im Internet fanden als zu Quentin Tarantino. Wer sich über Google, Yahoo und andere Suchmaschinen oder direkt über die Internet Movie Database auf die Suche begibt, verliert sich rasch im Gestrüpp der Links, der zahllosen Websites, die sich auch schon mal Shrine nennen. Wie auf einem elektronischen Pilgerpfad, gesäumt von kleinen Altären und anderen Weihestätten, die den Gläubigen zur Versenkung einladen, folgte man Tarantinos Spuren durchs World Wide Web. Sick or Sanctified, A God among Directors, stand da als Einladung an den Surfer. Von Tarantinos Besuch in Amsterdam im Dezember 1995 wurde ein Schnappschuss offeriert, der das Idol vor dem »world-famous Cult-Video-Store« zeigt. Tarantinomania hieß eine andere Website, Tarantinoville war auch mal eine, die inzwischen verschwunden ist, doch an ihre Stelle sind längst eine kurzlebige Tarantino Church oder die Quentin Tarantino Archives getreten. Private, ohne Sponsoren installierte Homepages, Newsgroups zu Kultfilmen und einsame Web-Bastler, die vom »Gott« und dem »Genie unserer Zeit« sprechen: Das ist das wie durch einen Meteoriteneinschlag entstandene Tarantinoverse. Natürlich ist auch dieser Titel schon an eine Website vergeben.

Erstaunlich ist nicht die Service-Funktion, die diese Websites haben. Man kann dort verlässliche Credits ermitteln, Rezensionen nachlesen, bibliografieren, sich Szenenbilder anschauen und herunterladen, man kann Querverbindungen nachgehen, kurz: viele nützliche Informationen sammeln. Zugleich aber findet man sich dort auf einem Terrain wieder, das im Halbschatten nicht nur der Filmkritik, sondern zunächst auch der gesamten Filmbranche mit ihren ausgefeilten PR- und Marketingstrategien lag. Es war ein kommerziell noch weitgehend unerschlossenes Niemandsland; heute wird bei Filmen wie der MATRIX-Trilogie (1999-2003; R: Andy und Larry Wachowski) das Internet zu einem zentralen Multiplikator. Das Faszinierende dieser kleinen Schreine ist ihre ständige Proliferation, welche die Kontinuität eines Rituals, den Gottesdienst eines Kults garantiert. Wie die Rezeption einen Kult erzeugt, das lässt sich hier nicht erfahren. Der Kult ist die unbezweifelbare Voraussetzung, und sie lässt sich jederzeit erschließen aus der Selbstverständlichkeit, mit der Tarantinos Filme (und Drehbücher) hier als eine eigene Welt vor dem »Besucher« auftauchen.

Der Ton, die Rede- und Schreibweisen, das dialogische Wechselspiel der Chats haben mit der gewohnten Sprache von Fanzines, Filmillustrierten oder Filmkritik relativ wenig gemein. Es ist eine Obsession, die vielen einzelnen Usern zur Gemeinschaft in Tarantino verhilft, und die Fragen, die man sich dort stellt, erinnern bisweilen an die umständlichen scholastischen Disputationen, wie viele Engel wohl auf einem Stecknadelkopf Platz hätten. Was man hier kennen lernt, ist eine Art und Weise, über Kino zu reden, die sich publizistisch kaum verfügbar machen und aufbereiten lässt. Die Fans teilen eine private Passion, die Tarantinomania, nicht unähnlich Briefmarkensammlern oder Modelleisenbahnfreunden, mit dem Unterschied allerdings, dass es bis auf ein paar Text- und Bilddateien eine imaginäre Jäger- und Sammlergemeinschaft ist, ohne einen Kultplatz, an dem man physisch anwesend sein müsste, ohne einen zumindest symbolischen Kultgegenstand, der sich mit Händen greifen ließe. Dieses mäandernde Schreiben ist es, das dem Regisseur und seinen Arbeiten den Kultstatus gesichert hat, den kein Verleih und keine Kritik im Paket mit dem Produkt verkaufen können. Ein Unort aus Telefonleitungen, Modems, Bytes und digitalen Einheiten, fragiler und ungesicherter noch in seiner materiellen Existenz als Zelluloid oder Bandmaterial, nur durch die Glaubensgewissheit seiner Anhänger real und unerschütterlich geworden.

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Pendant zu den Video Archives: Clarence und sein Comic-Laden in TRUE ROMANCE

Ein milder Wahn grassiert noch immer auf diesen virtuellen Versammlungsplätzen, deren »Besucher« sich per Modem ins weiße Rauschen begeben. Die natürliche Einstellung der E-Mail-Schreiber wie der Homepage-Gestalter ist die eines modernen, medialen Pantheismus. Was immer auftaucht, welches Detail, welcher Ort, welcher Satz: Alles ist unmittelbar zu Gott, zum Schöpfer des Universums, in dem man sich bewegt, und seine Spur muss sich noch in der unscheinbarsten seiner Schöpfungen nachweisen lassen. Ein schönes Beispiel war die Mitte der 90er Jahre im Web geführte Debatte um den Inhalt von Marsellus Wallaces Koffer. Erschöpfende Kenntnis, analytisches Vermögen und spekulatives Talent flossen in die Erörterungen ein. Ob man den Koffer als MacGuffin in der Tradition Alfred Hitchcocks interpretierte – eine durchaus schlüssige Lesart –, ob man die Zahlenkombination 666 in guter Bibelexegese als Zeichen des Bösen las und zu dem Schluss kam, Marsellus habe seine Seele dem Teufel verkauft und in dem Koffer zwischengelagert, hier hatte (fast) jede Lesart eine Chance. Um das überirdisch anmutende Strahlen aus dem Koffer zu deuten – auch wenn nur eine Batterie und eine Lampe darin sein sollen –, müsste jedoch vermutlich erst ein deutscher Polit-Hinterbänkler aus Bonn kommen, um bei John Travoltas Blick in den Koffer messerscharf zu schließen, es handle sich beim Inhalt um des Scientologen Ron Hubbard Vermächtnis. Nonsens wie »Moses’ einbalsamiertes Hirn« oder ein »Royal mit Cheese« fehlten unter den Erklärungsansätzen nicht; auf Goldbarren, den Oscar, Heroin, den Heiligen Gral, die Juwelen aus dem Überfall in RESERVOIR DOGS, Judy Davis’ Kopf (aus BARTON FINK; 1991; R: Joel Coen) oder den »Apfel der Zwietracht« wiederum tippten andere Disputanten. Dass Tarantino selbst während der Dreharbeiten zum wissbegierigen Travolta gesagt haben soll, er könne sich beim Blick in den Koffer vorstellen, »whatever you like«, war den Anhängern des Kults nur Anlass zu neuen hermeneutischen Anstrengungen.

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Die Zahlenkombination lädt zu Spekulationen ein: ...

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... John Travolta mit Marsellus Wallaces Koffer

Wichtiger als Inhalt und Plausibilität der Antworten ist ihre pure Existenz. Wer sich derartige Fragen stellt, die auch um das Schicksal von Mr. Pink (Steve Buscemi) und Mr. Blue (Eddie Bunker), die Todesursache von Mr. Brown (Tarantino) oder die finale Schussreihenfolge beim sogenannten Mexican stand-off in RESERVOIR DOGS kreisen können, ist in einer Weise von der Tarantinomania befallen, die alle Vorstellungen von geordneter Werk-Rezeption über den Haufen wirft. Das Tarantinoverse bestätigt sich in einem Akt der kontinuierlichen Schöpfung: als eine eigene Welt, deren Lesbarkeit verbürgt wird durchs ständig erweiterte Netz der Querverbindungen, der geheimen Bezüge und überraschenden Resonanzen. Updates versorgen mit den neuesten Gerüchten über künftige Projekte des Meisters oder präsentieren frische Fundstücke, die womöglich eine weitere Debatte auslösen. Den Auswahlkriterien und Zwängen einer Redaktion enthoben, gedeihen hier einträchtig nebeneinander ernsthafte Berichte, Spekulationen und Erörterungen, wie sie sonst allenfalls in organisierten Fanclubs oder Fachzirkeln und in privaten Debatten zu finden sind. In dem besonderen Typus von Öffentlichkeit, den das Internet verkörpert, befinden sich Öffentliches und Privates in einer schwer entwirrbaren Gemengelage, die für den Tarantino-Kult der ideale Humus ist. Man kann deshalb behaupten, dass Quentin Tarantinos Filme zu den ersten Produkten in Kino, Literatur oder bildender Kunst gehören, deren Rezeption ohne das Internet kaum angemessen nachzuvollziehen wäre. Heute, da sich in der westlichen Welt zumindest kaum ein Arbeitsplatz mehr ohne Internet-Zugang vorstellen lässt, ist das fast schon eine triviale Festellung geworden.

Problematischer, aber reizvoll ist noch immer der Umkehrschluss: dass der Mann und sein Werk im Web so extensiv rezipiert worden sind, weil sie mehr als andere Filmemacher und deren Arbeit dazu geeignet sind; weil ihre Erzählweise sie mit dem Einklinken an nahezu beliebigen Stellen, mit dem Fortschreiben von Texten und mit dem Hin- und Herspringen von Cursor und Maus kompatibel macht. Was Tarantinos Filme (und Drehbücher) wie maßgeschneidert für die Kommunikationsweise des Webs erscheinen lässt, ist eine Analogie. Man könnte sie die Hypertext-Struktur der Filme nennen: als ließe sich irgendeine Film-Szene oder auch nur ein Detail in einer Szene anklicken, und man verschwände in den vielen Links. So entsteht ein wuchernder, ausfransender Text, in dem sich die verschiedenen Passagen miteinander verknäulen, wo Worte, Sätze, Szenen, Kleidungsstücke oder unscheinbare Requisiten sich bei Berührung durch den Cursor auf einmal wie URLs, wie Internet-Adressen, lesen, die beim Anklicken den Blick auf eine neue Website freigeben und sich in Klartext verwandeln. Für jene, die in Tarantino eine postmoderne Wiederkehr des Autorenkinos sehen, ist das bitter: Dass der Film als Hypertext auch die Abschaffung des traditionellen Autors voraussetzt, daran ist nicht vorbeizukommen.

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»Let’s go to work«: Quentin Tarantino, Harvey Keitel, Steve Buscemi, Tim Roth und Eddie Bunker in RESERVOIR DOGS ...

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... und das Vorbild, CITY ON FIRE

Man könnte beispielsweise die bekannte Szene aus RESERVOIR DOGS nehmen, den Auftritt der Männer, die »zur Arbeit gehen«, und geriete direkt in Ringo Lams CITY ON FIRE. Mit dem Übergang in das Lagerhaus, mit den Sprüngen auf der Zeitachse wäre man in Stanley Kubricks THE KILLING. Die Cleaner-Szene mit Harvey Keitel aus PULP FICTION ließe sich im Vergleich mit Luc Bessons NIKITA oder John Badhams THE ASSASSIN / POINT OF NO RETURN studieren, und die Tatsache, dass Mr. Blonde (Michael Madsen) sich als Toothpick Vic Vega erweist, ist ein Link, der aus RESERVOIR DOGS mitten in PULP FICTION, zu Vincent Vega (John Travolta) führt. Oder man betrachtet die Szene aus PULP FICTION, in der Bruce Willis und Ving Rhames von den beiden Rednecks gefangen gehalten werden. Ein Mausklick, und es erschienen Bilder der homosexuellen Vergewaltigung aus John Boormans DELIVERANCE, und weitere Links führten zur Singin’ in the Rain-Folterszene aus Kubricks A CLOCKWORK ORANGE, ins TEXAS CHAINSAW MASSACRE oder zu THE UNTOUCHABLES [2].

Dieses Spiel ließe sich endlos fortsetzen, weit über das Maß bewusster Anleihen hinaus, die Tarantino gemacht hat (eine Liste in der Newsgroup alt.fan.tarantino nannte, nach eigenem Bekunden nur vorläufig, nicht weniger als 40 »beliehene« Filme von Terrence Malicks BADLANDS [1973] bis Jean-Pierre Melvilles LE SAMOURAÏ / Der eiskalte Engel; 1967). Nicht nur RESERVOIR DOGS, auch PULP FICTION und, mit Abstrichen, TRUE ROMANCE oder NATURAL BORN KILLERS sind eine Textur aus lauter verborgenen Links, aus vernetzten Bildern, und jede Sequenz ist der virtuelle Vorhof zu einer neuen Homepage, möge die nun Jean-Pierre Melville oder dem Silver Surfer, Sergio Leone, Brian De Palma, Madonna und John Woo gewidmet sein oder »nur« dem nächsten Tarantino-Film. In KILL BILL hat Tarantino dieses Verfahren auf die Spitze getrieben und es als dezidierter Verächter von Computer und Internet lieber mit einer »Entenpresse« verglichen, einem Küchengerät, mit dem man die Knochen zerquetscht, um mit dem Mark und Saft den Geschmack des Entengerichts anzureichern. Kung-Fu-Filme, japanische Gangsterfilme, billige italienische Thriller, Spaghettiwestern und Monsterfilme sind durch diese Presse gegangen, und die Anspielungen umfassen mehr Filme, als selbst ein hauptberuflicher Filmkritiker im Laufe eines ganzen Lebens gesehen haben wird. Nicht weniger als 71 »movie connections« von THE WINGS OF EAGLES (1957; R: John Ford) über SHURAYUKIHIME (1973; R: Toshiya Fujita) bis zu BATORU ROWAIARU (2000, R: Kinji Fukasaku) listet die Internet Movie Database für KILL BILL VOL. 1 auf, und man darf davon ausgehen, dass das längst nicht alles ist. Lauter Bilder von Bildern sind da, nichts als Fleisch vom Fleische des Kinos, um es einmal so biblisch auszudrücken. Und es gehört dabei zum Stilprinzip, dass die bewussten Anleihen und gezielten Hommagen vermutlich noch überboten werden von den unbewussten Zitaten. »In Quentin Tarantino’s mind, the projector never stops running«, hieß die Unterzeile zu dem Porträt, das Larissa MacFarquhar zum Start von KILL BILL für den New Yorker geschrieben hat.

Klar, auch zahlreiche andere Filme, die sich in ihrer kleinen Zitatenwelt eingerichtet haben, werden bei entsprechendem Zugriff durchlässig für Zitate aus der und Anspielungen auf die Filmgeschichte, denn jeder »Text« lebt von seiner »Intertextualität«. Doch nirgends sind die Anleihen, Zitate, Verweise und Assoziationen ein so integraler Bestandteil der Komposition wie in Tarantinos Filmen – was selbst die Kritiker dieses Verfahrens einräumen. Vermutlich wird es noch Jahre dauern, bis ein emsiger Doktorand alle Bezüge und Filmtitel entschlüsselt hat, die sich allein in KILL BILL finden. Wie naheliegend ein Verständnis des Tarantinoverse als Hypertext ist, das hat der Manager einer Filiale von Blockbuster Video in Michigan schon vor Jahren am praktischen Beispiel vorgeführt. Mike White lieh sich den Ringo-Lam-Film auf Video aus und verschnitt Szenen aus CITY ON FIRE mit Sequenzen aus RESERVOIR DOGS zu einem zwölfminütigen Film. Whites WHO DO YOU THINK YOURE FOOLING war als Highlight auf dem New York Underground Film Festival 1995 vorgesehen, kurz vor der Oscar-Verleihung im März. Tarantino, heißt es, habe die Idee zu schätzen gewusst, doch die Produktions- und Verleihfirma Miramax, personifiziert in den gewichtigen Weinstein-Brüdern, soll die Veranstalter unter Druck gesetzt haben. Die Vorführung wurde abgesetzt. Der Text wuchert weiter.

IV.

Orte wie Video Archives oder die virtuellen Räume der Websites sind zwar nur Tarantino-Locations zweiter Ordnung, doch man spürt an ihnen etwas vom genius loci. Wo und wie die Rezeption von Tarantinos Filmen stattfindet, ist nicht zufällig. Es hängt zusammen mit der Topografie der Filme und mit den Besonderheiten ihrer Erzählweise. PULP FICTION reflektiert in seiner Struktur und in seinem Umgang mit Schauplätzen die Quintessenz von Los Angeles – wenn es denn dergleichen gibt. »Alles in Los Angeles dreht sich um Restaurants, man trifft seine Freunde, hat Dates und geschäftliche Treffen [...]. Man kann keinen Pott zum Reinpissen haben und es sich doch leisten, zum Abhängen in einen Coffee Shop zu gehen«, hat Tarantino in seinen Anmerkungen zu Ausstattung und Sets des Films erläutert (in Sight & Sound).

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»Puzzle ohne Sinn«: ...

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... Stadtansichten von Los Angeles in PULP FICTION

Die mit dem Diner verbundene Kultur inklusive hearty breakfast, Fast Food, Pies und Muffins, den Kaffee-Refills und dem obligaten tip, dem Trinkgeld, ist eine eigene Lebenswelt, weit mehr als nur eine folkloristische Sammlung von Americana. »Die Sache ist die in Amerika ... fuck Amerika ..., in Los Angeles, dass sich das ganze soziale Leben um Restaurants dreht«, sagt Tarantino, die Diners sind »unsere Version der Pariser Cafés, wo man über Existenzialismus debattierte, bloß dass wir über New World Picture redeten und mit welcher Frau wir was anfangen könnten.« Ein Barry Levinson würde es so gewiss nicht ausdrücken, vielleicht sogar unter Hinweis auf seine Heimatstadt Baltimore widersprechen. Doch Levinsons DINER (American Diner; 1982) zeigt auf seine Weise nichts anderes: die Unverwechselbarkeit eines Ortes, an dem man mit Freunden über die wirklich wichtigen Dinge spricht und sich geborgen fühlt. Einen Lebensmittelpunkt.

Dass sich die Topografie von Los Angeles auf besondere Weise wiederfinde, ließe sich nicht nur von Tarantinos Filmen, sondern auch von Robert Altmans SHORT CUTS (1993) sagen, jenem Patchwork aus Geschichten, das seinerseits wie die lower middle class-Variante zu Lawrence Kasdans GRAND CANYON (1991) gelesen werden kann. So unterschiedlich die drei Filme sind, alle drei reagieren auf das Zentrifugale von L.A. durch eine Auflösung des eingleisigen Erzählens. Sie verzweigen sich in Episoden, in locker verknüpfte kleine Geschichten. Sie haben eine relativ geordnete Chronologie wie bei Altman, sie verfügen bei Kasdan mit dem Grand Canyon sogar über eine übergreifende Erfahrung, welche die Protagonisten zusammenführt – oder sie bilden ein Anagramm aus einer oder drei Geschichten wie bei Tarantino in RESERVOIR DOGS und PULP FICTION, der wiederum wie eine Unterwelt-Version zu SHORT CUTS wirkt. Tarantino nimmt seine halsbrecherischen »Abkürzungen« in einem Milieu, das bei Altman mit gutem Grund nicht vorkommt. Es ist Tarantinos home turf, die Parallelwelt der Kinogangster, ein künstliches Paradies mit Sinn für den schwarzen Humor gewalttätiger Rituale, nur echt mit Killern, Gaunern, Drogendealern, abgetakelten Boxern, Blut und Surfmusik. Eine hübsche kleine Koinzidenz ist übrigens, dass es sich bei dem Strip-Club aus RESERVOIR DOGS, in dem sich die Gang einmal trifft, um eine umgebaute Bar in North Hollywood handelt, die auch in SHORT CUTS als Drehort diente.

Tarantino hat die Affinität zu SHORT CUTS selbst benannt: »Es ist so, als habe man eine Story über eine Gemeinschaft von Figuren gesehen, wie NASHVILLE [1975; R: Robert Altman] oder SHORT CUTS, wo die Stories sekundär sind. Ich hab’ da eine ganz andere Herangehensweise: Die Stories sind primär, nicht sekundär, doch der Effekt ist derselbe.« Für Tarantino sind jedoch andere Quellen entscheidender, J. D. Salingers verstreute Stories um die Glass Family etwa, mit denen er die Struktur von PULP FICTION vergleicht: »Romanautoren können das tun, weil ihnen ihre Figuren gehören, sie können einen Roman schreiben und eine Hauptfigur aus einer anderen Geschichte wieder auftauchen lassen.« Aber da es zwischen Salinger, einem Tarantino-Idol, und dem Exploitation-Regisseur Mario Bava keine prinzipielle Differenz gibt, hat Tarantino auch dem Italiener seine heimliche Reverenz erwiesen. Bavas Kompendium verschiedener Horror-Stories, BLACK SABBATH (1963), war für die Konzeption von PULP FICTION so etwas wie eine Initialzündung. Nicht zuletzt deshalb dürfte eine der Heroin-Sorten, die Lance (Eric Stoltz) Vincent (John Travolta) offeriert, die Markenbezeichnung Bava tragen.

Was PULP FICTION und SHORT CUTS jenseits von Story und Figuren jedoch verbindet, ist die Haltung zu ihrem Schauplatz. Tarantino zeigt und inszeniert den Ort, an dem er aufgewachsen ist und wo er lebt: die »Stadtgalaxis« von Los Angeles, jenes »Puzzle ohne Sinn« (Mike Davis in City of Quartz, dem besten Buch über Los Angeles). Was Tarantino dabei ebenso wie Altman sichtbar macht, ist der Bodensatz, der nach Abzug aller Postkartenansichten übrig bleibt. Nie hat L.A. die einprägsame Ikonografie von New York oder San Francisco besessen, und alle Versuche, aus Mann’s Chinese Theatre am Hollywood Boulevard, den Türmen von Century City oder der bunten Pazifik-Idylle von Venice Beach ein haltbares Image zu kreieren, blieben meist ziemlich unverbindlich. Man kann das sehr schön an einem Film wie John Carpenters ESCAPE FROM L.A. (Flucht aus L.A.; 1996) sehen, der immer wieder einschlägige Straßenschilder zwischen unspezifischen Trümmerhaufen und rostige Freeway-Schilder benötigt, um die Wiedererkennbarkeit der von einem Erdbeben partiell zerstörten Stadt zu gewährleisten. Die prägnanteste, weil einzigartige Impression von Los Angeles liefert noch immer die Vogelperspektive: »Nichts reicht an einen Nachtflug über Los Angeles heran«, hat Jean Baudrillard geschrieben, in einer Hymne auf die Lichter-Landschaft, die in ihrer Ausdehnung unendlich zu sein scheint, ohne erkennbares Zentrum, ohne Ende und Anfang – wie die Geschichten von PULP FICTION.

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Die 50er »auf Heroin«: Das Jack Rabbit Slim’s

Altmans realistische Streifzüge kommen trotz ihrer Struktur der ineinandergefügten Short Stories, trotz ihrer erzählerischen Bewegung, die den Figuren und nicht einer Plot-Logik folgt, nicht ohne den Hubschrauber-Blick auf L.A. aus, so wenig wie Kasdans GRAND CANYON. Tarantino nimmt das dezentrierte urbane Gebilde namens Los Angeles als das, was es ist. In der Unbestimmtheit des in die Horizontale gewürfelten Siedlungskonglomerats, im Sammelsurium aus lauter austauschbaren Straßenecken, Freeways, gleichförmigen Hinterhöfen und back alleys entdeckt er den genius loci. Die ungezählten Diners mit ihren Plastiksitzen und den Jalousien, die das kalifornische Licht dämpfen, die Interieurs ohne besondere Zeitspezifik, in denen sich von den 50er Jahren bis heute die Stile und Epochen kreuzen, die »nuttigen Kleinbürgervillen«, die den Emigranten Brecht so anwiderten, die schäbigen 25-Dollar-Motels, die kitschigen Protzereien von Beverly Hills, die Apartmenthäuser um einen kleinen Innenhof mit Swimmingpool, ein wenig schäbig, die hellen Farben abblätternd – das ist die synkretistische Atmosphäre, in der PULP FICTION zu atmen beginnt.

Wo die klassische europäische Stadt sich »organisch« gegliedert präsentiert, da hat L.A. die Konsistenz einer hyperartifiziellen und disparaten Montage, die einen zwischen Vierteln, Stimmungen und Gebäuden so jäh wechseln lässt wie die Geschichten in PULP FICTION. Dass diese Optik sich nicht in beliebigen Ansichten erschöpft, hat mit dem eigentümlichen Anti-Realismus Tarantinos zu tun. Man braucht dafür gar nicht Baudrillards berühmten Begriff vom »Simulacrum« zu bemühen. Der Emigrant Erich Maria Remarque hat in seinem Roman Schatten im Paradies geschrieben: »Wirklichkeit und Schein vermischten sich hier so vollkommen, dass sie zu einer neuen Substanz wurden – so wie Kupfer und Messing, das aussah wie Gold.« Und genau eine solche Legierung sieht man auch auf Tarantinos Streifzügen durch Los Angeles überall schimmern.

Wie ein Emblem steht inmitten von PULP FICTION das im Studio gebaute Restaurant Jack Rabbit Slim’s. Der von David Wasco und seiner Frau Sandy gestaltete Set ist von den Googie style-Diners aus dem L.A. der 50er Jahre inspiriert, von »den 50ern auf Heroin«, wie Wasco sagt, um eine Entsprechung für Vincents Zustand zu schaffen. Ein künstlicher Ort wird zur Chiffre für die ganze Komposition des Films, für die Symbiose von Plot und Schauplatz. Es würde allerdings kaum verwundern, wenn irgendein Gastronom nach dem Erfolg von PULP FICTION auf die Idee gekommen sein sollte, sein neues Etablissement nach dem Muster des Jack Rabbit Slim’s zu gestalten, weil das Leben in L.A. schon immer lieber das Kino nachgeahmt hat als umgekehrt. The next best thing to a time machine steht programmatisch unter dem Neon-Namenszug des Restaurants: Die Plakate im Innern enthüllen die Bezüge zu Roger-Corman-Filmen, die Autos mit den eingebauten Tischen könnten aus dem Elvis-Film SPEEDWAY (1968; R: Norman Taurog) stammen, vom Douglas-Sirk-Steak und den kellnernden Marilyn-, Jimmy-Dean- oder Buddy-Holly-Lookalikes ganz zu schweigen – und schon wieder beginnt die Szenerie auszufransen, scheint der Hypertext zu wuchern.

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Der zentrale Schau- und Kampfplatz in KILL BILL VOL. 1: Das House of Blue Leaves

Aber noch dort, wo Tarantino sich weit von Los Angeles entfernt hat, wo man nicht mehr von »Heimatfilmen« aus der South Bay von L.A. reden kann, gibt es dieses Faible für Hyperwelten und virtuelle Räume. Kaum zufällig hat Tarantino einen Teil von KILL BILL im legendären Shaw Brothers Studio in Hongkong gedreht: Er hat so viele Filme gesehen, die dort produziert wurden, dass er sich geradezu verpflichtet fühlte, auch an diesem Ort zu arbeiten. In KILL BILL ist das House of Blue Leaves der Schau- und Kampfplatz, in dem der Film zu sich findet. Mitten im Raum liegt eine Bühne mit einer transparenten Tanzfläche, auf der Dinge geschehen, von denen das moderne Tanztheater eine Menge lernen könnte, weil hier eine Choreografie mit Blut, Schwert, Handkantenschlägen und Kampfsporttechniken inszeniert wird, deren Strenge an ein klassisches Ballett erinnert. Es ist der Kino-Ort für einen Showdown, der seine eigene Farbenlehre hat. Die schwarzen Anzüge der 88 Crazy Yakuza, nur komplett mit weißen Hemden und schmalen schwarzen Krawatten, heben sich von den Braun- und Grautönen des Fußbodens ab, und aus der Dunkelheit leuchtet das Bananengelb von Uma Thurmans Kampfanzug, der natürlich auch ein Zitat ist. Bruce Lee trug einen solchen Anzug in seinem letzten Film GAME OF DEATH (1978; R: Robert Clouse).

Was KILL BILL und PULP FICTION in höchster Verdichtung zeigen, hat auch in den anderen Filmen/Drehbüchern seine Spuren hinterlassen. In TRUE ROMANCE ist es ein Diner, in dem Clarence (Christian Slater) und Alabama (Patricia Arquette) sitzen, Kuchen essen und über Filme reden. Schwertkämpferfilme mit Sonny Chiba, im Dreierpack gesehen, weil es doch Clarences Geburtstag ist. Das Safari Inn, wo das frisch verheiratete Paar absteigt, das hölzerne Flachdachhäuschen von Freund Ritchie in den Hollywood Hills, die sterilen Hotelzimmer, die protzige Suite des Produzenten, in welcher der Showdown stattfindet, aber auch die Hinterhöfe, die Lagerhalle irgendwo zwischen Zäunen und Mauern, mitten in zersiedelter Gewerbelandschaft in RESERVOIR DOGS: Das sind Koordinaten einer Topografie, die klare Orientierungspunkte verweigert. Diese Flatlands von Los Angeles hat mit ähnlicher Präzision und scharfem Blick für architektonische Eigentümlichkeiten vielleicht nur noch William Friedkins TO LIVE AND DIE IN L.A. (Leben und Sterben in L.A.; 1985) porträtiert. Wer hier lebt und diese Landschaft mit dem Auto durchquert, dem sind »das goldene Licht und die harten weißen Kanten« (Joan Didion), die für Los Angeles typischen mini malls, die pawn shops (wo in PULP FICTION Bruce Willis und Ving Rhames traktiert werden) oder die stets zu groß bemessenen Parkplätze die Signatur der Stadt.

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Tony Scott

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