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Deutsche Erstausgabe

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Satz CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-644-02991-0

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-02991-0

Fußnoten

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Stand: 5. 5. 2013 – Quelle: Schuldenuhr des Bunds der Steuerzahler

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Zugrunde liegt eine Lesezeit von 18 Sekunden bei einem Zuwachs der Staatsverschuldung um 870 Euro pro Sekunde laut der Schuldenuhr des Bunds der Steuerzahler vom 5. 5. 2013

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Bundesministerium der Finanzen

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http://bundesrechnungshof.de/veroeffentlichungen/bemerkungen-jahresberichte/bemerkungen

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Studie des Bundesministeriums der Justiz aus dem Jahr 2009 über die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, 2009

Vorwort

«Wir sind jung, kommen aus unterschiedlichen politischen Strömungen und vertreten eine Generation, die selten eine Stimme hat. Eine Generation, die einen ausgebeuteten Planeten erbt, mit sozialer Ungerechtigkeit und gigantischen Schuldenbergen. Eine Generation, die an den Folgen eines kurzsichtigen Finanzkapitalismus leidet und die Krise der europäischen Idee erlebt. Unsere Zukunftsmusik klingt nach Klimakatastrophe, Bildungsnotstand und Schuldenorgien, all dies auf Kosten von – uns.

Wir nehmen die herrschende Kurzsichtigkeit nicht mehr länger hin. Vor einiger Zeit wurde in dieser Zeitung behauptet, unsere Generation hätte kein Interesse an politischer Partizipation, wir seien hilflos und warteten darauf, dass uns jemand abhole. Wir sind nicht hilflos, und wir holen uns selbst ab. Über Parteigrenzen hinweg eint uns elf die Sorge um unsere Zukunft und der Wille zur Veränderung.»

Diese Worte standen am Anfang eines 10-Punkte-Zukunftsmanifestes, das wir Ende 2012 in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichten. Sie waren Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit über den Status quo der aktuellen Politik, die bis zum heutigen Tage außergewöhnlich konsequent vergangenheitsverliebt und mutlos ist, was die Beantwortung der großen Zukunftsfragen angeht. Das wollen wir nicht länger hinnehmen. Daher schlossen wir uns im Herbst vergangenen Jahres zusammen: elf junge Menschen aus allen Teilen der Republik – fünf Frauen, sechs Männer –, aus sechs verschiedenen Parteien, einige auch parteilos. Alle elf unter 30, mit unterschiedlichen sozialen und politischen Hintergründen, aber geeint in dem Gedanken, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und konstruktive politische Forderungen zu stellen. Denn den Herausforderungen der Zukunft mit Mut und Tatkraft zu begegnen, ist keine Frage politischer Gesinnung oder sozialer Herkunft, es ist der Auftrag einer, unserer, ganzen Generation.

Wir haben eines sehr schnell erkannt: Es gibt mehr Dinge, die uns einen, denn jene, die uns trennen. Daraus entstand ein besonderes politisches Projekt. Gemeinsam entwickelten wir zehn Punkte, mit denen wir für eine klügere, gerechtere und ökologisch nachhaltigere Zukunft eintreten. Wir haben im Kleinen gezeigt, dass man parteiliche, ideologische und auch geographische Grenzen erfolgreich überwinden kann – und auch muss. Denn die großen Fragen der Zeit und der Zukunft werden nicht mit alten Regeln, gewohnter Lagerbildungsmanier und traditionellen Denk- und Handlungsmustern beantwortet werden können.

Auf diesen Gedanken baut diese Veröffentlichung. Wir wollen Ihnen einen tieferen Einblick in unsere Denkarbeit geben und unser Manifest mit konkreten politischen Forderungen untermauern. Viele, aber nicht alle Positionen in diesem Band geben die Meinung aller Autor/-innen wieder, einige stellen individuelle Ansichten dar, die wir nicht im Konsens aufgehen lassen wollten und konnten. Doch auch diese Unterschiede sind wertvoll im Streit um das beste Argument.

Wir wollen Sie dazu animieren, mit- und weiterzudenken. Wir haben unsere Demokratie und die Freiheit, die aus ihr erwächst, über Generationen hart erkämpft. Das verpflichtet uns, jede einzelne Bürgerin, jeden einzelnen Bürger, den Wert dieses Privilegs zu erkennen, und es mit aktiver Beteiligung in eine erfolgreiche Zukunft zu tragen.

Wir wollen Sie auf den folgenden Seiten dazu motivieren, sich einzubringen und für Veränderungen zu kämpfen. Ob in Ihrer Familie, der Nachbarschaft, der Wirtschaft, den Parteien, Stiftungen, Gewerkschaften, Kirchen oder Verbänden. Diskutieren, streiten, kämpfen und gestalten Sie. Wir sind es der Zukunft schuldig.

Demokratie

1. Mehr Mitbestimmung wagen! Liquid Democracy

Von Sebastian Jabbusch

«Das Vertrauen in die etablierte Politik bröckelt. Darunter leidet die Legitimation unserer Demokratie. Über den Wahlzettel hinaus fehlen Möglichkeiten zur Mitsprache.»

Als 1848 das erste deutsche Parlament in der Paulskirche in Frankfurt zusammentrat, forderte eine Gruppe linker Visionäre Unerhörtes: eine Republik ohne Monarchen, in der alle Männer ab 21 Jahren dasselbe Wahlrecht bekommen – egal ob Analphabeten oder Adlige. Die königstreuen Abgeordneten verhöhnten diese Idealisten als «Radikaldemokraten».

Ähnliche Kritik müssen junge Menschen heute erneut ertragen, wenn sie nach mehr Mitbestimmung verlangen. Den demokratischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts war die Erfindung des Buchdrucks und der Zeitung vorausgegangen. Sie verbreiteten Informationen in nie gekanntem Ausmaß und weckten beim Bürgertum und später bei den Arbeitern den Wunsch nach gesellschaftlicher Mitbestimmung.

Seit 20 Jahren erleben wir mit dem Internet eine ähnliche Revolution. Youtube-Videos sind die «Flugzettel» des 21. Jahrhunderts. Jede/-r kann noch besser, schneller und einfacher Informationen verbreiten und an gesellschaftlichen Diskursen teilnehmen.

Im Gegensatz dazu hat sich seit der «Erfindung» der repräsentativen Demokratie nicht viel getan. Die Parlamente funktionieren trotz des technologischen Wandels der Informationsgesellschaft im Grunde genauso wie im 18. Jahrhundert.

Dabei ist die Diskrepanz zwischen parlamentarischer und tatsächlicher Beteiligung vielen durchaus bewusst. Mitbestimmung ist ein «Trendthema». Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff lud zum «Bürgerforum 2011», die Kanzlerin eröffnete den «Zukunftsdialog», zahlreiche Ministerien und Kommissionen organisierten eigene Plattformen. Insgesamt leistet sich die Bundesregierung zurzeit 79 Bürger- und Expertenforen. Hinzu kommen das elektronische Petitionssystem des Bundestags, Dialog- und Diskussionsplattformen zahlreicher Parteien und nichtstaatliche Petitionsplattformen, etwa OpenPetition, Campact oder Avaaz. Doch diese Angebote sind oft nur aufgehübschte Diskussionsforen, bei denen die Teilnehmer am Ende anonym einen «Gefällt mir»-Button anklicken können, was nicht ganz zu unrecht als «Clicktivism» bezeichnet wird.

In amerikanischen Wikis entstand um die Jahrtausendwende eine ganz andere Idee: Könnte man nicht gleich kollektiv verbindliche Entscheidungen mit allen Bürgern treffen, anstatt im Nachhinein durch Beteiligungsnebelkerzen und Volksentscheide falsche Entscheidungen zu reparieren? Der Name dieser neuen, unerhörten Idee ist Liquid Democracy (LD), zu Deutsch «flüssige Demokratie». In Deutschland treiben vor allem junge Internetaktivisten das Thema voran.

Radikaldemokraten des 21. Jahrhunderts

Sind dies die Radikaldemokraten des 21. Jahrhunderts? Zumindest ist es eine radikale Idee. Denn in dieser Onlinedemokratie sollen Bürger nicht nur alle paar Jahre, sondern jederzeit Parteien oder Repräsentanten ihre Stimme geben, aber auch jederzeit wieder entziehen können. Wer mag, kann bei einzelnen Gesetzen auch selbst abstimmen. So soll ein dynamischer Fluss zwischen repräsentativer und direkter Demokratie entstehen.

Die genaue Gestaltung ist noch unklar, aber in groben Zügen hat sich eine Idee herauskristallisiert: Der wichtigste Ort der Liquid Democracy ist nicht mehr ein Parlament, sondern eine Abstimmungs-Software im Internet. Jeder wahlberechtigte Bürger erhält nach einer amtlichen Identifikation einen Zugang mit einer Stimme.

Damit kann er nun selbst abstimmen. Doch anders als bei der direkten Demokratie geht es bei der Liquid Democracy vor allem um die zweite Möglichkeit: die sogenannte «Delegation». Sie erinnert zunächst an Wahlen. Denn ähnlich wie dort können Bürger ihre Stimme an eine Partei oder eine Person delegieren. Der Unterschied: Bürger können ihre Stimme jederzeit wieder entziehen und neu auf andere delegieren.

Jeder kann Politiker werden

In der Liquid Democracy entfällt die scharfe Trennung zwischen Bürgern und Politikern. Wie in der Wikipedia, wo jeder Leser auch Autor sein kann, soll jeder Bürger auch Politiker sein können. Denn Stimmen können nicht nur auf eine kleine Anzahl zugelassener Parteien, sondern auf jeden einzelnen Bürger delegiert werden. Wenn Jan auf seinen politisch interessierten Freund Peter delegiert, hat Peter bei der nächsten Abstimmung zwei Stimmen. Eine 5-Prozent-Hürde gibt es nicht, die Einstiegshürden sinken.

Darüber hinaus soll jeder Bürger selbst neue Gesetze vorschlagen und sich online kollaborativ an der Ausarbeitung beteiligen können. Das Modell der jetzigen Ministerialbürokratie, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit an nur einem Gesetzentwurf der Regierung arbeitet und die Opposition ignoriert, wäre damit Geschichte.

Und die Delegationsidee hat noch einen besonderen Clou: Auch wer selbst Delegationen erhalten hat, kann Stimmen weiter übertragen. Peter aus dem Beispiel kann seine zwei Stimmen an den Umwelt-Aktivisten Otto delegieren, der dann sogar drei Stimmen hat. Die Idee dahinter ist, Effekte von Schwarmintelligenz-Systemen zu nutzen, denn die Macht konzentriert sich und landet bei denjenigen, die von allen gemeinsam als am kompetentesten eingeschätzt werden.

Delegationen bedeutet Macht auf Widerruf

Doch die Äste des Delegationsbaumes können auch abbrechen: Stimmt Peter in einer Frage selbst ab, wird seine Delegation an Otto für diese Abstimmung aufgehoben. Otto hat nun statt drei wieder nur seine eigene Stimme. Wer tatsächlich wie viele Stimmen hat, ergibt sich stets erst im Punkt der Abstimmung. Die Software zählt dann aus, welcher Nutzer wie viele Stimmen einbringt.

Wer in der Liquid Democracy mächtig bleiben will, muss also nachhaltig mit dem verliehenen Vertrauen umgehen. Wer seine Macht für eigene Zwecke missbraucht oder sie verkauft, vergrault seine Unterstützer und verliert die Delegationen wieder. Je mehr Stimmen jemand auf sich vereint und je höher er im Delegationsbaum aufsteigt, umso stärker wird die auf ihn ausgeübte Kontrolle, da besonders Delegationszwischenhändler auf den mittleren Ästen schnell hohe Stimmenkontingente entziehen könnten. Damit erinnert die Liquid Democracy an eine Art moderne Börse, an der mit Vertrauen und Macht gehandelt wird.

Wer selbst abstimmt, hebt seine Delegation für diese Abstimmung auf. Je wichtiger eine Debatte wird und je mehr Bürger selbst abstimmen, umso geringer ist der Einfluss der größten Delegationsempfänger. Bei komplizierten Themen verlassen sich Bürger eher auf die Expertise ihrer Repräsentanten. Auf diese Weise passt sich die Liquid Democracy ganz organisch den Bedürfnissen der Bürger an: mal direkt, mal repräsentativ.

Möglich wurde die Idee erst mit dem Internet, da das System in Papierform nicht umsetzbar ist. Doch die Ideen der Liquid Democracy und das Trägermedium Internet lösen auch zahlreiche Ängste aus.

Gefahr der Manipulation

Eine Sorge rührt daher, dass Hacker Computersysteme angreifen und Administratoren der Software gekauft oder erpresst werden könnten. Im Gegensatz zur klassischen Papierwahl gibt es bei geheimen Internetwahlen keine Möglichkeit, die Auszählung objektiv nachzuvollziehen. Ob das Wahlergebnis stimmt, würde so zur Glaubensfrage. Eine demokratische Wahl muss jedoch von jedem überprüfbar sein, urteilte im März 2009 das Bundesverfassungsgericht und verbot Wahlcomputer.

Die Anhänger der Liquid Democracy sehen diese Gefahr ebenfalls und wollen deshalb öffentliche, namentliche Abstimmungen, sodass jeder die Ergebnisse selbst nachrechnen und überprüfen kann. Die Kehrseite dieser Nachvollziehbarkeit sei jedoch die Aufgabe des Wahlgeheimnisses, so die Kritiker. Die Veröffentlichung von Abstimmungsergebnissen bis auf den einzelnen Bürger geht ihnen zu weit. Die Menschen wären so sozialem Druck ausgeliefert – vom Ehepartner, dem Arbeitgeber oder dem Stammtisch. Manche würden vielleicht ihre Stimme verkaufen.