Der Autor

Conrad Ferdinand Meyer (* 11. Oktober 1825 in Zürich; † 28. November 1898 in Kilchberg bei Zürich) war ein Schweizer Dichter des Realismus, der (insbesondere historische) Novellen, Romane und lyrische Gedichte geschaffen hat. Er gehört mit Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schweizer Dichtern des 19. Jahrhunderts.

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Werke u.a.

Conrad Ferdinand Meyer

Sämtliche Gedichte


Zur neuen Auflage

Mit dem Stifte les ich diese Dinge,
Auf der Rasenbank im Freien sitzend,
Plötzlich zuckt mir einer Vogelschwinge
Schatten durch die Lettern freudig blitzend.

Was da steht, ich hab es tief empfunden
Und es bleibt ein Stück von meinem Leben -
Meine Seele flattert ungebunden
Und ergötzt sich drüberhinzuschweben.

I

Vorsaal

Fülle

Genug ist nicht genug! Gepriesen werde
Der Herbst! Kein Ast, der seiner Frucht entbehrte!
Tief beugt sich mancher allzureich beschwerte,
Der Apfel fällt mit dumpfem Laut zur Erde.

Genug ist nicht genug! Es lacht im Laube!
Die saftge Pfirsche winkt dem durstgen Munde!
Die trunknen Wespen summen in die Runde:
"Genug ist nicht genug!" um eine Traube.

Genug ist nicht genug! Mit vollen Zügen
Schlürft Dichtergeist am Borne des Genusses,
Das Herz, auch es bedarf des Überflusses,
Genug kann nie und nimmermehr genügen!

Das heilige Feuer

Auf das Feuer mit dem goldnen Strahle
Heftet sich in tiefer Mitternacht
Schlummerlos das Auge der Vestale,
Die der Göttin ewig Licht bewacht.

Wenn sie schlummerte, wenn sie entschliefe,
Wenn erstürbe die versäumte Glut,
Eingesargt in Gruft und Grabestiefe
Würde sie, wo Staub und Moder ruht.

Eine Flamme zittert mir im Busen,
Lodert warm zu jeder Zeit und Frist,
Die entzündet durch den Hauch der Musen
Ihnen ein beständig Opfer ist.

Und ich hüte sie mit heilger Scheue,
Daß sie brenne rein und ungekränkt;
Denn ich weiß, es wird der ungetreue
Wächter lebend in die Gruft versenkt.

Schillers Bestattung

Ein ärmlich düster brennend Fackelpaar, das Sturm
Und Regen jeden Augenblick zu löschen droht.
Ein flatternd Bahrtuch. Ein gemeiner Tannensarg
Mit keinem Kranz, dem kargsten nicht, und kein Geleit!
Als brächte eilig einen Frevel man zu Grab.
Die Träger hasteten. Ein Unbekannter nur,
Von eines weiten Mantels kühnem Schwung umgeht,
Schritt dieser Bahre nach. Der Menschheit Genius war's.

Liederseelen

In der Nacht, die die Bäume mit Blüten deckt,
Ward ich von süßen Gespenstern erschreckt,
Ein Reigen schwang im Garten sich,
Den ich mit leisem Fuß beschlich;
Wie zarter Elfen Chor im Ring
Ein weißer lebendiger Schimmer ging.
Die Schemen hab ich keck befragt:
Wer seid ihr, luftige Wesen? Sagt!

"Ich bin ein Wölkchen, gespiegelt im See."
"Ich bin eine Reihe von Stapfen im Schnee."
"Ich bin ein Seufzer gen Himmel empor!"
"Ich bin ein Geheimnis, geflüstert ins Ohr!"
"Ich bin ein frommes, gestorbenes Kind."
"Ich bin ein üppiges Blumengewind -"
"Und die du wählst, und der's beschied
Die Gunst der Stunde, die wird ein Lied."

Schwarzschattende Kastanie

Schwarzschattende Kastanie,
Mein windgeregtes Sommerzelt,
Du senkst zur Flut dein weit Geäst,
Dein Laub, es durstet und es trinkt,
Schwarzschattende Kastanie!
Im Porte badet junge Brut
Mit Hader oder Lustgeschrei,
Und Kinder schwimmen leuchtend weiß
Im Gitter deines Blätterwerks,
Schwarzschattende Kastanie!
Und dämmern See und Ufer ein
Und rauscht vorbei das Abendboot,
So zuckt aus roter Schiffslatern
Ein Blitz und wandert auf dem Schwung
Der Flut, gebrochnen Lettern gleich,
Bis unter deinem Laub erlischt
Die rätselhafte Flammenschrift,
Schwarzschattende Kastanie!

Nachtgeräusche

Melde mir die Nachtgeräusche, Muse,
Die ans Ohr des Schlummerlosen fluten!
Erst das traute Wachtgebell der Hunde,
Dann der abgezählte Schlag der Stunde,
Dann ein Fischer-Zwiegespräch am Ufer,
Dann? Nichts weiter als der ungewisse
Geisterlaut der ungebrochnen Stille,
Wie das Atmen eines jungen Busens,
Wie das Murmeln eines tiefen Brunnens,
Wie das Schlagen eines dumpfen Ruders,
Dann der ungehörte Tritt des Schlummers.

Die toten Freunde

Das Boot stößt ab von den Leuchten des Gestads.
Durch rollende Wellen dreht sich der Schwung des Rads.
Schwarz qualmt des Rohres Rauch ... Heut hab ich schlecht,
Das heißt mit lauter jungem Volk gezecht -

Du, der gestürzt ist mit zerschossener Stirn,
Und du, verschwunden auf einer Gletscherfirn,
Und du, verlodert wie schwüler Blitzesschein,
Meine toten Freunde, saget, gedenkt ihr mein?

Wogen zischen um Boot und Räderschlag,
Dazwischen jubelt ein dumpfes Zechgelag,
In den Fluten braust ein sturmgedämpfter Chor,
Becher läuten aus tiefer Nacht empor.

Der schöne Tag

In kühler Tiefe spiegelt sich
Des Juli-Himmels warmes Blau,
Libellen tanzen auf der Flut,
Die nicht der kleinste Hauch bewegt.

Zwei Knaben und ein ledig Boot -
Sie sprangen jauchzend in das Bad,
Der eine taucht gekühlt empor,
Der andre steigt nicht wieder auf.

Ein wilder Schrei: "Der Bruder sank!"
Von Booten wimmelt's schon. Man fischt.
Den einen rudern sie ans Land,
Der fahl wie ein Verbrecher sitzt.

Der andre Knabe sinkt und sinkt
Gemach hinab, ein Schlummernder,
Geschmiegt das sanfte Lockenhaupt
An einer Nymphe weiße Brust.

Über einem Grabe

Blüten schweben über deinem Grabe.
Schnell umarmte dich der Tod, o Knabe,
Den wir alle liebten, die dich kannten,
Dessen Augen wie zwei Sonnen brannten,
Dessen Blicke Seelen unterjochten,
Dessen Pulse stark und feurig pochten,
Dessen Worte schon die Herzen lenkten,
Den wir weinend gestern hier versenkten.

Maiennacht. Der Sterne mildes Schweigen...
Dort! ich seh es aus der Erde steigen!
Unterm Rasen quillt hervor es leise,
Flatterflammen drehen sich im Kreise,
Ungelebtes Leben zuckt und lodert
Aus der Körperkraft, die hier vermodert,
Abgemähter Jugend letztes Walten,
Letzte Glut verraucht in Wunschgestalten,
Eine blasse Jagd:

                        Voran ein Zecher,
In der Faust den überfüllten Becher!
Wehnde Locken will der Buhle fassen,
Die entflatternd nicht sich haschen lassen,
Lustgestachelt rast er hinter jenen,
Ein verhülltes Mädchen folgt in Tränen.
Durch die Brandung mit verstürmten Haaren
Seh ich einen kühnen Schiffer fahren.
Einen jungen Krieger seh ich toben,
Helmbedeckt, das lichte Schwert erhoben.
Einer stürzt sich auf die Rednerbühne,
Weites Volksgetos beherrscht der Kühne.
Ein Gedräng, ein Kämpfen, Ringen, Streben!
Arme strecken sich und Kränze schweben -

Kränze, wenn du lebtest, dir beschieden,
Nicht erreichte!
                        Knabe, schlaf in Frieden!

Der Marmorknabe

In der Capuletti Vigna graben
Gärtner, finden einen Marmorknaben,
Meister Simon holen sie herbei,
Der entscheide, welcher Gott es sei.

Wie den Fund man dem Gelehrten zeigte,
Der die graue Wimper forschend neigte,
Kniet' ein Kind daneben: Julia,
Die den Marmorknaben finden sah.

"Welches ist dein süßer Name, Knabe?
Steig ans Tageslicht aus deinem Grabe!
Eine Fackel trägst du? Bist beschwingt?
Amor bist du, der die Herzen zwingt?"

Meister Simon, streng das Bild betrachtend,
Eines Kindes Worte nicht beachtend,
Spricht: "Er löscht die Fackel. Sie verloht,
Dieser schöne Jüngling ist der Tod."

Liebesflämmchen

Die Mutter mahnt mich abends:
"Trag Sorg zur Ampel, Kind!
Jüngst träumte mir von Feuer -
Auch weht ein wilder Wind."

Das Flämmchen auf der Ampel,
Ich lösch es mit Bedacht,
Das Licht in meinem Herzen
Brennt durch die ganze Nacht.

Die Mutter ruft mich morgens:
"Kind, hebe dich! 's ist Tag!"
Sie pocht an meiner Türe
Dreimal mit starkem Schlag

Und meint, sie habe grausam
Mich aus dem Schlaf geschreckt -
Das Licht in meinem Herzen
Hat längst mich aufgeweckt.

Brautgeleit

Ich sehe dich, den Kranz im Haar,
Die zur Vermählung schreitet,
Von einer jungen Genienschar
Umjubelt und begleitet.

Ein kleines Heer, ein feines Heer,
Sind alles deine Schwestern.
Du bist sie und bist sie nicht mehr
Und warest sie noch gestern.

Wer gibt Geleit mit Lustgetön
Dem stillen Hochzeitspaare?
Das sind, bekränzt mit Rosen schön,
All deine raschen Jahre.

Voran ein Kindlein weint und lacht,
Vom Mutterarm getragen,
Das zweite setzt die Füßchen sacht
Und schreitet noch mit Zagen.

Es folgen Stufen mannigfalt
Des jungen Menschenbildes,
Mit einem scheuen Kinde wallt
Ein Mägdlein schon, ein wildes.

Dann ist ein frisches, minniges
Lenzangesicht zu schauen,
Und dann ein blasses, inniges
Antlitz mit ernsten Brauen.

Nun eines noch, versunken ganz,
In still verklärten Zügen,
Erfüllung in des Blickes Glanz
Und seliges Genügen.

Jetzt trittst du durch das Kirchentor,
Dich ewig zu verbinden,
Die Mädchen bleiben all davor,
Vergehen und verschwinden.

Hochzeitslied

Aus der Eltern Macht und Haus
Tritt die züchtge Braut heraus
An des Lebens Scheide -
Geh und lieb und leide!

Freigesprochen, unterjocht,
Wie der junge Busen pocht
Im Gewand von Seide -
Geh und lieb und leide!

Frommer Augen helle Lust
Überstrahlt an voller Brust
Blitzendes Geschmeide -
Geh und lieb und leide!

Merke dir's, du blondes Haar:
Schmerz und Lust Geschwisterpaar,
Unzertrennlich beide -
Geh und lieb und leide!

Die Jungfrau

Wo sah ich, Mädchen, deine Züge,
Die drohnden Augen lieblich wild,
Noch rein von Eitelkeit und Lüge?
Auf Buonarrotis großem Bild:

Der Schöpfer senkt sich sachten Fluges
Zum Menschen, welcher schlummernd liegt,
Im Schoße seines Mantelbuges
Ruht himmlisches Gesind geschmiegt:

Voran ein Wesen, nicht zu nennen,
Von Gottes Mantel keusch umwallt,
Des Weibes Züge, zu erkennen
In einer schlanken Traumgestalt.

Sie lauscht, das Haupt hervorgewendet,
Mit Augen schaut sie, tief erschreckt,
Wie Adam Er den Funken spendet
Und seine Rechte mahnend reckt.

Sie sieht den Schlummrer sich erheben,
Der das bewußte Sein empfängt,
Auch sie sehnt dunkel sich zu leben,
An Gottes Schulter still gedrängt -

So harrst du vor des Lebens Schranke,
Noch ungefesselt vom Geschick,
Ein unentweihter Gottgedanke,
Und öffnest staunend deinen Blick.

Die Fei

Mondnacht und Flut. Sie hängt am Kiel,
Umklammert mit den Armen ihn,
Sie treibt ein grausam lüstern Spiel,
Den Nachen in den Grund zu ziehn.

Der Ferge stöhnt: "In Seegesträuch
Reißt nieder uns der blanke Leib!
Rasch, Herr! Von Sünde reinigt Euch,
Begehrt Ihr heim zu Kind und Weib!"

Der Ritter hält den Schwertesgriff
Sich als das heilge Zeichen vor -
Aus dunkeln Haaren lauscht am Schiff
Ein schmerzlich bleiches Haupt empor.

"Herr Christ! ich beichte Rittertat,
Streit, Flammenschein und strömend Blut,
Doch nichts von Frevel noch Verrat,
Denn Treu und Glauben hielt ich gut."

Er küßt das Kreuz. Grell schreit die Fee!
Auflangen sieht er eine Hand
Am Steuer, blendend weiß wie Schnee,
Und starrt darauf, von Graun gebannt.

"Herr Christ! ich beichte Missetat!
Ich brach den Glauben und die Treu,
Ich übt' an meinem Lieb Verrat.
Es starb. Ich tue Leid und Reu!"

Sie löst die Arme. Sie versinkt.
Das Ruder schlägt. Der Nachen fliegt.
Vom Strand das Licht des Erkers winkt,
Wo Weib und Kind ihm schlummernd liegt.

Die Dryas

   O Liebe, wie schnell verrinnest du,
    Du flüchtige, schöne Stunde,
    Mit einer Wunde beginnest du
    Und endest mit einer Wunde.

Ein Jüngling irrt im Waldesraum,
Umspielt von goldnen Schimmern,
Und späht nach einem schönen Baum,
Sich draus ein Boot zu zimmern.

"Jungeiche mit dem stolzen Wuchs,
Du bist mir gleich die rechte,
Dich zeichn' ich mit dem Beile flugs,
Dann ruf ich meine Knechte."

Er führt den Streich. Ein schmerzlich Ach
Macht jählings ihn erbleichen.
"Ich sterbe!" stöhnt's im Stamme schwach,
"Die jüngste dieser Eichen!"

Ein Tröpfchen Blutes oder zwei
Sieht er am Beile hangen
Und schleudert's weg mit einem Schrei,
Als hätt' er Mord begangen.

Schnell flüstert's aus dem Baume jetzt:
"Der Mord ist nicht vollendet!
Ich bin nur leicht am Arm verletzt.
Ich hatt' mich umgewendet."

"Komm, Göttin", fleht er, "Waldeskind,
Daß ich Vergebung finde!"
Die Schultern schmiegend schlüpft geschwind
Die Dryas aus der Rinde.

Ein Dämmer lag auf Stirn und Haar,
Ein Brüten und ein Weben,
Von grünem Blätterschatten war
Der schlanke Wuchs umgeben.

Er fing den Arm zu küssen an,
Die Stelle mit dem Hiebe,
Und der er viel zu Leid getan,
Die tat ihm viel zu liebe.

"In meinem Baum - ist lauter Traum"...
Sie schlüpft zurück behende
Und lispelt in den Waldesraum:
"Ich weiß, wen ich dir sende!"

Der Botin Biene Dienst ist schwer,
Sie muß sich redlich plagen,
Honig und Wermut hin und her,
Waldaus, waldein zu tragen.

Einmal kam Bienchen wild gebrummt.
"Dryas, mich kann's entrüsten!"
Es setzt sich an den Stamm und summt:
"Ich sah's, wie sie sich küßten!

Sie ist ein blühend Nachbarkind,
Muß ihn beständig necken -
Dich läßt er nun bei Wetter und Wind
In deinem Baume stecken!"

Ein schmerzlich Ach, als wände sich
Ein schlanker Leib und stürbe!
Das Laub vergilbt, die Krone blich,
Die Rinde bröckelt mürbe.

Ein Lied Chastelards

        Sehnsucht ist Qual!
Der Herrin wag ich's nicht zu sagen,
Ich will's den dunkeln Eichen klagen
        Im grünen Tal:
        Sehnsucht ist Qual.

        Mein Leib vergeht
Wie schmelzend Eis in bleichen Farben,
Sie sieht mich dursten, lechzen, darben,
        Bleibt unerfleht -
        Mein Leib vergeht.

        Doch mag es sein,
Daß sie an ihrer Macht sich weide!
Ergetzt sie grausam sich an meinem Leide,
        So denkt sie mein -
        Drum mag es sein.

        Sehnsucht ist Qual!
Dem Kühnsten macht die Folter bange,
Ein Grab, darin ich nichts verlange,
        Gib mir, o Tal!
        Sehnsucht ist Qual.

Die kleine Blanche

An dem kleinen Hofe von Navarra
War das Leben eine lose Fabel,
Eine drohnde oder heitre Maske,
Eine überraschende Novelle,
Ein phantastisch wahrheitloses Schauspiel. -
Der am Hofe war auf kurzen Urlaub,
Hauptmann Duplessis saß vor der Bühne,
Drauf ein Mädchen an verratner Liebe
Starb. Im letzten Akte lag sie marmorn
Auf dem Grabmal als ihr eigen Bildnis,
Schluchzend rang die Hände der Verräter,
Sieh! da hob sie sachte sich und lebte.
Andern Tages wandelte der Hauptmann
In des Schlosses irrsam dunkeln Gärten,
An die zarte kleine Blanche denkend,
Die er schnell geküßt und schnell verraten -
Etwas sieht er schimmern durch Zypressen:
Auf dem Grabmal liegt die kleine Blanche
Marmorn. An dem Sockel ist zu lesen:
"Blanche schlummert nach verratner Liebe."
"Heb dich, kleine Blanche!" ruft der Hauptmann.
"Wickle dich aus deinen weißen Tüchern!
Spiel nicht mit dem Tode, kleine Blanche!"
Doch der Marmor fühlte nichts. Es fühlte
Nichts, die drunter schläft. Sie starb im Ernste.

Die gelöschten Kerzen

Ein gewaltger Herd mit glühnden Kohlen
Und zwei hellen Kerzen auf dem Simse,
Dran ein plaudernd Paar: ein narbger Feldherr
In der Majestät des Greisenalters
Und ein unbefangnes Kind der Neuzeit,
Ein geliebter und verzogner Neffe.
Würdevoll erzählt der Greis von weiland,
Von Verschollnem und halb Verschollnem.
"Damals warst du noch ein Ungeborner,
Neffe", sagt er, "oder in den Windeln" ...
Auf dem Herde zuckt ein blaues Flämmchen,
Ein vergeßnes Flämmchen aus der Asche,
Und die beiden sehn den Irrwisch tanzen,
Und der Irrwisch, unversehens springt er
Auf des Jünglings blühend kecke Lippen:
"Ohm, wie war es denn mit der Camargo?"
Der Benarbte lächelt. "Wissen willst du
Das mit der Camargo?" - Eine Kerze
Haucht er aus und auch die andre Kerze.
"Du erlaubst? Nur daß ich nicht erröte!
Also ..." Durch das Dunkel glühn die Kohlen.
Und der Jüngling streicht ein Holz, die eine
Kerze flammt er an und dann die andre:
"Ohm, wie war's denn mit dem Sturm auf Düppel?"

Fingerhütchen

    Liebe Kinder, wißt ihr, wo
    Fingerhut zu Hause?
    Tief im Tal von Acherloo
    Hat er Herd und Klause;
Aber schon in jungen Tagen
Muß er einen Höcker tragen,
    Geht er, wunderlicher nie
    Wallte man auf Erden!
    Sitzt er, staunen Kinn und Knie,
    Daß sie Nachbarn werden.

    Körbe flicht aus Binsen er,
    Früh und spät sich regend,
    Trägt sie zum Verkauf umher
    In der ganzen Gegend,
Und er gäbe sich zufrieden,
Wär er nicht im Volk gemieden;
    Denn man zischelt mancherlei:
    Daß ein Hexenmeister,
    Daß er kräuterkundig sei
    Und im Bund der Geister.

    Solches ist die Wahrheit nicht,
    Ist ein leeres Meinen,
    Doch das Volk im Dämmerlicht
    Schaudert vor dem Kleinen.
So die Jungen wie die Alten
Weichen aus dem Ungestalten -
    Doch vorüber wohlgemut
    Auf des Schusters Räppchen
    Trabt er. Blauer Fingerhut
    Nickt von seinem Käppchen.

    Einmal geht er heim bei Nacht
    Nach des Tages Lasten,
    Hat den halben Weg gemacht,
    Darf ein bißchen rasten,
Setzt sich und den Korb daneben,
Schimmernd hebt der Mond sich eben:
    Fingerhut ist gar nicht bang,
    Ihm ist gar nicht schaurig,
    Nur daß noch der Weg so lang,
    Macht den Kleinen traurig.

    Etwas hört er klingen fein -
    Nicht mit rechten Dingen,
    Mitten aus dem grünen Rain
    Ein melodisch Singen:
"Silberfähre, gleitest leise" -
Schon verstummt die kurze Weise.
    Fingerhütchen spähet scharf
    Und kann nichts entdecken,
    Aber was er hören darf,
    Ist nicht zum Erschrecken.

    Wieder hebt das Liedchen an
    Unter Busch und Hecken,
    Doch es bleibt der Reimgespan
    Stets im Hügel stecken.
"Silberfähre, gleitest leise" -
Wiederum verstummt die Weise.
    Lieblich ist, doch einerlei
    Der Gesang der Elfen,
    Fingerhütchen fällt es bei,
    Ihnen einzuhelfen.

    Fingerhütchen lauert still
    Auf der Töne Leiter,
    Wie das Liedchen enden will,
    Führt er leicht es weiter:
"Silberfähre, gleitest leise"-
"Ohne Ruder, ohne Gleise."
    Aus dem Hügel ruft's empor:
    "Das ist dir gelungen!"
    Unterm Boden kommt hervor
    Kleines Volk gesprungen.

    "Fingerhütchen, Fingerhut",
    Lärmt die tolle Runde,
    "Faß dir einen frischen Mut!
    Günstig ist die Stunde!
Silberfähre, gleitest leise
Ohne Ruder, ohne Gleise!
    Dieses hast du brav gemacht,
    Lernet es, ihr Sänger!
    Wie du es zustand gebracht,
    Hübscher ist's und länger!

    Zeig dich einmal, schöner Mann!
    Laß dich einmal sehen!
    Vorn zuerst und hinten dann!
    Laß dich einmal drehen!
Weh! Was müssen wir erblicken!
Fingerhütchen, welch ein Rücken!
    Auf der Schulter, liebe Zeit,
    Trägst du eine grause Bürde!
    Ohne hübsche Leiblichkeit
    Was ist Geisteswürde?

    Eine ganze Stirne voll
    Glücklicher Gedanken,
    Unter einem Höcker soll
    Länger nicht sie schwanken!
Strecket euch, verkrümmte Glieder!
Garstger Buckel, purzle nieder!
    Fingerhut, nun bist du grad,
    Deines Fehls genesen!
    Heil zum schlanken Rückengrat!
    Heil zum neuen Wesen!"

    Plötzlich steckt der Elfenchor
    Wieder tief im Raine,
    Aus dem Hügelrund empor
    Tönt's im Mondenscheine:
"Silberfähre, gleitest leise
Ohne Ruder, ohne Gleise."
    Fingerhütchen wird es satt,
    Wäre gern daheime,
    Er entschlummert laß und matt
    An dem eignen Reime.

    Schlummert eine ganze Nacht
    Auf derselben Stelle,
    Wie er endlich auferwacht,
    Scheint die Sonne helle:
Kühe weiden, Schafe grasen
Auf des Elfenhügels Rasen.
    Fingerhut ist bald bekannt,
    Läßt die Blicke schweifen,
    Sachte dreht er dann die Hand,
    Hinter sich zu greifen.

    Ist ihm Heil im Traum geschehn?
    Ist das Heil die Wahrheit?
    Wird das Elfenwort bestehn
    Vor des Tages Klarheit?
Und er tastet, tastet, tastet:
Unbebürdet! Unbelastet!
    "Jetzt bin ich ein grader Mann!"
    Jauchzt er ohne Ende,
    Wie ein Hirschlein jagt er dann
    Über Feld behende.

    Fingerhut steht plötzlich still,
    Tastet leicht und leise,
    Ob er wieder wachsen will?
    Nein, in keiner Weise!
Selig preist er Nacht und Stunde,
Da er sang im Geisterbunde -
    Fingerhütchen wandelt schlank,
    Gleich als hätt' er Flügel,
    Seit er schlummernd niedersank
    Nachts am Elfenhügel.

Traumbesitz "Fremdling, unter diesem Schutte
Wölbt sich eine weite Halle,
Blüht des Inka goldner Garten,
Prangt der Sessel meines Ahns!

Alles Laub und alle Früchte
Und die Vögel auf den Ästen
Und die Fischlein in den Teichen
Sind vom allerfeinsten Gold."

"Knabe, du bist zart und dürftig,
Deine greisen Eltern darben -
Warum gräbst du nicht die nahen
Schätze, die dein Erbe sind?"

"Solches, Fremdling, wäre sündlich!
Nein, ich lasse mir genügen
An dem kleinen Weizenfelde,
Das mir oben übrig blieb.

Im Geheimnis meines Herzens,
Mit den Augen meines Geistes
Schwelg ich in den lichten Wundern,
In dem unermeßnen Hort:

O des Glanzes! O der Fülle!
Siehst du dort die Büschel Maises
Mit den schön geformten Kolben?
Siehst du dort den goldnen Thron?"

Die gefesselten Musen

Es herrscht' ein König irgendwo
In Dazien oder Thrazien,
Den suchten einst die Musen heim,
Die Musen mit den Grazien.

Statt milden Nektars, Rebenblut
Geruhten sie zu nippen,
Die Seele des Barbaren hing
"An ihren sel'gen Lippen.

Erst sang ein jedes Himmelskind
Im Tone, der ihm eigen,
Dann schritt der ganze Chor im Takt
Und trat den blühnden Reigen.

Der König klatschte: "Morgen will
Ich wieder euch bestaunen!"
Die Musen schüttelten das Haupt:
"Das hangt an unsern Launen."

"An euren Launen? ..." Der Despot
Begann zu schmähn und lästern.
"Ihr Knechte", schrie er, "Fesseln her!"
Und fesselte die Schwestern.

Der König wacht', um Mitternacht
Vernahm er leises Schreiten,
Geflüster: "Seid ihr alle da?"
Und Schüttern zarter Saiten.

Er fuhr empor. "Den hellen Chor
Ergreift, getreue Wächter!"
Die Schergen griffen in die Luft,
Und silbern klang Gelächter.

Am Morgen war der Kerker leer,
Der Reigen über die Grenze -
Drin hingen statt der Ketten schwer
Zerrißne Blumenkränze.
 

II

Stunde

Morgenlied

Mit edeln Purpurröten
Und hellem Amselschlag,
Mit Rosen und mit Flöten
Stolziert der junge Tag.
Der Wanderschritt des Lebens
Ist noch ein leichter Tanz,
Ich gehe wie im Reigen
Mit einem frischen Kranz.

Ihr taubenetzten Kränze
Der neuen Morgenkraft,
Geworfen aus den Lüften
Und spielend aufgerafft -
Wohl manchen ließ ich welken
Noch vor der Mittagsglut;
Zerrissen hab ich manchen
Aus reinem Übermut!

Mit edeln Purpurröten
Und hellem Amselschlag,
Mit Rosen und mit Flöten
Stolziert der junge Tag -
Hinweg, du dunkle Klage,
Aus all dem Licht und Glanz!
Den Schmerz verlorner Tage
Bedeckt ein frischer Kranz.

Eppich

Eppich, mein alter Hausgesell,
Du bist von jungen Blättern hell,
Dein Wintergrün, so still und streng,
Verträgt sich's mit dem Lenzgedräng?

"Warum denn nicht? Wie meines hat
Dein Leben alt und junges Blatt
Eins streng und dunkel, eines licht
Von Lenz und Lust! Warum denn nicht?"

Das tote Kind

Es hat den Garten sich zum Freund gemacht,
Dann welkten es und er im Herbste sacht,
Die Sonne ging, und es und er entschlief,
Gehüllt in eine Decke weiß und tief.

Jetzt ist der Garten unversehns erwacht,
Die Kleine schlummert fest in ihrer Nacht. 
"Wo steckst du?" summt es dort und summt es hier.
Der ganze Garten frägt nach ihr, nach ihr.

Die blaue Winde klettert schlank empor
Und blickt ins Haus: "Komm hinterm Schrank hervor!
Wo birgst du dich? Du tust dir's selbst zu leid!
Was hast du für ein neues Sommerkleid?"

Lenz Wanderer, Mörder, Triumphator

I

Ich lag an einem Raine
Mit meinem dürren Stab.
Was lauf ich? Meine Beine
Erlaufen nur das Grab ...

Ein Wandrer zog derenden,
War noch ein Knabe fast,
Der hielt als Stab in Händen
Den blütenreichsten Ast.

"Grüß' Gott dich, schöner Wandrer!
Bist du es, Knabe Lenz?"
Er rief: "Ich bin kein andrer
Und komme von Florenz!"

Das mußte mich erwecken.
"Kind Lenz, ich wandre mit!"
Wir hoben unsre Stecken
In einem Schritt und Tritt.

Die beiden Stäbe hoben
Kind Lenz und ich zugleich;
Auch meiner ward von oben
Bis unten blütenreich.

II

Nieder trägt der warme Föhn
Der Lauine fern Getön,
Hinter jenen hohen Föhren
Kann den dumpfen Schlag ich hören.

In des Lenzes blauen Schein
Aus der Scholle dunkelm Schrein
Drängt und drückt das neue Leben,
Lüftet Kleid und Decken eben -

Von derselben Kraft und Lust
Wächst das Herz mir in der Brust,
Heute kann es noch sich dehnen
Mit den Liedern, mit den Tränen!

Aber blauen wird ein Tag,
Da sich's nicht mehr dehnen mag -
Mit den Veilchen, mit den Flöten
Kommt mich dann der Lenz zu töten.

III

Frühling, der die Welt umblaut,
Frühling mit der Vöglein Laut,
Deine blühnden Siegespforten
Allerenden, allerorten
Hast du niedrig aufgebaut!

Ungebändigt, kreuz und quer,
Über alle Pfade her
Schießen blütenschwere Zweige,
Daß dir jedes Haupt sich neige,
Und die Demut ist nicht schwer.

Maientag

Englein singen aus dem blauen Tag,
Mägdlein singen hinterm Blütenhag,
Jubelnd mit dem ganzen Lenzgesind
Singt mir in vernarbter Brust - ein Kind.

Was treibst du, Wind?

        Was treibst du, Wind,
        Du himmlisches Kind?
Du flügelst und flügelst umsonst in der Luft!
        "Nicht Wanderscherz!
        Ich nähre das Herz
Mit Erdgeruch und Waldesduft!"

        Was bringst du, Wind,
        Du himmlisches Kind?
"Einen Morgengruß, einen Schrei der Lust!"
        Aus Vogelkehle nur?
        Aus Lerchenseele nur?
"Nein, nein! Aus voller Menschenbrust!"

        Was trägst du, Wind,
        Du himmlisches Kind?
"Seeüber ein wallend, ein hallend Geläut!"
        Senken sie ein
        Den Totenschrein?
"Nein, nein! Sie halten Hochzeit heut!"

Lenzfahrt

Am Himmel wächst der Sonne Glut,
Aufquillt der See, das Eis zersprang,
Das erste Segel teilt die Flut,
Mir schwillt das Herz wie Segeldrang.

Zu wandern ist das Herz verdammt,
Das seinen Jugendtag versäumt,
Sobald die Lenzessonne flammt,
Sobald die Welle wieder schäumt.

Verscherzte Jugend ist ein Schmerz
Und einer ewgen Sehnsucht Hort,
Nach seinem Lenze sucht das Herz
In einem fort, in einem fort!

Und ob die Locke mir ergraut
Und bald das Herz wird stille stehn,
Noch muß es, wann die Welle blaut,
Nach seinem Lenze wandern gehn.

Lenz, wer kann dir widerstehn?

Jedem, außer an die Toten,
Sendet Frühling einen Boten,
Ein Gezwitscher aus den Lüften,