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André Pieyre de Mandiargues

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André Pieyre de Mandiargues

DER RAND

Aus dem Französischen übersetzt
und mit einem Nachwort versehen von
Rainer G. Schmidt

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Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Nachbemerkungen

I

Fünf Uhr. Ein Kirchturm, zum Glück in der Ferne, tat dies soeben kund. Hat Sigismond während seiner Siesta geschlafen? Er könnte es nicht mit Gewissheit sagen, und wenn er, wie gewöhnlich, den Eindruck hat, dass er in seinem reglosen Körper bei Bewusstsein geblieben ist und seinen Geist wie einen unter Aufsicht stehenden Spaziergänger hat umherschweifen lassen, erinnert er sich indes, wie seine Frau einmal über ihn gespottet hat, er habe sich gerühmt oder beklagt, sich während der Nachmittagsruhe niemals dem Schlaf hingeben zu können. Mit offenem Mund, ja, so habe Sergine ihn auf dem Diwan im oberen Zimmer des Landhauses schlafen sehen, als sie sich auf Zehenspitzen dorthin begeben hatte, um ihn zu überraschen; und sie sagte auch, dass allein schon die Stärke seines Schnarchens die Septemberfliegen daran gehindert habe, in seinen Rachen einzudringen und gar den Magen oder vielleicht noch tiefere Regionen aufzusuchen. Sie sagte, er habe weit offengestanden wie die Krypta eines Heiligtums, in die man hinabsteigt, um Sündenablass zu bekommen. Sie sagte, er sei gleichsam zu einem Monument geworden, mit Maschinerien in seinem Inneren; und sie hätte, wenn sie Farbe gehabt hätte, seine Lippen, ohne ihn aufzuwecken, blau anmalen können, so wie man die Umrandung von Türen und Fenstern in den von Fluginsekten geplagten Ländern anstreicht. Sergine spottete unablässig, eine Neigung, die sie schon in ihrer Zeit als Studentin in Montpellier hatte. Ihr von Analogien und Wissen gestützter Spott ist nicht ohne Schulmeisterei und Spitzfindigkeit. Hinzuzufügen ist noch, dass Sergine zürnt, wenn nachts Licht gemacht wird, so sehr fürchtet sie es, beim Schlafen gesehen zu werden, und dass ihr der Schlummer als krankhafter Zustand erscheint, da er den Körper reglos daliegen lässt. Der Hauptwesenszug von Sergine ist die Lebhaftigkeit; ihre Schönheit, ihr Geist sind fast auf aggressive Weise lebhaft; ihre Unruhe ist so groß, dass man ihr Bild nur als eine Folge von Momentaufnahmen herbeirufen kann, was anstrengend ist. So war ihr die Siesta, sagt sich Sigismond, immer als eine Angewohnheit von Bleichsüchtigen oder Plumpsäcken erschienen; dann aber denkt er, dass ihn eine Grenze, zwei Zollstationen und mehr als dreihundert Kilometer von seiner Frau trennen und dass er diesmal nicht Gefahr läuft, verspottet zu werden; er dreht sich um, damit er nicht auf dem Herz liegt, und langsam schwindet in ihm das Bewusstsein.

Er hätte, sagt er sich vage, während dieses Samstags noch die Kunden seines Cousins besuchen und den Nachmittag abwarten können, um nach Barcelona zu fahren, sodass er jetzt unweit des Ortes unterwegs wäre, an dem er angehalten hat, um am Rand des Meeres, auf einem kleinen Strand jenseits der Eisenbahngleise, seinen Reiseproviant zu verzehren. Er hätte aufbrechen können, nachdem er in Perpignan Siesta gehalten hätte; er wäre abends in Barcelona angekommen, noch vor dem Abendessen, das dort, wie in ganz Spanien, spät serviert wird. So hat er im Bett seines Hotelzimmers, da gerade erst fünf Uhr vorüber ist, dem möglichen Zeitplan seiner Reise gegenüber einen Vorsprung und kann zu Recht faulenzen. Wäre Sergine durch Zauberei bis zu seiner, im Übrigen abgeschlossenen Tür geführt worden, und wäre sie auf wundersamen Wegen in sein Zimmer gelangt, hätte er zu seiner Verteidigung keine großen Kunstgriffe gebrauchen müssen, da er mit vollem Recht einfach liegen bleiben kann, bis er ins Restaurant geht. Warum ist er so darauf versessen, an seine Frau als eine Art Richter oder zumindest Kritiker oder Zensor zu denken? Sergines Spötteleien waren nie bösartig gewesen und sind nicht sehr streng. Da sie von einer Frau kommen, die voller Leben ist, und sich an einen Mann wenden, der nicht viel Leben hat, kann man sie als einen ausgleichenden Überschuss betrachten, der im Einklang mit der Ordnung der Natur steht. Und selbst wenn sie über die Grenzen dessen hinausgehen, was der Humor höflicherweise darf, behält die Stimme, mit der sie geäußert werden, den sanften Ton einer Zärtlichkeit.

Er denkt daran, dass er sich auf dem einsamen Strand, an dem er kurz nach Mittag seinen Proviant verzehrte, auf ein großes Büschel aus kleinen Sandblumen gesetzt hat, an denen Bienen saugten; und er erinnert sich wieder an den honigsüßen Duft, der aus diesen Blüten stieg, während er den rohen Schinken und das gebutterte Brot aß, die er heute morgen in Perpignan gekauft hatte. Vor fünf Tagen war er losgefahren, und er sagt sich, daß er, wenn er einen guten Vorwand fände, hier seine Reise unterbrechen und schon anfangs der nächsten Woche zurückkehren würde, anstatt anschließend nach Tarragona zu fahren, wie er es seinem Cousin Antonin versprochen hat. Antonin wohnt in Nîmes. Er trägt den Namen jenes Kaisers aus Nîmes, den die Historiker dafür preisen, dass er das schamlose Verhalten seiner Gemahlin Faustina vor der Welt zu verbergen vermochte (während er vor der Geschichte überhaupt nichts zu verbergen verstand!). Den Mädchen aus Nîmes müsste man den Vornamen Faustine geben, sagt sich Sigismond, der bei jeder Gelegenheit und ohne jeden ritterlichen Geist, sondern weil er sich auf männlichem Gebiet langweilt, Partei für die Frauen ergreift. Drei Tage in Barcelona verbringen (der gesamte Montag wäre Geschäften vorbehalten), dann dienstags wieder zum Landhaus zurückkehren, wo Sergine ihn erwartet, das wünscht er jetzt allzu bestimmt, als dass er nicht davon überzeugt ist, nur das zu tun, was ihm passt. Was den Grund betrifft oder die Entschuldigung, die ihm noch fehlt, so wird sie kommen oder er wird sie erfinden, denn er hat genügend Zeit vor sich und seine Vorstellungskraft verfügt über Mittel, die er manchmal gern für beinahe weiblich gehalten hat. Das beste wäre natürlich, Sergine hätte ihm geschrieben und ihn an Dringliches erinnert. Warum hätte sie das, recht bedacht, doch nicht getan?

Ein Ruf, der eine Art Wehklagen ist und in recht großen Zeitabständen ertönt, ist seit Kurzem zu hören. Er dringt durch das offene Fenster von der Straße herein (nur das Rouleau ist heruntergelassen, das zwar die Sonne abhält, nicht aber den Lärm), und es ist zu vermuten, dass er aus der Kehle einer zweifelsohne betagten Frau kommt. Seine Bedeutung ist schwieriger zu erkennen, und Sigismond, der seit den ersten Malen, als er erklungen ist oder sich in seinem Bewusstsein festgesetzt hat, die Ohren spitzt, ist erstaunt und verärgert, dass bei ihm nur das Wort »Parabel« hängenbleibt, das ganz offensichtlich nicht das richtige ist. »Parabel«; sein Ohr erwartet die drei Silben (die dritte schleppend), und, ganz gleich, was er tut, er könnte ihnen keinen anderen Sinn geben. Aber die Bemühung und der Ärger waren dazu nutze, ihn aus der Erstarrung zu reißen, in der sich zumindest sein Körper befand. Er nimmt von der Holzplatte des Nachttischs die Armbanduhr, die er dort, bevor er sich ausstreckte, hingelegt hatte. Fast halb sechs, liest er im schwachen Tageslicht auf dem Zifferblatt, während sich seinen Ohren ein weiteres Mal der Truglaut »Parabel« aufdrängt. Alles stünde zum Besten (keine Lüge wäre nötig), sagt er sich nochmals, wenn Sergine seine sofortige Rückkehr verlangen würde. Und er entsinnt sich, dass sie vereinbart hatten, sie werde ihm postlagernd nach Barcelona schreiben. Wieder hellwach, denkt er, dass die Postämter samstags vielleicht zeitig schließen, wahrscheinlich spätestens um sechs; es ist ihm also kaum noch möglich, vor Schalterschluss dort zu sein, selbst wenn er sich beeilt. Höchstwahrscheinlich wird er vor Montagmorgen keine Nachricht haben.

Ebenso gut könnte er im Bett bleiben. Aber eines der Wunder der Siesta ist das jähe Auftauen, mit der sie endet: als ergösse sich ein warmer Strom in den erstarrten Körper. Überdies weiß Sigismond, dass der regelmäßig aus der Gasse aufsteigende Ruf ihm unerträglich werden wird und dass er sich nur davon befreien kann, wenn er dessen Sinn begreift (was nicht in seiner Macht steht) oder wenn er sich vom Ursprung des Gebrülls entfernt. Dann wirft er das Laken, unter dem er nackt war, zurück und springt aus dem niedrigen Bett. Das erste, was er im Stehen ergreift und anzieht, ist der Slip. Er lag auf der Lehne eines nahen Sessels, wohin er ihn nach dem Entkleiden achtlos geworfen hatte. Die anderen Sachen sind auf der Rückenlehne ordentlich zurechtgelegt; doch darum kümmert er sich noch nicht, da er, zwischen Duschraum und Waschbecken stehend, in dem Spiegel über dem Becken sieht, dass er zerzaust ist; und er streicht ein wenig frisches Wasser über sein Gesicht und seine Haare und kämmt sich dann, erfreut darüber, auf der Glasplatte die Toilettenartikel vorzufinden, die er bei der Ankunft vorsichtshalber aus der Reisetasche genommen hatte, während der andere Koffer noch nicht geöffnet worden war. In geglättetem Zustand ist sein Haar nicht gerade üppig; es bildet gleichsam eine leicht gekräuselte Grenzscheide zwischen einem Ansatz von Glatze auf der Stirnseite und der Kahlheit des Kopfgipfels. »Obwohl mein Haar kastanienbraun wirkt«, sagt sich Sigismond, »bin ich in Wirklichkeit rothaarig, so wie mein Vater. Ich habe die rosig grauen Augen des Rothaarigen. Meine Gesichtshaut, die sich rötet und Flecken bekommt, ohne braun zu werden, und die Haut meines gänzlich weißen Oberkörpers sind Attribute der Rothaarigkeit.« Und er denkt, dass Sergine ihn nicht ohne Grund manchmal mit einem Fuchs verglichen hat, obwohl in seinen Gesichtszügen eher Naivität als Hinterlist liegt, obwohl seine Miene nichts Spitzes, sein Gang nichts Räuberisches hat. Sein Bart, den er heute früh in Perpignan rasiert hat, beginnt nachzuwachsen und sprießt ausgesprochen kupfern auf den Unebenheiten hohler Wangen. Seine Zähne haben einen Glanz, auf den Sergine, die, im Unterschied zu ihm, aufs Rauchen versessen ist, unentwegt neidisch war.

»In etwas weniger als zwei Monaten, wenn die Sonne ins Zeichen Krebs tritt«, sagt er sich noch, »werde ich zweiundvierzig.« Sergine ist achtundzwanzig. Unabsichtlich hat er eine kleine Szene nachgeahmt, die bei seiner Frau gang und gäbe ist: sich täglich mit bloßer Brust vor dem Spiegel des Rokokofrisiertisches mit einer Sorgfalt und Strenge untersuchen, die sie allzu oft dazu bringen, ihr Alter zu erwähnen. Als er dies bemerkt, schämt er sich ein wenig und ist auch zufrieden, im Zimmer des Hotels Tibidabo gleichsam ein Widerschein derjenigen gewesen zu sein, die sich im Landhaus (oder im Garten des Landhauses) in der Umgebung von Montpellier aufhält. Bestimmt hat der Frisiertisch als Unterlage gedient, wenn sie den Brief (oder die Briefe) geschrieben hat, die er heute Abend oder am Montagmorgen am Schalter für postlagernde Sendungen vorfinden wird. Ach, könnte er nur zeitig da sein, sogar heute noch!

Als er einen Schritt vom Waschbecken weg macht, findet er sich im Sessel wieder, auf dem seine Kleider liegen (so winzig ist das Einzelzimmer im Hotel Tibidabo, verglichen mit den schönen Räumen des Landhauses); und er zieht die schwarzen Socken an, die auf den großen gelben Fußbodenfliesen herumlagen, schlüpft in die Wildleder-Mokassins, die jenen Gesellschaft leisteten. Dann erhebt er sich und streift sich das beige Polohemd aus Baumwolle über, auf dem er gesessen hat. Die maulwurfsgraue Tergalhose kostet ihn etwas Zeit, denn sie ist, gemäß der sogenannten italienischen Mode, eng in den Beinen, und gewiss hätte Sigismond sie besser vor den Schuhen angezogen (sehr oft hat er daran gedacht). Die Lederweste kommt im Nu darüber. Keine Krawatte; kein Bedürfnis, den Kragen zuzuknöpfen; die Taschen von Weste und Hose sind noch nicht geleert worden; die Armbanduhr, deren Zifferblatt jetzt Viertel vor sechs zeigt, hat ihren Platz am Handgelenk des Reisenden wieder eingenommen. Er ist jetzt genau in der gleichen Aufmachung wie beim Verlassen des Wagens.

Als er die Tür öffnet, kommen ihm die seltsamen Spiele in den Sinn, die Sergine mit dem Spiegel ihres Frisiertisches treibt, wenn sie ihn auf der waagrechten Achse in eine langsame Drehung versetzt, um ihre Spiegelung in immer stärkerer perspektivischer Verkürzung zu sehen, bis ihr Bild völlig getilgt ist. Es scheint ihm, als sähe er das Gesicht seiner Frau wieder, das, kurz vor dem Verschwinden, dünn wie eine Klinge ist, als hörte er ein Lachen, das man nur noch kristallin nennen könnte. »Adieu Sergine Montefiore«, pflegte sie in diesen Augenblicken zu sagen, wobei sie ihrem Mädchennamen den Vorzug gab. Er hat sie auch sagen hören, dass sie sich auf diese anamorphische Weise vor der Nase der Dominikanerpater und ihrer Henkersknechte dünngemacht hätte, wenn sie zur Zeit der Inquisition gelebt hätte. Soweit er sich erinnert, hat er immer ein Gefühl der Beklemmung verspürt, ja, hat sogar wirklich gelitten, wenn er ihr bei solchen Spielen zusah, sie aber nie gebeten, damit aufzuhören. Von der Straße her erhebt sich abermals der klagende Ruf; bevor er endet, schneidet Sigismond ihn ab, indem er die Tür hinter sich schließt; und bei dieser Gelegenheit trennt er sich auch von der peinlichen Erinnerung. Der Schlüssel steckt außen. Er zieht ihn aus dem Schloss und stellt fest, dass er in Nummer siebzehn wohnt, was er vergessen hatte und was er wahrscheinlich wieder vergessen wird, sobald er das kleine Messingschild mit der Gravur nicht mehr in den Fingern haben wird.

Ein Zimmermädchen, das eine Aufpasserin sein könnte, ist lautlos aufgetaucht und zeigt ihm, während sie ihn etwas schwerfällig mit ihren braunen und schönen Augen ansieht, den Aufzug, den sie durch Knopfdruck hat kommen lassen. Aber er wird lieber hinter ihr die Treppe hinuntergehen, denn am wenigsten zweifelhaft an der Situation ist die Tatsache, dass das Zimmer im ersten Stock liegt und er im Nu unten sein wird. In dem engen Gang tritt sie unter einer Leuchte mit zwei Glühbirnen gegen die Wand zurück, und er geht an ihr vorbei, ohne sie zu berühren, doch er betrachtet sie dabei, wie sie ihn betrachtet, er atmet dabei tief ein, damit sie versteht, dass er von ihr etwas Intimeres erfasst hat als einen Zipfel ihres leichten schwarzen Kleids. Sie mag Wächterin, Spionin oder fügsames Dienstmädchen sein, jedenfalls ist sie von einem Ambraduft umweht. Er dreht sich nicht um, als er die ersten Stufen hinabsteigt, aber er weiß, dass sie ihm nachschauen wird, bevor sie auf ihren grauen, lautlos gleitenden Filzschuhen woanders hingeht.

Die Treppe ist wirklich kein Problem. Nach zwei Biegungen landet er vor der Portierloge, in einem recht langen und nicht sehr breiten Vorzimmer, das gewiss nicht den Namen Eingangshalle verdient, mit dem das Dienstpersonal es benennen muss. Eine Pendeluhr an der Wand geht gegenüber Sigismonds Uhr um sechs bis sieben Minuten nach, aber selbst wenn seine falsch ginge, stünde der Büroschluss in etlichen Ländern nicht minder kurz bevor, zumal am Samstagabend, der ein erschwerender Umstand ist. Unter der Pendeluhr, hinter dem engen Schalter (der so gebaut ist, dass man ihn teilweise drehen muss, um hineinzugelangen) sitzt ein Mann, derjenige, den Sigismond bei der Ankunft nach einem Zimmer gefragt hat. Hat auch er Siesta gehalten oder ist er gar die ganze Zeit über dort geblieben? Man würde zur zweiten Annahme neigen, angesichts der müden und gelangweilten Miene, mit der er sich, wie ein alter, abgestrafter Oberschüler, hinter seinem Brett aus dunklem Holz hält. Er legt jedoch seine Zigarette ab (im Knick eines Gästebuchs, das auf dem Brett ausgebreitet ist), als Sigismond auftaucht, und er grüßt ihn mit einer weniger beflissenen Höflichkeit als beim ersten Mal. Einmal abgesehen von jeder Altersfrage, lassen seine kleinen, erloschenen Augen, seine Habichtsnase, sein trauriger Gesichtsausdruck daran zweifeln, dass er dem gleichen Menschenschlag angehören könnte wie das schöne Zimmermädchen. Sigismond befragt ihn hastig über das, was ihn am meisten interessiert. Ist das Hauptpostamt weit entfernt? Ist der Schalter für postlagernde Sendungen nicht schon geschlossen oder schließt er gerade? Wenn er mit seinem Wagen fährt, den er nicht weit vom Hotel, auf dem Mittelstreifen der Plaza Real, geparkt hat, oder wenn er ein Taxi nimmt, wäre es ihm dann noch möglich, rechtzeitig dort zu sein und zu erreichen, dass man ihm heute Abend noch seine Post aushändigt?

»Sie haben noch genug Zeit, mein Herr«, sagt der traurige Mann. »Zur Hauptpost ist es nicht weit; die Schalter schließen erst spät in der Nacht. Sie werden ihre Post sofort bekommen, wenn irgend etwas für Sie da ist.«

Er verstummt, gewiss in der Hoffnung, den Gast zufriedengestellt zu haben und ihn gehen zu sehen. Doch als Sigismond sich daraufhin nicht rührt, sagt er ihm, er könne mit seinem Wagen die Rambla hinabfahren und den Paseo de Colón nehmen, der ihn direkt zum Postgebäude führen wird, aber es sei einfacher, zu Fuß dorthin zu gelangen, durch die Gassen, in denen man immer Schatten hat. Sigismond, der lieber geht als fährt, folgt seinem Rat, aber er möchte sich nicht verirren. Der Mann gibt ihm einen Stadtplan, einen Prospekt des Hotels Tibidabo, und zeigt ihm seinen Weg, ganz einfach, wiederholt ihn von der Türschwelle bis zum Postschalter. Er gibt ihm auch seinen Pass zurück, den er brauchen wird, um, im besten Fall, das an ihn Adressierte abzuholen. Und er nimmt wieder Platz, wobei er die Augen abwendet, um höflich zum Ausdruck zu bringen, dass er nichts mehr zu sagen hat.

Ob er wohl ein Portier ist oder vielleicht der Pächter oder gar der Besitzer des Hotels? Im Übrigen einerlei, da er sich deutlich zu den Fragen geäußert hat, die ihm gestellt wurden. Besser lässt man ihn in Frieden, jetzt, wo er in seine Öde zurückgekehrt ist wie in eine Dunkelkammer. Sigismond lässt ihn zurück. Das Tageslicht liegt vor ihm, am Ende des langen Vorzimmers, und etwas weiter, ein wenig links in Luftlinie, sagt er sich, wartet (mindestens) ein Brief auf ihn, ein Brief mit Nachrichten von Sergine.

Jenseits der Treppe wird das Vorzimmer ein wenig breiter, um zwei kurzen Sofas Raum zu geben, die, wie die Sitzbänke in Speisewagen der Bahn, Rücken an Rücken aufgestellt sind. Bläulich schimmernde Säulen, die mit winzigen spiegelnden Fliesen belegt sind, geben vor, die Decke zu tragen. Diese ist von Oberlichtern mit trübem Glas durchbrochen, die wohl abends beleuchtet werden. Kupfer- oder Glasvasen mit Blumen, die ganz offensichtlich künstlich sind, stehen auf einigen Tischen oder hängen am Wandschirm. Bei näherer Betrachtung lässt dieser armselige Luxus weniger an den Zug als an die untere Etage eines kleinen Postdampfers denken, der in Sardinien oder den Balearen seinen Dienst tut. »Touristenklasse«, sagt Sigismond mit lauter Stimme. Dann ist es ihm peinlich, dass er, wie ein Schwachsinniger, vor sich hin geredet hat, und er geht mit großen Schritten auf die Tür zu.

Rasch ist sie erreicht, und mit dem ersten leichten Stoß, den er ihr gibt, öffnet sie sich; dann überschreitet er die Schwelle. »Escudillers«, sagt er sich (diesmal in Gedanken), während er sich entsinnt, wie verlockt er war, als sein Cousin ihm von dieser engen Straße erzählte, an welcher das von ihm empfohlene Hotel Tibidabo liegt. Auf dem gegenüberliegenden Gehsteig aber stößt eine Kehle jenen Ruf aus, der ihm kurz zuvor, wegen seiner heiseren Beharrlichkeit und weil er im Zimmer unverständlich blieb, hart zugesetzt hatte. Jetzt sieht er die gebrechliche Frau (zumindest stützt sie sich auf Krücken), die diesen Ruf beim Feilbieten von Lotterielosen ausstößt; er versteht seine Bedeutung sofort und schimpft sich einen Idioten, dass er nicht vorher verstanden hatte und dass er in Wut geraten war. »Para hoy«, »schon heute«, das schreit die Bettlerin, und zwar mit einem markerschütternden Laut, der aus der Tiefe des Erdbodens zu kommen scheint, als wäre ihr eingesackter Körper nur ein mit Lumpen bekleidetes Megaphon. Und als sie bemerkt, dass Sigismond sie beobachtet, verdeutlicht sie ihren Ausruf und verkündet »dinero para hoy«, »Geld schon heute«.

So viel Energie, wenn nicht in der Geste, so doch im Schrei, verdiente es, belohnt zu werden, doch Sigismond ist ebensowenig an Gewinn interessiert wie er mildtätig ist (gewinnen langweilt ihn genauso wie verlieren; geben fällt ihm schwer), und er betrachtet die ihm vom anderen Gehsteig entgegengereckten Lose mit der gleichen Neugierde, die er für hübsche rosa Fische aufbrächte, die sich hinter der Scheibe eines Aquariums vor seiner Nase scharen. Jählings ist das Glück, sich fremd zu fühlen, in ihm aufgestiegen. Er ist zufrieden, ja, um sechs Uhr nachmittags (oder fast) in Barcelona zu sein, in der Calle Escudillers, inmitten eines Venedig aus kleinen Gässchen, wo man fast nur zu Fuß unterwegs ist; und sein Blick sucht hinter der Bettlerin die Weinschenken, die Seemannskneipen und die Stuben der Freudenmädchen, die er nicht bemerkt hat, als er mit seinem Gepäck eintraf, aber von denen es in der Umgebung wimmeln müsste, wenn es stimmt, was ihm der Cousin erzählt hat. Er ist zufrieden, da zu sein, inmitten der Läden der Lust, die seine Augen in der Tat allmählich rechts und links erkennen, als wäre er nun nicht mehr vor den Scheiben eines Aquariums, sondern (was auf das Gleiche hinausläuft) in einem Taucheranzug mit durchsichtigem Helm, eingetaucht in ungeheuerliche Tiefen. Einsam jedenfalls inmitten einer Umgebung, die er, wie ein Schauspiel, außerhalb seiner Person lassen kann. Anonymer Zeuge in einer Menge von Dingen und Wesen, deren Beziehungen zu ihm keine Bedeutung hätten, wenn er sie ihnen nicht beimessen wollte, nicht mehr und nicht weniger wie in einem Traum, an den man sich wieder erinnert.

In dieser Art angenehmen Entfremdung, die er genießt, da er durch die Siesta ausgeruht ist und alle Sinne wach sind, beschäftigt ihn die Frage nach Beziehungen und Kontakten recht stark; es ist nicht der geringste Teil seines Glücks, zu wissen, dass es ihm freisteht, nach Belieben die Verglasung zu öffnen und den Taucheranzug zu verlassen (oder dort ein Objekt seiner Wahl hinein zu lassen).

»In der Escudillers«, hat Antonin Pons ihm erzählt (als er ihn bat, für ihn einzuspringen, während er sich von einer schlimmen Grippe erholte, die ihn an seiner Geschäftsreise als Vertreter für Aperitifs und Likörweine hinderte), »wirst du nachts, abends, am Ende des Tages und sogar vormittags in einem Meer von Mädchen schwimmen.« »Meer«, ist offensichtlich nicht das passende Wort, und der Mann aus Nîmes hätte richtiger von Kanal oder Bach, gar von Rinnsal, gesprochen, aber er drückte sich immer in Allgemeinplätzen aus, vielleicht weil er sich in den Stadtrat zurücksehnte, in dem die Wähler ihm nicht mehr erlaubten, seinen Sitz einzunehmen, nicht weiter schlimm. War es zum Teil übertrieben, hat er gelogen, wurde er von seiner Einbildungskraft genarrt, versuchte er sich männlich darzustellen; oder war an seinen Worten etwas ernst zu nehmen? Der Kanal zwischen der (vorübergehend stummen) Bettlerin und Sigismond ist angefüllt mit hin und her hastenden Leuten, jetzt zu dieser Stunde, wo sich die Stadt abermals belebt, als hätte sie endlich das schwere und späte Mittagessen verdaut. Die Frauen sind dabei in der Minderheit, doch hat Sigismond bei zwei von ihnen eine Schminke, eine Frisur und eine Kleidung beobachtet, die wenig Zweifel an der Sparte ließen, der sie angehörten. Ohne jedoch den Passanten den geringsten Blick zu schenken, sind sie in eine der Bars eingetreten, die Sigismond soeben bemerkt hat und die draußen durch lauten Krach von Plattenspielern auf Kundenfang gehen. Na ja, der Cousin hat ein wenig übertrieben, gewiss, aber nach den ersten Befunden waren seine Worte kein Trug.

Obwohl die Sache nicht drängt (dem traurigen Mann vom Empfang zufolge), wäre es doch Zeit, die Nachrichten von Sergine abzuholen. Zwei Wege zur Hauptpost bieten sich an: der Calle Escudillers in Gegenrichtung zur Rambla folgen oder erste überqueren und eines der Gässchen nehmen, die sich gegenüber öffnen. Sigismond rührt sich jedoch nicht von dort, wo er nach dem Überschreiten der Schwelle auf dem Gehsteig stehengeblieben ist und wo die Losverkäuferin ihn belauert. Er denkt immer noch an den Cousin; er wälzt Gedanken in seinem Kopf, die, wenn sie ihm auch nicht beschämend vorkommen (anderen könnten sie so erscheinen), zumindest merkwürdig sind (wie er sich eingesteht).

So erinnert er sich (und es will ihm nicht aus dem Kopf gehen), dass er gestern Abend in Perpignan in zwei verschiedenen Apotheken jeweils Präservative und Insektenpulver zur Anwendung beim Menschen (gegen Körperläuse) gekauft hat. Die Schachtel mit dem Pulver befindet sich unten in der Reisetasche in seinem Zimmer, und das kleine Etui aus metallisiertem Karton, in dem die (drei) Präservative sind, steckt in der vorderen Tasche seines Portemonnaies, über dem sich soeben, in seiner rechten Hosentasche, seine Hand wieder schließt. So ist das also, ganz unbestreitbar, obwohl er bis jetzt, seit mehr als fünf Jahren Ehe, Sergine immer treu geblieben ist und sogar nicht einmal versucht hat, untreu zu sein. Aber die Schilderungen und Prahlereien des Cousins, als er ihm von der Calle Escudillers und ihrer Umgebung erzählte, haben in ihm eine Art Schloss geöffnet oder eine Art Riegel zurückgeschoben, an die er zuvor nie gerührt hatte und die den Zutritt zu einem Raum, den der Traum ihm manchmal flüchtig zu schauen erlaubte, unerbittlich versperrten. Nun ist es auch unbestreitbar, dass die Träume, die ihn einst im geheimen in das Vergnügungsviertel eines gewissen Mittelmeerhafens entführten, der außerhalb jeder Wirklichkeit lag, ihm nun jäh durch den Vorschlag von Antonin Pons wieder in Erinnerung gebracht worden sind, als wäre ihm unmittelbar ein verborgener Übergang gezeigt worden, auf dem er sich leibhaftig in den Traumraum begeben könnte; und nichts so sehr wie das hat ihn davon überzeugt, einzuwilligen.

Reisender in Weinen und Aperitifs: Sergine hat gelacht, als Sigismond ihr erzählte, dieses Geschäft betreibe er dort etwa zehn Tage lang … Sie hat tatsächlich nie von den erhellten Straßen der Stadt gewusst, durch die er im Traum wandelte; mit triftigerem Grund weiß sie nichts von dem, was er (vielleicht) in der Umgebung der Calle Escudillers finden wird. Und wenn sie ohne Weiteres seiner Abreise zugestimmt hat, so aus dem Grund, unaufhörlich über ihn spotten und weitere Spottreden vorbereiten zu können, um ihn, wie er weiß, bei seiner Rückkehr zu empfangen. »Was für einen schönen Limonadenvertreter wirst du abgeben«, hat sie ihm gesagt; »was für einen Erfolg wirst du bei den Schluckspechten haben!«

Wie bei den meisten anderen Dingen, lachte sie auch hier durchaus zu Recht. Sigismond hat die Geschäftsreise seines Cousins Antonin ohne jeglichen Eifer erledigt, und mehr Erfolg als dieser hat er auch nicht gehabt. Er hat in Sète, Béziers, Pézenas, Narbonne und Perpignan Station gemacht, doch kommt es ihm vor, er habe während dieser fünf Reisetage tief geschlafen oder sei eher von einer Art krankhaften Ohnmacht, einer extremen Kraftlosigkeit, befallen gewesen; und er will oder könnte sich nicht an die geringste Einzelheit der trübseligen Orte oder der gewöhnlichen Leute erinnern, die an seinen Augen vorbeigezogen waren. Einzig die Stadt Pézenas hat einige Spuren in seinem Gedächtnis hinterlassen, und zwar wegen der Rue des Litanies und der Rue de la Juiverie, hinter deren düsteren Fassaden er sich mit Rührung die Vorfahren von Sergine vorgestellt hat; und dann wegen der verrückten Malereien im Speisesaal des Grand Hotel und den ausgefallenen Späßen der o-beinigen Kellnerin, die dort auftrug. Der ganze Freitag, den er in Perpignan verbrachte, ist für ihn wie eine Bühne ohne Bühnenbild und Schauspieler, bis auf das, was er sich von den beiden Apotheken und dem Mann und der Frau gemerkt hat, die ihm mit einem fast gleichen Lächeln (so als ob er nicht den Laden gewechselt hätte!) das Gewünschte gegeben hatten. Sobald ihm beim Grenzübertritt der spanische Zöllner die Weiterfahrt gestattet hatte, belebte er sich wieder. Er hat sich aufgemacht und dabei die Internationale gepfiffen; hat beschleunigt und ist ganz konzentriert bis zum zweiten Zollposten gefahren, einige Kilometer vom ersten entfernt. Während dort seine Identität (oberflächlich) überprüft wurde, hat er ein Fotoportrait des Gebieters von Spanien erblickt, das mit Reißzwecken über dem Schalter befestigt war: als wäre es ein stinkendes Tier über der Tür eines Hexenhauses; und sein Blick heftete sich derart nachdrücklich auf den aufgeblähten Generalissimo, dass man ihm seinen Pass nur zögerlich zurückgab. »In Spanien und vor allem in Katalonien«, sagte er sich, »betrachtet man besser nicht all zu sehr das Aufgeblähte …«

Er wäre imstande, lange Zeit wie angewurzelt stehenzubleiben, doch was ihn aufschreckt und aus seinen Gedanken reißt ist der Ruf »para hoy«, der so wütend ausgestoßen wird, dass er ihn als eine Verletzung des Gehörs empfindet; denn da die Bettlerin sieht, dass er sich nicht zum Kauf eines Loses entschied, hat sie wieder seine Aufmerksamkeit auf sie lenken wollen und sich in seine Richtung geneigt, wobei sie sich auf eine außerhalb des Gehsteigs gestellte Krücke stützt, um ihrem Gesuch mehr Schwung zu verleihen. Sie wird nicht mehr schweigen, das ist gewiss. Sie könnte sogar gut mit einem Satz den schmalen Weg überqueren und bei ihm landen, direkt in sein Ohr brüllen, giftigen Geifer speien. Dann entschließt er sich, die Gasse zu überqueren, um die Sache zu beenden und wieder in die Abgeschiedenheit zurückzukehren, in der er eine Art Glück gefunden hatte. Ohne vor der gekrümmten Alten haltzumachen, die gerade Atem schöpft, geht er rasch nach links und stürzt sich, an der Ecke des Restaurants Los Caracoles, in die Calle Nueva de San Francisco.

Sie ist noch enger als die Escudillers, viel weniger belebt, ohne Gehsteige, und wenn sie zu all den Stunden, in denen die Sonne nicht senkrecht steht, im Schatten liegt, wird man keinen anderen Grund für den üblen Geruch suchen, der unten von den Mauern aufzusteigen scheint. Auf einem Stuhl vor dem leeren Speisesaal sitzt der Wirt des Los Caracoles, eine Riesengestalt als lebendige Reklame für seinen Laden. Seine Beine sind unterhalb der Wade durch eine Blecheinfassung verdeckt; dies könnte, in Verbindung mit seinen angeschwollenen, auf den Knien ruhenden Händen und der Färbung seines Gesicht, den Eindruck erwecken, dass er gerade ein Fußbad nimmt, um sich vom Blutandrang zu befreien. »Du wirst die Paella des Los Caracoles essen«, bekam Sigismond von seinem Cousin gesagt, der hinzufügte, es sei eine derart üppig mit Fleisch, Fisch, Krusten- und Schalentieren und Gemüse garnierte Reisplatte, dass er kein anderes Mahl zu sich zu nehmen bräuchte. Die pompöse Gastronomie der Tradition von Nîmes hat Sigismond oft gelangweilt; dennoch ist es noch offen, ob er dem Rat folgen wird oder nicht.

Sein Blick wandert von dem lückenhaften und schmutzigen Straßenpflaster zu den leuchtenden Schildern, die über den Türen und Fenstern blühen und wie Orchideen wirken, Schmarotzer auf düsteren Baumstämmen, von diesen geduldet. Derart durch die schöne Farbe der Schilder gefesselt, erweitert er den Katalog um die Bar La Macarena, die Bar Patio Andalus, das Restaurant El Camarote, und sogleich spricht er Wörter aus, die er registriert, ohne sie unbedingt verstehen zu wollen: »Tú Tú Drogueria – Pinturas Titanlux – Colores Nerca – para beber agua Fonter, bodega los tres hermanos«; dann führen ihn seine Schritte vor die Bar Saint-Germaindes-Prés und die Bar Madeira, in deren Inneres er, durch eine bemalte Scheibe, einen kurzen Blick zu werfen versucht. Er fühlte sich nicht gerade wohl in dieser Rolle als Neugieriger oder Spion, die er zum ersten Mal in seinem Leben einnimmt, und hat so einen kleinen Jungen nicht kommen sehen, der auf seinem Kopf einen Stoß von Telefonbüchern trug und der, da auch er Sigismond nicht gesehen hat, mit ihm zusammenstößt. Doch, Glück gehabt!, die Telefonbücher fallen nicht herunter. Mit einer Handbewegung (denn in diesem fremden Land ist er seiner Bewegungen sicherer als seiner Worte) schiebt er das Kind zur Seite und beschleunigt den Schritt, um auf der Höhe einer jungen Frau zu bleiben, die, längs der gegenüberliegenden Hauswand, in die gleiche Richtung geht wie er. Sie ist muskulös, und ihre Haare sind fast so kurz wie bei einem Mann und beinahe strohgelb aufgehellt. Sie kommt wahrscheinlich vom Strand zurück, falls es ein Handtuch ist, das sie unter dem Arm eingerollt trägt und das einen feuchten Badeanzug enthalten könnte, der ihren Körper umhüllt hätte. Die Sonne hat ihr ungeschminktes Gesicht und ihre breit aus einem engen Kleid ragenden Schultern gerötet. Ihre Füße sind nackt in den beige Ledersandalen; einer ihrer Fußknöchel, der linke, ist wundgescheuert, und ihre Zehennägel tragen nur Spuren von Nagellack. An ihrem Gang und ihrer Haltung ist nichts Kokottenhaftes, doch haben ihre großen kastanienbraunen Augen einen hurtigen Blick auf Sigismond geworfen (einen »verstohlenen«, sagt er sich, hätte der schulmeisterliche Cousin gesagt), und in der Hand, die soeben das Kind mit den Telefonbüchern zurückgestoßen hat, verspürt er, wie ihm scheint, die robuste Schulterrundung von jener. Nachdem sie an der Inter Club Bar vorbeigegangen ist, tritt sie jedoch in die Pension Toledo ein, und sie hat sich nicht zu dem Verfolger umgedreht, der weiß, dass er nicht unbeobachtet geblieben ist. Er verweilt einige Augenblicke vor der Pension (von üblem Aussehen), während sein Blick auf geschlossene Fensterläden lauert; aber seine Hoffnung darauf, dass ein Fenster geöffnet wird und eine Gestalt sich hinauslehnt, um ihm zuzulächeln oder ihn zu verspotten, wird enttäuscht; er macht sich wieder (langsam) auf den Weg. TINTORERIA LINA, BAR GALLEGO, diese Aufschriften und die Einrichtungen, die sie bezeichnen, sind für ihn Vorwände, um sich zu vergewissern, dass die sonnengebräunte Passantin nicht wieder hinter ihm aufgetaucht ist. »Warum hat die sonnengebräunte Haut zugleich etwas von Angebot und Ausflucht?«, fragt er sich und denkt dabei an Sergine, die so sehr nach Sonnenstrahlen giert, dass sie sich ihnen sogar im Winter auf einer Terrasse des Landhauses aussetzt, um nie bleich zu sein. Ein weiteres schönes Schild fesselt seinen Blick, das der Bar der Vier Asse (LOS 4 ASES Y SU SALON in Fettschrift über einer Tafel mit einem Herz-As), und im Innern, hinter der Theke, erwarten zwei Kellnerinnen den Gast. Sie sind von derart gleicher Bräune, dass sie Schwestern sein könnten. Unter einer mächtig aufgeputzten Palme (Gedenken an Palmsonntag) ist in einem Schaufenster fast an der Straßenecke eine Strumpfstopferin bei der Arbeit; sie sitzt nahe einer kleinen Nähmaschine unter einer starken Lampe. Sigismond, der die Frau betrachtet, ohne dass sie ihn betrachten möchte, entdeckt einen schelmischen Ausdruck in ihrem Gesicht, das weder alt noch jung ist und das nur Dunkelheit oder Kunstlicht erlebt hat. Er geht weiter.

Jetzt steht er vor einem kleinen, ein wenig abseits vom Paseo de Colón gelegenen Platz, dem des Herzogs von Medinaceli. Die Statue eines Admirals von einst, des Katalanen Galceran Marquet, befindet sich auf einer hohen Säule inmitten eines Palmenkarrees, das jener mit dem Gehabe des königlichen Perversen beherrscht. Sigismond, der seinen Weg auf dem Stadtplan überprüft hat, nimmt linker Hand die Calle del General Primo de Rivera, durch die er den Platz La Merced erreicht; dort ruft ihm der hübsche Barockstil und die Ambrafarbe der Fassaden wieder eine Reise ins Gedächtnis, die er vor drei Jahren mit seiner Frau nach Rom unternommen hatte. Sergine hatte Rom geliebt. Warum hatte sie sich dann bei der Rückkehr launischerweise eingeredet, sie hasse die Reisen, warum hat sie von diesem Zeitpunkt an beharrlich erklärt, dass es schon eines Unglücks bedürfe, um sie nochmals aus dem Landhaus herauszubringen? »Wenn ich ihr in diesem Augenblick die Hand hielte, würde sie die sanfte Stille des Platzes La Merced mögen«, sagt sich Sigismond, und ohne schlechtes Gewissen fragt er sich, warum sie nicht an seiner Seite ist. Leicht könnte er ihr vorwerfen, dass sie abwesend ist, wenn er vergisst, daß sie es kaum wäre, wenn er sie eingeladen hätte, zu kommen. Durch diesen ungewollten Kunstgriff wieder in den Stand der Unschuld gesetzt, stößt er am Ende des Platzes auf die Calle de la Fusteria, und nach wenigen Schritten gewahrt er, von der Seite her, das große Postamt, ein ziemlich ungeschlachtes Gebäude, das, nicht weit vom Bahnhof gelegen, zum Hafen hin blickt.

Die Sonne steht bereits tief und ist dennoch heiß, wenn man aus den engen Straßen kommt; und auf dem weiten Platz herrscht weiterhin die sanfte Atmosphäre von La Merced, trotz der Anwesenheit von drei amerikanischen Anti-Torpedobooten, die am Hafenkai angelegt haben und so etwas wie Krallen gen Himmel richten. Sigismond wendet ihnen den Rücken zu, da ihn die anmaßende Maßlosigkeit des Postpalastes stärker anzieht. Dieser wurde durch eine Brücke (zur Genüge »Seufzerbrücke«) mit einem neuen, dahinter errichteten Gebäude verbunden; mit seinen großen Wänden aus glasierten Ziegeln auf blockartigen Sockeln ist es armselig und einfallslos wie eine Kaserne. Im Gegensatz dazu strotzt das Hauptgebäude vor Üppigkeit, sowohl durch das Material, eine schöne graue und rosa Brekzie, als auch durch die Ausschmückung, zu der wohl Tausende von Bildhauern und Steinmetzen beigetragen haben. Das Ganze erinnert an ein maßloses Backwerk, durch dessen Anblick man Lust zu kotzen bekäme, und ebenso an das Exkrement eines riesigen Tiers oder eines Genies, das alle vom Menschen ersonnenen Stile gierig verschlungen hat. Sigismond findet durchaus Geschmack daran, nimmt das Unpassende aufs Korn und nähert sich mit langsamen Schritten.

In der Höhe, unter kleinen, im Blau dahinziehenden Wolken, halten zwei nackte Kinder das Wappen von Kastilien zwischen ihren rundlichen Körpern. Die Krone wird von einer Fledermaus überragt (der murciélago, einem Tier, das nichts Gutes verheißt, denkt Sigismond, der sich an ein Kompliment erinnert, das, wie ihm gesagt wurde, den Mädchen dieses Landes, in dem er weilt, oft gemacht wird: »Deine Augen sind so schwarz wie die Zukunft Spaniens«.) Seitlich scheinen vier Statuen, die noch wuchtiger sind als ihre Proportionen es verlangen würden, mit Speck und Linsen genährte Modelle zu verherrlichen; sie werden von zwei Türmen mit Pilastern flankiert, deren Entwurf sich zweifelsohne den anmutigen Launen von Borromini verdankt, die Sergine in Rom bezauberten. Doch ist der Beobachter, der mehrere Stufen der Freitreppe erstiegen hat, jetzt so nah an der Fassade, dass er sie nicht mehr in ihrer Gesamtheit sieht, und was er bewundert oder zumindest, was ihn erstaunt, ist das gigantische Ausmaß der vier Säulen, die den Giebel stützen; sie werden von Kapitellen überragt, deren Stil sich zwischen korinthisch und 1900 bewegt. In Gedanken ist er ein wenig in Rom und erinnert sich selbstverständlich an den Petersdom und das seltsame Vergnügen, das die Menschen beim Eintritt in Bauwerke empfinden, die sie zu Schmarotzern eines kolossalen Wesens schrumpfen lassen. Das Innere ist dennoch bescheidener als das von San Pietro: ein großer, quadratischer Saal mit vier großen Säulen, die ein Glasdach gleich einem mit Federn geschmückten Baldachin tragen, und mit drei hohen Tafeln aus Brekzie auf säulenförmigen Stützen. Sigismonds Augen gewöhnen sich an das schwache Licht, schweifen über die Gitter, lesen die Inschriften, halten dann links vom Eingang am Schalter der lista de correros inne; dort, so könnte man wetten, ist ein Brief von Sergine verwahrt.

Unter denjenigen, die vor dem kleinen (klösterlichen) Fenster, an dem die Post verteilt wird, Schlange stehen, sind die Frauen in der Mehrheit. Eine junge Schweizerin, die ihren Pass mit dem Wappen des Genfer Kreuzes in der Hand hält, ist vor Sigismond an der Reihe; er betrachtet die Träger und das Gummiband ihres Büstenhalters, die unter dem durchscheinenden Nylon der Bluse gut sichtbar sind. Diese trägt sie über einem orangeroten Leinenrock, den ein schwarzer Ledergürtel an der Taille eng umschließt. Die blonden und glatten Haare fallen über einen einnehmenden Nacken und folgen den Biegungen des Rückens. Als sie die drei Briefe, die ihr ausgehändigt wurden, in ihre Tasche wegschließt und sich entfernt, ist Sigismond zunächst aus der Fassung gebracht; er durchwühlt seine Taschen auf der Suche nach seinem Pass, den er doch in die Innentasche seiner Weste gesteckt hatte; er wird unruhig, beugt sich herab, um den Beamten besser zu sehen, formuliert seine Bitte angestrengt auf Spanisch (was keineswegs nötig war). Der Mann kommt mit einem Brief zurück; Wette also gewonnen, wenn gewettet worden wäre.

Und doch nein, die Wette wäre verloren gewesen, denn es ist nicht die runde und schnelle Schrift (gutes Stutfohlen im Trab) von Sergine, die Sigismond auf dem Umschlag erblickt, sondern die (altertümlich) spitze, regelmäßige, strenge Schrift von Féline; sie zählt allerdings zu den Personen mit der geringsten Neigung zum Briefeschreiben. »Monsieur Sigismond Pons« ist mit schwarzer Tinte mitten auf das weiße Rechteck in einer zackigen Kalligraphie geschrieben, während in den Anschriften von Sergine, die im Allgemeinen nach oben streben wie Rauch im Wind, das »Monsieur«, wenn es sich um ihren Mann oder um einen Vertrauten handelt, immer weggelassen wird. Warum hat Féline geschrieben, anstatt sich voll und ganz dem kleinen Élie zu widmen, ihrem einzigen Kind, dessen Kindermädchen sie ist, nachdem sie das von Sigismond gewesen war, und zwar in fernen Zeiten, deren Erinnerung in ihm wie eine ewige Lampe brennt? Liebe Féline (Félicie-Aline) … Und warum hat nicht Sergine geschrieben? Irgendein weiterer nervöser Anfall, oder hat sie sich, entgegen ihren eigensinnigen Vorsätzen, geärgert, im Haus geblieben zu sein?

»Lista de Correos– Barcelona (Spanien)«, das war von der alten Féline auf den Umschlag geschrieben worden, und genau das hatte auch Sigismond auf ein Blatt rosa Papier geschrieben, das er vor seiner Abreise zwischen den Rahmen und das Glas des Spiegels von Sergine steckte. Recht bedacht, hätte er auch die Adresse des Hotels hinterlassen können, in dem er auf Empfehlung des scheinheiligen Cousins zu wohnen beabsichtigt hatte. In seinem Tun keine Vorspiegelung jedoch, im wahrsten Sinne des Wortes. Wandelte er nicht, mittels des Traums oder der Träumerei, neben der eingeschlafenen Sergine an ganz ungewöhnlichen Orten; ging er nicht, ohne dass sie je etwas gewusst hat, in Städten mit Straßen, die Fluren glichen, und mit Plätzen, den Zimmern von Verliebten oder den Zellen von Verurteilten ähnlich? Er hatte sich seine Reise nicht viel anders vorgestellt, als gleichsam neben seiner eingeschlummerten Frau das Bewusstsein zu verlieren; wobei diese in Unkenntnis der Stätten bliebe, zu denen er entführt oder entrückt werden könnte. Doch als er das rosa Blatt anbrachte, hat er daran gedacht, dass die Farbe gut neben das Spiegelbild von Sergine passen würde, wenn sie das regelmäßige Oval ihres braunen Gesichts betrachten und dabei kurze kastanienbraune Locken über ihren Augen mit trüber grüner Iris und über ihrer kleinen gekrümmten Nase schütteln würde, wenn sie mit ihrem schönen, bleichlippigen Mund lächelte, wobei die Zähne, einzig wegen ihres übermäßigen Tabakgenusses, nicht sehr weiß sind, und wenn sie ihr Ebenbild dadurch verformen würde, dass sie den Spiegel in eine langsame Kippbewegung bringt.

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