Alexandros Stefanidis
Beim Griechen
Wie mein Vater in unserer Taverne Geschichte schrieb
Fischer e-books
Alexandros Stefanidis, Jahrgang 1975, hat in Heidelberg, Thessaloniki und Toronto Germanistik, Politikwissenschaft und Soziologie studiert und anschließend die Deutsche Journalistenschule in München besucht. Er schrieb als freier Autor für Die Zeit und den Stern. Seit 2005 arbeitet er für das Magazin der Süddeutschen Zeitung. Dort betreut er als verantwortlicher Redakteur die Rubrik »Sagen Sie jetzt nichts«. 2007 wurde er vom MediumMagazin zum »Journalist des Jahres« gekürt. 2008 gewann er den CNN Journalist Award in der Kategorie Print.
Covergestaltung: HildenDesign, München
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
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ISBN 978-3-10-400781-6
Für meine Familie
Ich wurde 1975 in Karlsruhe geboren, da hatten meine Eltern bereits zwei ältere Söhne und führten seit fünf Jahren ein griechisches Restaurant namens »Der Grieche«. Unser Wohnzimmer. Neununddreißig Jahre arbeitete meine Mutter in der Küche, mein Vater am Tresen. Im Mai 2009 fassten meine Eltern den Entschluss, das Wohnzimmer inklusive Küche und Garten abzugeben. Sie erhielten von zwei freundlichen irakischen Brüdern eine kleine Ablöse für die Einrichtung, der »Grieche« ist jetzt ein Döner-Imbiss. Es ist der achte Dönerladen im Umkreis von dreihundert Metern. Mit ein Grund, warum meine Eltern unser Restaurant nicht mehr halten konnten.
Deutschland hat sich verändert, seitdem meine Eltern 1963 aus Griechenland hierher kamen. Knapp vierzig Jahre, sieben Tage die Woche, fünfzehn Stunden am Tag war ihr Wohnzimmer für jeden geöffnet, Einlass frei. Davon will ich erzählen.
»Der Grieche« lag nur einen Steinwurf vom Bundesverfassungsgericht entfernt, Generalbundesanwalt Siegfried Buback aß in unserem Wohnzimmer zu Mittag und saß abends manchmal bei einem Glas Wein im Garten, daneben feilten Grüppchen der Grünen in den Siebzigern an Protestaktionen und ihrer Parteigründung. Petra Kelly trank damals gern einen trockenen Demestica oder den süßen Mavrodafni, Joschka Fischer Bier, Zuhälter aus dem benachbarten Rotlicht-Milieu führten ihre Neuerwerbungen aus Osteuropa oder Südamerika zum Essen aus, Professoren der Karlsruher Universität ihre blondierten Sekretärinnen, Gregor Gysi erzählte nach der Wiedervereinigung meinem Bruder von der DDR, obwohl der nichts davon wissen wollte, Hooligans von Borussia Dortmund stürmten nach einer Niederlage gegen den Karlsruher SC mit Baseballschlägern das Lokal, mein Vater hielt ihnen ein paar Pils entgegen und erzählte ihnen zwei Stunden lang Geschichten aus der griechischen Mythologie. Hunderte deutscher Stammgäste feierten bei uns – auch weil mein Vater ein Meister im Geschichtenerzählen ist – ihre Hochzeit, die Taufe ihrer Kinder, Geburtstage, viele betranken sich hemmungslos nach einer Scheidung, schenkten uns gerahmte Bilder ihrer Liebsten nach deren Tod, tranken mit uns auf ein Leben danach.
Wenn ich nun sage, dass unsere Geschichte um ein Haar anders verlaufen wäre, ist das nicht gelogen, aber eben auch nicht die ganze Wahrheit. In Wahrheit geht es nicht um ein Haar, sondern um einen Zentimeter: Es war also verdammt knapp, denn wenn mein Vater einen Zentimeter größer wäre, also 175 Zentimeter statt der gemessenen 174 Zentimeter, wäre ich vielleicht in Rio de Janeiro aufgewachsen und nicht in Karlsruhe; und ich hätte diese Geschichte vielleicht auf Portugiesisch oder nie geschrieben, ganz sicher aber nicht auf Deutsch. Doch der dicke griechische Staatsbeamte, der Anfang der sechziger Jahre, kurz nach dem Anwerbeabkommen mit Deutschland 1960, in einem hitzigen Kabuff Thessalonikis stark schwitzend tausende Anmeldeformulare für arbeitswillige Auswanderer austeilte und annahm, tischte meinem Vater eine Geschichte auf, die haarsträubender nicht hätte sein können: Er erzählte ihm, dass Brasilien ein Embargo für kleinwüchsige Griechen verhängt hätte. Jeder Grieche unter 175 Zentimeter hätte keine Chance, als Einwanderer in das südamerikanische Land gelassen zu werden. Er müsse deshalb nach Deutschland auswandern. Deutschland würde auch kleinen Griechen einen Job geben.
»So sind die Regeln, da kann ich nichts machen«, sagte der dicke Mann und taxierte meinen Vater auf 174 Zentimeter. Ein Zentimeter zu kurz. Oder anders gesagt: Der Staatsbeamte log, wollte für ein Anmeldeformular nach Brasilien geschmiert werden, mein Vater hatte aber kein Geld, um ihn zu bezahlen. Deutschland hatte also Glück: Es erteilte einem vierundzwanzigjährigen Griechen um ein Haar eine einjährige Arbeitserlaubnis – und erhielt sechsundvierzig Jahre lang Steuern.
Vielleicht hätte eine damals zwar unmoderne, aber heute bei Mittzwanzigern durchaus übliche Igelfrisur meinen Vater um ein Haar einen Zentimeter größer erscheinen lassen und das angebliche brasilianische Embargo hätte seine wegweisende Bedeutung eingebüßt.
Von der Bedeutung her und auf den ersten Blick ist diese erste Episode ein Zentimeter deutsch-griechische Familiengeschichte, möglicherweise basierend auf einem braven Linksscheitel. Ich habe es aus Jux einmal nachgemessen: Mein Vater kam gerade aus dem Bad, und seine Haare standen ihm vom Kopf ab: Igelfrisur, 178 Zentimeter. 178 Zentimeter hätten für Brasilien locker gereicht. Aber weil eben alles so kam, wie es sich der korrupte dicke Grieche ausgerechnet hatte, erhielt mein Vater eine einjährige Arbeitserlaubnis für Deutschland. Das war im Sommer 1963, zwölf Jahre vor meiner Geburt, siebenundvierzig Jahre vor dem Erscheinen dieses Buches.
Christoforos Stefanidis, ein junger Mann, aufgewachsen in einem Waisenhaus, war an jenem Septemberabend 1963 auf einer Parkbank eingeschlafen, bevor es am nächsten Tag frühmorgens vom Blutturm Thessalonikis mit dem Bus zum Hauptbahnhof ging, wo ein ungeduldig schnaufender Auswandererzug auf seine Gäste wartete. Mit 100 Drachmen in der Tasche war er losgefahren in ein neues Leben.
Mein Onkel Nikos, der vergangenes Jahr an Darmkrebs starb (bei uns in der Familie stirbt man entweder an gebrochenem Herzen oder an einer der Krebsvariationen. Es ist – soweit ich mich erinnere – noch nie einem Stefanidis gelungen, bei einem Verkehrsunfall, Flugzeugabsturz oder gar an Altersschwäche zu sterben), Onkel Nikos jedenfalls hat mir kurz vor seinem Tod erzählt, dass meine Großmutter Kyriaki nachts oft allein in ihrem Schlafzimmer lag und weinend ihren von bulgarischen Nazi-Kollaborateuren getöteten Mann besang. »Dein Vater war im Waisenhaus, weil unsere Mutter ihre vier Kinder nicht allein ernähren konnte, er wusste von alledem nichts. Aber wir anderen haben sie erlebt. Wir haben zunächst nie daran gedacht, nach Deutschland auszuwandern. Deutschland war doch der Ursprung des Terrors, der unsere Familie zerstört hat.«
Diese Geschichte über den »Ursprung des Terrors«, wie es mein Onkel Nikos nannte, liegt so weit zurück, dass ich sie bestimmt schon tausend Mal erzählt bekommen habe. Anlass ist meist ein Familientreffen, zum Beispiel ein Begräbnis. Denn bei Begräbnissen kommen bei uns immer mehrere hundert Menschen aus allen Teilen der Welt zusammen, alle gehören irgendwie zur Familie. Ich kenne – wenn’s hochkommt – vielleicht gerade mal die Hälfte. Da kann es dann schon mal passieren, dass mir eine fremde alte Frau mit dunklem Kopftuch und vielen tiefen Falten im Gesicht, eine Frau, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, sich als meine Großtante aus Australien vorstellt, mir die Geschichte meines Großvaters erzählt und in Tränen ausbricht. Deshalb habe ich es mir auch angewöhnt, Großtanten und Großonkel bei Begräbnissen nur schnell zu begrüßen, ihnen gegebenenfalls mein Beileid auszusprechen und dann kommentarlos in der nächstgelegenen Menschentraube zu verschwinden. Ich weiß, nicht besonders anständig. Aber wenn ich es nicht tue, sitze ich auch noch Stunden später mit einer in Tränen aufgelösten Großtante am Tisch. Weil es ja nicht bei dieser einen Geschichte über meinen Großvater bleibt. Ältere Menschen greifen auch bei uns sofort in die unsichtbare Kiste ihrer Erinnerungen, die sie immer mit sich schleppen und kramen unendlich viele Storys aus ihrem Gedächtnis: Wie ihr erster Hund starb, wie ihnen beim Busfahren so ein Lümmel den Sitz wegschnappte, wie der zweite Hund starb, warum die Tomaten aus dem eigenen Garten dieses Jahr nicht schmecken und so weiter. Und wenn dann eine nette alte Frau vor mir sitzt und mir so offenherzig ihr Leben erzählt, fällt es mir einfach doppelt schwer aufzustehen. Jedenfalls haben all diese Nachfolge-Geschichten nie etwas mit der Geschichte meines Großvaters zu tun. Die geht nämlich so:
Sommer 1941. Mein Großvater Aristidis hatte zwei Jahre an der griechisch-albanischen Grenze gegen Mussolinis Italiener gekämpft. Er wurde verwundet und brauchte zwei Monate für den Rückweg in sein Dorf Megalokampos (»Großes Feld«), wo meine Großmutter mit ihren vier Kindern auf ihn wartete. In der Zwischenzeit fiel Griechenland an Deutschland, was aber trotz aller familiären Legendenbildung nichts mit dem Fehlen meines Großvaters an der Front zu tun haben dürfte. Nach der Kapitulation wurden ein paar hundert deutsche Soldaten nahe Megalokampos in der nordgriechischen Stadt Drama stationiert. Die Wehrmachtssoldaten verließen ihre Posten aber nur selten. Für die »Drecksarbeit«, wie die Deutschen damals die Raubzüge durch die umliegenden Dörfer nannten, waren bulgarische Soldaten verantwortlich. Bulgarien hatte sich Nazi-Deutschland angeschlossen, weil Hitler den Bulgaren einen Teil Makedoniens versprochen hatte, wenn sie ihm helfen würden. Und die Bulgaren »halfen« gern. Sie plünderten, stahlen und verlangten von jedem Bauern die Hälfte seiner Ernte. Außerhalb Dramas organisierten junge Griechen deshalb einen Widerstand. Sie sabotierten Wasserleitungen zu den bulgarischen Militärbaracken, verseuchten die eigene Ernte, griffen Patrouillen in der Dunkelheit mit selbstgebastelten Wurfgeschossen an, solche Dinge. »Eigentlich Kinderkram, aber sie wollten was tun«, sagte mein Vater oft, wenn er die Geschichte in den vergangenen Jahren im »Griechen« interessierten Gästen, die etwas über sein Leben erfahren wollten, zum Besten gab. »Diese Jungs waren voller Heldendrang. Und einer dieser Jungs, kaum von seiner Verwundung genesen, war mein Vater. Er hat sein Heldentum mit dem Leben bezahlt. Es soll ein heißer Sommertag gewesen sein, als ein Bataillon bulgarischer Soldaten in Megalokampos einmarschierte und das Haus meiner Eltern umzingelte. Jemand, sehr wahrscheinlich ein Grieche, hatte meinen Vater als Rädelsführer verraten. Sie drohten damit, das Haus anzuzünden, wenn er sich nicht stellen würde. Meine Mutter, meine drei Geschwister und ich, damals zwei Jahre alt, ein Baby, waren alle im Wohnzimmer versammelt, niemand traute sich vor die Tür. Mein Vater Aristidis versteckte sich im Dachboden. Als er durch eine Ritze sah, wie die Bulgaren ihre Fackeln anzündeten, rief er: »Wartet! Zündet das Haus nicht an! Ich komme raus.« Es war sein Todesurteil. Die Bulgaren stellten ihn an die Wand. Mich in ihren Armen haltend bettelte meine Mutter den bulgarischen Offizier noch um Gnade an, er stieß sie mit seinem Gewehrkolben zu Boden – und gab den Feuerbefehl.«
Wenn mein Vater diese Geschichte erzählte, wurde seine Stimme immer sehr leise. Dann hörten ihm seine Gäste umso konzentrierter zu. »Ein alter Trick«, hat er mir mal verraten. »Je leiser du sprichst, desto wichtiger erscheint das, was du sagst, deinen Zuhörern. Sehr wichtig für einen Wirt.«
Mein Vater wirkte beim Erzählen seiner Familiengeschichte aber nie wie ein Mann, der sich verstellen muss. Vielmehr wirkte er wie jemand, der sich die unausgesprochene Frage stellt, warum Menschen sich gegenseitig so etwas antun. Aber auch Onkel Nikos hatte Tränen in den Augen, als er mir diese Geschichte zum ersten Mal erzählte. Es war bei ihm zu Hause. Ich war damals sieben Jahre alt, hockte auf seinem Schoß, und er sagte, ich wäre jetzt alt genug, um die Geschichte zu erfahren. Als er sieben Jahre alt war, lief er zu seinem erschossenen Vater, kniete sich neben den Leichnam und merkte nicht, wie das Blut, das aus dem Kopf floss, eine riesige Lache um ihn gebildet hatte. »›Es lebe das freie Griechenland!‹, hat dein Großvater noch gerufen, bevor sie ihn abknallten«, sagte Onkel Nikos. Und als würde er den Moment noch einmal erleben, schob er mich damals von seinem Knie, ging ins Bad, wusch sich die Hände und wechselte seine Hose. (Er tat das übrigens immer, wenn er die Geschichte erzählte, eine Zwangsstörung, er dachte an seinen Händen und auf seiner Hose würde immer noch das Blut seines Vaters kleben.) Ich stand damals da, und obwohl ich erst sieben Jahre alt war, fühlte ich tief in mir, dass dieser Tag im Sommer 1941 wohl das Leben von Onkel Nikos, meines Vaters und seiner Familie völlig verändert hat. Dieser Tag war für alle eine Zäsur. Großmutter Kyriaki sprach für mehr als zwei Jahre kein Wort. »Ihre Seele fand keinen Weg, ihre Gedanken in Worte zu fassen«, sagte Onkel Nikos.
Sein ältester Bruder Kostantinos, damals auch erst zehn, elf Jahre alt, wurde automatisch zum neuen Oberhaupt der Familie. Er kümmerte sich um die Arbeit auf dem Feld, verkaufte den Ertrag, dirigierte Onkel Nikos, der jetzt zu seinem älteren Bruder aufsah, als wäre es sein Vater. Tante Eleonora, 1935 geboren, half meiner Großmutter fortan im Haushalt. Nur mein Vater war noch zu jung, um irgendetwas zu tun. Meist kümmerte sich Tanta Eleonora um ihn, weil meine Großmutter, stumm vor Kummer, ihrem Sohn Konstantinos auf dem Acker half. Die Familie meines Vaters war auch vor dem Krieg nie das, was man heute wohlhabend nennt. Das Haus hatte zwei Zimmer, und auf dem Feld bauten sie Mais, Getreide, ein bisschen Bohnen und Erbsen an. Viel blieb da am Ende des Monats nicht übrig. Eine richtige Schulbildung bekam weder Onkel Kostantinos, der die Schule nach dem Tod seines Vaters abbrach, noch Onkel Nikos oder Tante Eleonora, die schon in jungen Jahren hart mit anpacken mussten. Sie konnten gerade so lesen und schreiben.
Vier Jahre später, als der Weltkrieg vorbei war und mein Vater eingeschult werden sollte, bot die lokale Verwaltung in der Region den Familien von Kriegsopfern Kinderplätze in einem Waisenhaus in Thessaloniki an. Thessaloniki lag gute 120 Kilometer entfernt. Die Familie beschloss trotzdem, meinen Vater im Alter von sechs Jahren ins Waisenhaus zu geben. Eine wegweisende Entscheidung. Denn er sollte nie wieder nach Megalokampos zurückkehren.
Mein Vater kam in das damals berühmteste Waisenhaus Griechenlands: das Papafi. Um die Jahrhundertwende von Ioannis Papafis gegründet, einem zu Reichtum gekommenen Unternehmer, der all sein Vermögen in diese Schule gesteckt hatte. Papafi war einst selbst ein Waisenkind. Das klassizistische Gebäude in U-Form steht noch heute im Zentrum Thessalonikis: Ein Park mit hochgewachsenen Zypressen gehört zum Anwesen, eine kleine orthodoxe Kirche, ein Basketball- und ein Fußballfeld – alles so wie vor sechzig, siebzig Jahren. Früher muss es hier wunderschön gewesen sein. Aber heute sind das Haus und der Park stark heruntergekommen, eigentlich beschämend, was daraus geworden ist. Mein Vater und ich haben das Papafi Ende 2009 besucht, durften aber nicht hinein. Wir haben uns dennoch hineingeschlichen, sind durch ein Loch im Zaun gestiegen. Da lagen Scherben auf dem Basketballfeld, zerbrochene Fenster im Erdgeschoss, ein Abfallcontainer voll ausgenommener Wasch- und Nähmaschinen von Miele oder Pfaff aus den sechziger Jahren. Ein Bild des Jammers. Im Blick meines Vaters aber strahlte noch die Erinnerung an eine Zeit, in der es hier für einen kleinen Jungen nach dem Paradies aussah. Er zeigte auf verschiedene Fenster im ersten und zweiten Stock, »dort war unser Schlafraum«, »da war die Küche, wo ich Kartoffeln schälen musste«, »da war die Bibliothek, ein wunderschönes Zimmer mit dunklen Regalen aus Massivholz, in der Mitte standen schwere Tische mit gebogenen Tischbeinen, verschnörkelt, und tausende von Büchern. Von Comics bis zu den Schriften des Aristoteles. Die Bibliothek war mein Lieblingsraum. Lass uns mal reingehen und sehen, wie es innen aussieht.«
»Aber Papa, wir dürfen da nicht rein«, sagte ich.
»Wir dürften auch nicht hier stehen und trotzdem stehen wir hier, oder? Sei nicht immer so ängstlich und korrekt, das ist ja grauenhaft! Wir gehen jetzt da rein!«
Eine Tür stand offen. Mein Vater ging auf sie zu und verschwand im Dunkeln. Ich stand da wie angewurzelt und fragte mich gerade, ob ich wirklich so ein ängstlicher Pedant war, als mein Vater wieder im Türrahmen auftauchte: »Was ist? Kommst du jetzt, oder was?«
Wir gingen durch einen Raum, der aussah wie eine alte Werkstatt, in der seit Jahren nicht mehr gearbeitet wurde. Auf einer Sägemaschine lag millimeterdicker Staub, auf einem Tisch sah ich das Muster eines Hammers, der erst vor kurzem entwendet wurde. »Das ist die Werkstatt, in der ich meinen Beruf erlernt habe«, sagte mein Vater. »Deinen Beruf?«, fragte ich verwundert. Ich sah nirgends eine Theke. Aber bevor ich meine Frage aussprechen konnte, sagte er im Vorbeigehen: »Ich bin Zimmermann. Hast du das vergessen, du Dummkopf?« In der Tat. Ich habe meinen Vater mein Leben lang hinter der Theke oder beim Servieren im »Griechen« gesehen. Dass er eigentlich Zimmermann war, hatte ich völlig verdrängt. »Ach so, ja«, antwortete ich leicht verlegen.
Wir gelangten auf den Flur. Das Muster des Marmors zeigte schwarz-weiße Quadrate mit einem dicken schwarzen Rand. Von den Wänden blätterte der gelbliche Putz, alle sechs, sieben Meter hingen riesige vergoldete Holzrahmen mit Porträts von griechischen Philosophen, Heerführern, Architekten und Politikern. Ich stellte mir gerade vor, wie erhaben diese Bilder früher wohl auf die Schüler gewirkt haben müssen, als wir auf einmal eine laute und feste Frauenstimme hörten, die uns in strengem Ton fragte, was wir hier suchen würden. Mein Vater drehte sich zu der Frau, die ihr graues Haar straff nach hinten gebürstet hatte, wo es in einem Knoten gebündelt war, ähnlich dem Knoten in meinem Magen, der sich noch dicker anfühlte, als hinter ihr ein breitschultriger Mann in einer dunklen Uniform auftauchte, der Sicherheitsdienst. Toll, dachte ich, jetzt kriegen wir Ärger.
Aber mein Vater ging strahlend auf die Frau zu, sagte seinen Namen und eine Nummer: »Christoforos Stefanidis, 28101940.« Die alte Frau erschrak, als sie die Nummer aus dem Mund meines Vaters hörte. Jede Schülerakte hatte damals eine Nummer und wenn der Direktor einen ermahnte, zum Beispiel weil sich die Jungs auf dem Hof geprügelt hatten, mussten sie sich mit vollem Namen und Nummer bei ihm melden. »Ach du lieber Himmel!«, rief sie und der Hall im Flur war fast ebenso laut. Ihre ernsten Gesichtszüge wurden weicher, die zuvor zugespitzten schmalen Lippen wichen einem fast unscheinbaren Lächeln, wie das von Großmüttern, wenn sie ihren Enkeln beim Spielen zusehen, den Kopf leicht zur Seite geneigt. »Christo?«, fragte sie mit leicht zitternder Stimme.
Und in diesem Moment, ich blickte gerade in seine Richtung, entfuhr auch dem Gesicht meines Vaters alle Muskelkraft, er wurde fahl und blass, als hätte er einen Geist gesehen. Er fasste sich mit der rechten Hand an den Mund, als würde er sich den Schreck wegputzen, und fragte zurück: »Kyria Mandraki?« Sie breitete ihre Arme aus, lief auf ihn zu und drückte meinen Vater wie einen kleinen Jungen an ihre Brust. Tränen standen ihr in den Augen, die meines Vaters konnte ich nicht sehen. 1956 verließ mein Vater als Sechzehnjähriger das Papafi, es war Kyria Mandrakis erstes Jahr als Erzieherin, dreiundfünfzig Jahre lagen zwischen dieser und der letzten Umarmung. Gänsehaut.
Die beiden verbrachten den ganzen Nachmittag zusammen. Ich machte in der Zwischenzeit ein paar Fotos vom Haus. Mit offizieller Genehmigung versteht sich, denn Kyria Mandraki war nun die Direktorin. Als ich wieder zurückkam, saßen die beiden in der Bibliothek, zumindest schien das der Raum zu sein, von dem mir mein Vater zuvor erzählt hatte: Dunkle Regale aus Massivholz, hohe Fenster, der Tisch mit den verschnörkelten Tischbeinen, nur: Die Regale standen nicht voller Bücher, es war eher so, als ob sich hier und da ein Buch dorthin verirrt gehabt hätte. Zerfleddert. Oder mit abgerissenem Buchrücken, bekritzelt mit Filzstiften lagen viele angeschlagen und einsam zwischen dem dunklen Holz. Auch in Kyria Mandrakis Erzählungen spiegelte sich der Niedergang des Hauses wieder. Immer weniger Gelder, immer weniger Personal, immer weniger Schüler. Der neue Eigentümer, die Stadt Thessaloniki, ließ das Papafi langsam elend zugrunde gehen.
»Nachts steigen die Asylsuchenden durch die Fenster im Erdgeschoss, weil sie ein Dach über dem Kopf brauchen«, sagte sie leicht resigniert. »Ich habe keine Mittel, um einen Sicherheitsdienst zu engagieren. Deshalb hilft mir mein Neffe Pavlos.« Sie zeigte auf den breitschultrigen Mann in Uniform. Wie viele andere Sozialprojekte auch suchte das Waisenhaus lange nach neuen Geldgebern, stieß aber nicht auf die erhoffte Quelle. Sinnbildlich stand in der Bibliothek ein Computer mit einem kleinen Monitor. Es war ein Commodore 128D mit Floppy-Laufwerk. So einen hatte ich Ende der achtziger Jahre nach langem Betteln von meinen Eltern geschenkt bekommen, heute war das ein Museumsstück, die Firma Commodore existiert seit fast zwanzig Jahren nicht mehr. Floppy-Disketten natürlich auch nicht. Aber das Treffen zwischen meinem Vater und Kyria Mandraki katapultierte die beiden in Sekundenbruchteilen in eine andere Zeit, und als sie sich wieder auf dem Rückweg ins Jetzt befanden, wurde ihnen die Grausamkeit der Museumsgegenwart so sehr bewusst, dass sie sich zum Abschied nur noch die Hand gaben. Zwar herzlich und mit einem dankbaren Blick für die schönen Erinnerungen, aber eben auch mit den üblichen Floskeln: »Bis bald«, sagte Kyria Mandraki. »Bis bald«, sagte mein Vater. Aber beiden war klar, dass ein »Lebe wohl« angemessener gewesen wäre. Manchmal, wenn man etwas für immer loslassen muss, verdrängt man bewusst die Wahrheit, flüchtet sich in Parolen, nur um ein diffuses Gefühl der Glückseligkeit, so weit es auch zurückliegen mochte, nicht vollends zu zerstören.
Als mein Vater aus dem Papafi heraustrat und die griechische Wintersonne auf sein Gesicht fiel, sah er um Jahre gealtert aus. Es hatte den Anschein, als hätte eine Zeitmaschine den sechzehnjährigen Christoforos geschluckt und den fast siebzigjährigen wieder ausgespuckt. Er zog seine Zigarettenschachtel aus der Tasche, steckte sich eine Zigarette in den Mund. Er wirkte traurig. Ich gab ihm Feuer. Er zog den Rauch tief in die Lungen, stieß ihn aus der Nase – und sagte für Sekunden, die wie Minuten wirkten, kein Wort. Ich wollte ihn in den Arm nehmen, aber er kam mir zuvor, legte seinen Arm um meine Schultern, als wäre ich ein alter Schulfreund, und fragte mich mit einem Lächeln: »Und Kleiner, wie wär’s jetzt mit einem Kaffee?«
Und das ist so verdammt typisch für ihn! Da hat man in einem Moment Angst, er fällt gleich auseinander und im nächsten Augenblick spült er mit einem Lächeln all die Gedanken um zerbrochene Fenster, leere Bücherregale, Kyria Mandraki, Museumscomputer und Zeitmaschinen einfach weg – als wäre das ganze Leben nur ein Spiel, bei dem man gar nicht verlieren kann. Wenn etwas typisch griechisch an meinem Vater ist, dann ist es nicht sein Aussehen, nicht die dunklen Haare und Augen, nicht die vielen kleinen runden Muttermale in seinem Gesicht. Es ist diese Eigenschaft, auch den traurigsten Momenten etwas Gutes abzugewinnen.
»Weißt du«, hat er mir mal erzählt, als wir am Grab seiner Eltern standen, »ich habe mein Leben immer so gelebt, als wäre ich unsterblich. Das war ein Fehler. Du musst denken wie ein Unsterblicher, aber du musst handeln, als würdest du am nächsten Tag schon sterben. Die meisten Menschen sterben nicht am Tag ihres Todes. Die meisten Menschen sterben an dem Tag, an dem sie ihre Hoffnungen und Träume aufgeben. Ich war immer voller Hoffnung, immer voller Träume.«
Beim Kaffee sagte er später: »Trotz der fast einen Tag dauernden An- und Abreise kam meine Mutter mich fast jeden Montag im Papafi besuchen und wusch mich. Es war der schönste Tag der Woche, auch wenn ich es eigentlich hasste, gewaschen zu werden. Aber ich mochte es, von ihr berührt zu werden, verstehst du, ihre rauen Finger auf meiner Haut zu spüren. Diese Nähe zu ihr, mein Gott, wie ich diese Montage herbeigesehnt habe!«
Er nippte an seinem Kaffee und lächelte, als würde er sie vor sich sehen. Meine Großmutter Kyriaki war eine großgewachsene Frau, mit großen dunklen Augen, langen schwarzen Haaren, die durch den miterlebten Tod ihres Mannes innerhalb weniger Monate ergrauten. Nachdem sie im November 1948 ihre Stimme wiedergefunden hatte, lebte sie nur für ihre Kinder, ging morgens um fünf aufs Feld, kam mittags zurück, bereitete das Mittagessen vor, putzte, wusch die Wäsche und ging bis Einbruch der Dunkelheit wieder aufs Feld oder bestellte ihren Garten, in dem sie Tomaten, Gurken und Auberginen anbaute.
»Der Geruch der Seife, der ihre Besuche zwangsläufig begleitete, blieb mir ein Leben lang als Duft in der Nase«, sagte mein Vater im Café. »Selbst als Jahrzehnte später diese neumodischen Duschgels und Wash&Go-Produkte, die ihr so gern benutzt, mit den Düften der Kapverdischen Inseln oder dem Geruch Sumatras auf den Markt kamen, habe ich mir ganz normale Seife gekauft, um mich zu waschen. Weißt du, die Erinnerung, hat ein großer Denker mal geschrieben, ist wie ein Hund, der sich hinsetzt, wo er will. Das ist wahr. Man kann diese Erinnerungsfetzen nicht steuern. Manchmal, ich weiß es noch genau, war mir das Waschen ein Graus, ich hatte fast Angst, von ihren rauen Händen angefasst zu werden, weil es schlicht wehtat und sie ab und zu heftig zugriff. Ich war ja auch ein kleiner Kerl voller Dreck vom Fußballfeld. Aber im Nachhinein, ich weiß nicht einmal, wie es dazu kommen konnte, ist diese Erinnerung – ihre rauen Hände, das feste Zupacken, die Seife – einer meiner größten Schätze geworden.«
1960, als mein Vater gerade seinen Militärdienst auf der Insel Skyros leistete, starb Großmutter Kyriaki im Alter von achtundvierzig Jahren angeblich an einem Tumor in ihrer Bauchspeicheldrüse. Mein Onkel Nikos beharrte aber bis zu seinem Tod auf der These, dass sie an gebrochenem Herzen gestorben ist. Mein Vater jedenfalls hatte kein Geld, um rechtzeitig zur Beerdigung anzureisen. Er kam drei Tage zu spät, schwatzte einem Blumenladenbesitzer ein paar rote Rosen ab, ging zum Grab und blieb drei Tage daneben sitzen, ohne ein Wort zu sagen.
Die Erinnerung setzte sich wieder zu ihm, als wäre sie ein streunender Hund: »Weil alle Kinder barfuß kickten, hatten wir eine ziemlich harte Hornhautschicht auf der Fußsohle. Und meine Mutter rieb sie mir mit einem Stück feuerrotem Ziegelstein ab. Es tat höllisch weh, manchmal blutete es gar, ich schlug ihr auf den Kopf und heulte. Aber sie rieb unbeirrt weiter, sagte nur: ›Schlag mich ruhig, Christofore. Schlag mich ruhig. Eines Tages wirst du es mir danken.‹« Außer beim Tod seiner Brüder Nikos und Konstantinos habe ich meinen Vater nie weinen sehen. Aber als er jetzt von seiner Mutter sprach, war sein Blick zweifelsohne getrübt. Diese Episoden hatte er bei seinen Erzählungen im »Griechen« natürlich immer ausgelassen. Wir saßen eine Weile da und schauten durch die Glasfront des Cafés auf die vielbefahrene Straße. Wenn die Tür des Cafés aufging, wurden die Motorengeräusche der Autos und Mopeds lauter, wurden aber wieder dumpfer, wenn die Tür zufiel, und vom Rauschen der Kaffeemaschine übertönt. Wir bestellten noch zwei Frappé.
»Ich besuchte meine Mutter und meine Geschwister immer an Weihnachten, Ostern und in den Sommerferien. Und weil nicht viel Platz bei uns zu Hause war, durfte ich immer bei meiner Mutter im Arm schlafen. Über dem Bett meiner Mutter hing das Bild meines Vaters, und ich habe meine Mutter jede Nacht heulend gefragt, wer denn der Mann auf dem Foto sei und warum ich keinen Papa hätte. Kannst du dir das vorstellen?«
Ich antwortete nicht.
»Damals war ein toter Vater keine Ausnahme. Fast jeder im Dorf hatte einen Verwandten, einen Freund, der tot war, der im Krieg oder den Gefechten danach erschossen worden war. Aber selbst wenn es jedem Menschen auf der Welt so ergangen wäre, hatte ich trotzdem mein Leben lang immer das Gefühl, meines Vaters beraubt worden zu sein. Verstehst du?«
Jetzt zog ich eine Zigarette aus der Schachtel. Mein Vater erwartete keine Antwort und wieder gab ich ihm auch keine. Ein paar Augenblicke vergingen. Er blickte gerade wieder auf die Straße, als ich endlich den Mund aufbekam: »Dafür habe ich einen. Den besten Vater, den es je gegeben hat.« Er lachte. »Du Arschloch«, sagte er. »Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht lügen?« Ich grinste zuerst. Dann mussten wir beide laut lachen. Immer wenn mein Vater verlegen ist und nicht weiß, was er sagen soll, benutzt er dieses deutscheste aller deutschen Schimpfwörter: »Arschloch.« Es ist sein Lieblingswort. Er meint es nur selten böse.
Unsere Familie ist, ganz klassisch für eine griechische Familie, eine Mischung aus Pa- und Matriarchat. Mein Vater ist der Chef. Manchmal nenne ich ihn sogar so. Meine Mutter Maria ist allerdings der Kern, die Seele, der Rückhalt unserer Familie. Wäre sie ein Fußballtorwart, könnte man über sie sagen, sie hat das Tor immer sauber gehalten. Und trotz vieler böser Fouls, vieler Fehlentscheidungen seitens meines Vaters, trotz vieler Enttäuschungen hat sie auch die Unhaltbaren pariert. Die beiden haben sich auf einer Hochzeit kennengelernt, da war sie fünfzehn Jahre alt, er zwanzig. Sie wollte Balletttänzerin werden, er baute Stühle und Kinosessel für eine Möbelwerkstatt; die Kapelle spielte einen Tango, er bat sie zum Tanz; sie zitterte, als er sie führte. »Deine Mutter hatte große, braungrüne Augen, dicke dunkle Locken, ihre Haut war blass, nicht dieses kränkliche Blass, das vornehme, saubere, samtweiche, sie trug ein weißes Kleid, sie sah aus wie ein Engel«, erinnert sich mein Vater. »Dein Vater war einen Kopf größer. Ich hatte ihn schon länger aus den Augenwinkeln beobachtet und konnte vor Aufregung kaum atmen, als wir uns gegenüberstanden. Nach dem Tanz fragte mich deine Großmutter: ›Maria, wer ist dieser dunkle Junge, mit dem du da getanzt hast?‹ ›Das ist Eleonoras kleiner Bruder‹, antwortete ich. Tante Eleonora und ich arbeiteten damals gemeinsam auf einer Tabakplantage.« Tante Eleonora sagt: »Deine Mutter war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Als ich die beiden zusammen tanzen sah, wurde mir ganz mulmig, ich fühlte, dass die beiden füreinander geschaffen waren.«
Er versprach ihr die Ehe, sie hielt ihm fünfzig Jahre die Treue und den Rücken frei. Trotzdem war meine Mutter nie die klassische Hausfrau, die zu Hause auf die Kinder aufpasst und den Haushalt schmeißt. Meine Mama hat sechs Jahre bei Bosch gearbeitet, es zur Vorarbeiterin gebracht, und anschließend war sie vierzig Jahre die Chefin in der Küche des »Griechen«. Niemand backt gefüllte Paprika leckerer, niemand Moussaka würziger, niemand grillt ein Stück Lammfilet zarter als meine Mutter. Ihre breiten grünen Bohnen in Tomatensauce sind als Beilage schlicht Weltklasse. Ebenso wie ihr hausgemachtes Zaziki und die Auberginen- und Fischeiercreme (Melizanosalata, Taramas). Wie hat es ein Stammgast einmal formuliert? »Maria, manchmal wünschte ich, du wärst meine Mutter, dann könnte ich jeden Tag bei dir essen.« Meine Mutter wuchs ebenfalls ohne Vater auf, auch er fiel im Zweiten Weltkrieg; sie hatte keine nennenswerte Schulbildung, und in Zeiten, in denen viele Frauen von Selbstverwirklichung und Emanzipation sprachen, öffentlich ihre Abtreibungen bekanntgaben, hatte sie sieben Fehlgeburten.
Auch mich hat es schon einmal gegeben. Mein Bruder Alexandros Stefanidis wäre heute einundvierzig Jahre alt. Im Sommer 1969 zur Welt gekommen, lebte er ganze drei Tage. Als ich zwölf war, habe ich das Foto mit dem Grabstein und meinem Namen darauf zufällig in einem Familienalbum entdeckt. »Der Körper des Kleinen war nur zur Hälfte mit fester Haut bedeckt«, hat mir mein Vater erzählt. »Seine Epidermis hatte sich nicht vollständig entwickelt. Wir haben ihn getauft, ihm einen Namen gegeben und beerdigt.« Sechs Schwangerschaften kamen nicht über den sechsten Monat hinaus. Und dennoch: Im Juni 1965 wurde mein ältester Bruder Jorgos (er bekam den Namen des Großvaters mütterlicherseits) in Thessaloniki geboren, im Juni 1972 mein Bruder Aristidis (er bekam den Namen meines Großvaters väterlicherseits) in Bad Canstatt. Und im Juli 1975 kam ich in Karlsruhe als schwerster Brocken auf die Welt: 59 Zentimeter, 4500 Gramm. Drei Jungs mit lockigen schwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen. Jorgo trug schon früh eine Brille, Ari hatte eine große Zahnlücke, um die ich ihn beneidete, weil er durch sie ziemlich weit spucken konnte – und ich, na ja, ich war immer »der Kleine«.
Wir sind alle drei im »Griechen« aufgewachsen, zwischen den vielbeschäftigten Beinen unserer Eltern, zwischen den Stühlen und Tischen mit den Öllämpchen, mit unseren Gästen. Manche, die regelmäßig in den »Griechen« kamen, kannten mich schon als Baby. Ich habe sie Tante und Onkel genannt, und weil sie oft ein paar Worte Griechisch sprachen, habe ich sie als kleiner Junge nie von meinen wirklichen Verwandten unterscheiden können. Irgendwie gehörten auch sie alle zur Familie, die sich eben immer im »Griechen« traf. So sah ich das. »Der Grieche« war kein normales Restaurant, für mich war es immer ein etwas groß geratenes Wohnzimmer mit vielen Tischen, einer Theke und einem gemeinsamen Klo. Und wenn ich als Knirps aufs Klo musste, fragte ich nicht meine Mutter, ob sie mich begleitet – ich wusste, sie hatte einfach zu viel zu tun –, ich fragte zum Beispiel Brigitte, die fast jeden Tag mit ihrem Mann Ehrfried zum Essen kam. Brigitte nahm mich dann an die Hand und führte mich auf die Toilette. Und wenn ich zurückkam, rannte ich sofort zu meiner Mutter, um ihr vom erfolgreichen Toilettengang zu erzählen. Sie fragte mich, ob ich das denn ganz allein geschafft hätte, und ich log rotzfrech: »Ja, klar!« Und so wie es sich für eine liebevolle Tante gehörte, hat mich Brigitte nie verraten.
Als gelernter Zimmermann bekam mein Vater gleich nach seiner Ankunft im September 1963 einen Job bei Bosch. Ihm wurde eine Wohnung zugewiesen, die er sich mit drei anderen Gastarbeitern teilte. Der Beginn seines neuen Lebens war ausgestattet mit einem achtzig Zentimeter breiten Bettgestell, auf dem eine fleckige Matratze lag. Daneben stand eine wackelige Holzkommode, die Nachtlampe flackerte, wenn man sie anknipste. Der Vermieter, ein älterer Herr, den die vier aufgrund seiner scharfen Gesichtszüge »Adenauer« tauften, kam zwei Mal am Abend unangemeldet in die Wohnung, um nach »dem Rechten« zu sehen. Er blaffte die Truppe an, wenn das Licht brannte, das koste Strom, rief er: »Strom! Kosten Geld! Viel Geld! Nix immer Licht!« Verständnislos und mit großen Augen blickten ihn die Männer an. Stille. Dann machte Adenauer das Licht aus und ging. Meinen Vater erinnerte das an seine Zeit im Waisenhaus. Damals verfluchte er die strengen Erzieher, jetzt blieb er still, zuckte mit den Achseln und legte sich schlafen. Als sogenannter Gastarbeiter, das war ihm schon klar, konnte er keine Ansprüche stellen. Er war erst mal froh über seinen neuen Job, und er war froh, irgendwo untergekommen zu sein.
Die ersten Tage, Wochen, Monate vergingen. Gastarbeiter-Routine. Morgens gingen die Männer gemeinsam zur Arbeit, abends kamen sie gemeinsam wieder zurück. Dazwischen lernten sie das Wort »Mahlzeit!«
Die drei WG-Kollegen meines Vaters kamen aus Italien, der Türkei und Spanien. Die Vereinten Nationen Südeuropas auf knapp dreißig Quadratmetern. Viel zu sagen hatten sie sich aufgrund der Sprachprobleme nicht. Aber während der Türke Mustafa fleißig Briefe nach Anatolien schrieb, der Italiener Postkarten nach Salerno und der Spanier am liebsten in Automagazinen blätterte, kaufte sich mein Vater ein deutsch-griechisches Wörterbuch sowie die »Bild« und den »Spiegel« und las in jeder freien Minute darin. So lernte er die neue Sprache. Als Adenauer eines Abends mal wieder das Licht ausmachen wollte, weil er hohe Stromkosten fürchtete, fragte ihn mein Vater, »Warum so böse du?« Die Antwort kam postwendend und lautstark: »Unverschämtheit!«, »Was erlauben Sie sich!«, »Da will man denen helfen und dann …«, »Sie sind hier Gast, verstehen Sie?«, bekam er zu hören. Mustafa bat meinen Vater, Adenauer in Zukunft nicht zu widersprechen. Er wolle wegen ihm schließlich nicht auf der Straße landen.
Anfang November wurde es zum ersten Mal richtig kalt. Und keiner der Südeuropäer war diese Kälte gewohnt. Draußen schneite es, und im Zimmer meines Vaters ging die Heizung nicht an. Die Heizung war ein fest im Boden montierter Gasherd, aus dem aber kein Gas floss. Mein Vater fragte Adenauer eines Morgens, warum die Heizung nicht funktioniere: »Entschuldigung, kalt, sehr kalt, Heizung?« Adenauer sagte zwischen den vielen Sätzen, die er für seine Antwort benötigte, oft das Wort »kaputt«, und mein Vater kaufte sich notgedrungen zwei Decken. Dasselbe empfahl er auch seinen Kollegen. Adenauer, das war allen vier klar, war nicht gerade ein Menschenfreund. Vielleicht nagte tief in ihm auch ein unausgesprochenes Unbehagen gegenüber dem Fremden. Eines Morgens kam er unangemeldet und mit einer Bierfahne ins Zimmer, knipste das Licht an und weckte die Männer: »Hier drin stinkt’s! Zum Teufel nochmal! Macht denn hier keiner das Fenster auf!?« Er schritt durch das Zimmer, öffnete das Fenster, ließ den kalten Novemberwind hineinwehen und nahm tief Luft. »So!« Dann blickte er um sich, wartete ein paar Augenblicke, vielleicht hoffte er auf Widerspruch, aber keiner der Männer sagte ein Wort. Als er ging, sagte Mustafa zu meinem Vater: »Danke, Christo!« Mein Vater fluchte auf Griechisch. Und auch der Italiener konnte sich ein »Stronzo« nicht verkneifen. Der Spanier steuerte ein »Puta madre« bei und schloss das Fenster wieder.
Adenauer hatte einen Sohn. Er hieß Ludwig. Ludwig hatte im Gegensatz zu seinem Vater noch viele Haare auf dem Kopf, und er kämmte sie sich nicht mit Pomade nach hinten, wie es sein alter Herr tat. Er ließ sie wachsen, und es hatte auch nicht den Anschein, als würde er sie allzu oft waschen. Manchmal, wenn die Männer abends von ihrer Arbeit zurückkamen, war das Zimmer trotz der Kälte draußen schön warm. Die Heizung aber war wie immer aus. Mein Vater berührte sie vorsichtig und merkte gleich, dass sie bis vor ein paar Minuten noch auf vollen Touren lief. Er hatte gleich Ludwig in Verdacht. Ludwig hatte ihm auch die neue Tischlampe besorgt – zwar gegen Bezahlung, aber immerhin. Ludwig schien in Ordnung zu sein.
Zwei Wochen vergingen, und als mein Vater eines Abends draußen noch eine Zigarette rauchte, hörte er im Stockwerk über sich Adenauer und Ludwig streiten. Er verstand nicht jede Einzelheit, dafür war sein Deutsch immer noch nicht gut genug, aber er verstand, worum es bei diesem Streit ging: Adenauer verbot seinem Sohn je wieder die Heizung in dem Untermieterzimmer anzuzünden. »Willst du diesem Pack auch noch unser Geld in den Rachen schmeißen?«, rief Adenauer. »Die verbrauchen sowieso schon viel zu viel Strom.« Ludwig hörte mein Vater kaum reden. Die meiste Zeit sprach Adenauer. »Du wirst dieses Zimmer nicht noch einmal ohne meine Genehmigung betreten. Haben wir uns verstanden?« Dann krachte eine Tür ins Schloss und es war Ruhe. Am nächsten Tag erhöhte Adenauer kurzerhand für jeden die Miete von 60 auf 70 Mark im Monat.
Von Ludwig war fortan nichts mehr zu sehen. Mein Vater fragte sich, ob der Junge von zu Hause abgehauen war. Adenauers Frau blieb ihm die Antwort jedenfalls schuldig, als er sie einmal fragte, wo denn Ludwig sei.
Keine zwei Tage später standen zwei Polizeibeamte im Zimmer meines Vaters und fragten die Männer nach ihren Papieren. Hinter den Polizisten stand Adenauer und empfahl, auch mal unter den Matratzen nachzuschauen. Zwar schienen die Polizisten von Adenauers Übereifer ein wenig angewidert, aber sie folgten seinem Wunsch, fanden jedoch bis auf die Automagazine des Spaniers und dem Pornoheftchen des Italieners, das bei allen vier schon die Runde gemacht hatte, nichts, was auf den gemeldeten Diebstahl hingewiesen hätte. Adenauer und seine Frau vermissten ihr Hochzeitsbesteck. »Die müssen das an einem anderen Ort versteckt haben«, sagte Adenauer. Die Polizisten schüttelten den Kopf. »Wo soll man denn in diesem Kabuff noch etwas verstecken?«, fragte einer der Polizisten. »Was weiß ich?!«, entfuhr es dem Vermieter. »Dafür sind doch Sie zuständig. Wer soll das Besteck denn geklaut haben, wenn nicht die?« Mein Vater stand kurz davor, Adenauer an die Gurgel zu gehen, bremste sich aber. Er wollte keinen Ärger mit der Polizei und hielt die Klappe. Einer der Polizisten schüttelte sich. »Ist verdammt kalt hier, finden Sie nicht?«, fragte er Adenauer. »Äh, ja, die Heizung ist kaputt«, antwortete er. Dann bat er die Polizisten, wieder zu gehen.
Aber es sollte nicht der letzte Besuch der Polizei sein. Wieder zwei Tage später fehlte ein Fahrrad aus dem Innenhof. Und wieder sahen die Polizisten bei meinem Vater und seinen Kollegen unsinnigerweise unter den Matratzen nach. Wieder pöbelte Adenauer, das sei doch keine »richtige Durchsuchung einer deutschen Polizei«! Die Beamten fragten ihn schelmisch, ob er glaube, dass einer der Ausländer das Fahrrad vielleicht in den Hosentaschen versteckt halte, und verließen das Zimmer, indem sie sich gegenseitig lachend auf die Schulter klopften.
Griechenland, Spanien und Italien waren sich nach dieser zweiten Durchsuchung einig, dass sie es nicht viel länger hier aushalten würden. Einzig Mustafa legte sich wortlos ins Bett und schlug seine drei Decken über sich zusammen.
Noch in derselben Nacht weckte die vier ein lautes Geräusch. Glas klirrte, ein Auto fuhr mit quietschenden Reifen davon. Jemand hatte mehrere Steine in die Fenster der Adenauer-Wohnung geworfen. In der ganzen Nachbarschaft gingen die Lichter an, die Menschen standen in ihren Pyjamas und Nachthemden an den Fenstern und beobachteten, wie in dieser Nacht zum zweiten Mal die Polizei bei den Adenauers klingelte. Dieses Mal waren es zwei Streifenwagen. »Das war dieses Pack, das uns beklaut!«, rief Adenauer wütend und riss die Tür zum Zimmer meines Vaters auf. »So, jetzt geht’s euch an den Kragen! Wer hat die Steine geworfen? Rückt raus mit der Sprache!« Er stand zwischen den vier Polizisten, und es schien, als hätte er Schaum vor dem Mund. Mein Vater trat vor und sagte in seinem besten Deutsch zu den Beamten: »Bitte glauben: Wir geschlafen. Warum Stein werfen?« Die Beamten schauten sich gegenseitig an. Ihnen fiel keine Antwort ein. Sie teilten Adenauer mit, dass es unwahrscheinlich sei, dass einer von ihnen die Steine geworfen haben könnte. Schließlich hätten Nachbarn ein Auto vor dem Haus gesehen, das mit quietschenden Reifen davongerast sei. Es war drei Uhr morgens, als die Polizeiwagen wieder wegfuhren. Mein Vater packte seinen Koffer. Mustafa fragte ihn, wohin er wolle. Und er sagte: »Weg.« Er verabschiedete sich von Italien, Spanien und der Türkei und ging. Aber vorher schaute er noch mal bei Adenauer vorbei. Er stellte seinen Koffer ab, klingelte. Adenauer öffnete die Tür. Mein Vater kramte noch einmal sein allerbestes Deutsch hervor, er hielt sein Wörterbuch in der Hand, und fragte ganz leise mit zugekniffenen Augen: »Was du gemacht in Zweite Weltkrieg?« Verdutzt blickte ihn Adenauer an. »Was erlaubst du dir?«, fragte er schließlich in einem strengen, sehr lauten Ton, und es schien, als würde nun jener Knoten platzen, der sich vermutlich schon seit Jahren in ihm angeknäuelt hatte. »Ihr denkt wohl, ihr könnt hier machen, was ihr wollt?! Kommt hierher, bekommt Arbeit und glaubt, ihr könnt mit uns reden, als wären wir alle vom gleichen Stamm. Sind wir aber nicht! Und dich, Grieche, habe ich sowieso gefressen. Mein Bruder ist in Kreta gefallen, hörst du?! Mein Bruder starb auf eurer Scheiß-Insel Kreta!« In den Nachbarwohnungen gingen wieder die Lichter an, nebenan öffnete ein älterer Herr seine Tür und schaute über die Schulter meines Vaters in das Gesicht Adenauers, das rot vor Wut war. Mein Vater, der nur die Hälfte verstand, wurde hellhörig. Kreta? Bruder? In seinem Körper stieg eine Hitze auf, die er nur zu gut kannte. Er wusste, gleich würde er explodieren, alles rauslassen, all die Wut, all den Schmerz, der in ihm steckte. Er griff nach allen ihm bekannten deutschen Wörtern und schrie Adenauer ins Gesicht: »Arschloch! Malaka! Dein Bruder? Mein Vater! Tot! Du! Schuld! Du Hitler! Mein Vater tot!« Adenauer schluckte. Vielleicht hatte er das nicht erwartet. Der Nachbar gegenüber reckte den Kopf, wartete eine Antwort ab. Doch Adenauer schien geschockt, stammelte etwas von »Schmeiß dich raus«, aber mein Vater hörte gar nicht mehr richtig hin. Er nahm seinen Koffer, ging die Treppen hinunter. Als er draußen vor dem Haus stand, sah er drei weitere offene Fenster, in denen Menschen standen, auch sie in ihren Pyjamas. Niemand sagte ein Wort. Es schneite dicke Flocken. Die Wohnung bin ich los, dachte er.
Die Nacht verbrachte mein Vater auf einer Parkbank. Nichts Neues für ihn. Er kramte aus seinem braunen Kunstlederköfferchen zwei Pullover und seine Jacke. Dann ging er zum nächsten Münzsprechtelefon und rief in Griechenland bei meiner Mutter an, schämte sich aber zu sagen, dass er aus der Wohnung geflogen war. »Alles ist prima«, sagte er und legte auf. Meine Mutter sollte im Frühjahr nachkommen, das war der Plan. Daran hielt er fest. Er hoffte, dass Adenauer nicht bei Bosch anrufen und ihn denunzieren würde. Denn die allerwichtigste, oberste und erste Regel für einen Gastarbeiter hatten deutsche Bosch-Mitarbeiter für ihre ausländischen Kollegen sichtbar an die Wand des Aufenthaltsraums gepinnt: »Mach bloß keinen Ärger, sonst schicken wir dich wieder zurück!« Mich erinnert diese Geschichte mit dem »Hinweis für ausländische Bosch-Mitarbeiter« an ein Wahlplakat der Republikaner Mitte der neunziger Jahre, auf dem mit großen Buchstaben »Rückführung statt Integration« stand. Inhaltlich unterscheiden sich beide Botschaften ja kaum – doch dazu später mehr. Mein Vater brauchte jedenfalls dringend ein neues Dach über dem Kopf, das stand fest.
Am nächsten Morgen wurde mein Vater nicht