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Inhalt

Samstag

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Februar bis Mai des gleichen Jahres

Dienstag

Nordwestdeutschland 1963

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Mittwoch

Nordwestdeutschland 1972

Donnerstag

Samstag

Niederkirchen

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

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Niederkirchen

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Niederkirchen

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Donnerstag/Freitag

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Sonntag

Danksagung

Über das Buch

Der Autor

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Impressum

Samstag

»Maria? Maariiaa!«

»Ja, ich bin ja gleich so weit, schrei doch nicht so.«

Crinelli saß fertig angezogen in Marias Lesesessel am Kamin und blätterte in einem Buch der Blinker Bibliothek, einem der wenigen Bücher, das er besaß. Er musste feststellen, dass keinerlei Literatur über die Fische und Gewässer der Region im Regal stand, und beschloss, beim nächsten Mal, wenn er in der Innenstadt zu tun haben würde, in einer der großen Buchhandlungen zu stöbern. Ein wenig war ihm die Gegend vertraut, aber vielleicht gab es ja doch noch irgendwo einen Schatz zu heben.

»Da bin ich.« Maria lehnte im Türrahmen und Crinelli verschlug es für einen Moment die Sprache. In den letzten Wochen hatte er seine Frau häufiger in einem Arbeitsoverall als in normaler Kleidung gesehen, und er musste lange zurückdenken, wann sie sich zum letzten Mal so in Schale geschmissen hatte. Ganz offensichtlich sollten die neuen Nachbarn heute Nacht schwer beeindruckt werden, Crinelli war es jedenfalls schon einmal. Maria hatte sich betont weiblich gekleidet und wirkte fast schon ein wenig zu elegant für den Anlass. Die langen Haare trug sie hochgesteckt, und nur wenigen auserwählten Strähnen war es erlaubt, sich sanft auf die Schulter zu legen. Maria war, für ihre Verhältnisse, auffällig geschminkt. Ihre vollen Lippen verschwanden hinter tiefrotem Lippenstift.

»Na Crinelli, gefall ich dir?«

»Äh, wir müssen ja nicht unbedingt ausgehen.«

Sie lachte amüsiert auf. »Ich nehme das mal als Kompliment. Können wir dann, oder bist du noch nicht fertig?«

Crinelli erhob sich schnaufend und schüttelte wortlos den Kopf.

»Nimm in jedem Fall einen warmen Mantel mit. Ich hab keine Ahnung, wie es da zugeht, ob die Feier drinnen oder draußen stattfindet.«

»Du glaubst doch nicht, dass ich mir die ganze Mühe gemacht habe, um das alles hier unter einer dicken Pelle zu verstecken?«

Dennoch griff sie sich ihren warmen Wintermantel, legte ihn sich jedoch nur lässig über den Arm.

 

»Spürst du eigentlich schon etwas?«, fragte Crinelli und deutete auf Marias Bauch, während sie langsam mit dem Volvo durch die Nacht glitten.

»Nein, nur manchmal ist mir so, als ob sich etwas bewegt, aber ich glaube, das ist bloße Einbildung. Laut gängiger Schwangerschaftsliteratur soll man erst im fünften Monat überhaupt Bewegungen spüren können.«

»Du immer mit deinen Buchtheorien. Und was ist mit den Symptomen, von denen alle immer erzählen? Frauen würden sich übergeben, Gurken essen, immer müde sein und all so was?«

»Gott sei Dank scheint das bei mir nicht so zu sein. Vermutlich bekommen wir einen ziemlich stillen Jungen.«

»Mädchen!«

»Wieso glaubst du das?«

»Mädchen! Ist so ein Gefühl.«

»Aber ist doch auch egal. Ich bin jetzt im vierten Monat, da sollte ohnehin das Schlimmste überstanden sein. Ich hatte wohl Glück, und außerdem weißt du ja, dass ich Gurken nicht sehr mag. Na ja. Freust du dich immer noch auf das Kind, Jerry?«

Jerry lenkte den Wagen an den Straßenrand und hielt an. Natürlich freute er sich immer noch, warum fragte Maria?

»Komm her, meine Süße.«

Sie trafen sich über der Mittelkonsole.

»Küss mich, ich liebe dich.«

Ihre Lippen berührten sich und verharrten für einen langen Moment aufeinander. Ihre Zungen begannen miteinander zu spielen, normalerweise ein sicheres Indiz für bevorstehenden Sex.

»Stopp, Sir!«, sagte Maria und schob Crinelli von sich weg. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir sind schließlich in gesellschaftlicher Mission unterwegs, oder etwa nicht?«

Sie legte ihrem verdutzten Ehemann die Hand wie aus Versehen in den Schritt, durfte feststellen, dass Jérôme Crinelli ziemlich erregt war, und schaute ihn fragend an.

»Das zahl ich dir heim, du Biest«, erwiderte Crinelli.

»Moment noch.«

Maria klappte die Sichtblende an der Frontscheibe des Wagens herunter und öffnete die Klappe des Leuchtspiegels. Um ihre Lippen in dem kleinen Rechteck genau betrachten zu können, drückte sie ihren Rücken durch und begann sich die Lippen nachzuschminken. Crinellis Kehle entrang sich ein gedämpftes Stöhnen, er atmete hörbar tief ein und aus.

»Jetzt können wir wieder, Schatz«, hauchte Maria mit einem weiteren schelmischen Seitenblick.

»Katze!«, zischte Crinelli.

Nach diesem kurzen Stopp war Crinelli nach allem zumute, nur nicht nach Smalltalk mit den Dorfbewohnern. Aber sie waren nun einmal neu im Ort, und ein solches Fest war die ideale Gelegenheit, sich mit weiteren Menschen aus der Nachbarschaft bekannt zu machen.

 

Schon von weitem konnte man den Feuerschein über dem Neumann'schen Hof sehen. Der Bauer hatte ein riesiges Holzfeuer entzündet. Um die hoch lodernden Flammen herum standen an die hundert Personen. Der Geräuschpegel deutete daraufhin, dass man sich amüsierte und dass es die übliche zähe Anfangsphase einer Feier hier nicht gab. Neben den Erwachsenen rannten noch etwa ein Dutzend Kinder zwischen den Ställen und dem Herrenhaus hin und her. Am hinteren Ausgang des Hofes brannte ein weiteres, etwas kleineres Feuer. Darüber drehten sich zwei ganze Schweine an einem Spieß. Fett tropfte in das offene Feuer, und es roch verlockend. Gleich neben dem Grill war ein Stand aufgebaut. Die beiden kellnernden Mädchen hatten alle Hände voll zu tun. Sie zapften Kölsch vom Fass, was Crinelli freute. Er mochte kein Pils, es schmeckte ihm zu bitter, und Kölsch erinnerte ihn an zu Hause.

Sie waren noch keine zehn Schritte über den Hof gelaufen, als ihnen auch schon der Gastgeber entgegenkam. Neumann sah aus, als müsse er sich erst noch für das Fest zurechtmachen. Sein gedrungener Körper steckte in schäbiger Arbeitskleidung, und der Geruch, den er verströmte, untermauerte den ersten Eindruck noch. Hinter ihm tauchte eine kleine, ziemlich kräftig gebaute Frau auf.

»Herzlich willkommen, das ist aber schön, dass Sie kommen konnten. Und Ihre Frau ist ja auch dabei, sehr gut. Musste sie also nicht zu ihrer Mutter?«

Maria schaute den Bauern verdutzt an, aber bevor sie etwas sagen konnte, antwortete Crinelli für sie.

»Nein, das Treffen ist verschoben worden. Danke für die nette Einladung, ist ja ein großes Fest. Und Glück mit dem Wetter haben Sie auch.«

»Ja, kühl, aber klar. Guten Abend, ich bin Ännchen Neumann«, stellte sich die Bäuerin selbst vor, »aber Sie können Ännchen zu mir sagen, ohnehin duzen sich die meisten hier. Hier auf dem Land nehmen wir es nicht so genau mit den Förmlichkeiten, wissen Sie, und wenn Sie wollen ...«

»Gern«, erwiderte Maria, die, wie üblich, jede Gelegenheit zum schnellen Übergang vom Sie zum Du ergriff, »ich bin also Maria.«

»Und ich bin Jerry«, stimmte Crinelli zu.

»Jerry? Wofür ist das die Abkürzung?«, fragte Ännchen Neumann.

»Jérôme, ein französischer Name.«

»Aber dein Nachname hört sich eher italienisch an.«

»Gut bemerkt, ist er auch. Meine Familie stammte ursprünglich aus dem Grenzgebiet zwischen Norditalien und Südfrankreich.«

»Dann bist du also Italiener?«

»Nein, ich bin Deutscher. Ich war in meinem gesamten Leben noch nicht in Italien und spreche auch kein Wort Italienisch. Mein Großvater ist von Kalabrien aus direkt nach Köln gezogen. Schon mein Vater ist hier geboren und hat dann eine Urkölnerin geheiratet. Bei uns zu Hause sprach niemand Italienisch.«

»Frido, also eigentlich Fridolin, aber alle nennen mich Frido«, unterbrach der Bauer seine wissbegierige Frau. »Also, dann hätten wir ja schon mal das Wichtigste. Was haltet ihr davon, wenn ich euch mal einigen Leuten vorstelle, die ihr noch nicht kennt?«

»Nun lass die Beiden doch erst einmal ankommen, Fridolin, bevor du mit der Tür ins Haus fällst«, versuchte Ännchen wiederum ihren müffelnden Mann zu unterbrechen. »Nehmt euch ein Bier und mischt euch dann unters Volk, und wenn ihr wollt, können wir euch immer noch mit dem ein oder anderen bekannt machen. Die Spanferkel sind auch gleich fertig. Esst ordentlich, dann habt ihr eine gute Grundlage für den Alkohol.«

»Ännchen hat Recht, Jerry. Ich habe mächtigen Hunger«, dabei strich sich Maria über den Bauch, »und außerdem musst du jetzt erst mal abschalten.«

Neumann lachte, schnappte sich seine Frau und ging Arm in Arm mit ihr wieder zum Feuer. Für die Augen des Städters Crinelli bot das Paar, das sich so gar nicht für ein Fest herausgeputzt hatte, sondern vielmehr wirkte, als sei es gerade von der Feldarbeit nach Hause gekommen, einen ungewohnten Anblick. Aber die beiden waren ihm auf Anhieb sympathisch.

»Du erzählst ja schöne Geschichten, mein Lieber. Was sollte denn bei meiner Mutter gefeiert werden?«

»Ach, nur so eine Notlüge. Ich wollte nicht sofort zusagen und wusste ja auch nicht, ob du überhaupt Lust hast auf so ein Fest.«

»Und warum sagst du es dann nicht genau so?«

»Komm, Maria, Friede. Ich brauch ein Kölsch.«

 

Das erste Glas leerte Crinelli mit einem Zug gleich am Fass und ließ es sofort wieder nachfüllen. Gerade wurde auch das Schwein angeschnitten. Jeder holte sich eine dicke Scheibe knusprigen Schweinsbraten auf einem ebenso knusprigen runden Brötchen. Zusätzlich wurde noch Krautsalat aufgelegt, und zwei riesige Töpfe Senf standen zum Würzen bereit.

Es lag eine schöne Stimmung über dem Hof, und Crinelli entspannte sich zusehends. Noch eine zweite Portion, sowie einige weitere Stangen Kölsch, und allmählich fühlte sich alles richtig an. Schließlich gingen sie auf das zentrale Feuer zu. Als sie sich nach bekannten Gesichtern in der Menge umsahen, bemerkten sie eine Hand, die ihnen zuwinkte. Die Hand gehörte Sybille Zimmermann, der Inhaberin der örtlichen Bäckerei. Maria winkte zurück.

»Hallo«, rief die Zimmermann erfreut in die Runde, »darf ich vorstellen, das sind unsere neuen Dörfler, Familie Crinelli aus Köln. Herr Crinelli ist bei der Mordkommission, und seine Frau schreibt Bücher.«

Maria hatte sich gleich am ersten Tag, beim morgendlichen Brötchenholen mit der Frau des Bäckers unterhalten. Dabei hatte sich die hoch gewachsene, schlanke Frau als mitteilsam, aber auch sehr interessiert an den Crinellis gezeigt. Sie hatten sich über die Ladentheke hinweg ein wenig ausgetauscht.

»Hallo«, grüßten die Crinellis artig in die Runde.

»Ich stell euch gleich mal die anderen vor. Ich darf euch doch duzen, wir duzen uns hier alle?« Maria lächelte, doch Jerry war einigermaßen peinlich berührt von dem vereinnahmenden Wesen der Bäckersfrau. Als sie aber dennoch nickten, fuhr die Zimmermann fort: »Also, ich bin Sybille, und der hier ...«, sie packte den Mann, der ihr gegenüberstand, am Ärmel,»... ist Josef, mein Mann und gleichzeitig auch unser Bürgermeister. Und gleich neben ihm Traugott und Marlis Keppeler, kennt ihr ja wahrscheinlich auch schon, unsere Metzger hier im Ort. Sie haben besseres Fleisch, als ihr jemals in der Stadt kaufen könnt. Meist stammt es direkt von Frido oder einem der anderen Höfe in der Umgebung. Fritz Maasen kennt ihr ja schon?« Sie deutete auf den Wirt der Kupferkanne, der an diesem Abend ausnahmsweise sein Lokal geschlossen hielt, um an diesem Fest teilnehmen zu können. »Und dann haben wir hier noch die Hansens. Niklas und Jenny. Niki ist Schulleiter der Hauptschule in Taufheim. Jetzt kennt ihr alle. Schön, dass ihr da seid. Aber nun erzählt ihr doch mal, was Städter dazu bringt, in unser schönes Niederkirchen zu ziehen.«

»Ja, danke«, begann Crinelli, »also, ich weiß nicht, ob ich mir alle eure Namen direkt merken kann, aber danke für den netten Empfang, ich heiße jedenfalls Jerry und meine Frau Maria. Es hat sich ja vielleicht schon rumgesprochen, dass Maria schwanger ist, und deshalb sind wir auch in erster Linie hierher gezogen. Wir möchten nicht, dass unser Kind in der Großstadt aufwächst. Zu gefährlich.«

»Das stimmt nur zum Teil«, fiel ihm Maria ins Wort, »ich brauche einfach in den nächsten Jahren etwas Ruhe, nicht allein wegen des Kindes. Ich habe begonnen, einen Roman zu schreiben ...«

»Sie ist eine richtige Schriftstellerin«, unterbrach Sybille mit verzückter Stimme.

»... Na ja, eigentlich bin ich Lektorin, und zwar für Kochbücher. Das heißt, ich bearbeite Manuskripte von anderen, setze Texte, baue Bilder ein und all den Kram, den man ohne Computer nicht mehr machen könnte. Früher habe ich Filme fürs Fernsehen gedreht, Reportagen, ebenfalls zum Thema Essen und Trinken. Und jetzt will ich einmal versuchen, ob da noch mehr in mir ist, ob ich auch etwas Eigenes zu Papier bringen kann, aber dafür benötige ich Ruhe, und die habt ihr hier ja nun wirklich ausreichend. Aber richtig ist auch, dass Jerry nicht möchte, dass unser Kind in der Stadt aufwächst, obwohl ich persönlich ja finde, Köln ist nicht New York und der Grüngürtel nicht der Central Park.« Crinelli versuchte Maria durch seinen Blick darauf aufmerksam zu machen, dass er nicht gedachte, dieses Thema vor den immerhin noch fremden Leuten auszubreiten, was Maria aber nicht davon abhielt fortzufahren. »Jerry will, dass die Kinder auf dem Land aufwachsen und die Familie dann später, wenn der Nachwuchs größer ist, wieder zurück in die Stadt zieht. Und wenn mein Jerry sich was in den Kopf gesetzt hat, dann kommt man da nur sehr schwer gegen an.«

»Ich versteh das sehr gut. Bei meinem letzten Besuch in Köln, auf dem Weihnachtsmarkt, haben sie mir mein Handy und mein Portemonnaie aus der Handtasche geklaut«, verriet Jenny ihren Kummer mit der Großstadt.

»Ihr immer mit eurem Hass auf Köln. Ich weiß gar nicht, was das soll? Ich für meinen Teil bin froh, dass wir eine so tolle Stadt in der Nähe haben«, entgegnete Traugott Keppeler. Nichts an ihm erinnerte an einen Metzger, er trug einen gut geschnittenen Anzug, nur die futuristische Designerbrille wirkte etwas aufgesetzt. »Ich, das heißt wir, gehen regelmäßig ins Theater und gerne auch mal schön essen. Ich liebe das Nachtleben in großen Städten.«

»Da bringen mich keine zehn Pferde freiwillig hin«, fühlte sich jetzt auch Fritz Maasen genötigt, seine Meinung zum Besten zu geben.

»Sag mal Jerry, wie kommt man eigentlich als Italiener zur Mordkommission?« Die Frage kam von Josef Zimmermann.

»Ich bin Deutscher.« Crinelli erklärte seine Herkunft zum zweiten Mal an diesem Abend, aber darin hatte er seit Jahrzehnten reichlich Übung. »Aber woher wisst ihr eigentlich alle, dass ich bei der Mordkommission arbeite?«

»Na, das spricht sich schnell rum. Das ist ja das Gute an einer kleinen Gemeinde, die Menschen kennen sich untereinander und sprechen miteinander. Kruminga, unser Polizist, hatte natürlich nichts Eiligeres zu tun, als dich anzukündigen. Ist doch klar, dass ein solcher Zuzug für einen einfachen Dorfpolizisten, wie soll ich sagen, ein gewisses Ereignis darstellt und vielleicht auch eine potenzielle Bedrohung«, sagte Zimmermann.

»Eine Bedrohung? Ich verstehe nicht so ganz.«

»Ihr seid doch so was wie die Meister eures Fachs, und vielleicht befürchtet er, dass du so eine Art Kontrollinstanz sein wirst.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Kruminga kennt doch den Polizeiapparat in- und auswendig, mit all seinen Berufsjahren, er weiß, dass ich hier nicht zuständig bin, und außerdem, was passiert hier schon?«

»Da hast du allerdings Recht«, mischte sich Keppeler in das Gespräch ein, »hier ist ein Polizist eher überflüssig, dafür haben wir wohl gleich zwei.«

»Ach was«, entgegnete Zimmermann, »Keller ist doch eher so was wie Krumingas Wachablösung. Er hat es doch nicht mehr weit bis zur Rente. Aber Verbrechen gibt es wirklich keine, wenn man von den gelegentlichen Geschichten mit den Zigeunern absieht.«

»Was?«, entfuhr es Crinelli.

»Na ja, was die halt immer so machen. Klauen, einbrechen, sich auf fremden Grundstücken rumtreiben. Wenn's dieses Pack nicht gäbe, könnten wir die Polizeistation in der Tat schließen.«

Maria verdrehte die Augen. Zimmermann zögerte und bemühte sich, keinen falschen Eindruck zu erwecken.

»Versteht mich nicht falsch, hier wohnen Jugos, Türken und Polaken. In meiner Backstube arbeitet sogar ein Moslem. Nein, wenn die Leute anständig und sauber sind, dann habe ich persönlich mit denen kein Problem, niemand von uns. Schau mal da rüber, der Frantisek zum Beispiel ist schon seit vier Jahren Knecht beim alten Neumann. Der wird gut behandelt, alles kein Problem, obwohl er immer noch kein vernünftiges Deutsch spricht.«

Crinelli schaute sich den großen, hageren Kerl an, auf den Zimmermann zeigte. Er stand mit einer Frau direkt neben der Stalltüre. Die Frau war Crinelli schon am Bierstand aufgefallen. Sie war hübsch, wirkte noch sehr jung und passte mit ihrer freizügigen Garderobe irgendwie nicht hierher.

»Will jemand Bier?«, Crinelli legte keinen gesteigerten Wert auf eine Fortführung einer ernsten Auseinandersetzung. Alle nickten, und Crinelli war froh, der Runde für einen Augenblick entkommen zu können. Zu seiner Freude stellte er bei der Rückkehr fest, dass sich die Gruppe etwas aufgelöst hatte. In den nächsten Stunden unterhielt er sich lange mit Niklas Hansen, der genau wie er selbst ein begeisterter Angler war. Mit Josef Zimmermann und Traugott Keppeler sprach er über die Jagd, von der er keine Ahnung hatte. Sie luden ihn ein, sie einmal in die Wälder zu begleiten. Maria stand derweil mit Sybille und Marlis zusammen und aufgrund ihrer Gesten war unschwer zu erraten, dass sich ihr Gespräch um Marias Schwangerschaft drehte.

»Jerry? Kommt, ich will euch noch den Liebermanns vorstellen, die müsst ihr unbedingt kennen lernen.« Das war Ännchen, die Maria bereits untergehakt hielt und sich jetzt auch Jerrys freien Arm schnappte, um beide zielstrebig in die gegenüberliegende Ecke des Hofes zu führen. Hier erinnerte wenig an das übrige Hoffest. Eine kleine Gruppe von Menschen stand lässig mit einem Glas Wein in der Hand da, wippte auf den Füßen hin und her, und statt konservativem Sonntagsornat trug man Jeans und Polo-Shirt. Es waren Städter. Auf zwei von ihnen steuerte die Bauersfrau zu.

»Hier, das sind die beiden, von denen ich euch erzählt habe. Ihr passt zusammen, da bin ich ganz sicher. Jerry und Maria Crinelli, und das sind die Liebermanns. Ophelia und Franz.«

»Aber Ännchen«, begann der kräftige Mann, »nur weil wir auch aus einer größeren Stadt kommen, musst du uns doch nicht gleich verkuppeln.« Seine Frau lachte laut auf.

»Unser gutes Ännchen, Sie müssen schon entschuldigen, aber sie ist immer sehr direkt, und wenn sie glaubt, dass ein Mensch einen anderen kennen sollte, dann packt sie das Thema sofort an. Wenn Sie wüssten, wen sie uns schon alles vorgestellt hat...«

»Und wurde aus allem Freundschaft?«, fragte Maria.

»Das kann man nun wirklich nicht behaupten.« Die Frau lachte wieder herzhaft und sah dabei ihren Mann an. »Wir haben nicht allzu viele Kontakte. Nicht aus Ablehnung. Wir kümmern uns hier um unser Haus, unseren Garten und haben unsere Berufe, da bleibt wenig Zeit. Die Dorfbewohner interpretieren das gerne schon mal ein wenig falsch.«

»Dummes Zeug«, erwiderte Ännchen Neumann, »das bildet ihr euch immer ein. Ihr könntet allerdings ein bisschen offener sein, etwas mehr auf die Leute zugehen, das ist nun einmal so, wenn man auf dem Dorf lebt, da kann man nicht mehr so für sich alleine sein, das ist eben eine richtige Gemeinschaft.« Ophelia Liebermann lächelte Maria an und legte Ännchen versöhnlich den Arm um die Schultern. »Das brauchen wir ja jetzt nicht zu vertiefen. Ich wollte euch nur miteinander bekannt machen, der Rest ist eure Sache.« Ännchen machte eine rasche Drehung und verschwand in eines der Gebäude.

»Sie ist schon ein spezieller Fall«, sagte Franz Liebermann, »aber ein mehr als liebenswürdiger, glauben Sie mir. Ich denke, ich stelle uns einmal vor, wo wir nun schon einmal zueinander geführt wurden. Also, mein Name ist wie erwähnt Franz Liebermann. Ich bin Journalist, arbeite inzwischen aber lieber als freier Bildhauer und Maler, zumindest solange das Geld dazu reicht. Ophelia ist Kunstlehrerin am Gymnasium in Taufheim. Dann wohnen mit uns noch Andreas Simon und Friedrich-Karl Schuler, beides Reisefotografen. Außerdem eine Landschaftsgärtnerin, Sabine von Leek, sowie Clara Feyerabend, eine Architektin.« Bei der Vorstellung der Namen deutete Liebermann mit seiner freien Hand auf die Betreffenden, die zusammen in der Gruppe nebenan standen, aber keinerlei Anstalten machten, ihr angeregtes Gespräch für die Crinellis zu unterbrechen. »Sie sehen, wir haben alles zusammen, um ein Haus zu bauen, und das haben wir auch getan. Wir stammen aus Düsseldorf und wollten einfach aufs Land, allerdings nicht unbedingt als vollwertige Mitglieder einer verschworenen Dorfgemeinschaft.«

»Das kann ich gut nachvollziehen«, sagte Maria, »bei mir ist es ähnlich. Die Ruhe kann ich gut gebrauchen, aber ansonsten fällt es mir schwerer als gedacht, mich hier einzugewöhnen.«

»Ich denke, das ist wirklich alles Gewohnheitssache. Man muss ja nicht mit jedem intensiven Kontakt pflegen«, sagte Crinelli.

»Mmh, nicht ganz richtig. Unserer Erfahrung nach ist es so, dass man sich seine Bekannten hier nur schwerlich aussuchen kann. Irgendwie hängen immer alle zusammen, was bedeutet, dass sich zu dem ein oder anderen, den man gerne etwas näher kennen lernen möchte, immer noch einer gesellt, auf dessen Anwesenheit man auch verzichten könnte.«

»Aber so schlimm werden sie doch wohl nicht sein, oder?«

»Da haben Sie natürlich Recht. Und es stimmt wohl auch, dass wir nicht sehr kontaktfreudig sind, wir haben einfach genug mit uns und unserer Arbeit zu tun.«

 

Während der nächsten Stunde unterhielten sich die beiden Paare über die Gründe, aufs Land zu ziehen, über ihre jeweiligen Berufe und über Marias Buch, das Ophelia sehr interessierte, und verabredeten sich schließlich zu einem gemeinsamen Abendessen an einem der nächsten Wochenenden. Genau genommen waren die Liebermanns die Ersten im Ort, für die Maria so etwas wie echte Sympathie empfand. Für Crinelli war es ein Anfang, sie hatten die Entscheidung getroffen, die Stadt zu verlassen, hier war es friedlich, und darüber hinaus hatte er nicht viel erwartet. Er selbst mochte Franz Liebermann. Der Mann hatte zwar eine dominante Art im Auftreten, was auch an seinem austrainiert wirkenden Körper liegen konnte, aber er hörte zu, wirkte ruhig und gelassen und hatte sanfte braune Augen.

 

Es war schon weit nach Mitternacht. Crinelli ging leicht wankend auf die nächste Häuserecke zu. Er hatte viel getrunken, andauernd war einer auf dem Weg zum Fass, immer wieder stießen sie mit jemandem an, der sich vorstellte oder einfach nur vorüberging. Die Nacht war inzwischen empfindlich kalt geworden. Am Feuer, das von Neumann und seinem Knecht am Brennen gehalten wurde, war die Kälte nicht spürbar, aber keine zehn Meter von der wärmenden Glut entfernt, spürte man die frühe Jahreszeit deutlich. Crinelli tauchte hinter dem Gebäude in den Schatten der Bäume und genoss das befreiende Gefühl beim Pinkeln. Der Hof war auf dieser Seite unbeleuchtet. Nur durch eine offene Stalltür am Ende des Gebäudes drang Licht. Im Stall stand der Knecht Frantisek. Er hatte den Kopf zum Lachen in den Nacken gelegt und war offensichtlich nicht allein. Frantiseks mächtige Hand hielt den Hals eines lebenden Huhns fest umschlossen. Das Tier schlug in Todesangst wild mit den Flügeln, als könnte es so Hilfe herbeiholen. In dem Moment, in dem sich Crinelli abwenden wollte, blitzte plötzlich eine Messerklinge im Schein der Stalllaterne auf. Mit einem einzigen schnellen Schnitt trennte der Hüne den Kopf des Huhns ab. Jetzt spritze das Blut im Takt des sterbenden Herzens aus dem Körper. Der Knecht schmiss den Kopf des Tieres vor sich in den Staub. Und was dann folgte, war ein Ritual aus einer längst vergangenen Zeit. Der Mann trank das heiße Blut des toten Tieres.

Benommen ging Crinelli zurück auf den Hof. Er konnte Maria nirgends entdecken, wurde aber auf dem Weg zum Feuer von einer kompakten Mittsechzigerin mit Namen Vroni Meyer gestoppt. Sie war Haushälterin bei Pfarrer Vandermeulen.

»Na, Frau Meyer, ist der Herr Pfarrer auch da?«, grüßte Crinelli, obwohl ihm in diesem Moment nicht der Sinn nach einer belanglosen Unterhaltung stand.

»Ach wo, der geht doch immer schon so früh zu Bett. Aber er hätte sicher einmal vorbeigeschaut, wenn er nicht nach Köln zum Bischof gemusst hätte.«

»Oh je, zum Rapport beim Chef sozusagen?«

»Kann man so sehen, aber wer es in der Kirche zu etwas bringen will, der muss auch etwas dafür tun. Nur mit Beten geht das heute auch nicht mehr«, entgegnete die resolute Frau und lachte dabei herzhaft. Offenbar hatte auch sie schon ein paar Bierchen getrunken, denn bei Crinellis Antrittsbesuch im Pfarramt hatte sie noch ausgesprochen sachlich und abweisend gewirkt.

»Sagen Sie, Frau Meyer, kennen Sie den Knecht hier vom Hof?«

»Franta?«

»Ja, so heißt er wohl. Was ist das für ein Typ?«

»Ein bisschen grob vielleicht, aber ein herzensguter Kerl.«

Da war Crinelli entschieden anderer Ansicht.

»Sonntags kommt der sogar zweimal zur Messe. In der Früh und spät am Abend noch einmal. So sind sie halt, die Kinder vom Woijtila, fromm und dennoch lebenslustig.«

»Stammt also aus Polen?«

»Was dachten Sie denn?«

»Na, Frantisek hört sich eher tschechisch an, oder?«

»Keine Ahnung. Mit Nachnamen heißt er Lubanski, Frantisek Lubanski. Jedenfalls ist der Franta in der Nähe von Breslau geboren und auch aufgewachsen und somit wohl eindeutig Pole. Aber warum interessiert Sie der Bursche so sehr?«

»Hat keinen besonderen Grund. Ich war nur überrascht, dass ein so einfacher Kerl mit so einer hübschen Frau flirtet«, versuchte sich Crinelli aus der Situation zu stehlen.

»Das Fräulein ist ja wohl auch eher einfach, Herr Crinelli«, antwortete die Meyer spitz. »Und jetzt wünsche ich eine gute Nacht, für mich wird es langsam Zeit.«

»Gute Nacht, Frau Meyer, und grüßen Sie den Pfarrer bitte recht freundlich von mir.«

Crinelli mochte den groß gewachsenen Randolph Vandermeulen. Er hatte sich lange mit ihm im Pfarrhaus unterhalten, und der sensible Mann war ihm von Beginn an sympathisch gewesen. Crinelli war nicht besonders fromm, doch Vandermeulen schien das wenig zu stören. Das offene und gewinnende Wesen des Pfarrers hatte den Kriminalkommissar, auch bei ihrem zweiten Treffen in der Kupferkanne, angenehm überrascht. So wie Vandermeulen seinen Beruf begriff, schien es, bei allen Unterschieden, doch auch eine Menge Gemeinsamkeiten zwischen einem Polizisten und einem Seelsorger zu geben.

Er ging zurück zum Feuer, wo sich die Anzahl der Gäste inzwischen deutlich verringert hatte. Als er an Maria vorbeikam, hielt sie ihn am Arm fest und zog sein Ohr dicht an ihren Mund.

»Ich muss dir gleich was Tolles erzählen.«

Crinelli nahm sich vor, sich bei Maria nicht mit seiner eigenen Neuigkeit zu revanchieren. Die grausige Beobachtung wollte er seiner Frau lieber vorenthalten. Er trank noch ein letztes Bier mit Fridolin Neumann, und dann verabschiedeten sie sich in die feuchte Nacht.

 

»Das glaubst du nicht«, konnte Maria sich nicht einmal gedulden, bis der Wagen gestartet war, »rate, wen ich beim Seitensprung erwischt habe?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Crinelli nicht sehr interessiert an dem üblichen Klatsch. »Na sag schon.«

»Traugott Keppeler treibt es mit Sybille Zimmermann. Was sagst du jetzt?«

»Würstchen sucht Brötchen. Klingt doch logisch, oder?«

»Crinelli, sei ernst! Ist das nicht schockierend?«

»Überraschend, nicht schockierend. Aber eigentlich nicht einmal überraschend. Wenn ich es genau bedenke, finde ich es einfach relativ uninteressant. Wir kennen die Leute doch überhaupt nicht näher. Und was hast du eigentlich genau gesehen? In flagranti heißt doch wohl im Bett, oder? Darf ich daraus schließen, dass du dich durch ein fremdes Haus geschlichen hast?«

»Quatsch! Ich war auf der Toilette.«

»Die treiben es auf dem Klo? Ist ja scharf!«

»Jerry, bitte. Als ich von der Toilette zurückkam, sah ich sie durch einen Türspalt in der Küche stehen. Küssend!«

»Komm, Maria, das wird ein Freundschaftskuss gewesen sein.«

»Ach ja? Und bei einem Freundschaftskuss hat die Frau ein Bein um die Hüfte des Mannes geschlungen und dieser seine Hand unter ihren Rock geschoben?«

»Welche Farbe hatte ihr Slip? Warte! Ich wette, rot.«

»Schwarz, du Ferkel. Kannst du mal bitte ernst sein. Ich finde das skandalös. Ihre jeweiligen Ehepartner stehen keine hundert Meter entfernt am Feuer, und die beiden treiben es in der bäuerlichen Küche. Und, mein lieber Mann, wir befinden uns nicht im sündigen Köln, sondern im reinen Niederkirchen.«

»Nein, Maria, Gnade, nicht schon wieder einen Minuspunkt für unsere neue Gemeinde«, lachte Crinelli. »Sag mal, Schatz, hat dich die Szene zwischen den beiden erregt?«

Maria näherte sich seinem Ohr, biss zärtlich hinein und antwortete:

»Und wie, du Spinner.«