Nenn es Schlaf

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Inhaltsverzeichnis

(Ich bitt dich, keine Fragendies ist das Gold’ne Land)

Der kleine weiße Dampfer Peter Stuyvesant, der die Einwanderer aus dem Gestank und dem Gedröhne des Zwischendecks in den Gestank und das Gedröhne der New Yorker Mietskasernen brachte, schlingerte leicht im Wasser an dem steinernen Kai im Lee der verwitterten Schuppen und neuen Backsteingebäude von Ellis Island. Der Kapitän wartete, bis die letzten Beamten, Arbeiter und Wachleute an Bord gegangen waren, bevor er Richtung Manhattan ablegte. Da es ein Samstagnachmittag und dies die letzte Fahrt war, die er am Wochenende machen würde, müssten die Zurückgelassenen bis Montag dort ausharren. Die Sirene heulte ihre heisere Warnung hinaus. Ein paar Gestalten im Overall schlenderten von den hohen Toren der Einwandererquartiere das graue Pflaster hinab, das zum Pier führte.

Es war der Mai des Jahres 1907, des Jahres, das die größte Anzahl Einwanderer an die Gestade der Vereinigten Staaten bringen sollte. Den ganzen Tag hindurch, so wie an allen Tagen seit Beginn des Frühjahrs, hatten sich auf den Decks des Dampfers Aberhunderte Ausländer gedrängt, Menschen aus nahezu jedem Land der Welt, der kantige, kurzhaarige Teutone, der vollbärtige Russe, der

Die äußere Erscheinung dieser Nachzügler wies sehr wenig Ungewöhnliches auf. Der Mann hatte offenkundig schon einige Zeit in Amerika gelebt und brachte nun seine Frau und sein Kind von der anderen Seite herüber. Man hätte meinen können, dass er die meiste Zeit im unteren New York gelebt hatte, denn er schenkte der Freiheitsstatue wie auch der Stadt, die sich aus dem Wasser erhob, oder den Brücken, die den East River überspannten, nur die knappste Aufmerksamkeit – vielleicht war er aber auch nur zu aufgewühlt, um Zeit an diese Wunder zu verschwenden. Seine Kleidung war die gewöhnliche Kleidung, die der gewöhnliche New Yorker zu jener Zeit trug – nüchtern und gedeckt. Ein schwarzer Derby betonte die Strenge und tief sitzende Blässe seines Gesichts; ein Jackett, das seine

Nur das kleine Kind auf ihren Armen trug eine eindeutig ausländische Tracht, ein Eindruck, den man vor allem von dem eigentümlichen, fremdartigen blauen Strohhut mit den gepunkteten Bändern derselben Farbe auf seinem Kopf gewann, die über beide Schultern herabhingen.

Bis auf diesen Hut hätte wahrscheinlich niemand, wären die drei Neuankömmlinge in einer Menschenmenge gewesen, die Frau und das Kind als neu eingetroffene Einwanderer ausmachen können. Sie trugen keine zu riesigen Bündeln zusammengeknüpften Laken, keine sperrigen Weidenkörbe, keine kostbaren Federbetten, keine Kisten mit Delikatessen, Würsten, Jungfernöl der Olive, seltenen Käsen; der große schwarze Ranzen neben ihnen war ihr einziges Gepäck. Und dennoch, trotz ihrer noch weniger als alltäglichen Erscheinung, beäugten die beiden Männer im Overall, die Zigaretten rauchend im Heck hingefläzt lagen, sie neugierig. Und die alte Hökerin, die da mit einem Korb voll Orangen auf den Knien saß, blinzelte mit ihren schwachen Augen unablässig in ihre Richtung.

In Wahrheit nämlich lag in ihrem Verhalten etwas gänzlich Untypisches. Die alte Hökerin auf der Bank und die Männer im Overall am Heck hatten genügend Männer gesehen, die Frau und Kinder nach langer Abwesenheit

Auf diese seltsame und schweigende Weise hatten sie nun schon etliche Minuten dagestanden, als die Frau, wie getrieben von der Anspannung, zu lächeln versuchte, ihren Mann am Arm fasste und zaghaft sagte: »Und das ist also das goldene Land.« Sie sprach Jiddisch.

Der Mann knurrte, gab aber keine Antwort.

Wie um Mut zu fassen, holte sie tief Luft und zitternd: »Es tut mir leid, Albert, dass ich so dumm war.« Sie hielt inne, wartete auf ein Zeichen des Einlenkens, ein Wort, das aber nicht kam. »Aber du siehst so schmal aus, Albert, so hager. Und dein Schnurrbart – du hast ihn abrasiert.«

»Du musst in diesem Land gelitten haben«, fuhr sie ungeachtet seines Vorwurfs sanft fort. »Du hast mir gar nicht geschrieben. Du bist so dünn. Ach! Dann herrscht hier in dem neuen Land also die gleiche Armut. Du hast noch gar nichts gegessen. Das sehe ich doch. Du hast dich verändert.«

»Das bleibt sich doch ganz gleich«, schnauzte er, ohne ihre Anteilnahme zu beachten. »Das ist keine Entschuldigung dafür, dass du mich nicht erkannt hast. Wer sollte dich denn sonst abholen? Kennst du etwa noch jemanden in diesem Land?«

»Nein«, beschwichtigend. »Aber ich hatte solche Angst, Albert. So hör doch. Ich war so verwirrt, und dann das lange Warten da in dem riesigen Saal seit dem Morgen. Ach, das grauenvolle Warten! Alle habe ich sie gehen sehen, einen nach dem andern. Den Schuhmacher und seine Frau. Den Kupferschmied und seine Kinder aus Strij. Alle von der Kaiserin Viktoria. Nur ich – ich war übrig. Morgen ist Sonntag. Sie haben mir gesagt, dass niemand mich abholen könnte. Wenn sie mich nun zurückgeschickt hätten? Ich war verzweifelt!«

»Ist das etwa meine Schuld?« Seine Stimme klang gefährlich.

»Nein! Nein! Natürlich nicht, Albert! Ich hab’s doch bloß erklärt.«

»Dann erklär ich dir jetzt mal was«, sagte er barsch. »Ich hab getan, was ich konnte. Ich hab mir für den Tag freigenommen. Viermal hab ich bei dieser verfluchten Hamburg-Amerika-Linie angerufen. Und jedes Mal haben sie mir gesagt, du seist nicht an Bord.«

»Es gab keine Plätze mehr in der dritten Klasse, also musste ich ins Zwischendeck –«

»Ja, jetzt weiß ich’s auch. Ist ja auch in Ordnung. Es ging

»Es tut mir leid, Albert.« Demütig streichelte sie ihm den Arm. »Es tut mir leid.«

»Und als machten sich diese blau berockten Hunde da drin nicht schon genug über mich lustig, sagst du denen auch noch das richtige Alter des Görs. Habe ich dir nicht geschrieben, du sollst siebzehn Monate sagen, weil man dann den halben Fahrpreis spart? Hast du drinnen denn nicht gehört, als ich’s denen gesagt habe?«

»Wie denn, Albert?«, protestierte sie. »Wie denn? Du warst doch auf der anderen Seite von diesem – diesem Käfig.«

»Und wenn schon, warum hast du nicht auch so siebzehn Monate gesagt? Da!« Er zeigte auf mehrere blau berockte Beamte, die aus einer Tür der Einwandererquartiere geeilt kamen. »Da sind sie.« Ein unheilvoller Stolz zerrte an seiner Stimme. »Wenn der dabei ist, der eine, der mich so ausgefragt hat, mit dem hätte ich noch ein Wörtchen zu reden, wenn der hierherkäme.«

»Ach, lass doch, Albert«, rief sie beklommen. »Bitte, Albert! Was hast du denn gegen ihn? Der konnte doch nicht anders. Das ist doch seine Arbeit.«

»Ach, ja?« Sein Blick folgte mit unbeirrbarem Bedacht den Blauröcken auf ihrem Weg zum Schiff. »Na, er hätte sie ja nicht so gut zu machen brauchen.«

»Und außerdem habe ich ihn auch angelogen, Albert«, sagte sie hastig in dem Versuch, ihn abzulenken.

»Das hast du nicht, und das ist die Wahrheit«, schnauzte er. Seine Wut kehrte sich gegen sie. »Du hast deine erste Lüge verraten, indem du hinterher die Wahrheit gesagt hast. Und mich zum Gespött gemacht!«

»Ich wusste nicht, was ich tun sollte.« Verzweifelnd zupfte

Das Kind versteckte aber nur den Kopf hinter seiner Mutter. Sein Vater starrte es an und wandte den Blick ab, um finster auf die Beamten hinabzusehen. Dann runzelte er abwesend die Stirn, als wäre er plötzlich über etwas verblüfft. »Wie alt, sagte er, sei er?«

»Der Arzt? Über zwei Jahre – und er hat, wie gesagt, gelacht.«

»Aber was hat er denn eingetragen?«

»Siebzehn Monate – wie ich’s dir gesagt habe.«

»Warum hast du ihnen denn dann nicht siebzehn gesagt –« Er unterbrach sich, zuckte heftig die Achseln. »Pah! In diesem Land musst du stärker sein.« Er hielt inne, blickte sie durchdringend an und runzelte dann unvermittelt die Stirn. »Hast du seine Geburtsurkunde dabei?«

»Hm –« Sie wirkte durcheinander. »Vielleicht ist sie im Koffer – da auf dem Schiff. Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich sie auch dort gelassen.« Ihre Hand wanderte unsicher zu ihren Lippen. »Ich weiß es nicht. Ist das so wichtig? Daran hab ich gar nicht gedacht. Aber bestimmt könnte Vater sie schicken. Wir brauchen ihm ja bloß zu schreiben.«

»Hmm! Na, gut, setz ihn ab.« Brüsk fuhr sein Kopf zu dem Kind hin. »Du brauchst ihn nicht den ganzen Weg zu tragen. Er ist groß genug, um auf eigenen Füßen zu stehen.«

Sie zögerte und stellte das Kind dann widerstrebend auf das Deck. Furchtsam, unsicher rückte der Kleine auf die seinem Vater abgewandte Seite und klammerte sich, von seiner Mutter verborgen, an deren Rock.

»Schöner Vorgeschmack auf das, was mir bevorsteht!« Er drehte ihr den Rücken zu und lehnte sich mürrisch gegen die Reling. »Ein schöner Vorgeschmack!«

Sie schwiegen. Auf dem Kai unter ihnen waren die braunen Trossen über die Poller geschlungen worden, und die Männer auf dem unteren Deck holten die vom Wasser tropfenden Taue ein. Glocken läuteten. Das Schiff vibrierte. Aufgeschreckt vom heiseren Dröhnen der Sirene stiegen die Möwen, die vor dem Bug kreisten, mit leisen, krächzenden Schreien von dem grünen Wasser auf und strichen, als das Schiff von dem steinernen Kai wegstampfte, auf trägen Krummsäbelschwingen dicht über seiner Bahn dahin. Hinter dem Schiff wurde das weiße Kielwasser, das sich bis Ellis Island erstreckte, länger und löste sich in ein fahles Melonengrün auf. Zur einen Seite zog sich die niedrige, triste Küste Jerseys hin, die Spieren und Masten am Ufer wie Fransen vor dem Himmel; zur anderen Seite Brooklyn, flach, mit Wassertürmen – die Hörner des Hafens. Und auf ihrem hohen Sockel ragte vor ihnen aus dem geschuppten, flirrenden Glitzern sonnenbestrahlten Wassers im Westen die Freiheitsstatue auf. Die wirbelnde Scheibe der spätnachmittäglichen Sonne neigte sich hinter ihr, und für diejenigen an Bord, die hinschauten, waren ihre Züge schattenverkohlt, ihrer Tiefe entleert, war ihre Massigkeit zu einer einzigen Fläche geglättet. Vor dem gleißenden Himmel waren die Spitzen ihres Strahlenkranzes finstere Zacken, ein Spornrad in der Luft; Schatten ebneten die Fackel in ihrer Hand zu einem schwarzen Kreuz vor makellosem Licht – zum geschwärzten Heft eines zerbrochenen Schwerts. Die Freiheitsstatue. Das Kind und seine Mutter starrten erneut voller Staunen auf die massige Figur.

»Wo hast du denn den Deckel her?«

Von seiner unvermittelten Frage verschreckt, blickte seine Frau zu Boden. »Den? Das war Marias Abschiedsgeschenk. Die alte Amme. Sie hat ihn selber gekauft und dann die Bänder drangenäht. Findest du ihn nicht hübsch?«

»Hübsch? Das fragst du noch?« Seine schmalen Kinnbacken bewegten sich kaum, als er sprach. »Siehst du denn nicht, dass die Idioten, die dahinten liegen, uns schon beobachten? Die machen sich über uns lustig! Was wird das bloß im Zug geben? Der sieht damit aus wie ein Clown. Und überhaupt ist er schuld an dem ganzen Ärger!«

Die barsche Stimme, der zornige Blick, die Hand, die sich gegen ihn erhob, verängstigten den Jungen. Ohne die Ursache zu kennen, wusste er, dass die Wut des Fremden gegen ihn gerichtet war. Er brach in Tränen aus und drückte sich noch fester an seine Mutter.

»Still!«, bellte die Stimme über ihm.

Das Kind duckte sich nieder und weinte umso lauter.

»Pscht, mein Schatz!« Die schützenden Hände seiner Mutter legten sich um seine Schultern.

»Und ausgerechnet jetzt, wo wir gleich an Land gehen!«, sagte ihr Mann wütend. »Da fängt er damit an! Mit diesem Geheule! Und das kriegen wir nun wohl auf dem ganzen Nachhauseweg zu hören! Still! Wirst du wohl?«

»Aber du machst ihm doch Angst, Albert!«, protestierte sie.

»Aber Albert, es ist frisch hier.«

»Wirst du das wohl abnehmen, wenn ich –« Alles weitere wurde von einem Knurren erstickt. Unter dem entgeisterten Blick seiner Frau rissen seine langen Finger den Hut vom Kopf des Kindes. Im nächsten Moment segelte er über die Seite des Schiffs auf das grüne Wasser hinab. Die Männer im Overall am Heck grinsten einander an. Die alte Orangenhökerin schüttelte den Kopf und gluckste.

»Albert!« Seine Frau hielt den Atem an. »Wie konntest du nur!«

»Allerdings!«, schrie er los. »Du hättest ihn dalassen sollen!« Seine Zähne klackten, und er blickte finster übers Deck.

Sie hob das schluchzende Kind an die Brust, drückte es an sich. Leer und fassungslos schweifte ihr Blick von der schwelenden Düsternis im Gesicht ihres Mannes zum Heck des Schiffs. In dem silbrig grünen Kielwasser, das sich trompetengleich dahinzog, hüpfte und schlingerte noch der Hut, die Bänder lang auf den Wellen ausgestreckt. Tränen schossen ihr in die Augen. Rasch wischte sie sie weg, schüttelte den Kopf, als schüttelte sie die Erinnerung ab, und schaute zum Bug. Vor ihr türmten sich die rußigen Kuppeln und ragenden kantigen Mauern der Stadt. Oberhalb der gezackten Dächer wehte, von der sich neigenden Sonne gebleicht und durchtränkt, der weiße Rauch in die Kerben und Keile des Himmels. Sie presste die Stirn an die des Kindes, beruhigte es flüsternd. Das also war das weite, unglaubliche Land, das Land der Freiheit, der ungeheuren Möglichkeiten, das Goldene Land. Erneut versuchte sie zu lächeln.

»Albert«, sagte sie zaghaft, »Albert.«

»Hm?«

»Gejn mir wojnen do? In New York?«

»Nejn. Bronzeville. Ich hob dir schojn geschribn.«

Mit mahlenden Schrauben, Wasser verdrängend, näherte sich die Peter Stuyvesant ihrem Pier – langsam treibend und mit zurückgenommener Fahrt, fast widerstrebend.


Der Keller

Er stand vor dem Ausguss in der Küche und betrachtete die blinkenden Messinghähne, die so weit entfernt schimmerten, jeder mit einem Wassertropfen an der Nase, der langsam anschwoll, dann fiel, und wieder einmal wurde David bewusst, dass diese Welt ohne Rücksicht auf ihn erschaffen worden war. Er hatte Durst, doch die eiserne Hüfte des Ausgusses ruhte auf Beinen, die fast so hoch wie sein Körper waren, und sosehr er auch den Arm recken, sosehr er springen mochte, er konnte den fernen Hahn nicht erreichen. Woher kam das Wasser, das so geheimnisvoll in dem gekrümmten Messing lauerte? Wohin ging es, wenn es im Abfluss gurgelte? Was für eine fremde Welt hinter den Wänden eines Hauses verborgen sein musste! Doch er hatte Durst.

»Mama!«, rief er, und seine Stimme übertönte das zischende Kehrgeräusch in der Wohnstube. »Mama, ich will was trinken.« Der unsichtbare Besen hielt inne, um zu horchen. »Ich komme gleich«, antwortete seine Mutter. Ein Sessel ächzte auf seinen Laufrollen; ein Fenster keckerte herab; die nahenden Schritte seiner Mutter.

In der Tür auf der oberen Stufe stehend (zwei Stufen führten in die Wohnstube), blickte seine Mutter ihn lächelnd an. Sie wirkte groß wie ein Turm. Das alte graue Kleid, das sie trug, erhob sich von kräftigen bloßen Knöcheln gerade bis zur Taille, wölbte sich um den tiefen Busen und über die breiten Schultern und setzte ihren vollen Hals in einen Rahmen aus abgewetzter Spitze. Ihr glattes, herabgeneigtes Gesicht war nun gerötet von der Arbeit, aber nur schwach,

»Ich will was trinken, Mama«, wiederholte er.

»Ja«, antwortete sie, während sie die Stufen herabkam, »ich hab’s gehört.« Und mit einem raschen Seitenblick auf ihn ging sie zum Ausguss und drehte den Hahn auf. Das Wasser sprudelte geräuschvoll herab. Einen Augenblick lang stand sie versonnen lächelnd da, den ungestümen Strahl mit einem Finger teilend, darauf wartend, dass er kühler werde. Dann füllte sie ein Glas und reichte es ihm hinunter.

»Wann bin ich denn groß genug?«, fragte er ärgerlich, während er das Glas in beide Hände nahm.

»Einmal kommt die Zeit«, antwortete sie lächelnd. Sie lächelte selten breit; viel eher vertiefte sich die dünne Furche entlang ihrer Oberlippe. »Nur keine Angst.«

Die Augen noch immer auf seine Mutter gerichtet, trank er das Wasser mit atemlosen, unregelmäßigen Schlucken und gab ihr dann das Glas zurück, verblüfft darüber, dass der Inhalt kaum weniger geworden war.

»Warum kann ich nicht reden, wenn mein Mund im Wasser ist?«

»Dann würde dich niemand hören. Hast du genug?« Er nickte und murmelte befriedigt.

»Und das war alles?«, fragte sie. Ihre Stimme barg eine feine Herausforderung.

»Ja«, sagte er zögernd, während er ihr Gesicht nach einem Hinweis absuchte.

»Das habe ich mir gedacht.« Sie zog den Kopf in komischer Enttäuschung zurück.

»Was?«

»Es ist Sommer«, – sie zeigte zum Fenster –, »das Wetter

»Oh!« Er hob das lächelnde Gesicht.

»Du merkst dir auch gar nichts«, tadelte sie ihn und nahm ihn, kehlig kichernd, auf den Arm.

David vergrub die Finger in ihrem Haar und küsste sie auf die Stirn. Die schwache, vertraute Wärme, der Duft ihrer Haut und Haare.

»Aha!«, lachte sie und rieb die Nase an seiner Wange. »Aber du hast zu lange gewartet; die frische Kühle ist lau geworden. Für mich müssen Lippen«, erinnerte sie ihn, »immer so kalt wie das Wasser sein, das sie befeuchtet hat.« Sie setzte ihn ab.

»Einmal esse ich ein Eis«, sagte er warnend, »das gefällt dir dann.«

Sie lachte. Und dann nüchtern: »Willst du denn gar nicht raus auf die Straße? Der Vormittag ist schon fast vorbei.«

»Ooh!«

»Geh mal lieber. Muss ja nicht lang sein. Ich will hier nämlich fegen.«

»Aber erst meinen Kalender«, schmollte er und führte dies Vorrecht ins Feld, um Zeit zu schinden.

»Na, meinetwegen. Aber danach musst du runter.«

Er zog einen Stuhl unter den Kalender an der Wand, kletterte hinauf, zupfte das abgegriffene Blatt ab und ging die verbliebenen durch, um zu sehen, wie viele es noch bis zum nächsten roten Tag waren. Rote Tage waren Sonntage, die Tage, an denen sein Vater zu Hause war. Sie näher rücken zu sehen, versetzte David immer einen kleinen Schrecken.

»Nun hast du dein Blatt«, erinnerte ihn seine Mutter.

»Komm.« Sie streckte die Arme aus.

Er zögerte. »Zeig mir, wo mein Geburtstag ist.«

»Oje!«, rief sie mit einem ungeduldigen Kichern aus. »Seit Wochen zeige ich ihn dir nun Tag für Tag.«

»Zeig ihn mir noch einmal.«

David betrachtete ernst die fremdartigen Ziffern. »Noch viele Seiten«, teilte er ihr mit.

»Ja.«

»Und dazu noch ein schwarzer Tag.«

»Auf dem Kalender«, lachte sie, »nur auf dem Kalender. Nun komm aber runter!«

Er ergriff ihren Arm und sprang vom Stuhl. »Das muss ich jetzt verstecken«, erklärte er.

»Wahrscheinlich. Ich sehe schon, ich kriege meine Arbeit heute nie getan.«

Zu vertieft in seine Angelegenheiten, um den ihren viel Beachtung zu schenken, ging er zur Anrichte unter dem Geschirrbord, öffnete die Tür und zog einen Schuhkarton hervor, seine Schatzkiste.

»Siehst du, wie viele ich schon habe?« Stolz zeigte er auf das dicke Bündel zerknitterter Blätter in dem Karton.

»Großartig!« Mit routinierter Bewunderung blickte sie auf den Karton. »Du schälst das Jahr fast wie einen Kohlkopf. Bist du abmarschfertig?«

»Ja.« Nicht sehr bereitwillig verstaute er den Karton.

»Wo ist denn deine Matrosenbluse?«, murmelte sie umherblickend. »Die mit den weißen Streifen? Was habe ich denn –?« Sie fand sie. »Es ist immer noch ein bisschen windig.«

David hielt die Arme hoch, damit sie ihm die Bluse über den Kopf ziehen konnte.

»Also, mein Herz«, sagte sie und gab dem wieder auftauchenden Gesicht einen Kuss. »Jetzt geh und spiel schön.« Sie führte ihn zur Tür und öffnete sie. »Aber nicht zu weit. Und denk daran, wenn ich dich nicht rufe, dann bleibst du, bis es tutet.«

Blinzelnd und beinahe erschüttert verharrte er einen Augenblick auf der flachen Stufe, bis sich sein schwirrender Blick festigte. Erst dann bemerkte er überhaupt, dass auf dem Bordstein vor seinem Haus ein Junge saß, den er im nächsten Moment erkannte. Es war Yussie, der gerade in Davids Haus eingezogen war und einen Stock über ihm wohnte. Yussie hatte ein sehr rotes, dickes Gesicht. Seine große Schwester hinkte und hatte komische Eisenstäbe an einem Bein. Was machte er da, fragte sich David, was hatte er da in den Händen? Er trat von der Stufe herab, ging zu ihm hin und stellte sich, völlig unbeachtet, neben ihn.

Yussie hatte von einem Wecker das Gehäuse abmontiert.

»Läuf trotzdem noch«, klärte Yussie ihn ernst auf. David setzte sich. Fasziniert starrte er auf die schimmernden Zahnrädchen, die sich drehten, ohne dass ihre Lichtzentren sich mitdrehten. »Un was mach das?«, fragte er. Auf der Straße redete David englisch.

»Siehsn das nich? Weil das halt a Maschin is.«

»Ah!«

»Der weck mein Vadder morngs uff.«

»Der weck auch mein Vadder uff.«

»Der sag dir, wennd essn muss und wennd schlafn gehn muss. Das sag er dir, aber ich habn ausnannergenomm.«

»Ich hab an Kalenda obn«, teilte David ihm mit.

»Pah! Wer hat kein Kalenda?«

»Ich heb mein uff. Ich hab schon a dicks Buch von, mit Zahln druff.«

»Wer kann n das nich?«

»Aber den hat mein Vadder gemach«, spielte David seinen einzigen Trumpf aus.

»Was isn dein Vadder?«

»Mein Vadder is Drucker.«

»Mein Vadder schaff in am Schmuckladen. In Brooklyn. Has schon ma in Brooklyn gewohn?«

»Nein.« David schüttelte den Kopf.

»Aber wir – gleich nebn dem Schmuckladn von meim Vadder in der Rainey Avenju. Wo schaffn dein Vadder?«

David dachte nach. »Ich weiß nich«, gestand er schließlich und hoffte, dass Yussie das Thema nicht weiterverfolgen würde. Was er nicht tat. Stattdessen sagte er: »Ich mag Brownsville nich. Brooklyn is mir lieber.«

David war erleichtert.

»Da hammer immer Zigarettn inner Goss gefunn«, fuhr Yussie fort. »Und die hammer dann den Fraun

»Fraun.«

»Ich mag mein Vadder lieba«, sagte Yussie. »Mein Mudder schrei mich immer an.« Er klemmte einen Nagel zwischen zwei Zahnrädchen. Ein leuchtend gelbes Teil brach plötzlich ab und fiel in die Gosse vor seinen Füßen. Er nahm es auf, pustete den Staub ab und erhob sich. »Wills es?«

»Ja.« David griff danach.

Yussie wollte es ihm schon in die ausgestreckte Hand fallen lassen, überlegte es sich aber anders und zog es zurück. »Nein. Is so klein wien Penny. Vielleich kann ichs in n Automat steckn und krieg n Kaugummi. Da, kanns das da ham.« Er angelte ein größeres Rad aus der Hosentasche und gab es David.

»Das is wie an Quarter. Komms mit?«

David zögerte. »Ich muss hier wartn, bis s tutet.«

»Was tutet?«

»Inner Fabrik. Alle auf einmal.«

»Un?«

»Un dann kann ich widder ruff.«

»Un warum?«

»Weils um zwölf losgeh un dann noch ma um fünf. Dann kann ich ruff.«

Yussie musterte ihn neugierig. »Ich hol mirn Kaugummi«, sagte er und schüttelte seine Verblüffung ab. »Vom Automat.« Und er bummelte in Richtung des Süßwarenladens an der Ecke davon.

Das kleine Rädchen in der Hand, fragte David sich wieder einmal, wie es kam, dass jeder Junge auf der Straße wusste, wo sein Vater arbeitete, nur er nicht. Sein Vater hatte so viele Arbeitsstellen. Kaum hatte man erfahren, wo er arbeitete, da arbeitete er auch schon wieder woanders. Und warum sagte er immerzu: »Die sehen mich immer so schief an, mit Spott im Blick! Wie lange hält das denn einer aus?

Während er so vor sich hin brütete, vertieft in seine Gedanken, vertieft in die rhythmischen, akkuraten Zähnchen des gelben Rads in seiner Hand, in die dünnen hellen Ringe, die, ohne sich zu bewegen, ruhelos herumwirbelten, merkte David gar nicht, dass sich ein Stück weiter eine kleine Gruppe Mädchen in der Gosse versammelt hatte. Als sie jedoch zu singen anfingen, schreckte er hoch und blickte hin. Ihre Gesichter waren ernst, sie hielten einander an den Händen gefasst; langsam sich im Kreis drehend, sangen sie in einem klagenden, näselnden Chor:

»Walta, Walta, Wildeblum,

Bist so aufgeschossen;

Sind wir alles junge Frau’n,

Zum Sterben fest entschlossen.«

Immer aufs Neue wiederholten sie den Refrain. Ihre Worte, zunächst undeutlich, wurden schließlich klar, füllten

»Walta, Walta, Wildeblum,

Bist so aufgeschossen;«

Sein Körper entspannte sich, gab sich dem Rhythmus des Liedes und der goldenen Junisonne hin. Ihm war, als höbe und senkte er sich irgendwo auf Wellen weit weg von ihm. In ihm sprach eine Stimme nicht mit Worten, sondern mit dem Zucken einer langsamen Flamme …

»Sind wir alles junge Frau’n,

Zum Sterben fest entschlossen.«

Aus den schlaffen, sich öffnenden Fingern rollte das Zahnrad wie eine Münze klingend auf die Erde, fiel auf die Seite. Das plötzliche Geräusch brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück, verankerte ihn an der stillen Vorstadtstraße, am Bordstein. Die verschwommene Flamme, die in ihm gelodert hatte, flackerte und erlosch. Er seufzte, bückte sich und hob das Rädchen auf.

Wann tutet es denn endlich, fragte er sich. Es dauerte lange heute …

So weit seine Erinnerung reichte, war dies das erste Mal, dass er mit seinem Vater allein irgendwohin gegangen war, und schon war er niedergeschlagen, von düsteren Vorahnungen aufgewühlt, voller verzweifelter Sehnsucht nach seiner Mutter. Sein Vater war so stumm und so fern, dass er das Gefühl hatte, als wäre er, selbst an seiner Seite, allein. Was, wenn sein Vater ihn nun verlassen, ihn in einer einsamen Straße zurücklassen würde. Bei dem Gedanken überliefen ihn Schauder des Grauens. Nein! Nein! Das konnte er nicht tun!

Endlich erreichten sie die Gleise der Elektrischen. Der Anblick von Menschen heiterte ihn wieder auf, vertrieb für eine Weile seine Furcht. Sie bestiegen eine Bahn, fuhren, wie ihm vorkam, eine lange Strecke und stiegen dann in einer belebten Straße unter einer Hochbahn aus. Sein Vater packte David nervös am Arm und steuerte ihn über die Straße. Vor dem ausgezogenen Eisengitter eines geschlossenen Lichtspielhauses blieben sie stehen. Zu beiden Seiten kolorierte Plakate, dahinter der Geruch abgestandenen Parfüms. Hastende Menschen, donnernde Züge. Furchtsam blickte David um sich. Zur Rechten des Lichtspielhauses, im Fenster einer Eisdiele, tanzte und trieb, von einem Ventilator angeblasen, knallig buntes Popcorn. Ängstlich schaute er zu seinem Vater hoch. Der war bleich, finster. Die feinen Adern in seiner Nase stachen wie ein rosarotes Spinnennetz hervor.

»Siehst du die Tür da?« Er rüttelte seine Aufmerksamkeit wach. »In dem grauen Haus da. Siehst du? Da, wo gerade der Mann rausgekommen ist.«

»Ja, Papa.«

»Da gehst du jetzt rein und die Treppe hoch, und dort siehst du noch eine Tür. Da gehst du rein. Und zu dem ersten Mann, den du da drin siehst, sagst du: Ich bin der

David fing an, seine Anweisungen auf Jiddisch zu wiederholen.

»Sag’s auf Englisch, du Trottel!«

Er gab sie auf Englisch wieder. Und als er seinen Vater insoweit zufriedengestellt hatte, dass er alles behalten hatte, wurde er hineingeschickt.

»Und sag ihnen ja nicht, dass ich hier bin«, folgte die Mahnung, als er losging. »Denk dran, du bist allein gekommen!«

Voller banger Befürchtungen, entmutigt von der quälenden Aussicht, allein Fremden gegenüberzutreten, Fremden, vor denen selbst sein Vater sich zu fürchten schien, betrat er den Eingang, erklomm die Treppe. Im ersten Stock stieß er die Tür auf und betrat einen kleinen Raum, ein Büro. Von irgendwoher hinter diesem Büro schepperten und rasselten Maschinen. Ein kahlköpfiger Mann mit einer Zigarre im Mund blickte bei seinem Eintreten auf.

»Na, mein Junge«, sagte er lächelnd, »was möchtest du denn?«

Einen Augenblick lang waren David alle Anweisungen aus dem Kopf gewichen. »Mein – Vadder hat mich geschick.« Er stockte.

»Dein Vater? Wer ist das?«

»Ich – Ich bin der Sohn von Albert Schearl«, platzte er heraus. »Der hat mich geschick, damit ich seine Sachn ausm Spind holn soll un das Geld, so Se ihm schuln.«

»Ach, du bist also der Sohn von Albert Schearl«, sagte der Mann, und seine Miene veränderte sich. »Und der will nun sein Geld, wie?« Er nickte mit der kurzen, vibrierenden Bewegung einer Glocke. »Da hast du vielleicht ’nen Vater,

David schüttelte schuldbewusst den Kopf. »Nix.«

»Nichts?«, kicherte er. »Nichts, was? Na –« Er unterbrach sich und ging nach hinten zu einem kleinen Bogenfenster. »Joe!«, rief er. »Ach, Joe. Komm doch mal kurz her, ja?«

Ein paar Sekunden später kam ein grauhaariger Mann im Overall herein.

»Sie ham mich gerufen, Mr. Lobe?«

»Ja, hol mir doch mal Schearls Sachen aus seinem Spind und pack sie für mich ein. Sein Junge ist da.«

Das Gesicht des anderen dehnte sich zu einem breiten, braunzahnigen Grinsen. »Is das sein Junge?« Wie um ein Lachen zu unterdrücken, zerrte seine Zunge an dem Tabakpriem in der Wange.

»Ja.«

»Der sieht mir aber nich verrückt aus.« Er lachte unvermittelt laut auf.

»Nein.« Mr. Lobe brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Das ist ein netter Junge.«

»Dein Alter hat mir mit m Hammer fastn Schädel eingeschlagen«, sagte der Mann zu David. »Weiß nich, was los war, keiner hat was gesagt.« Er grinste. »So einer ist mir noch nich untergekommen, Mr. Lobe. Heiliger Strohsack, der hat ausgesehn, als würd er kochen vor Wut. Ham Sie gesehen, wie der die Stange mitn Händen verbogen hat? Vielleicht geb ich ihm die als Andenken mit.«

Mr. Lobe grinste. »Lass den Jungen in Ruh«, sagte er ruhig. »Hol seinen Kram.«

»Schon gut.« Noch immer kichernd, ging der grauhaarige Mann hinaus.

»Setz dich, mein Junge«, sagte Mr. Lobe und zeigte auf einen Stuhl. »Die Sachen von deinem Vater haben wir gleich hier.«

»Ach, Marge«, sagte Mr. Lobe, »such doch mal raus, was der Schearl noch kriegt, ja?«

»Ja, Mr. Lobe.« Sie musterte David. »Wer ist das, sein Junge?«

»Mhm.«

»Sieht ihm ähnlich, was?«

»Kann sein.«

»Den würd ich einsperren lassen«, sagte die Frau, während sie ein großes Hauptbuch aufschlug.

»Was würde das schon nützen?«

»Weiß nicht, würd ihn vielleicht zur Vernunft bringen.«

Mr. Lobe zuckte die Achseln. »Ich bin bloß froh, dass er keinen umgebracht hat.«

»Der gehört in die Gummizelle«, sagte die Frau, während sie etwas auf ein Blatt Papier schrieb.

Mr. Lobe gab keine Antwort.

»Er kriegt sechs zweiundsechzig.« Sie legte den Bleistift hin. »Soll ich’s holen?«

»Mhm.«

Die Frau ging zu einem großen schwarzen Tresor in einer Ecke, zog einen Kasten hervor, zählte etwas Geld heraus, steckte es dann in einen kleinen Umschlag und gab ihn Mr. Lobe.

»Komm her«, sagte er zu David. »Wie heißt du denn?«

»David.«

»David und Goliath.« Er lächelte. »Also, David, hast du denn eine schöne tiefe Tasche? Lass mal sehen.« Er hob die Schöße von Davids Jacke. »Da, die ist gut.« Und fingerte an der kleinen Uhrentasche an der Hüfte. »Da tun wir’s rein.« Er faltete den Umschlag und stopfte ihn hinein. »Und nimm ihn ja nicht raus. Sag keinem, dass du das hast, bis du zu Hause bist, verstanden? Also, wirklich, einen Jungen in dem Alter so was machen zu lassen.«

»Mehr hab ich nich gefunden, Mr. Lobe. Sein Handtuch und sein Hemd und ne Jacke.«

»Ist gut, Joe.« Mr. Lobe nahm ihm das Paket ab und wandte sich wieder David zu. »Hier, mein Junge. Klemm dir das untern Arm und verlier’s nicht.« Er schob es David unter den Arm. »Nicht schwer, oder? Nein? Schön.« Er öffnete die Tür, um David hinauszulassen. »Wiedersehen.« Ein trockenes Lächeln huschte über seine Züge. »Ganz schön hart für dich.«

Das Bündel fest unter den Arm gedrückt, ging David langsam die Treppe hinab. So hörte sein Vater also mit einer Arbeit auf! Er hatte einen Hammer in der Hand, hätte fast jemanden umgebracht. David sah ihn geradezu vor sich, den Hammer über dem Kopf erhoben, das Gesicht in entsetzlichem Zorn verzerrt, die anderen, die sich wegduckten. Er erschauerte vor dem Bild in seinem Kopf, blieb reglos auf der Treppe stehen, gelähmt vor Entsetzen, sich der Wirklichkeit stellen zu müssen. Doch er musste hinuntergehen; er musste zu ihm; es würde schlimmer für ihn sein, wenn er noch länger auf der Treppe blieb. Er wollte nicht weiter, aber es musste sein. Wäre die Treppe nur doppelt so hoch gewesen.

Er hastete hinab, trat hinaus auf die Straße. Sein Vater,

»Die haben ja ziemlich gebraucht«, sagte er und warf einen boshaften Blick über die Schulter. Es war ihm am Gesicht anzusehen, dass er sich während der Zeit, als David oben war, in Wut hineingesteigert hatte. »Haben sie dir das Geld gegeben?«

»Ja, Papa.«

»Wie viel?«

»Sechs – sechs Dollar, das Mädchen –«

»Haben sie was zu dir gesagt?« Seine Zähne waren grimmig zusammengebissen. »Über mich?«

»Nein, Papa«, antwortete er hastig. »Nichts, Papa. Die haben mir bloß das – das Geld gegeben, und dann bin ich gegangen.«

»Wo ist es?«

»Da drin.« Er zeigte auf die Tasche.

»Na, dann gib’s mir!«

Unter Schwierigkeiten zerrte David den Umschlag aus der Tasche. Sein Vater riss ihn ihm weg und zählte das Geld.

»Und gesagt haben sie nichts, hm?« Offenbar verlangte er eine letzte Bestätigung. »Keiner von den Männern hat mit dir gesprochen, ja? Bloß das glatzköpfige Schwein mit der Brille?« Er beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen.

»Nein, Papa. Bloß der Mann. Der hat mir einfach das Geld gegeben.« Er wusste, dass er, solange der Blick seines Vaters auf ihm lag, offen dreinschauen, große, unschuldige Augen machen musste.

»Na, schön!« Für einen kurzen Augenblick spannten sich seine Lippen in flüchtiger Befriedigung. »Gut!«

David sagte keinem etwas von dem, was er herausgefunden hatte, nicht einmal seiner Mutter – es war alles zu furchterregend, zu unwirklich, um es mit jemand anderem zu teilen. Er grübelte darüber, bis es in seinen Schlaf kroch, bis er nicht mehr genau wusste, wo sein Vater Fleisch war und wo Traum. Wer würde ihm glauben, wenn er sagte: Ich habe gesehen, wie mein Vater einen Hammer schwang; er stand auf einem hohen Dach der Finsternis, und unter ihm waren hochgereckte Gesichter, so viele, dass sie sich wie weiße Pflastersteine bis ans Ende der Welt erstreckten; wer würde ihm das glauben? Er wagte es nicht.