Uli Franz

Die Asche meines Vaters

Eine Reise zu Pferd durch Tibet

 

«Alles, was nicht erfahrbar ist,

existiert lediglich als Begriff.»

Lama Anagarika Govinda

 

Für Hans und Gerhard

Vabanque

Als mein Vater aus dem Leben schied, kam ich zu spät, um ihm Lebewohl zu sagen. Auch wenn er in hohem Alter und in Frieden starb, schmerzt mich mein Versäumnis noch immer. Wie gern hätte ich noch einmal seine Hände berührt und gehalten. Miteinander versöhnt und ohne viele Worte hätten wir uns für immer getrennt. Ich meine, dass der letzte Abschied in seiner Endgültigkeit uns viel tiefer berührt als jede noch so offene und versöhnliche Aussprache zu Lebzeiten.

Weil ich die Stunde des Abschieds nur knapp verpasst hatte, fand ich seinen Körper noch menschlich, aber reglos zu Hause auf dem Bett vor. Zwar hatte mich die Verwandtschaft rechtzeitig über das nahe Ende informiert, doch auf der Fahrt in die Heimat vertraute ich der Empfehlung des Verkehrsfunks mehr als meinem Gefühl. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich, einen Stau wie empfohlen zu umfahren. Durch den Umweg hoffte ich, schneller ans Ziel zu gelangen.

Ich kam zu spät, um nicht mal eine Stunde. Mein Vater war verschieden, ohne dass er mir hätte Lebewohl sagen können.

Ein daumengroßes Schweizer Taschenmesser und ein solides Aktienpaket waren nicht das ganze Erbe. Ich war wie vom Blitz gerührt, als ich seinen Letzten Willen las. Mein Vater hatte mir seine Asche anvertraut, damit ich sie nach Tibet bringe. Nach Tibet! Aufs Dach der Welt! Konnte es nicht komplizierter sein? Fraglos hätte mir dieser Wunsch bei seinem älteren Bruder eingeleuchtet. Nicht aber bei ihm. Bei ihm um nichts auf der Welt.

Dem Äußeren nach hätte man meinen Vater und meinen Onkel leicht verwechseln können, so stark ähnelten sie einander. Bis zum Tod des Onkels wohnten sie sogar Tür an Tür. Was aber Lebensstil und Wesen anging, waren sie grundverschieden. Nie hatte sich mein Vater für Tibet und den Buddhismus interessiert. Dagegen entdeckte mein Onkel schon früh den Buddha-Weg für sich und geleitete auch mich dorthin. Überzeugt arbeitete er als selbständiger Drogist, aber sein Herz schlug für seine Bücher. Am liebsten studierte und dozierte er über das Für und Wider der Weltreligionen, der Alchimie und der Mystik. In langen Gesprächen in seiner Privatbibliothek war er über die Jahre zu meinem Mentor und väterlichen Ratgeber geworden. Mit seiner finanziellen und spirituellen Unterstützung war ich bereits einmal nach Tibet gereist.

Die Tatsache, dass nicht er, sondern mein Vater mich mit der Tibetmission beauftragt hatte, verwirrte mich anfangs sehr und schmälerte meine Freude, erneut aufs Dach der Welt reisen zu dürfen. Schließlich fragte ich mich: Warum um alles in der Welt hat es des Todes bedurft, um Vater und Sohn zueinanderzubringen? Als ich endlich die Tragweite seines Letzten Willens begriff, tat mir mein Zuspätkommen doch außerordentlich leid. Hätte ich das Versöhnungsangebot, das Zeichen meines Vaters, dass er mir vertraute, in seiner ganzen Größe begriffen, ich hätte mich über mein Vertrauen ins Radio mehr als geärgert, ich hätte mich geschämt.

 

Im Augenblick ärgere ich mich allerdings über das Testament. Sein Letzter Wille hat mir das Behagliche der gepolsterten Alltäglichkeit geraubt und mich in eisige Höhen gelenkt. Aufs Dach der Welt.

Im Herzen von Tibet finde ich mich wieder in einer frostigen Menschenleere. Mitten in der Felswand überfällt sie mich, ich bin mutterseelenallein. Auf die Fersen hocke ich mich und mache mich klein. Gleich wird der Angriff erfolgen. Mir fehlen Brille und Handschuhe. Über dem schnellen Aufbruch habe ich beides vergessen. An mir nagt die Kälte. Während meines Aufstiegs hat sich die Luft schockartig abgekühlt. Schon spannt sich die Haut über den Wangen, und die Nase tröpfelt wie bei einem alten Mann. Ich friere, vor allem an den Fingerspitzen. Vergebens balle ich die Fäuste und hauche hinein. Aber auch in den feuchten Bergstiefeln krümmen sich die Zehen vor Kälte. Ich fühle es bereits am ganzen Körper, die Temperatur wird gleich unter null stürzen. Eine fahle Sonne verlischt über mir, und von überall her bemächtigen sich schwarze Wolken des leeren Raums. Die Luft über den Felsen knistert und beginnt zu tosen. Schon weichen Windböen einem brüllenden Orkan, und eine Hagelfront stürzt auf mich herab, als wäre ich ein Eindringling in dieser himmelsnahen Welt. Der Hagel zwingt mich zum Unterbrechen meiner Mission, zum Niederkauern auf fatalen 4547 Metern.

 

Jetzt bin ich achtundfünfzig Jahre alt, und mein Körper trägt entsprechend viele Jahresringe. In der Bilanz meines Lebens kommt zur verlorenen Jugend hinzu, dass ich über Jahre ein heroisches Single-Dasein führte. Im reiferen Alter neigen Männer dazu, ihrer verflossenen Jugend wie einer verpatzten Romanze nachzutrauern. Zugegeben, auch ich bemitleide mich gerne. Aber bei mir kommt noch hinzu, dass ich viel Kraft damit verschleuderte, mich an meinem Vater zu reiben. Zweifellos schlug ich als junger Mann über die Stränge und machte es ihm mit all meinen Spinnereien nicht leicht. Doch unserer Beziehung haftete etwas Tragisches an: Keiner verstand die Wertmaßstäbe des anderen. Nicht selten ließ er mich spüren, dass ihm an mir nichts gut genug sei. Er pflegte zu sagen: «Junge, mach was, damit was g’schieht.» Mit anderen Worten, er erzog mich zur Rastlosigkeit und zu sinnentleertem Handeln. So flippte ich durchs Leben, nur um Lob und Anerkennung zu bekommen. Irgendwann rächte ich mich und rebellierte gegen diese Art von zwanghaftem Tun.

War der Abend fortgeschritten und das zweite Glas geleert, loggte ich mich bei mindestens zwei Partnerbörsen und einer Lust und Liebe versprechenden Suchmaschine ein. Im Chat begegneten mir hübsche Frauen und Frauen mit hübschen Versprechungen. Beide Gattungen ließen mich die Abende über delikaten und noch delikateren Rotweinen vergessen. Zeiten der Zweisamkeit brachen an. Doch zu einer längeren Bindung reichte es nie. Verschämt gebe ich zu, ewig hat es gedauert, bis ich begriff: Nach zwei gescheiterten Ehen kannst du dein Schicksal auch nicht im Chat erzwingen.

An einem Morgen danach fasse ich einen Entschluss. Nach vielen verplauderten Verabredungen und windigen Ausreden werde ich von nun an den Fokus meiner Partnersuche auf den eher sportlichen Aspekt der Urlaubs- und Freizeitbekanntschaften richten. Eine Kontaktanzeige zwecks gemeinsamen Bergwanderns, meines bevorzugten Hobbys, weckt Neugierde. Ich werde aktiv.

Mein Entschluss erweist sich als richtig, nach dem ersten Wirtshaustreffen gehen Traudel und ich in den Bayerischen Alpen wandern. Auch wenn es mit uns nichts werden sollte, gibt Traudel mir doch Steighilfe bei den Vorbereitungen zu meiner Mission. Mein Vater, wäre er noch am Leben, würde es ihr danken. Ob er das bayerische Prachtexemplar gemocht hätte? Mit Traudels handfester Hilfe finde ich zum Verein Cavallo e. V., der eine Reithalle mit fünfzehn Schulpferden unterhält. Kurz nach Neujahr fahre ich erstmals mit der U-Bahn und einem Bus in einen Münchner Vorort, wo Häuschen und Villen des mittleren Wohlstands aufeinanderhocken. Aufgeweichte Wiesen, von Gattern umzäunt, und eine dampfende Wintermiste habe ich schon passiert, als ich nach Jahren wieder einen Stall betrete.

Keine Menschenseele ist zu sehen – weder in der Stallgasse noch in den Boxen. Und trotzdem höre ich ein Schnaufen, Schnauben und geschäftiges Werken. Geräusche, als würde jemand Hand an sich legen und dabei mächtig atmen. Vier Monate später, in Tibet, sollte ich wieder diese Geräusche von meinen Pferden hören, die sich stehend im Schlaf ganz sachte bewegten.

Leise trete ich an die erstbeste Box heran und – erschrecke. Trotz Anschleichens hat mich das Pferd bemerkt. Mit einem Ruck hebt es den Kopf über den hohen Holzverhau. Nicht die hastige Bewegung erschreckt mich, sondern die Höhe, aus der der Pferdekopf so unvermittelt auf mich herabschaut. Den Arm müsste ich ganz ausstrecken, wollte ich seine hohe Stirn berühren. Ein Blick aus samtig braunen, langbewimperten Augen und ein Horchen mit vorgedrehten Ohren ist alles, was ich an Beachtung von diesem Großpferd westfälischer Zucht ernte. Kaum hat es seine Neugier gestillt, zieht es den Kopf über die Bretterwand zurück und werkt dahinter weiter, während ich auf leisen Sohlen der Stallgasse folge, um mir die anderen Schulpferde anzuschauen.

Meine erste Reitstunde unter einem geliehenen Kappenhelm, in alten Jeans und neuen, knirschenden Bergstiefeln bringt Ernüchterung. Ich werde durchgerüttelt, als lenkte ich einen Leiterwagen über Kopfsteinpflaster. Verspannt, wie der Ungeübte eben ist, gelingt es mir nur selten, auf die Bewegungen des Pferdes einzugehen. Die Stöße aufs Kreuz tun zunehmend weh. Ich beiße die Zähne zusammen, offenbar kennen auch Reittiere Rache, vor allem, wenn ihnen ein Mensch wie ein Holzklotz im Nacken sitzt. Schon übertragen sich meine Unentschlossenheit und meine zögerlichen Kommandos auf das Tier, und statt mir zu gehorchen, stakst es gegen Ende der Stunde immer wieder zum Reitlehrer hin. Nach vierzig Minuten komme ich mir vor wie eine ausgediente Marionette. Ich spüre, dass in mir die Wut zu köcheln und gleich zu kochen beginnt. Wieder «klopfe ich an», doch diesmal nicht als Tierschützer, sondern richtig scharf. Wie im Reflex macht die Stute zwei bockige Sprünge aus den Vorderläufen heraus. Sie will mir signalisieren: So etwas tut der Anfänger nicht! Hätte ich mich nicht an einem behelfsmäßigen Sattelknaufriemen festgehalten, hätte sie mich über die Mähne in hohem Bogen abgeworfen. Dank des kurzen Haltegriffs bleibe ich zwar im Sattel, doch in meinem rechten Arm explodiert ein stechender Schmerz. Ich könnte schreien, brüllen, aber dieses Eingeständnis würde meine ganze erbärmliche Unfähigkeit offenbaren. Verstockt presse ich die Lippen zusammen. Schweiß bricht mir aus allen Poren. Plötzlich ist das Bild wieder da: ich, am Boden liegend, nach einem gewaltigen Aufprall und einer Schlitterfahrt über den feuchten Asphalt. Das Helmvisier zerkratzt, die Regenkombi am Arm zerfetzt, gefühllos der rechte Daumen. Von der Handwurzel zuckt ein Schmerz bis zur Schulter hinauf und pocht noch lange. Benommen komme ich wieder auf die Beine, pelle den aufgescheuerten Lederhandschuh ab und sehe, dass meine Daumenkuppe schief neben dem Daumenstumpf der rechten Hand steht. Gebrochen, ist der erste Gedanke im Schock.

Drei Stunden später rückt die Ambulanz im Innsbrucker Hospital den Daumen mit einem raschen Griff wieder an seinen Platz und entlässt mich zur Weiterfahrt gen Süden.

Der Motorradunfall, so glimpflich er auch ausgegangen war, wurde mir zur Offenbarung. Zukünftig würde ich mich zurücknehmen und meine Ziele langsamer angehen. Statt auf mörderische 134 PS wollte ich bei meiner Tibetreise auf eine einzige Pferdestärke setzen.

Im Freundeskreis hielten sich die Meinungen über dieses Vorhaben die Waage. Die Nesthocker unter meinen deutschen Freunden zuckten mit den Schultern, schüttelten den Kopf oder runzelten die Stirn, als wollten sie sagen: Jetzt spinnt der total! Dafür bestätigten mich die Weltenbummler in meinem Plan. Ich fühlte mich wie vor vierzig Jahren, als ich aus dem Schwäbischen mit einer von meiner Freundin genähten Stofftasche aufbrach, um per Autostopp die Sahara zu durchqueren. Zu weitaus weniger Verständnis neigten meine chinesischen Freunde, die ich nun auch schon zwanzig Jahre kenne. «In Tibet», mailte mir mein Freund Lu, «kennt man auch Autos! Warum reist du so altmodisch?» Und meine Freundin Yang, die in der Weltliteratur bewandert ist, sagte am Telefon: «Du bist wohl ein moderner Don Quichote!» Auch wenn mich diese Meinungen eher zum Schmunzeln als zum Nachdenken brachten, nahm ich sie doch ernst. Immerhin würde ich schon bald ihre Hilfe aus Peking erbitten müssen, da ich für mein Vorhaben ein Geschäftsvisum der Kategorie F für einen fünfmonatigen China-Aufenthalt benötigte.

Noch stand das Reitenlernen im Mittelpunkt meiner Reisevorbereitungen. Nach dieser ernüchternden ersten Reitstunde übte ich anfangs an der Longe weiter, später dann eigenständig im Sattel. Mit beiden Händen fest am Zügel. Mit jeder Lehreinheit begriff ich besser, dass ein Pferd eine Maschine und doch keine Maschine ist. Es will gelenkt werden und klare Anweisungen erhalten, mit Indifferenzen kann es nichts anfangen. Aber es hat auch eine Seele, ein Eigenleben, das chaotische Reaktionen gebiert. Sowohl verstocktes Maultiergehabe als auch hochfahrendes Mustang-Gebaren. Ein Zuchtpferd will dienen, gewiss, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Bei zu großer Belastung verweigert es sich der Dominanz und stellt sich stur. Erst im Umgang mit tibetischen Pferden sollte mir wirklich klarwerden, dass unseren Stallpferden der letzte Rest Wildheit ausgetrieben worden ist. Zuchtpferde werden in unseren Reitställen mit dreifachen Anti-Hohlkreuzleinen, maßgeschneiderten Kehlriemen, Hufglocken und reflektierenden Gamaschen für die Gelenke versorgt. Und wofür all dieser Schnickschnack? Dafür, dass der verbliebene Rest Fluchtmentalität für das kaskoversicherte Freizeitvergnügen des Reiters kalkulierbar wird.

Die Zeit der Vorbereitung bis zu meinem Abflug nach Hongkong verflog, aber noch immer war ich nicht so sattelfest, wie ich es mir für meine Tibetdurchquerung gewünscht hätte. An einem reitfreien Nachmittag ging ich in eine esoterische Buchhandlung, wo ich unter der Decke eine Girlande tibetischer Gebetsfahnen entdeckte. Ich schaute genauer hin und sah auf einem roten Wimpel ein kleines, ungemein zart anmutendes Pferd. Erst in Tibet sollte ich erfahren, dass sie es Lungta, Windpferd, nennen. In vollendeter Harmonie hob es die Vorder- und die Hinterhand der einen Körperseite, während die Beine der anderen Seite auf dem Boden standen, und vermittelte so eine Leichtigkeit, die mir sehr gefiel. Neugierig und irgendwie berührt, nahm ich mir vor, am Tag darauf der Sache nachzugehen.

Bevor die Unterrichtsstunde begann, beschrieb ich meinem rotbackigen Reitlehrer das Windpferd und dessen Sprunggang auf der Gebetsfahne. Er zuckte nur mit den Schultern und ließ wie beiläufig ein Wort fallen, das ich noch nie gehört hatte: «Klar, das Tier läuft im Pass!»

Ich musste ihn sehr verwundert angeschaut haben, denn er fügte hinzu: «Passen nennt man diese Gangart, die bei uns vor allem die Isländer beherrschen. So, jetzt aber rauf aufs Pferd und nicht länger alles hinterfragt, junger Mann!»

Immer saß ihm die Zeit im Nacken, und so drängte er mich auch diesmal schon wieder zur Eile. Die erste Lehrstunde nach längerer Pause begann überstürzt und endete prompt mit einem Desaster.

«Alles verlernt!», rief er mir barsch von der Hallenmitte aus zu.

«Zügel zu lang!»

«Nur mit den Unterschenkeln Druck geben! Das funktioniert so nicht!»

«Anklopfen! Schon vergessen?»

«Keine Kraft in den Schenkeln! Mann! Mann! Mann!»

«So bringt das alles nichts. Wieder an die Longe!»

Jetzt hatte ich genug. Ich kochte. Wütend sprang ich ab. Zerrte mein Schulpferd aus der Halle. Drängte mich an Mädchen mit Zahnspangen, die ihre bulimischen Körper unter himmelblauen Steppwesten versteckten, vorbei durch die Boxengasse. Vergaß zu rufen: «Gasse frei.» Sattelte hastig ab. Versäumte in meinem stillen Zorn, die Gelenkmanschetten abzuzippen. Schob die Stute an ihren Kraftfuttertrog. Endlich konnte ich ins Freie hasten. Nur noch raus! Raus aus dieser Pferdewirtschaftsanstalt.

In den kommenden Tagen erfuhr ich am eigenen Leib, dass das Aufgeben von Gewohntem nur kurz verunsichert, schon bald aber ungemein mobilisiert. Vorausgesetzt, man ängstigt sich nicht vor dem Unbekannten. Die Suche nach dem Passgänger, die ich mit Hilfe einer virtuellen Suchmaschine fortgeführt hatte, lenkte mein Augenmerk auf die Höhen der Schwäbischen Alb. Über den Niederungen, auf altem Kulturland, hält ein pensionierter Deutschlehrer Mongolenhengste auf der einen und Mongolenstuten auf der anderen Talseite. Sind die Stuten rossig, bekommen sie Besuch von der gegenüberliegenden Seite und elf Monate später Nachwuchs. So läuft das Geschäft, mit dem er seine Pension aufbessert. Nur einen Tag bevor ich mich auf die Alb eingeladen hatte, war der neunundzwanzigjährige Tumurbaatar aus der fernen Mongolei angereist, um den Nachwuchs einzureiten. Dieser Sohn der mongolischen Steppe sollte für die nächste Zeit mein Reitlehrer werden. Tumurbaatar, der Eisenheld, und ich verständigten uns mit Blicken und Gesten. Durch Lachen, Nicken und Schulterklopfen.

Tag für Tag ritten wir schweigend, er oft singend, durch die verschneiten Wälder auf den Hochlagen der Schwäbischen Alb. Noch immer rieche ich den süßlich sauren Schweiß, wie er mir aus der Mähne, dem eisverklumpten Schweif und den nassen Fellwirbeln nach einem scharfen Ritt in der Nase stand. Der beizende Geruch von Pferden, die im Freien überwintern und sich gegen Tätscheln und Verzärteln genauso wehren wie gegen Mähnenglanzsprays, sollte schon bald wie ein Lockstoff auf meinen eigenen Ausdünstungen haften. Die Tage mit Tumurbaatar nährten mein Verlangen, möglichst bald nach Tibet aufzubrechen. Nach vielen Ausritten trennten wir uns als Freunde, und als Auszeichnung empfand ich die Einladung in seine Jurte im mongolischen Gebirge des Altai.

Noch immer fehlte mir einiges an Wissen, vor allem, was die Pferde auf dem Dach der Welt angeht. So viel hatte ich herausgefunden: dass sie von den mongolischen Steppenpferden abstammten, aber im Wuchs um einiges höher als die kleinen Mongolen sind. Über ihren Charakter, ihre Fressgewohnheiten und insbesondere ihre Gangart, den Pass, musste ich noch mehr erfahren. Die Antworten und einige Extras bekam ich schon bald von einem galoppierenden Mundwerk. Ich bekam sie von Mike, einem Islandpferdezüchter im bayerischen Chiemgau.

«Der Pass», erklärte er geduldig, «ist eine sehr alte Gangart aus dem Orient. Vielleicht stammt er vom Dromedar oder gar vom Elefanten ab. Bei uns ist diese Urgangart erst im Mittelalter heimisch geworden. Er ist erheblich älter als der Trab, den deine tibetischen Pferde vermutlich gar nicht kennen.» – «Hängt der Pass mit der Größe der Isländer zusammen? Die sind ja um einiges kleiner als die herkömmlichen Pferde …», wollte ich wissen. «In gewissem Sinne ja. Nur bei den Großpferden wurde der Trab züchterisch hervorgeholt.» – «Weshalb?» – «Dahinter steckt die militärische Ausrichtung durch die Kavallerie. Großpferde, die traben, können besser in geschlossener Formation vorrücken. Auch wenn der Trab auf Kosten der Bequemlichkeit des Reiters geht.»

«Der Pass ist bequemer?» – «Im Pass schaufelt sich das Pferd abwechselnd mit der Vorder- und Hinterhand der einen und dann der anderen Körperseite vorwärts. Dadurch entsteht eine Pendelbewegung nach rechts und links. Beim Trab geht die bestimmende Bewegung vor und zurück. Der Trab ist eigentlich ein andauernder Sprung. Aber für den Reiter, also für uns, ist der Pass viel sanfter. Die Beine des Tieres sind nämlich um einiges kürzer in der Luft. Nicht umsonst laufen traditionell die Pferde von Falknern im Pass. Ich könnte schwören, dass die tibetischen Pferde außer dem Galopp nur den schnellen Schritt kennen. Ruf mich auf jeden Fall an, wenn du zurück bist, das will ich genau wissen.»

Auch die Zeit mit Mike war alles andere als verschenkt. Er ließ mich mit geschlossenen Augen reiten und erklärte mir einige lebenswichtige Kniffe. «Wenn dein Pferd mit dir durchgehen sollte, dann lass die Zügel schießen, wirf dich auf die Mähne, umklammere seinen Hals und gib um Gottes willen die Schenkel frei. Dann sprichst du so lange mit Bauchstimme auf das Tier ein, bis es dir wieder seine Ohren zudreht.» Nach kurzer Pause fügte er hinzu: «Noch ein wichtiger Rat für den Kauf. Je abgemahlener der Biss der Frontzähne, desto älter ist der Gaul. Und wenn du Flecken von borstigem, weißem Haar im Fell entdeckst, hast du keinen Schecken vor dir, sondern ein Pferd, das sich mal wundgescheuert hat. Die Wunde mag schon Jahre verheilt sein, doch es ist und bleibt eine Schwachstelle. Vor allem im Sattelbereich ist das problematisch.»

Da ich vor Antritt meiner Reise natürlich Pferde würde kaufen müssen, war ich über seine echt guten Ratschläge mehr als froh.

Zweifelhaftes Geschäft

Die Maschine Hongkong – Chengdu war voll bis auf den letzten Platz. Entsprechend dick war die Luft in der Economy-Class nach den zwei Flugstunden. Vollgesogen vom beizenden Geruch weißer Mottenkugeln, die man bei uns nur noch in Pissoiren findet, und von saurem Schweiß, stand sie in der engstbestuhlten Kabine. Nachdem die Air China gelandet und die Passagiere ausgestiegen waren, hätte die Flughafenpolizei den Ausländer leicht ausspähen können. Sie hätte den Ankömmlingen nur flüchtig auf die Schuhe schauen müssen.

Chinesen, insbesondere Südchinesen, werden noch immer für untersetzt oder klein gehalten. Mit diesem Klischee gilt es aufzuräumen, längst erreicht die Generation der Postrevolutionäre westliche Körper- und Schuhmaße. Was mich von der mitreisenden Masse unterschied, war also nicht die Schuhgröße vierundvierzig, sondern die Art des Schuhwerks. Die meisten Männer trugen spitze, schwarze Slipper. Die Mehrzahl der Frauen bauschige Pantöffelchen und Puschen. Auch ich wäre gern gereist, wie man in Asien reist, eben so bequem wie möglich, doch ich war nach Tibet unterwegs und trug schwere Bergstiefel mit hoher Schnürung, um meine geduldeten neunundvierzig Kilo Übergepäck nicht unnötig zu überschreiten.

Keine Viertelstunde nachdem ich von einer Horde heimhastender Sichuan-Chinesen in Richtung Gepäckausgabe mitgerissen wurde, sehe ich endlich meine Schätze wieder – drei pralle, hüfthohe Expeditionssäcke. Während ich diese im Umfeld von bandagierten Plastiktaschen, Hartschalenkoffern und verschnürten Pappkartons recht auffälligen Gepäckstücke von der ratternden Bandschleife auf einen Buggy hieve, bricht mir feucht der Schweiß aus allen Poren. Nicht vom Muskelstress, auch nicht wegen der Schwüle im Hangar von Chengdu, sondern vor Aufregung, weil ich gleich alles werde auspacken müssen. Der Immigration und dem Zoll werde ich gleich Auskunft über das Wohin und das Warum meiner Reise erteilen müssen. Ein Funken Hoffnung bleibt. Ich habe in China gelebt und kenne das chinesische Wesen. Ich weiß, dass ein offenes Lächeln, ein freundliches ni hao, guten Tag, Wunder bewirken kann.

Jetzt trennen mich und mein Wägelchen nur noch wenige Meter von den kalt schimmernden Metalltischen des Zolls. Gelassenheit vortäuschend, stehe ich in der Schlange vor der Passkontrolle inmitten von plappernden Chinesen als Fremder unter einem großen schwarzen Hut. Angst stellt mir die Nackenhaare auf. Panik erzeugt ein Kribbeln in den Fingerspitzen, und der Puls klopft wie rasend. Schon sehe ich mich die schwarzroten Säcke öffnen und auf eine gebellte Anweisung hin den australischen Trekking-Sattel herausschälen. Würden die Uniformierten, vor allem die Frauen mit ihren gewaltigen Rahmenbrillen im Gesicht, diesen erst einmal Öse für Öse befingert haben, wäre die berüchtigte chinesische Gier auf alles Fremde geweckt. Ich müsste Trensen, Halfter, die recht großen Wurmkur-Spritzen und meine professionellen Rollfilme auf den Metalltischen ausbreiten. Ich müsste mich erklären und wüsste nicht, wie. Es gab ja nur eine Erklärung für den Inhalt meiner Expeditionssäcke: Ich will durch Tibet mit dem Pferd.

Vielleicht liegt ja diese Erklärung für die maskenhaft blickenden Beamten vollständig jenseits ihres Suchbilds. Ist unvereinbar mit ihrem Schnüffeln nach illegal importierter Elektronik und geschmuggelten Luxusgütern. Inständig hoffe ich, dass sie mich wie ein jenseitiges Geisterwesen aus alter Zeit an der Geistermauer vorbei ins Reich der Mitte lassen.

 

Mein Vater und meine Mutter haben dafür gesorgt, dass ich im Sternzeichen Widder geboren wurde. Als Aprilgeborener handle ich oftmals so spontan, dass manche mein Tun eher für reflexartig als für reflektierend halten. In gewissem Sinne mag das zutreffen. Doch ich schieße nicht durchweg aus der Hüfte. So habe ich mich auf diese Reise so gründlich vorbereitet wie noch auf keine meiner Tibetreisen zuvor. Im Übrigen wusste ich, dass sich der chinesische Zoll an den Körper eines lao wai, eines Ausländers, nicht herantraut. Deshalb hütete ich unter zwei Jacken und einem khakifarbenen Hemd meine eigentlichen Schätze: eine handtellergroße Digitalkamera, meinen safrangelben buddhistischen Ausweis, achttausend Euro, entsprechend achtzigtausend Yuan, und ein smaragdgrünes Döschen mit einem Inhalt, der um nichts in der Welt den Behörden in die Hände fallen durfte. Die durchscheinende Jadekostbarkeit hatte ich vor dreißig Jahren in der Pekinger Antiquitätengasse gekauft und ohne Bestimmung aufbewahrt. Über die Jahrzehnte hatte der kleine, runde Tiegel daheim in meiner Schmuckvitrine geschlummert, bis er, kostbar gefüllt, nun die Heimreise nach China antreten durfte.

Die Passkontrolle, bei gültigem Visum reine Routine, steht an. Gleich muss ich durchs Nadelöhr. In diesem Augenblick fällt der starkgepuderten Chinesin vor mir die Kamera aus der Hand und knallt scheppernd auf den Metalltisch. Ein Sturm bricht los, Gezeter und Geschrei aus ihrem Mund. Gewiss ist es ein japanischer Apparat, in Hongkong zollfrei nach langem Feilschen erworben. Der Chinese vor ihr dreht sich um und beginnt, laut zu fluchen und die Frau zu beschimpfen. Augenblicklich bricht sie in Tränen aus. Um das Unglück zu begaffen, laufen alle Zollbeamten zusammen.

Meinen Entry-Stempel habe ich bereits kassiert. Jetzt sehe ich meine Chance gekommen. Teilnahmsvoll nickend, schiebe ich mein eierndes Wägelchen an der Weinenden, ihrem erbosten Ehemann und den Gaffern vorbei. Kaum ebbt der Lärm in meinem Rücken ab, will ich nichts als loslaufen. Bleib ruhig, Alter, gleich hast du’s geschafft, beschwöre ich den Widder in mir. Ich unterdrücke den Fluchtimpuls, und schon küsst mich das Glück. Kein barscher Befehl, kein «Stopp!» ertönt in meinem Rücken. Ich lache in mich hinein, habe ich doch gerade mein verräterisches Expeditionsgepäck wie ein Federgewicht über die Chinesische Mauer gehievt. Die Einreise in das Land, das gezwungenermaßen zur Volksrepublik China gehört, würde mir nach diesem Streich auch gelingen, davon war ich überzeugt. Wie vermutet, meine Glückssträhne hielt an. Vielleicht, weil ich Buddhas Worte beherzigte: Es gibt keinen Weg zum Glück, das Glück ist der Weg.

 

Im Garden City Hotel, das seinen Namen einem haushohen Blumenbild an der Fassade verdankt, steckte mir ein Chinese mit dem glückverheißenden Namen Sunrise Lee, dass ich in ein Hotel nahe dem Busbahnhof gehen müsste. Dort, nur dort, fände ich das Mauseloch, um als Einzelreisender nach Tibet hineinzuwitschen. Zu absolut, zu raffiniert sei die Abschirmung dieser sensiblen Zone durch die Behörden. Ich hörte genau zu und prägte mir seine Worte ein. Und schon bald sollte «sensitive zone» mir zum Synonym für Tibet werden.

Zu Fuß lief ich durch die staubige Millionenstadt im Südwesten, die jetzt im März förmlich nach Wasser schrie, weil sie den ganzen Winter über keinen Tropfen Regen abbekommen hatte. Mitten im brüllenden Verkehr überquerte ich ein Brackwasser und fand besagtes Hotel. Von den drei dort ansässigen Agenturen, die die Armseligkeit ihrer Büros mit Postern vom Potala-Palast und von Pandabären kaschierten, wählte ich jenen Verschlag, aus dem mich ein hübsches Porzellangesicht anstrahlte. Das schwarze Haar mit Gel zu einer Hochfrisur getrimmt, wiegte sich eine vor sich hin summende Chinesin hinter einem roten Tastentelefon, das alle zwei Minuten klingelte.

Kaum hatte sie geflötet: «Hello, I am Lisa!», erklärte ich ihr, was ich wollte, und händigte ihr ohne viele Worte meinen Reisepass aus. Mit wiegender Wespentaille kam sie hinter dem Minitisch hervor und stöckelte an mir, der sie mit wachsender Begeisterung beobachtete, vorbei zum Shop um die Ecke. Dort zog sie eine Fotokopie aus der Maschine. Zirpend kam sie gleich wieder zurück, und mit einem Hüftschwung à la Shanghai verschwanden ihre atemberaubend schönen Beine unter dem Tisch. Wenn ich eine Expressgebühr bezahlte, lockte sie, bekäme ich das Entry-Permit für Tibet schon in vier Tagen. Dann erklärte sie mir lächelnd, dass ihre Agentur stets zu Diensten sei. Ob ich zum Zeitvertreib nicht einen Ausflug zum Pandareservat oder zu einem Folkdance mit anschließendem Dinner buchen möchte? Ich verneinte, und sie lächelte und zirpte schon wieder: «Klein Wang» – dabei deutete sie auf einen pickligen Jungen, der aus der Nachbaragentur herübergekommen war – «wird gleich die Kopien von Pass und Visum auf der Faxmaschine nach Lhasa schicken.»

«Nach Lhasa schicken? Warum nach Lhasa?», wollte ich wissen.

«Dort wird über Ihre Reise entschieden. Dort ist die Ausländerabteilung des Touristenbüros der Regierung, das alle Tibetreisen von Ausländern mit Siegel genehmigt. Diese Abteilung stempelt also den Antrag ab und sendet ihn mit der Faxmaschine wieder nach hierher», erklärte sie in zweifelhaftem, aber reizendem Englisch. «Mit dem Okay aus Lhasa kann Klein Wang zum Chengduer Public Security Bureau gehen und Ihr Permit abholen.»

«Viele Arbeit wegen der Security Police», seufzte der Laufbursche in noch zweifelhafterem Englisch, «darum ist das so teuer!»

Um für mich alles ganz schnell hinzubekommen, müsse Klein Wang Expressgebühr kalkulieren, erklärte Lisa nun erstaunlich kühl. Mein Blick eilte zwischen beiden hin und her. An seinem gequälten Lächeln konnte ich ablesen, dass Klein Wang um alles in der Welt das Wort «Schmiergeld» vermeiden wollte. Mit einem Nicken willigte ich ein, weil ich endlich meine tibetische Mission angehen wollte. Auch hatte Chengdu außer einem geschäftigen Tibeterviertel entlang zweier Straßen und einigen Outdoor-Läden nur blechbesetzte Straßenschluchten zu bieten.

 

Wie ich wenig später ziellos durch die Innenstadt lief, gehetzt vom Lärm aller möglichen Motoren, kam mir in den Sinn, eine Herde Pferde wäre doch weitaus praktischer als diese Horde Autos. Pferde brauchen weniger Platz, sind genügsamer und viel billiger, und das, was hinten rauskommt, dient auch noch einem guten Zweck. Ich sah mir die Großstadt mit den Augen eines Durchreisenden an. Die Menschenflut riss mich mit sich, und ich stemmte mich nicht dagegen. Wie die Leute hier die Kunst beherrschten, zu so vielen auf so engem Raum gelassen mit ihresgleichen auszukommen! Diese urbanen Chinesen haben besser als ich gelernt, mit der Droge Reizüberflutung umzugehen. Wie machen sie das bloß?, fragte ich mich. Sie gliedern sich in Gruppen und Grüppchen, sie entwickeln den «kleinen Kanal», kleben Zettel an Straßenlaternen und an Ampeln («Suche Wohnung», «Suche Beziehung, «Suche Garage», «Suche Putzstelle»), und formen so einen kleinen, quasi familiären Kosmos im großen. In den Tagen des Wartens entdeckte ich als Stadtwanderer viele liebenswerte Facetten in diesem urbanen Meer, wo nur selten einer ertrinkt.

 

Die letzte Märzwoche brach bereits an, und ich vertrödelte noch immer meine Zeit mitten in Chinas Reisschale, wo sich die Berge im fernen Dunst versteckten und sich die wintermüden Flüsse auf geringer Höhe dahinschleppten. Nach vier Tagen ging ich wieder über den stinkenden Fluss, eingezwängt zwischen Taxis und Motorrädern, Karren und Lastwagen, die mir jede Lücke zwischen den Blechkarossen streitig machten. Selten begegnete mir jene aussterbende Spezies, die noch vor gar nicht so langer Zeit die Straßen von Peking flutete: die Gattung der Pedalisten. Wenn ich jetzt einen erspähte, dann trug er einen weißen Schutzmull über Mund und Nase, dass ich zunächst glaubte, einen radelnden Sanitäter vor mir zu haben. Nach mehreren Umwegen und Ablenkungen traf ich verschwitzt und abgekämpft im Reisebüro ein.

Wie schade. Die reizende Lisa saß nicht mehr im Neonlicht vor dem roten Telefon. Dafür wartete mein zweiseitiges Permit mit lackroten Amtsstempeln und der Routenbestimmung Chengdu – Lhasa – Chengdu auf mich. Ich frohlockte und blätterte von der ersten auf die zweite Seite. Recht mager mutete das zweite, angeheftete Papier an. Es handelte sich um ein schwarzliniertes Blatt mit der Überschrift «Members of Group». Auf der ersten Linie stand mein voller Name, dahinter meine Nationalität und meine Passnummer. Diagonal über die darunter aufgereihten Linien, dreißig an der Zahl, lief ein Linealstrich, der keine weiteren Einträge zuließ. Speziell dieses angetackerte Beiblatt ließ mich triumphieren, denn ich, unverwechselbar ein Individuum, wurde als Einmanngruppe definiert. Normalerweise dient das Beiblatt zur Registrierung aller Gruppenmitglieder, denn nur Gruppen von mindestens drei Personen dürfen nach Tibet einreisen. Den Vorschriften nach kann ein ausländischer Tourist kein Einzelvisum für Tibet bekommen. Aber ich würde durch das Mauseloch, auf das mich Sunrise Lee aufmerksam gemacht hatte, nach Tibet gelangen. Mit dem amtlichen Dokument in den Händen sollte dem innerchinesischen Grenzübertritt in die Autonome Region Tibet nichts mehr im Wege stehen. Allerdings ahnte ich noch nichts von den massiven, ja bedrohlichen Schwierigkeiten, die mich sieben Wochen später erwarten würden.

Zum Abschied grüßte ich nicht den Chinesen, der mir, ohne von seinem Papierstapel aufzusehen, das Dokument wie ein Kündigungsschreiben hinhielt. Ich grüßte den Potala, den Winterpalast des Dalai Lama, auf dem Poster an der Wand mir gegenüber. Aus dem winzigen Büro hastete ich in den schummrigen, nach feuchter Wäsche riechenden Hotelflur, hinüber zum Souvenirshop, wo ich mir aus dem Kühlschrank eine eiskalte Dose Cola griff. Nichts hielt mich mehr in der ausgedörrten Stadt, in deren staubigen Straßen und engen Quartieren sich Millionen drängten.

 

Der Überlandbus brachte mich klimatisiert weiter nach Westen. Viel wichtiger noch: weiter nach oben. Mit jeder Serpentine, die der beginnende Anstieg zum Tibetplateau erforderte, wuchsen meine Erwartungen. In wenigen Stunden würde ich in den Bergen, am Zusammenfluss von Dar und Tse, im Trubel einkaufswütig bepackter Chinesen im tibetischen Dartsedo aussteigen, einem Ort, den ich nur aus der Lektüre kannte. Aus Büchern wusste ich, dass Dartsedo seinen Namen und seinen Reichtum dem VI. Dalai Lama verdankte. Im Jahr 1696 autorisierte Seine Heiligkeit das Bergdorf, mit dem chinesischen Kaiserreich Handel zu treiben. Fortan schleppten chinesische Kulis für eine Rauchration Opium und einige Schalen Reis vor allem Ziegeltee in Marschkolonnen aus dem Roten Becken von Sichuan hinauf nach Dartsedo. Jeder der Träger beugte seinen ausgemergelten Rücken unter einem grobgezimmerten Holzgestell, das er spätestens nach zweihundert Meter Wegstrecke auf einem Holzstock abstellen musste. Auf dem Gestell türmte sich, bis weit über seinen Kopf hinaus und über hundert Pfund schwer, gepresster Schwarztee, eingeflochten in Köcher aus Schilfrohr. Auch wenn der Ziegeltee heutzutage mit Lastwagen angeliefert wird, kann man ihn noch immer gepresst und in Schilfblätter eingeflochten in den Krämerläden in ganz Tibet kaufen. Lange eingekocht und mit einer Prise Salz und Soda gewürzt, ergibt er den schwarzbraunen Sud für das Nationalgetränk der Tibeter. Für den Buttertee.

In Dartsedo kamen noch vor siebzig Jahren die Yakkarawanen vom Hochland an. Da der Ort nur auf einer Höhe von 2550 Metern liegt, verloren die an dünnere Luft gewöhnten Yaks sehr schnell die Contenance, also wurde nach der Ankunft unverzüglich umgepackt: die Teestangen vom Kulirücken auf den Yakrücken und die Yakhautsäcke mit Fellen, Borax, Wolle, Yakschwänzen, Türkisen und Korallen vom Yakrücken auf den Kulirücken. Um den angelieferten Ziegeltee gegen die tibetische Hochlandwitterung zu schützen, wurde er in gegerbte Häute eingeschlagen und anschließend mit Stricken auf Lastensätteln festgezurrt.

Bis in die Neuzeit vollzog sich der Tauschhandel zur Zufriedenheit beider Seiten. Bis Straßen für Karren aufkamen und die Sklavenarbeit und mit ihr das Kaiserreich abgeschafft wurden. Doch gerechter und menschenwürdiger wurden die Zeiten nicht. Tibets Ostgrenze, die einst an der eisernen Kettenbrücke bei Chakzam begann, wurde durch Angriffe chinesischer Warlords nach Westen zurückversetzt, und aus Dartsedo wurde Kangding. Heute ein chinesischer Luftkurort mit schwindender tibetischer Bevölkerung.

Gegen Abend, wenn ein Lüftchen die Hänge herabgeschlendert kommt, streben junge Männer mit suchenden Blicken dem Marktplatz zu. In ihren Haarzopf, den sie um den Kopf gewunden tragen, ist eine Quaste eingeflochten. Das Signalrot dieser Quaste verstärkt den warmen Glanz, der in den dunklen Gesichtern liegt. Mit dem roten Schmuck im blauschwarzen Haar geben sie sich nicht einfach als Tibeter, sondern als tibetische Khampa zu erkennen. So geschmückt, finden sich die jungen Männer auf dem Marktplatz ein.

Chinesinnen in kurzen, aufreizenden Faltenröcken und Tibeterinnen in bodenlangen Gewändern, über denen lindgrün, gelb und pink gestreifte Schürzen straff gespannt liegen, gehen aufeinander zu, um miteinander zu tanzen. Die Khampa tanzen nicht minder geschickt als die Frauen. Mit ihresgleichen oder mit den Frauen drehen sie sich im Kreis. In der Dämmerung verwandelt sich der Marktplatz von Kangding in einen Tanzboden, auf dem sich ein bunter Zirkel zu Folkpop bewegt. Chinesische Vortänzer, die einen Ghettoblaster mitgebracht haben, sorgen dafür, dass der Reigen der Völkerfamilie nie ins Stocken gerät. Wie ich verhalten zuschaue, erscheint mir das sich gemächlich drehende Rad des Tanzes frei von Eifersucht, Hass und Krieg. Bei weitem angenehmer als das buddhistische Lebensrad, das vor allem an das Leid des menschlichen Daseins erinnert. Schon bald kann ich dem Locken der Tanzenden nicht mehr widerstehen. Ich trete in den Menschenkreis. Und wie ich mich, die Augen geschlossen, im Tanz zwischen Chinesen und Tibetern wiege, bricht eine langgehegte Sehnsucht über mich herein, und unter meinen Lidern formt sich die Wehmut in Tränen. Diese Wehmut, die ich oft in den Bergen verspüre, trägt mich fort gen Westen. Hinauf auf das Hochplateau von Kham – und weiter. Weiter nach Lhasa.

 

Die einstige Teehandelsmetropole Dartsedo lag viele hundert Kilometer vor dem Ausgangspunkt meines geplanten Ritts. Auf meiner Route nach Westen maß die Strecke von hier bis in die tibetische Hauptstadt Lhasa immerhin tausendsechshundert Kilometer. Dieser Ort hatte für mich eher logistischen Wert. Kangding diente mir als Basislager. Hier hoffte ich einen Guide für den Ritt zu finden. Die Hilfe einer Agentur zog ich erst gar nicht in Betracht, denn eine Reise zu Pferd durch Tibet findet sich in keinem Katalog. Und auch in keinem Prospekt. Die Suche nach einem fähigen Führer sollte mich viel Zeit kosten. Eine ganze Woche. Gewissenhaft und auf eigene Faust ging ich ans Werk.

Als Erste bot sich eine tibetische Studentin an. Sportlich elegant, kam sie in Lederstiefeln, Jeans und einer blumenbestickten Bluse auf mich zu, als ich auf dem Vorplatz der Sichuan Provincial Tibetan School wartete. Unter dem Torbogen der Provinzschule hatten wir uns per Handy verabredet. Pünktlich stand ich bereit. Schon beim Näherkommen gefielen mir die Wachheit in ihren tiefliegenden Augen und die Kraft ihres Schritts.

«Hello! Mein Name ist Pasang Lamo, ich würde es begrüßen, mit Ihnen als Ihr Guide zu reisen», meinte sie in einem Englisch, das einen Hauch von Strebsamkeit vermuten ließ. «Auch reiten kann ich. Ich kann auch mit Pferden umgehen.» Um die Schultern trug sie ein Wolltuch, gelbschwarz gesprenkelt wie ein Tigerfell, das auf mich sehr tibetisch wirkte und mir außerordentlich gefiel. In den hautengen Jeans waren ihre stämmigen Beine nicht zu übersehen, und ich hätte schwören können, sie stammte aus einer Nomadenfamilie vom hohen Grasland von Kham. Vor meinem geistigen Auge sah ich sie bereits auf einem Pferd vorauspreschen. Die Hände hatte sie in die Hüfte gestemmt, das durchgedrückte Kreuz und ein entschlossener Blick signalisierten, dass sie nicht faselte. In ihrer männlich angehauchten Weiblichkeit wirkte sie so überzeugend, sie hätte sich als des Dalai Lama Tochter ausgeben können – ich hätte nicht gewagt zu protestieren. Doch im Verlauf unserer kurzen Unterhaltung wurde schnell klar: Die Ausbildung ging ihr über alles. Sie könne unmöglich drei Monate im Unterricht fehlen, meinte sie schon bald mit einem wortreichen Bedauern.

Nach ihrer Absage musste ich notgedrungen weitersuchen. Immerhin lernte ich so die tibetische Kommunität von Kangding kennen. In einem Nudelimbiss traf ich Dorje. Leider hatte ich auch mit Dorje, dem Langzopftibeter, Pech. Er lachte immer, und wenn er mal nicht lachte, lächelte er wie ein gesäugtes und frischgewindeltes Baby. Wenn er mit seinen eins fünfundneunzig und seinem rückenlangen Zopf mit mir durch Kangding schlenderte, spinksten die Chinesenmädels nicht mir, sondern ihm hinterher. Doch sein überaus zögerliches, schon träges Gebaren ließ mich nach zwei Mittagessen erkennen, dass wir nicht zusammenpassten. Ein Nomadensohn vom hochgelegenen Tagong-Grasland war Joseph. Mit seinem wallenden Haar und großen samtbraunen Augen ebenfalls ein ansehnlicher Tibeter. Doch in der Vorbesprechung erwies er sich als Plaudertasche mit einer gehörigen Portion Grün hinter den Ohren. Dreist verlangte er auch noch das Doppelte des gebotenen Honorars. Die ortsansässigen Tibeter, Jahua und Jula, an ihren fabrikfrischen North-Face-Jacken unschwer als Guides zu erkennen, hätten besser in die Polstersitze eines Jeeps als auf Pferdesättel gepasst. So fragte ich mich nach diesen vier Begegnungen: Brauchst du überhaupt einen Guide? Kannst du nicht alleine losziehen, zumal du Tibet schon von früher kennst? Nein und nochmals nein!, lautete die Antwort nach stundenlangem, zermürbendem Abwägen. Selbst wenn mein Ohr die Melodie des Hochtibetischen, dieser mal mit kleiner Zunge stimmlos gezischelten, mal mit großer Zunge stimmhaft gebrummten Sprache, hätte erfassen können, ohne die Hilfe eines Tibeters, für den das Englische kein Buch mit sieben Siegeln war, würde ich unterwegs kläglich scheitern. Schon eine Woche später, beim Pferdekauf, sollte es mir wie Schuppen von den Augen fallen: Als Fremder kam ich nicht nur aus dem fernen Westen. Ich kam auch aus der Moderne und besuchte ein Land, dessen Menschen sich erst anschickten, ihre späte Mittelalterlichkeit und jene gern zitierte «edle Wildheit» hinter sich zu lassen. Auf den Hochebenen der Nomaden und in den Bauernfamilien, die uns später Quartier boten, wurden mein Wortgedrechsel auf Tibetisch, meine stummen Gesten und gestammelten Ausrufe oft nicht kapiert oder sogar missverstanden. Und auch die Einheimischen konnten sich mir nicht verständlich machen. Eine Sprache ist eben mehr als stimmhaft oder stimmlos gesprochene Wörter. Sie transportiert das sich tausendfach brechende Echo von Anschauungen und Weltansichten. So geschah es oft, dass Schulkinder auf mich zugestürmt kamen und mich hüpfend umzingelten. Wild mit den Armen fuchtelnd, riefen sie mir aus nächster Nähe «Hellau!» ins Gesicht. Anfangs, als ich die Bedeutung ihres «Hellau» noch nicht kannte, antwortete ich in besänftigendem Ton: «Hello», während die Horde ihr «Hellau» nur so herausschrie und mich umtanzte. Später sollte mich mein Guide aufklären, dass das Geschrei der kleinen Dreckspatzen einem Warnruf gleichkam. Die Kindermünder stießen einen Alarm aus wie in unseren Wäldern der Eichelhäher. Natürlich war mir klar, dass ihrem Rufen und Schreien das englische «Hello» zugrunde lag. Doch mit der Verballhornung hatte sich auch der Wortsinn weg vom lockeren Gruß, hin zum warnenden Ausruf «Achtung, ein Mensch von außen!» verändert. Erst nachdem ich von meinem tibetischen Führer aufgeklärt worden war, begegnete ich ihnen weniger onkelhaft.

In meinem Abwägen pro und contra Guide malte ich mir das Schlimmste aus, sah mich bereits ausgeraubt, womöglich gar getötet, würde ich auf einen Einheimischen verzichten. Allein auf mich gestellt, erginge es mir womöglich wie Albert Shelton, dem amerikanischen Missionar. Im Jahr 1922 wollte er ohne Führer, nur mit einem Stetson-Karabiner bewaffnet, auf einem Muli von Batang nach Lhasa reiten. In einem öden Waldstück geriet er in einen Hinterhalt und wurde meuchlings ermordet.

Draußen herrschen Finsternis und Regen, drinnen ist es kalt, und auf die Tischplatten stanzen tief hängende Lampenschirme so grelle Kreise, dass die nussbraunen Gesichter der tibetischen Gäste wirken wie mit einem Puderquast bestäubt. So scharfkantig ist das Licht gebündelt, dass die Decke und die Wände der Teestube im Dunkeln zerfließen. Allein sitze ich hier. Zurückgelehnt, um nicht geblendet zu werden. Ab und an erlaube ich mir, am eierbechergroßen Glas zu nippen, in welches ein Tibeter mir nach jedem Schluck beflissen nachschenkt. In Zwiesprache mit einem Liter süßem chinesischem Bier warte ich auf meine Verabredung. Seit fünf Minuten ist sie überfällig. Den Ankömmling im Schatten bemerke ich erst, als er in voller Größe vor mir steht. Meine Überraschung notdürftig verbergend, erhebe ich mich, um ihn mit kurzem Gruß in Augenschein zu nehmen. Wie wir so nahe beieinanderstehen, entdecke ich, dass er nicht solo gekommen ist. Halb verborgen hinter seinem Rücken steht eine junge Frau mit erstaunlich hellem Gesicht. Sie scheint unter der Kälte zu leiden. Sie trägt eine rote Ohrenkappe, die ihr stark gepudertes Gesicht eng umschließt. Unter dem taillierten Wintermantel in stechendem Orange lässt sich eine zierliche Figur erahnen. Mit vorgestreckter Hand tritt sie auf mich zu und stellt sich als Catherine aus Australien vor. Für alle Fälle sei sie als Dolmetscherin mitgekommen. Weich spricht sie diese bescheidenen Worte. Als ich nicke, öffnen sich ihre Lippen zu einem kehligen Lachen. Eigentlich spreche er – dabei legt sie ihm die Hand vertraut auf den Arm – ein durchaus passables Englisch. Ich biete beiden einen Platz an meinem Tisch an, während ich den Mann verstohlen taxiere. Würde er als Führer taugen? Jünger als sie schien er zu sein, so um die fünfundzwanzig. Doch im Alter täuscht man sich bei den Tibetern wie bei allen Asiaten. Man schätzt sie gerne drei bis fünf Jahre zu jung. Catherine unterbricht meine Gedanken. «Das ist Yama. Er würde gerne mit dir gehen.»

. S-Jeans

Mit dieser Ausrüstung im Kofferrucksack stand Yama also am Tag nach dem Einkauf im chinesischen Hotel von Batang in meiner Tür und freute sich mit mir, dass bei der Aufholjagd über immerhin fünfhundertachtzig Kilometer alles geklappt hatte.

Vom Dämmern des neuen Tages bekamen wir wenig mit. Nicht etwa ein Brokatvorhang sperrte hier das Licht des jungen Tages aus, sondern eine schwarze Gummiplane. Und trotzdem erwachte ich für Batanger Verhältnisse früh. Voller Erwartung weckte ich Yama. Von wegen! Yama sprang nicht aus dem Bett, wie ich erwartet hatte, sondern ging unbeeindruckt wieder in die stabile Seitenlage. Noch ahnte ich nicht, dass mein Guide wie alle Tibeter das späte Zubettgehen und das Aufstehen zu vorgerückter Stunde liebte. Tibeter können ungemein genießen, und Schlafen ist für sie der reinste Genuss. Wer schläft, so sagen sie, befindet sich in der Lage des Ruhenden Löwen, immerhin des Löwen.

    

 

 

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