Thorsten Nesch

Joyride Ost

Ein Roadmovie-Roman

 

Du jagst hinter der schwarzen Asphaltpfütze her

Und wie Träume an der Realität

Zerplatzen an deiner Windschutzscheibe Insekten

Deine Umwelt verschmilzt zu einer berauschenden Atmosphäre

In der nichts so sehr nach Freiheit schmeckt

Wie der Atem eines geliebten Menschen

 

– Gossen Posse

1

WESSENHEIM

Im Sommer liegt dieses Kaff ab zwei Uhr nachmittags im Schatten. Dann geht die Sonne hinter dem Berg unter, und nur die oberen Stockwerke der in den Hang gebauten Plattenbauten auf unserer Seite der Hauptstraße haben noch etwas länger Licht.

Wir wohnen im Parterre. Sobald es ein paar Tage heiß ist, zieht der Gestank von Hundepisse in die Küche, wenn meine Mutter nach dem Kochen lüftet.

Als mir gestern Abend fast das Couscous hochkam, meinte ich in die Runde, in der auch mein älterer Bruder Mohammad und meine Schwester Aisha saßen: «Die hätten das Haus anstatt aus Ytongsteinen aus Urinsteinen bauen sollen.»

Mein Vater gab mir dafür eine.

Meine Eltern wollen es nicht riechen.

 

Es ist Spätsommer, und ich steh im Schatten auf der Hauptstraße.

Ich checke mein Nokia CS200 – vier Uhr. Vor zwei Stunden hat mich der Bus aus Münster hier ausgespuckt. Ich gehe in Münster auf die Gebrüder-Klitschko-Gesamtschule. Zumindest nenne ich sie so.

Da sitze ich meine Zeit ab. Jeden Tag. Das muss ich. Seit ich den Megaärger bekommen hatte. Fehlzeiten. Blaugemacht. Den Kumpels im Bus morgens hinterhergewunken, anstatt mitzufahren. Too cool for school eben. Mein Vater wurde zur Schule beordert, es gab mächtig Ärger. Ich habe keine Angst vor Lehrkörpern mit Doppelnamen – nur vor meinem Vater und vor meinem Bruder natürlich.

Mit dem Zeugnis in diesem Jahr werde ich mich bewerben. Bei der Tanke hier in Wessenheim.

 

In Geographie hatte uns Frau Kleinbullen-Beratschess-ihr-könnt-mich-aber-Claudia-nennen mal gesagt, es gäbe Metropolen, Großstädte, Städte, Kleinstädte und Dörfer. Man könnte sie nach Einwohnerzahl und der sogenannten Infrastruktur zuordnen.

Das war das einzige Mal, dass ich mich gemeldet hatte. Ich wollte es genau wissen. «Frau Kleinbullen-Beratschess-aber-ihr-könnt-mich-auch-Claudia-nennen?»

«Ja … Tarik!?»

Sie hätte mich in dem Moment auch drangenommen, wenn draußen ein Airbus bruchgelandet wäre, ich hätte ausreden dürfen, denn ich stand auf der Kippe. «Was ist dann Wessenheim?»

«Gute Frage, Tarik. Und? Was meint ihr?», fragte sie pädagogisch die Klasse.

«Ich habe Sie gefragt, Frau Kleinbullen-Beratschess!»

Jeder wusste, wer jetzt was sagte, war in der Pause dran.

Niemand meldete sich.

«Also, Tarik. Dein Wessenheim ist eine Kleinstadt.»

«Mit meinem Namen liegen sie richtig, aber es ist bestimmt nicht mein Wessenheim. Und es kann keine Kleinstadt sein, es sei denn, Kirchenanzahl und Moschee können mit einer weiterführenden Schule gegengerechnet werden!»

«Das ist richtig. Aber es müssen nicht alle Merkmale gleichzeitig erfüllt sein.»

«Welche denn? Wir haben kein Schwimmbad, kein Kino … keine Bibliothek …» Nicht, dass mich Letzteres interessierte, aber Frau K-B umso mehr.

Sie seufzte. «Du könntest wirklich gut in der Schule sein, das weißt du auch, Tarik.»

Was erwartete sie für eine Reaktion von mir? Ein

Aha-Erlebnis? Ja, stimmt, jetzt, wo Sie es so sagen, Frau Kleinbullen-Beratschess, ich habe alle Möglichkeiten im Leben, natürlich, ich kann es schaffen!

Deswegen komme ich auch zu Geographie, damit ich mich später nicht verlaufe, denn die Welt wartet ja auf mich.

«Wozu brauche ich denn so einen Quatsch wie Geographie?»

Sie war erstaunt. «Wenn nicht Geographie, was würdest du denn gerne lernen?»

Nun war ich erstaunt über die erste Lehrerin, die sich auf eine längere Diskussion mit mir einließ. Der Klasse gefiel es, die Kids lauschten und waren stiller als sonst. «Also, wenn ich die Wahl hätte … etwas Lebensnahes. In Bio hatten wir Verhütung. Verhüten, das bringen sie einem bei, aber nicht, wie man es richtig macht! Warum bringt man uns nicht das Poppen bei? Verhütungsmethoden ja, Stellungen nein.»

Sie wurde rot, rot, rot und wandte sich ab. «Warum lässt sich ein smarter Kerl wie du so … hängen? Das tut einem ja in der Seele weh.»

Die Klasse johlte auf, einer der Russen rief: «Wenn du wissen willst, wie man richtig poppt, dann gebe ich dir gerne Nachhilfe!»

Ich winkte ab. «Danke, ich hab lieber Mädels … bleib du bei deinen Vierbeinern.»

Die Klasse lachte.

Frau K-B seufzte nochmal, hob die Hand, worauf wir uns beruhigen sollten, und laberte irgendwas von wegen zurück zum Thema und dass jede Infrastruktur variieren kann.

Kann sie womöglich auch. Man wringe einfach jegliches Leben aus einer Kleinstadt, und den ausgedörrten Rest nennt man Wessenheim.

 

Was ich noch nicht erwähnt habe: Die Sonne geht jeden Tag erst um elf Uhr auf, hinter dem Berg auf der anderen Seite der Hauptstraße von Wessenheim. Dort säumen Reihenhäuser wie nebeneinandergelegte Ketten den breiten Russenberg. Ich nenne ihn so, unsere Seite von Wessenheim nennt ihn so, und ich bin mir sicher, die da drüben nennen ihn auch so.

Trotzdem muss ich im Tal des Schattens meine Sonnenbrille tragen. Wenn die Sonne hinter unserem Berg untergegangen ist, scheint sie noch auf die Reihenhäuser am Hang gegenüber. Und die von den Fenstern der Reihenhäuser reflektierten Sonnenstrahlen blenden mich noch bis etwa fünf Uhr.

Dann ist auch da drüben Schicht mit der Sommersonne.

2

MEINE FAMILIE

«Ey, nimm das Ding ab!», sagt Mohammad und zeigt auf meine Sonnenbrille.

«Warum? Was stört dich daran?», frage ich.

Wir sind in unserem Zimmer. Er teilt sich einen Raum mit seinem kleinen Bruder. Wie lange muss er das schon hassen? Nur weil er keinen Job findet, weil niemand ihn hier in Wessenheim oder Münster anstellen will und weil er ehrlich bleibt, nicht in der Stadt dealt, wie einige seiner früheren Freunde, die er kaum noch sieht. Er hat nämlich keine Kohle, und sie haben keine Zeit, weil sie entweder pennen, dealen, feiern oder im Knast sind. Und er teilt ein Zimmer mit mir in der Wohnung seiner Eltern – mit 24 Jahren. Das nennt man verschärfte Sicherheitsverwahrung. In seiner Freizeit stemmt er die selbst zusammengeschweißten Gewichte, die er morgens unter seinem Bett hervorholt und abends wieder darunter verschwinden lässt. Er hat eine Menge Freizeit. Das sieht man ihm auch an. Bei seinem Alltag frage ich mich, was er gegen den Knast hat.

«Ich will nicht, dass dir ein Splitter von dem Billigplastik ins Auge geht. Ich klatsche dir nämlich eine beim nächsten Spruch.»

Langsam nehme ich die Brille ab und putze sie an meinem Shirt. Nicht, dass sie dreckig ist, aber manchmal sagen Gesten mehr als Worte. «Und selbst?»

«Was, und selbst?», fragt er.

«Genau.»

«Komm mir bloß nicht schlau!»

Ich will gerade etwas Eskalierendes loswerden, da ruft unsere Mutter aus der Küche: «Essen!»

 

Vater sitzt schon am Tisch, auch meine Schwester Aisha, die Überfliegerin. Gymnasium, zwölfte Klasse. Ich darf mich glücklich schätzen, dass sie mit mir noch diniert. Sie hat einen Freund, einen Münsteraner, einen Deutschen. Fast jeden Tag holt er sie mit seinem pisseligen Polo ab zur Schule und fährt sie auch wieder zurück, bis unten an die Hauptstraße. Unsere Eltern wissen nichts davon, oder tun so. Mich hat er auch einmal mitgenommen. Nur einmal. Ich hätte ihn wohl besser nicht auf seine Pickel angesprochen.

 

«Wie lange hast du schon die Pickel?»

«Seit einiger Zeit.»

«Tun die Pickel weh?»

«Nein.»

Meine Schwester auf dem Beifahrersitz drehte sich um zu mir und ermahnte mich namentlich.

«Drückst du die Pickel jeden Morgen aus?»

«Nein.»

«Darf man auch nicht, dann werden die Pickel nur noch schlimmer.»

Aisha drohte mir, sie würde mich aus dem Wagen werfen.

«Kennst du überhaupt Clearasil?»

Ich marschierte dann den Rest an der Landstraße entlang nach Wessenheim. Rechts von mir zirpten Grillen im Straßengraben, und aus meinem Nokia rappte die Gossen Posse: den Hals in der Schlinge, den Rücken an der Wand, einen Schritt vorm Abgrund stehen, was wir alle gemeinsam haben, ist das Rad, an dem wir drehen 

 

Ein schöner Nachmittag.

Der Bus mit meinen Kumpels fuhr an mir vorbei.

Lachend zeigten sie mir alle den Finger, einer drückte seinen nackten Hintern an der Heckscheibe platt, aber es könnte auch sein Gesicht gewesen sein.

 

Mutter stellt die letzten Teller auf den Tisch und setzt sich dann zu uns.

Ich wende mich an sie: «Darf ich das Fenster zumachen?»

Bevor sie etwas sagen kann, fragt mich mein Vater: «Warum?»

«Durchzug.»

Mohammad meint sich einmischen zu müssen. «Es ist 35 Grad!»

«Echt? O nein, und mir ist kalt.» Ich huste demonstrativ und wende mich an meine Mutter: «Ich glaube, ich habe mich erkältet. Ich will nicht krank werden und die Schule verpassen.» Als Letztes schaue ich meinen Vater an. Er nickt kurz zum Fenster, und ich stehe auf.

3

BLUTIGE NASE

Am nächsten Morgen an der Bushalte warten dort wie immer schon gut 20 Wessenheimis. Vom Bus keine Spur. Die Russen unter sich und wir unter uns, eine unsichtbare Trennlinie zwischen den Gruppen. Einige von meinen Jungs johlen, als sie mich kommen sehen. Ich reagiere nicht, verkneife mir eine sichtbare Reaktion, bis wir uns direkt gegenüberstehen.

Wir rempeln uns an, auch Ali; der hatte ein paar Tage in der Penne gefehlt, und zur Überraschung war er auch nirgends im Kaff zu finden gewesen, ich frage ihn: «Wieder gesund?»

«Mmh», er zuckt mit den Schultern.

«Oder warste too cool for school?»

Er grinst, aber ich kaufe ihm das nicht ab.

«Egal … letzte Woche war echt lässig», meine ich.

«Wie du mir deinen nackten Arsch gezeigt hast.»

«Häh? Wo?», fragt Ali.

«Du im Bus … ich auf der Landstraße …»

«Das war nicht mein Arsch!»

«Oh, sorry, Alter.»

Alle lachen.

Ali schubst mich, ich schubs zurück, er ballt die Fäuste, ich trete nach ihm, er nach mir, wir schlagen uns, nicht ernst, nur weil der Bus nicht kommt. Wir fliegen in einige Leute rein, und die machen gleich mit. Schließlich landet einer in der Russengruppe. Da hört der Spaß auf, und die Keile beginnt. Härtere Treffer werden gelandet, die Mädels mischen mit. Autos hupen, fahren langsam einen Bogen um uns, immer wieder läuft einer auf die Straße. Erst als die tiefe Hupe des Busses ertönt und seine Hydraulik zischt, hören beide Seiten langsam auf. Jemand stellt mir ein letztes Bein, und ich rempele Jana an, von der Rockzopf-Fraktion, ich muss mich an ihr festhalten, dass ich nicht im Dreck lande, und sie hält meine Arme fest, damit sie selbst nicht ihr Gleichgewicht verliert. Ich sehe sie zum ersten Mal von so nah, ihre Augen, und ich rieche sie, kein Parfüm, sie riecht so gut, ich krieg eins auf die Nase, von der Seite, von Ivan, die feige Sau, er meint: «Lass sie los!»

Sein Schlag hatte nicht gereicht, uns zu trennen. Unser Griff löst sich erst, als wir es wollen. Sie verzieht das Gesicht, als sie mich anschaut.

Der Busfahrer hupt und ruft: «Was ist? Rein oder nicht?» Ich reibe mit dem Handrücken unter meiner Nase lang. Blut. Mein Puls schwillt an, ein Dampfhammer.

Ivan wieselt in den Bus. Jana folgt ihm. Was trägt sie nur für scheiß Klamotten. Dunkelblauer Rock bis runter zu den Knöcheln.

«Extraeinladung?», fragt mich der Busfahrer, und als ich an ihm vorbeigehe: «Hast du aua gemacht?»

 

Anders als sonst habe ich mich ganz vorne hingesetzt. Damit ich den Busfahrer sehe. Ich will ihn anstarren. Ivan schnappe ich mir später. Zischend schließen sich die Türen. Ich werde ihn die ganze verdammte Zeit anstarren. Ich halte den Kopf etwas zurück, sodass das Blut in den Hals läuft, ich schlucke. Es schmeckt metallen und warm, und ich atme durch den offenen Mund. Der Bus fährt an. Ich sehe auf der Straße etwas Schwarzes liegen und greife instinktiv an meinen Kragen – keine Brille. Ich höre das Splittern, als der Bus über meine Brille rollt. «Fuuuuck!» Sie muss beim Rempeln runtergeflogen sein.

«Kein Fluchen!», ermahnt mich der Fahrer, ohne sich umzuschauen.

Ich starre ihn an. Mein Blick wandert in den breiten Rückspiegel. Ich glaube, Jana als Punkt in der Menge hinter mir zu erkennen. Jede Gruppe sitzt auf einer Seite des Busses, sie keifen sich an.

Ivan, die Ratte, ruft, ob ich zu feige wäre, nach hinten zu kommen.

Anstatt mich umzuschauen, beuge ich den Kopf ganz in den Nacken, sodass ich alles auf dem Kopf sehe, und krächze, so laut ich kann: «Ivan, dein erbärmliches Leben ist mir Strafe genug!»

Schimpfwörter fliegen nach vorne.

Ich halte meinen Kopf im Nacken. Alles auf dem Kopf.

Angenehm irgendwie. Angenehm.

4

HINTEN IM BUS

Janas Lächeln fällt mir auf, als wir aussteigen. Sie lächelt eine Freundin an, lacht. Das sehe ich aus den Augenwinkeln, während meine Kumpels meine Nase begutachten.

«Gebrochen ist die nicht», meint Rezan.

Der muss es wissen, dem ist seine Gurke schon zweimal geplatzt.

«Dann wär auch Walhalla gewesen im Bus», sage ich.

Ivan stratzt umzingelt von seinen Freunden vorbei.

Ich nicke ihm zu.

«Wann schnappst du ihn dir?», will Rezan wissen.

«Jedes Mal, wenn ich denke, dass er es wieder braucht.»

Gelächter.

Ich bin eine Zeitbombe. Tick-tack-tick-tack 

 

Die Zeit in der Penne will nicht vergehen. Erträglich ist es nur durch die Handymucke. Meine Eltern hatten mir das Nokia vor einem halben Jahr geschenkt. Einfach so, zwischendurch. Weil ich ein so guter Sohn bin. Unglaublich. Gutes Teil. Das Ding kann alles, nur nicht die Traumfrau herbeizaubern.

Über einen Ohrenstecker höre ich Gewinner sehen anders aus, sodass es Frau Lehmann-Lohmann nicht sehen kann. Die zweite Scheibe von Gossen Posse, live, ein Knaller. Ich muss mich konzentrieren, nicht zu dem Beat mit dem Kopf mitzuwippen. Das kriegen die Doppelnamen dann doch irgendwann mit.

Sag mir, wenn jedes Rinnsal rinnt, warum ist dann nicht jedes Schicksal chic, los, sag mir, wenn jedes Rinnsal rinnt, warum ist dann nicht jedes Schicksal chic 

 

Auf der Rückfahrt im Bus haut Sentürk mir seinen Ellbogen in die Seite. «Hier!»

Er deutet auf die Sitzlehne vor sich. Mit seinem Klappmesser hat er einen Penis ins Leder geritzt. Wir lachen.

Hinter uns schauen die Mädels über unsere Schultern. «Wie kindisch», lautet der Kommentar von Sümeyye. Dann kichern sie los.

Sentürk dreht sich um. «Was denn?»

«Du!», sagt Sümeyye, und ihre Freundin Fadila versteckt ihr lachendes Gesicht in der Jacke der Freundin.

«Boah, sind die scheiße», meint mein Kumpel zu mir, laut genug, dass selbst der Fahrer das gehört haben dürfte. Mit einer Hand klappt Sentürk das Messer wieder zusammen und steckt es ein.

Jana lehnt schräg vor mir auf der anderen Seite des Ganges an der Scheibe. Beim Einsteigen hat sie mich nicht angeguckt. In der Schule ist sie mir nicht aus dem Kopf gegangen. Bei der Rangelei: Hatte sie sich festgehalten, oder hatte sie mich festgehalten?

Trotz meiner blutverklebten Nase glaube ich, mich an ihren Duft erinnern zu können.

«Du warst auch schon mal gesprächiger, Mann», meint Sentürk.

Ich zucke mit den Schultern. Da hat er wohl recht. Was soll ich machen? Scheiße labern, um der Scheiße willen?

«Überlegst du, wie du Ivan plattmachst?»

«Ja.»

«Cool, Alter. Und wie?»

«Wenn ich dir das sage, dann kannst du gegen mich aussagen. Besser, du weißt so wenig wie möglich.»

«Verstehe.»

Nix verstehst du, gar nix.

 

Gleich nach dem Ortseingangsschild flitzt die Wessenheimer Aral-Tankstelle am Fenster vorbei. Niemandsland. Die Tanke ist Niemandsland, weil sie abseits am Ortsausgang liegt und der einzige Ort ist, an dem man nach 18 Uhr noch was kaufen kann. Was auch immer. Wer auch immer. Egal, auf welcher Seite der Hauptstraße man wohnt.

Als der Bus an unserer Haltestelle hält, will ich am liebsten rausrennen, beherrsche mich aber und steh erst auf, als Sentürk unruhig wird. Wir sind die Letzten, die zu den Türen schlendern.

Von vorne ruft der Busfahrer: «Wie sieht’s aus? Erst nicht reinwollen, dann nicht rauswollen, oder was?», und ich sehe seine Augen im breitverzerrten Innenspiegel. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

 

Hinter uns schließen sich die Türen, und der Bus lässt uns stehen. Sentürk sagt: «Bis morgen.»

«Bis morgen.»

«Oder kommst du zu Ufuk heute?» Er saugt am Daumen.

«Nee, kein Bock auf Bong.»

«Dann eben nicht.»

Damit dreht er sich um und verquecksilbert sich wie alle anderen in den Seitengassen Wessenheims, als hätte jemand das Licht angeknipst und die Kakerlaken beim Abendmahl gestört.

Jana sehe ich nicht, und langsam kriecht der Schatten über mich, und ich habe keine Sonnenbrille, mit der ich mich vor den ersten reflektierten Sonnenstrahlen retten kann.