Schwarzfahrer des Lebens
Georges-Arthur Goldschmidt
im Dialog mit Hans-Jürgen Heinrichs
Fischer e-books
Georges-Arthur Goldschmidt, 1928 in Reinbek bei Hamburg geboren, musste als Elfjähriger in die Emigration nach Frankreich gehen. Er lebt heute in Paris. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem Bremer Literatur-Preis, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien die Erzählung ›Ein Wiederkommen‹.
Hans-Jürgen Heinrichs ist Schriftsteller und Publizist, hat Prosa, Lyrik und Hörspiele veröffentlicht und gründete 1980 den Qumran Verlag für Ethnologie und Kunst. Hans-Jürgen Heinrichs lebt in Berlin.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
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ISBN 978-3-10-402873-6
Vgl. auch Thomas Steinfelds Charakterisierung Goldschmidts als eines »mutigen Seefahrers und ewigen Schiffbrüchigen«. In: »Der Einhandsegler und seine Liebe zum Schiffbruch.« Laudatio auf Georges-Arthur Goldschmidt. Sonderdruck der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zur Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises 2005.
Einmal spricht Goldschmidt von sich auch als eines »illegitimen Trittbrettfahrers der Existenz«.
Paul Nizon, Urkundenfälschung. Journal 2000–2010. Frankfurt/M. 2012.
Vgl. dazu und zur »sexuellen Poetik« auch Ina Hartwig, »Obsession der Schläge«, in: Das Geheimfach ist offen. Über Literatur. Frankfurt/M. 2012.
In: Helmut Heißenbüttel, Zur Tradition der Moderne. Aufsätze und Anmerkungen 1964–1971. Neuwied und Berlin 1972.
G.-A. Goldschmidt, »Das Meer der Sprache.« Dankrede bei der Entgegennahme des Joseph-Breitbach-Preises. In: Sonderdruck der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zur Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises 2005. Und: »Mein Jahrhundertbuch«. Über Das Schloß von Franz Kafka. In: Die Zeit, 1. Juli 1999.
In einem Brief vom 06. 11. 1962, abgedruckt in Samuel Beckett, Weitermachen ist mehr, als ich tun kann. Briefe 1929–1940. Berlin 2013.
György Konrád, Über Juden. Frankfurt/M. 2012. Und im Gespräch.
Die interdisziplinären Theorien des kollektiven Gedächtnisses wurden in den letzten Jahren am besten dargestellt und weiterentwickelt von: Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999 und Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006. Harald Welzer und Hans J. Markowitsch (Hrsg.), Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Stuttgart 2006. Bodo Mrozek, »Zur Frage des kollektiven Erinnerns. Die Semantik der Memoria«. In: Merkur, Heft 5, Mai 2012.
Zu den kritischen Positionen gegenüber der »Memorialkultur« und der Erinnerung als »Pathosformel der Gegenwart« vgl. Jan Philipp Reemtsma, »Wozu Gedenkstätten«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu: Das Parlament, Nr. 25/26, 2010. Martin Sabrow (Hrsg.), Der Streit um die Erinnerung. Leipzig 2008. Und: Vera Kattermann, »Vom alltäglichen Metabolisieren der Vergangenheit.« In: Psyche, Heft 6, Juni 2012.
Im Gespräch geäußert.
Vgl. dazu zuletzt Steve Sem-Sandberg, »Realität des Holocaust und Spielraum der Fiktion. Reflexionen zur Arbeit am Roman ›Die Elenden von Łódź‹«, In: Merkur, Heft 11, November 2012.
Herta Müller »Die Umgebung als Heimwehschutz«. Rede auf G.-A. Goldschmidt im Literaturhaus Berlin. In: FAZ, 2. Juni 2012.
Dieses Buch erzählt von dem Abenteuer eines verstehenden Austauschs über Ideen, Erkenntnisse und Gefühle. Zuweilen schienen die Unterschiede unüberwindbar, wenn mir Georges-Arthur Goldschmidt zum Beispiel schrieb: »Wir wohnen in völlig entgegengesetzten Welten. Sie glauben an das ›Geistige‹, ich nicht …« Immer wenn er in meinen Fragen etwas »geisteswissenschaftlich Abgehobenes« sah, begehrte er aggressiv dagegen auf. Dann suchten wir nach einem neuen Zugang und nahmen die Differenzen mit in die Gespräche hinein.
Wie er seine dramatische Lebenserfahrung mit Vitalität und Freude, mit Selbstironie und Heiterkeit erfüllt, wie er dem nationalsozialistischen Wahn eine andere Welt entgegengesetzt hat, davon erzählt dieses Buch. Der Leser hat teil an seinem lebensrettenden Versuch, die Kunst des Erzählens zur Entfaltung zu bringen und Schriftsteller zu werden. Das Buch erzählt auch von der quälenden Erfahrung eines sich selbst zerstörenden Deutschland und der Freude über ein sich plötzlich wandelndes, freies Land. Und nicht zuletzt zeigt dieses Buch einen Schriftsteller, der die Freiheit seines literarischen Umgangs mit der Sprache auch in die theoretische Sprache der Literaturwissenschaft und Psychoanalyse übersetzt und beide Wissenschaften zu ihrer eigenen Freiheit und Kreativität zurückführt.
In einem der vielen Briefe, die unsere Gespräche begleiteten, nennt sich Georges-Arthur Goldschmidt einen »Lebensschmuggler« und einen »Schwarzfahrer«[1]. Als kostbarstes Gut rettet er – der Zehnjährige, der, sechs Monate vor der Kristallnacht zusammen mit seinem Bruder von den Eltern ins Exil geschickt wird – sein Leben, zuerst auf dem Weg nach Italien und dann nach Megève im französischen Département Haute-Savoie in der Region Rhône-Alpes, südöstlich von Genf. Von diesem Leben, und wie sich der »Schmuggler«, in der Zeit des herrschenden Nationalsozialismus, behauptete, ist in diesen Dialogen die Rede, von der Liebe zur Literatur, zur Kunst und zur Landschaft, von der Begeisterung für die politisch nicht geknechtete Sprache und von der Umwandlung der erfahrenen Schmerzen in Lust. In diesem letzten Punkt sind unsere Positionen sehr weit voneinander getrennt.
Die Spurensuche in unseren Gesprächen vollzieht sich am Leitfaden von Georges-Arthur Goldschmidts Büchern und seinem Leben. Im Gespräch ist er der Autor und schlüpft doch auch in die Rolle des Lesers, der sich selbst neu liest. »… ich weiß nicht, warum, aber zum ersten Mal, das ist Ihretwegen, lese ich wieder etwas von mir, und zwar Die Befreiung, und merke, es ist ein schönes Buch.«
Im Assoziationsraum der Unterredung tritt der Autor sich selbst gegenüber, hält am Geschriebenen fest und ist doch immer auch bereit, es in Frage zu stellen und es, selbstironisch, als »Geschreibsel« oder »Zeugs« zu bezeichnen und sich selbst, lachend, ein »immenses Genie« zu nennen. Neben der Selbstironie gibt es aber auch eine Zuspitzung im Infragestellen des eigenen Lebens und dessen »Wert«, die radikaler gar nicht vorstellbar ist.
Die ursprünglich als »Spaziergänge mit Georges-Arthur Goldschmidt um seinen Schreibtisch in Paris« angelegten Gespräche haben sich nach und nach zu »Wanderungen« und »Expeditionen« ausgeweitet, nicht mehr nur um einen Schreibtisch, sondern in eine Welt, die sich für ihn, trotz der von Zerstörungen und Verfolgungen bestimmten Zeitumstände, als eine Welt »mit Reißverschluss« erwies: Zum einen fühlte sich das Kind eingeschlossen; zum anderen aber macht der Erwachsene die Erfahrung der Freiheit, sich selbst anzuschauen. Und dieser »Andere« in ihm lässt ihn nie aus den Augen. »Was ich auch mache, er ist stets in mir und lacht sich tot.«
Wir führten unsere Gespräche zumeist per E-Mail, Georges-Arthur Goldschmidt reiste aber auch nach Deutschland und ich nach Frankreich. Ich folgte den Wegen seiner Figuren und wollte auch dort schreiben, wo er schrieb, in der Stadt oder der Landschaft, in der er seinen Figuren Leben eingehaucht hat, wollte auch die Reise (unter anderen Bedingungen) machen, die, wie im Fall seiner Erzählung Ein Wiederkommen, der achtzehnjährige Arthur Kellerlicht von Megève nach Paris unternimmt, um in dieser Stadt – Nazideutschland entkommen – ein neues Leben in Freiheit zu beginnen.
Kann ich für Augenblicke in die Haut eines anderen Menschen schlüpfen, ist nicht jeder »eine Möglichkeit des anderen«, mit seinen Augen die Landschaft vorüberziehen sehen, so wie Arthur Kellerlicht in Die Befreiung und in Ein Wiederkommen, die Natur in ihrer Lieblichkeit und Schönheit wahrnehmen und dabei in mir die Todesangst, die kontinuierliche existentielle Bedrohung des Kindes Arthur spüren? Nein, natürlich nicht. Und doch ist der Wunsch von Bedeutung: es zu wollen, um in die Nähe eines Lebens und Werks zu gelangen und dabei die Unmöglichkeit eines vergleichbaren Fühlens zu erkennen. In dieser Spannung liegt eine Wahrheit beschlossen, die Wahrheit der nie auflösbaren Verknüpfung von Nähe und Distanz, das Aufnehmen von Fühlung und die Erfahrung des Scheiterns.
Um einen Aspekt noch bereichert wird diese erlebte Spannung dadurch, dass ich im Mai 2012 die Reise nach Frankreich antrete – eintauche in die Entstehungsgeschichte der Erzählung Ein Wiederkommen –, während Georges-Arthur Goldschmidt nach Deutschland reist, um in Hamburg dieses Buch vorzustellen und das Deutschland von heute erlebt, Menschen begegnet, die ihn – vermittelt über sein Buch – nach seinem Leben fragen, ihm freundlich zugewandt sind. Und er ist voller Freude über das Deutschland, wie er es jetzt erlebt, als »freies Land mit fröhlichen Menschen«, die eine musikalische Sprache sprechen.
Auf dem Weg nach Paris lese ich parallel zur Erzählung des 1928 als Sohn eines angesehenen Juristen in Reinbek geborenen und seit Ende des Krieges in Paris lebenden Schriftstellers, Essayisten und Übersetzers Goldschmidt das Journal Urkundenfälschung des ganz mit seiner Pariser Künstlerexistenz beschäftigten Paul Nizon[2] – die Unterschiede zwischen den beiden Freunden sind aufschlussreich: Bei Goldschmidt ist die menschliche Existenz eine Zerreißprobe des Körpers, im Spannungsfeld von Strafe, Begierde und Scham; bei Nizon wird jede Erfahrung von der durchgängigen Frage dominiert, wie er seinen künstlerischen »Aristokratismus« und das von Einbrüchen tiefer Depression bedrohte Gefühl des »Auserwähltseins« verstehen könnte.
Paris empfinden beide Schriftsteller als einen Ort der Zuflucht, der Rettung. Nizon folgt seinem luxuriösen Wunsch nach einer künstlerischen Existenz; für Goldschmidt ist es eine schicksalhafte Fügung in größter Not. Nizon durchschreitet als Dandy und Flaneur mit ernsthaftem künstlerischen Anspruch Paris; bei Goldschmidt hat man den Eindruck, als gehe er hier einfach nur seiner Arbeit nach, und dabei begleitet vom euphorischen Gefühl, »in Ferien« zu sein.
Von dem Augenblick an, da ich ihm 1999 zum ersten Mal gegenübertrat, wusste ich, dass ich einem Menschen begegne, der mit jedem Wort, das er sagt, das darin aufgehobene Gefühl unmittelbar mit zum Ausdruck bringt; der also in völliger Übereinstimmung von Wort- und Körpersprache lebt.
Die Aufgeregtheit seiner Stimme und seine extrem verdichtete geistige Präsenz müssen ihren Grund darin haben, dass jeder, tatsächlich jeder Augenblick für ihn zählt, jedes gesagte und jedes nicht gesagte Wort.
Die Freude, die er, wie er mir versichert, jeden Morgen angesichts der schlichten Tatsache, am Leben zu sein, verspüre, ist in allem gegenwärtig, was er, in seiner Erscheinung, zum Ausdruck bringt.
In seiner Gegenwart läuft jedes ausgetauschte Wort sofort auf das – immer auch heitere und lustvolle – Existentielle und seine Darstellungsmöglichkeiten in der Literatur zu. Dass das Schreiben das Leben retten kann: Bei kaum einem anderen Schriftsteller ist man so augenblicklich von dieser Wahrheit überzeugt. Und davon, wie unglaublich nah die Poesie, das Grauen und die Rettung beieinanderliegen können:
Das Dröhnen des Zuges wurde jetzt, da man die Berge hinter sich gelassen hatte, vom Heulen des Windes übertönt, der von weither vom Ozean gekommen, bis in die russischen Weiten ziehen würde. In der leicht gewellten Ebene fuhr der Zug durch Felder und Wiesen, von weit ausholenden Eichen gesäumt, deren Kronen in der Mondhelle Nachtschatten warfen. …
Eine noch nicht fassbare Bedrohlichkeit wohnt dieser Szene in der Erzählung Ein Wiederkommen inne, obwohl sie doch im Grunde nur eine Bahnfahrt beschreibt, inmitten der Natur, man hört den Wind und man sieht Felder, Wiesen und Bäume vor sich, deren Kronen von der Mondhelle gestreift werden. Aber der Zug dröhnt, der Wind heult und die Kronen der Eichen werfen Schatten.
Und die Ahnung wird denn auch vom Fortgang der Erzählung eingelöst. Wir erfahren vom Schicksal eines Barons, der schon zum Tode verurteilt war:
Erst ein Jahr nach der Befreiung des südlichen Teils Frankreichs, im September 1944, war der Baron von Weinbein plötzlich wieder aufgetaucht. Allmählich erfuhr man, daß er ein Jahr zuvor in Lyon von der Miliz verhaftet und zum Tode verurteilt worden war und im Gefängnis des Fort Monluc in den noch blutfeuchten Bettüchern eines von der Gestapo gefolterten französischen Widerstandskämpfers hatte schlafen müssen. Da am Tage seiner Hinrichtung Lyon von der Résistance befreit wurde, hatte er überlebt. …
Es ist, als hätten das Dröhnen des Zuges und das Heulen des Windes schon etwas angekündigt, das die Grenze dessen berührt, was ein Mensch überhaupt ertragen kann.
Die Umgebung, in die Goldschmidt floh, war ein realer Schutz vor denen, die ihn verfolgten, und es war eine dünne Schutzhülle gegen das Heimweh. Die Umgebung war aber auch das Unbekannte und Unheimliche, das in dem Zug mitfuhr, der ihn in die Freiheit bringen sollte. Von den Geschichten derer, die mit ihm reisen, ist nichts oder kaum etwas, außer ihrer Hülle und Oberfläche, zu sehen.
Es sind Kleinigkeiten – zum Beispiel ein Lichtschalter –, die auf einmal eine große Bedeutung erlangen:
Solche kleinen Gegenstände verbanden einen Ort mit einem anderen, an dem man schon gewesen war, es war ein wenig wie ein Heimwehschutz.
Georges-Arthur Goldschmidt ist ein »Lebensschmuggler«. Anders als bei den Schmugglern, die früher oft Koffer mit doppeltem Boden bei sich trugen, um den sichtbaren Inhalt durch einen festen Boden von der geschmuggelten Ware zu trennen, stehen bei ihm das Sichtbare (der Körper) und das Unsichtbare (die Seelenqual) in engstem Austausch miteinander.
In der Tat gibt es in Goldschmidts Leben und Werk mehrere doppelte Böden: In seinen Erzählungen begegnen wir der realen Person Jürgen-Arthur und der fiktiven Figur (unter dem Namen Arthur Kellerlicht). Dann gibt es die beiden Sprachen, das Französische und das Deutsche, die sich gegenseitig abfedern und bereichern, die Beobachtung und Selbsterfahrung schärfen. Darüber hinaus spricht der Autor auch noch zwei andere Sprachen, die erzählende und die theoretische, allerdings mit einer Besonderheit: So engagiert er sich auch immer wieder auf die Bühne der Psychoanalyse begeben hat, so wird er doch nicht müde, diese Rolle herunterzuspielen und sich mehr als einen mit Ironie ausgestatteten Unruhestifter zu sehen. Nicht ohne Koketterie, denn schließlich ist doch mit seinen Büchern Der bestrafte Narziß, Als Freud das Meer sah und Freud wartet auf das Wort der Erkenntnisanspruch verknüpft, der Psychoanalyse ihr sprachliches Fundament bewusst zu machen.
Die doppelten Böden in Georges-Arthur Goldschmidts Leben und Werk schirmen also nie Sichtbares und Unsichtbares voneinander ab, sondern helfen dem Jüngling und später dem Erwachsenen, das Erlebte, die Angst und den Schrecken, in Sprache zu fassen und zu verstehen, es zu gestalten und auf die Fiktion hin zu öffnen.
Der Junge hat Glück, es gibt Menschen, die wünschen sich, dass er lebt; zum Beispiel eine Verwandte, die seine Unterbringung im Internat ermöglicht. Er hat aber auch Glück, weil er die Kunst, die Musik und die Literatur liebt.
Auf diese Weise lebt er immer in Parallelwelten. Zu ihnen gehört auch auf ganz grundsätzliche, existentielle Art und Weise die Welt der Prügelstrafe, der Züchtigungen im Internat: Indem der Junge den Schmerz an Lust knüpfen kann[3], wird der Schmerz der Heimatlosigkeit überdeckt; er hat, wie die Sprache auch, die Bedeutung eines »Heimwehschutzes«.
Mit diesen Dialogen und Dialogischen Untersuchungen – zumindest verstehe ich sie so – ist von meiner Seite aus der Wunsch verknüpft, die Gesprächsform aus ihrer medialen Verarmung herauszulösen. Die stetig zunehmende Dominanz der Talkshows und des dort praktizierten Austauschs vorgefertigter und bereits endlos reproduzierter Statements hat eine Verrohung der in den unterschiedlichsten Kulturen hochentwickelten Formen des Gesprächs und des Dialogs zur Folge.
1969/72 hat der Schriftsteller und Essayist Helmut Heißenbüttel in dem Aufsatz »Gespräche mit d’Alembert und anderes. Dialog als literarische Gattung«[4] an die reiche Tradition des Dialogs erinnert und auch mit eigenen Arbeiten diese Kunstform wieder mit Leben erfüllt. Heißenbüttel rekonstruiert die unauflösbare Verknüpfung von Philosophie, Dialog, Wahrheitsfindung und Assoziationsfülle seit Plato, die Wiederbelebung des Dialogs bei Christoph Martin Wieland, bei Diderot und vielen anderen Schriftstellern und erinnert daran, wie schwer sich die Literaturkritik damit getan hat, den Dialog als literarische Gattung anzuerkennen.
Er ist eine dem literarischen und dem wissenschaftlichen Text ebenbürtige Form, die Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeiten auf eine nur ihr mögliche dialogische Weise vermittelt. Es versteht sich von selbst, dass dabei die Grenzen zwischen Forschung, Wissenschaft und Literatur wenn nicht aufgelöst, so doch aber auf eine produktive Weise überschritten werden können.
Die Dialoge haben das Potential, sich für den Autor zu einer Tiefenforschung zu entwickeln, die so nur im Gespräch möglich ist und für ihn zu einer neuen Begegnung mit seinem eigenen Werk führt. Allerdings ist der Frage immer auch die Tendenz eigen, das zu annullieren, wovon sie redet, wenn dies zum Beispiel das unsagbare Grauen betrifft. Aber nicht nur in diesem Extremfall. Für Georges-Arthur Goldschmidt steht das Schreiben grundsätzlich für sich und ist getrennt vom Fragen, vom Erfragen, vom Befragen. Das gilt nicht nur für den Prozess des Schreibens, sondern auch für den abgeschlossenen Text. Man müsse es immer für möglich halten, sagt Georges-Arthur Goldschmidt einmal in Bezug auf Franz Kafkas Das Schloß, dass in dem Roman überhaupt nichts hinterfragt wird und »nichts besonderes gemeint wird«. Der Text selbst ist, wie auch das Schreiben, die Antwort auf eine im Dunkeln bleibende Frage und auf die »letzte Unmöglichkeit des Sagens«. Das Sagen laufe immer einer »inneren Spannung« hinterher. So sehr wir uns auch in diesem Punkt annäherten, blieb doch ein wesentlicher Unterschied bestehen: meine idealistischere Vorstellung vom Dialog, als eines provisorischen gemeinsamen Herantastens an das »unlösbare und wundervolle Rätsel des Schreibens«.[5]
Ja, die Fragen »verfragen« die Antworten, und doch berühren sie, auf verschlungenen Wegen, das Rätselhafte der Existenz.
Samuel Becketts Aussage, sein einziger Bezug zu seinem Werk sei ein »Schaffensbezug«, er selbst könne kein Licht darauf werfen und im Licht der Interpreten komme ihm sein Werk »wie ein Fremder« vor[6], diese Aussage trifft auch auf Georges-Arthur Goldschmidts Beziehung zu seinen Büchern und zu den von Kritikern vorgenommenen Deutungen zu. Mehrere Male weist er darauf hin, dass man sein »eigenes Geschreibsel« nicht kommentieren könne und wenn man es tue, heiße dies, dass man »seinem eigenen Schreiben nicht auf den Grund gegangen ist«. Sein Schreiben habe wenig mit Wollen zu tun, »man wird von sich selber überrascht«.
Ich habe den Eindruck gewonnen, dass ihm die Selbstdeutung ebenso wie die Auslassungen der anderen (ob kritisch oder zustimmend) oft fremd vorkamen und ihm dieser Blick von außen auf das Innere seines Lebens und Werks auch unangenehm war.
Nach dem Tod von Jorge Semprún (2011) ist Georges-Arthur Goldschmidt der bedeutendste literarische Autor, der noch mit jedem neuen Werk Zeugnis ablegt von einer der größten Menschheitskatastrophen der Zivilisationsgeschichte und einem Glücksfall des Entkommens.
Mein Wunsch, Alain Robbe-Grillets Idee des autobiographischen Schreibens und Jorge Semprúns Leben und Werk mit ins Gespräch einzubringen, fand bei Goldschmidt keine »Gegenliebe«. Überall dort, wo er – mag dies berechtigt sein oder nicht – auch nur einen Anflug von Establishment und Versnobtem wahrnimmt, geht er in einen bedingungslosen Angriff über, nicht bereit zu »semprunisieren«.
Diese Gespräche haben eine Überzeugung, die ich lange Zeit nicht in Frage gestellt hatte, von Grund auf erschüttert: Ich ging aus von einem Einverständnis der von der Shoah Betroffenen über die absolute zivilisatorisch-moralische Notwendigkeit eines kollektiven Gedächtnisses und einer Kultur des Erinnerns, des Gedenkens. Ich hatte nicht in Frage gestellt, dass alle vom nationalsozialistischen Wahn als lebensunwert Stigmatisierten eine Einheit bilden.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen in dieser Radikalität wie Georges-Arthur Goldschmidt ausschert und das in manchen Theorien unter Pathos, Begriffen und zivilisatorischem Bekenntnis versteckte Verlogene mit einer solchen Schärfe brandmarkt – und gerade dadurch die singuläre Erfahrung der Katastrophe bewahrt. Eine singuläre Erfahrung, die erfüllt ist von Widersprüchen und Spannungen und die die Ideologie des unwerten Lebens im eigenen Erleben ungeglättet zur Sprache bringen möchte.
Seine Wut traf natürlich – bei seiner Lebensgeschichte und seiner Abscheu vor jeder Verheimlichung einer gedanklichen und praktizierten nationalsozialistischen Haltung! – mit besonderer Wucht Günter Grass oder Martin Walser, in dem »die Studenten der École supérieure de commerce de Bordeaux, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen, sofort den alten deutschen Militär herausgeschnüffelt haben«.
In Bezug auf diese Schriftsteller und auf Philosophen, in denen er bloße Sprachschwindler vermutete (»Sloterdijk: das ist ein Wortgaukler des Geplänkels und des scheinbaren ›Denkens‹«), liefen meine Vorstöße ins Leere. Genau wie bei vielen Psychoanalytikern, von denen ich irrtümlich annahm, sie würden ihm etwas bedeuten.
Andererseits ist die Wirkung, die er mit seinen Vorträgen bei psychoanalytischen Tagungen erzielt, geradezu überwältigend. Mit einer ebenso kindlichen wie durch linguistische Erforschung gedeckten Freude zerlegt er vor den staunenden Analytikern einzelne Wörter und Sätze und entzündet ein Feuerwerk assoziativer Verknüpfungen. Zugleich hat dieses »Spiel« stets eine sehr prägnante Zielrichtung: herauszufinden, ob die Sprache – vor allem auch die der Psychoanalyse – in eine andere übersetzbar ist und wo sie sich dagegen sperrt.
Die Psychoanalytiker erkennen darin ihre ureigenste Tätigkeit wieder. Die Art aber, in der es ihnen Goldschmidt vormacht, hat eine befreiende Wirkung auf sie, befreit sie von der Last der begrifflich und methodisch eingezwängten psychoanalytischen Theorie und einem wissenschaftlich verordneten Ernst. Sie spüren, dass auch ihre Arbeit ein beständig vom Scheitern bedrohtes Übersetzen ist, das sich durch keine Theorie vollkommen absichern lässt, und dass es einen unerforschbaren Kern des Menschen gibt, der sich nicht beiseiteschieben lässt.
Ich bin mir aber nicht sicher, ob die Analytiker realisieren, wie scharf Goldschmidt ihre Theorie und Praxis in der heutigen Form als »paralysiert« und ihre Sprache als eine »verstummte, entsexualisierte Sprache« kritisiert (in Briefen an mich). Und einmal wird er noch entschiedener: Die Psychoanalyse habe ihre Virulenz, ihren Enthusiasmus und ihre Subversität verloren und sei zu seiner autoritären Technik regrediert, »der pseudo-wissenschaftlichen Bavardage und Großtuerei der Wahrheitsprediger verfallen«.
Dem Psychoanalytiker jedenfalls würde er seine innere Wahrheit nicht anvertrauen, sagt er. Und dem literarischen Text? Auch das Schreiben sei ein »Deckmanöver, um nicht vom Wesentlichen zu reden«, wie er bekennt. Er schreibe, »um zu verstecken«.
G.-A. Goldschmidt hat eine Abneigung gegen »Autoritäten«, die nichts mit ihm, seinem Leben und Denken zu tun haben. Jedes Wort, das er sagt und oft aus sich herausschleudert, kommt aus der Haltung des Rebellen, auch wenn er diese Charakterisierung selbst zurückweist. »Was ich schrieb, war ›gegen‹ geschrieben … Sobald ich irgendwie ›soll‹, tue ich es nicht …« Aber irgendwann verstand ich – und das war der Kontinuität unseres dialogischen Austauschs zu verdanken –, dass Wut bei ihm immer auch (gleich einem sprichwörtlichen reinigenden Gewitter) die Funktion hatte, eine tiefere Ebene freizulegen. Und so kamen dann die Antworten auf Umwegen doch aus ihm heraus und standen plötzlich wie eherne Felsen neben Lavafluten.
Alle vom nationalsozialistischen Regime Verfolgten bilden schon allein aufgrund ihrer gemeinsamen Erfahrung eine »Einheit«, der von Historikern, Soziologen, Psychologen und Schriftstellern eine Sprache verliehen worden ist. Gegen eine solche Sichtweise begehrt aber Georges-Arthur Goldschmidt mit einer Vehemenz auf, dass mir oft ganz schwindelig wurde: »Glauben Sie wirklich, Sie könnten verstehen, was geschehen ist? Für das Grauen gibt es keine Sprache, und die Theorien kollektiven Gedächtnisses sind Versuche derjenigen, die nicht dabei waren, aber dazugehören wollen.« Und György Konrád sieht die Unmöglichkeit des Verstehens nicht nur bei denen, die das Grauen nicht erlebt haben: »Wir haben die Bilder gesehen, wir erinnern uns an die Szenen, wir haben darüber nachgedacht und trotzdem verstehen wir sie nicht. Unvorstellbar all das …«[7] Wie aber dann dialogisieren, wenn eine solche Kluft aufbricht zwischen den vom Geschehen seelisch tief Verwundeten und an den Rand der Existenz Geworfenen (denen sich das Verstehen auch versagt) und denen, die dieses Geschehen noch aussichtsloser in Worte zu fassen versuchen?
Denkbar scheint ein solcher Dialog nur, indem man das Erinnern und die Theorien des kollektiven Erinnerns[8]