Cover

Friedrich Christian Delius

Amerikahaus und der Tanz um die Frauen

Werkausgabe in Einzelbänden

Erzählung

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Friedrich Christian Delius

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, in Hessen aufgewachsen, lebt heute in Berlin. Mit seinen zeitkritischen Romanen und Erzählungen, aber auch als Lyriker wurde Delius zu einem der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren. Seine Bücher wurden in 18 Sprachen übersetzt. Bereits vielfach ausgezeichnet, erhielt Delius zuletzt den Fontane-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis sowie den Georg-Büchner-Preis 2011.

Im Februar 2013, aus Anlass des 70. Geburtstags des Autors, hat der Rowohlt Verlag eine Werkausgabe in Einzelbänden begonnen:

 

Bildnis der Mutter als junge Frau. Erzählung

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. Erzählung

Amerikahaus und der Tanz um die Frauen. Erzählung

Als die Bücher noch geholfen haben. Biografische Skizzen

 

Mein Jahr als Mörder. Roman

Ein Held der inneren Sicherheit. Roman

Selbstporträt mit Luftbrücke. Roman

Himmelfahrt eines Staatsfeindes. Roman

Adenauerplatz. Roman

 

Die Birnen von Ribbeck. Erzählung

Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus. Erzählung

Die Flatterzunge. Erzählung

Die Frau, für die ich den Computer erfand. Roman

Der Königsmacher. Roman

 

Wir Unternehmer/Unsere Siemens-Welt/Einige Argumente zur Verteidigung der Gemüseesser. Satiren

Die Minute mit Paul McCartney. Memo-Arien

Unsichtbare Blitze. Ausgewählte Gedichte

Über dieses Buch

«Luna 9 weich auf dem Mond gelandet», «Neue Bombenangriffe auf Nordvietnam», «Fluchthelfer-Prozeß in Ost-Berlin» – Schlagzeilen von 1966 aus der Teil- und Frontstadt Berlin. Die ersten «Italiener» machen in der Stadt auf, «Julia und die Geister» läuft im Cinema Paris, ein unbekannter Schriftsteller namens Pasolini stellt seinen Film «La Ricotta» vor, und Reinickendorf, Steglitz und Tempelhof liegen im Beatles-Fieber. Am 5. Februar desselben Jahres kommt es zur ersten Demonstration gegen den Vietnam-Krieg in Berlin, zum ersten Sit-in vor dem Amerikahaus, bei dem die ersten vier Eier fliegen (von denen drei treffen). Martin, der Schweiger, den seine Freunde «Buster» nennen, läuft mit, zögerlich, hin und her gerissen zwischen Angst und Auflehnung, zwischen der Scham, etwas Verbotenes zu tun, und der aufkeimenden Verachtung für die, die satt aus dem Café Kranzler glotzen, hin und her gerissen aber auch zwischen Ellen und Franziska, den beiden Freundinnen, in die er hoffnungslos verliebt ist.

 

«Eine Erzählung von der Pubertät der Studentenrevolte.» (Süddeutsche Zeitung)

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2013

Copyright © 1997 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Walter Hellmann

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-26686-7 (1. Auflage 2013)

ISBN E-Book 978-3-644-03621-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-03621-5

Die wahren Dinge, die ich von mir erzähle,

kommen mir am ehesten wie Lügen vor.

 

Elias Canetti

1

Ein Foto vom Mond auf der ersten Seite der Zeitung, die Sensation: Luna 9 weich auf dem Mond gelandet, die ersten gestochen scharfen Aufnahmen direkt von der Oberfläche dank der zuverlässigen Funkbrücke zwischen Mond und Erde. Moskau hielt die Bilder noch zurück, aber englische Wissenschaftler hatten sie aufgefangen, entschlüsselt und veröffentlicht, Gesteinsbrocken, faustgroße Steine aus nächster Nähe. Die Bremsung einer Sonde zum ersten Mal perfekt gelungen, Beifall der Experten: die Geschwindigkeit von 9600 auf weniger als 24 Kilometer in der Stunde gedrosselt, Grobbremsung, Feinbremsung, die hochkomplizierte Feinbremsung hat zum ersten Mal funktioniert! Nun die Frage der Experten und Laien: wie weiter mit der Eroberung des Erdtrabanten? Der sowjetische Kosmonaut Titow: «Erst Tiere, dann Menschen» werden da oben landen, Weltraumhunde wie einst Leika, Bjelka und Strelka.

Martin gefiel das, Hunde, möglichst viele Hunde auf den Mond!

Neue Bombenangriffe auf Nordvietnam, Fluchthelfer-Prozess in Ost-Berlin, Grüne Woche. Jeden Tag Vietnam, Zahlen, Orte, Tote, man musste schnell darüber hinweglesen. Endlich brachten sie den Nachruf auf Buster Keaton, der am 1. Februar gestorben war. Als er das Kaffeewasser aufsetzte, murmelte Martin: Goodbye, Buster Und hörte wieder den Chor der Freunde: «Nennen wir ihn Buster!»

 

«Buster!», hatte der Maler Sauerbaum gestern Abend gerufen, nachdem Martin wieder einmal zwei, drei Stunden lang fast nichts gesagt hatte. In der Wohnung des Wiener Dichters in der Kleiststraße, vor zehn, zwölf Leuten hatte Ernst eine Geschichte vorgelesen, eine Parodie der Trivialliteratur, auch Martin lachte mit, aber nicht so frei wie die anderen, gebremst und skeptisch, weil er den Gedanken nicht los wurde: Wie schön und doch widerstandslos das alles. Sagen konnte er das nicht, lieber fand er sich unwohl in der Rolle des Schweigers zurecht und hörte zu, wie die anderen erregt debattierten, erzählten, scherzten. Sie waren geschickter im Schreiben, freier im Reden, und am meisten beneidete er sie um ihr Glück bei den Frauen. Er trank wenig, fiel allein durch den Mangel an auffälligen Eigenschaften auf, fühlte sich manchmal verdächtigt wie ein Spion, eingesetzt gegen die Freunde, und dachte wie immer in solcher Lage: Wenn ich schon der Einsame und Stumme bin, dann will ich den Einsamen und Stummen spielen und aus meiner Schwäche eine Rolle machen und auch dann nichts sagen, wenn mir einmal etwas zu sagen einfällt. Verfangen im Nachdenken darüber, wurde er von der kräftigen, jede Silbe artikulierenden Wiener Stimme aufgeschreckt: «Was ist los mit dir, warum sagst nichts die ganze Zeit?» Ehe er eine Antwort stottern konnte, rettete ihn der Freund Ernst: «Lass nur, für Martin leg ich meine Hand ins Feuer!» Dann aus dem Hintergrund der Ruf des Malers, den die andern aufgegriffen und mit erhobenen Bierflaschen gefeiert hatten: «Buster, nennen wir ihn Buster!»

 

Der Kopf schmerzte noch, Martin warf Eierkohlen auf die Glut im Kachelofen, schippte die Asche weg, ließ es kräftig durchziehen, rührte den Kaffee um und legte sich wieder ins Bett. «Buster ist tot! Es lebe Buster!», hatten sie gerufen, die überraschende Taufe hatte ihn, für eine Nachtstunde wenigstens, erlöst wie von einem Fluch.

Vor den anderen Meldungen las er den Nachruf, ohne Rührung. Warum werden Komiker angeblich erst im Alter zu tragischen Figuren, sind sie es nicht schon viel früher?

In der kalten Küche wusch er sich mit kaltem Waschlappen Traumreste aus dem Gesicht. Er streckte dem Spiegelbild die Zunge heraus. Ja, das starre Gesicht war schuld, die Blässe, der unentschieden irrende Blick, der kantige Hals, der Adamsapfel, die zu große Nase, irgendwo musste der Fehler liegen, das böse Mal, das die Frauen abstieß. Wenn er wenigstens wüsste, ob er an einem sichtbaren Aussatz litt oder an einem unsichtbaren. Vielleicht waren es die Augen, die träumerische Trauer, die in den Augen schimmerte, der nach innen gerichtete, abwesende Blick. Nichts ließ sich dagegen tun, auch der kalte Waschlappen machte die Augen nicht frischer.

Als müsse er beweisen, dass der Makel des Gesichts der größte sei, legte er die Stirn in Furchen, verzerrte den Mund, zog mit beiden Händen an den Haaren und musterte die Fratze. So hatte er sich und die Pickel während der Pubertät oft angestarrt, die Pubertät war vorbei, selten wuchsen Pickel nach, die Pubertät war nicht vorbei, jeden Tag spürte er den Vorwurf des Kopfs gegen den Körper: du bist zu hässlich, deshalb verliebt sich keine in dich. Der Körper hielt dem Kopf entgegen: du bist zu schüchtern, deshalb verliebt sich keine in dich. Kopf und Körper stritten um die Schuld, beiden musste er recht geben.

Auch Buster hat ein starres Gesicht, auch Buster ist schüchtern, er steckt seine Niederlagen regungslos weg. Wieder und wieder neue Anläufe, unermüdlich bis zum Happy End. Die Frauen liebten Buster, sie liebten Martin nicht. Keine Niederlage ist endgültig. Buster, der sein Ziel fixiert, niemals aufsteckt und in dem Moment die Schlacht gewinnt, wenn er die Flinte ins Korn wirft. Große Hindernisse überwindet er spielend, so stand es im Nachruf, aber bei den einfachsten Dingen geht alles schief.

 

Buster, zu viel der Ehre. Er hockte in einer Wohnung von zwanzig Quadratmetern an einem kleinen runden Tisch vor dem ungemachten Bett, trank Nescafé, aß die Morgenbrote, musste für Klausuren pauken, ein Referat fertigstellen und ungeliebt die trüben Februartage überstehen. Ein Fenster zum Hinterhof, ohne künstliches Licht war beim Frühstück die Zeitung nicht zu lesen. Zwei Drucke von Klee an der Wand, Diana im Herbstwind und Springer. Ein paar Möbel vom Trödler, neben dem Regal gestapelte Apfelsinenkisten für Bücher. Auf dem Schreibtisch Hefter mit Manuskripten. Pläne, Luftschlösser, abgebrochene Sätze auf DIN-A4-Blättern.

Jeden Tag wurde ein Bogen in die Reiseschreibmaschine gespannt, mindestens ein, zwei Seiten Vorlesungsnotizen, Referate, Gedichtzeilen, Briefe. Alle Energie richtete Martin, weil er vergessen wollte, dass er stumm war, auf die Sprache. An gedruckten Wörtern berauschte er sich ebenso wie an selber geschriebenen, er zerlegte und analysierte, was ihm den Rausch verschaffte, und flog von einem Buch zum andern, süchtig nach Phantasie und Witz, nach klaren, wilden Sätzen – bis ihn keine Streifentapete und kein Lärm vor dem Fenster mehr störten. Aus vielen hundert Seiten, die er in der Woche las, sammelte er Gefühle, staute sie in sich auf, lagerte sie ein, nährte seine unentdeckte Seele damit und staunte, wie wenig sie in sein Leben passten.

Er legte drei Briketts nach, die aufgepressten Buchstaben UNION weckten nicht zum ersten Mal den Gedanken: Ich verheize die CDU, ich wärme mich an der Christlich Demokratischen Union. Die Briketts kamen aus der DDR, die von der CDU Zone genannt wurde. Die Briketts rollten in Güterwagen durch die Mauer und wärmten die Westberliner. Die Briketts erinnerten jeden Morgen an deutsche Einheit und Einigkeit. Und jeden Abend, wenn er sie auf die Glut legte, eingewickelt in Zeitungspapier voll Hass auf die Zone, die die Kohle lieferte. Genau genommen fand die Einheit nur noch im Kachelofen statt, sogar unter dem richtigen lateinischen Namen. Die Deutschen und ihre Öfen. Fing man einmal an, über die alltäglichen Dinge in Berlin nachzugrübeln, geriet man sofort in einen Strudel politischer Absurditäten. Er schloss die Ofenklappe.

An diesem Freitag waren die Pflichten in der Uni zu erledigen, zwei Stunden mit dem lästigen Mittelhochdeutsch, das Teufelszeug der Ablautreihen, Dentalsuffixe und Primärberührungseffekte.

Beim Abwaschen Blicke auf die beiden Zeitungsseiten, die mit Tesafilm an die Wand schräg über dem Spülbecken geklebt waren.

 

NEUSS DEUTSCHLAND ORGAN DES ZENTRALKOMITEES DER SATIRISCHEN EINHEITSPARTEI DEUTSCHLANDS TAGESZEITUNGSLESER! BELOGENE! Unter dem verbrauchten Gebimmel der Berliner Freiheitsglocke herden sich die Westberliner Tageszeitungen zu einem zynischen Anzeigenvormarsch. Sie organisieren ein METAPHYSISCHES WEIHNACHTSGEDENKEN für die Hinterbliebenen der amerikanischen Toten des amerikanischen Krieges in Vietnam. Wir organisieren ein HUMANISTISCHES WEIHNACHTSGEDENKEN für die Arbeiter der Porzellan-Manufaktur, die aus Geldspenden der Westberliner Bevölkerung Porzellanbimmeln für trauernde Amerikaner anfertigen sollen. NEUSS DEUTSCHLAND ergänzt den Aufruf der Westberliner Tageszeitungen: Wir bitten um Spenden für die Hinterbliebenen der amerikanischen Soldaten, die im Kampf gegen Hitler-Deutschland gefallen sind. In Europa wurden amerikanische Soldaten im Feldzug gegen Hitler getötet. In Vietnam kämpfen amerikanische Soldaten mit dem südvietnamesischen General Ky. Sein größtes Vorbild: Adolf Hitler.

AUFRUF. Wir bitten um Unterstützung der amerikanischen Politik für Hitler in Vietnam. Und für was in Europa? Wir bitten um klare Bezeichnung der amerikanischen Propagandakompanien in Westberlin (Westberliner Tageszeitungen): Spandauer Volksblatt – Der Tagesspiegel – Der Kurier – Telegraf – BZ – Morgenpost –, kurz, acht Berliner Tageszeitungen bitten um Vertrieb in Saigon und Umgebung. Wir bitten um Gasmasken und Luftschutzkeller für die Redaktionsstäbe der Westberliner Tageszeitungen. Wie leicht fällt aus Versehen so eine Napalmbombe der Amerikaner auf das Ullsteinhaus. Wenn Ihr die Ausdehnung des Krieges auf Mitteleuropa und Berlin wünscht, unterstützt die Westberliner Tageszeitungen! Spendet auf ihr Konto! Berliner Weihnachts-Damoklesschwert 1965. Spendet für Johnsons Gallensteine! Amerikas Führung treibt Anti-Kennedy-Politik in Vietnam. Einzahlungen auch an das ehemalige Mitglied eines amerikanischen Geheimdienstes, «Inspektor» Sikorski («Täglich müssen amerikanische Soldaten sterben. Und wir?») von der BZ, Axel-Springer-Haus. Heute für die amerikanische Vietnam-Politik Geld spenden heißt sparen für das eigene Massengrab. Eure Rührung ist mörderisch – Das Wasser in Euren Augen ist gut für die ewigen Blindenverführer – Lasset die Toten die Toten begraben – Ergründet wie die Lebenden Lebende bleiben. Die Redaktion NEUSS DEUTSCHLAND, Abteilung Begräbnishilfe.

Martin verließ die Wohnung, die im ersten Stock eines angeschossenen Seitenflügels lag, von dem drei Etagen übrig geblieben waren. Es gab nur ein Hinterhaus mit anderthalb Seitenflügeln, eine Kastanie und viel Grün dazwischen. Brüchige Mauern und Trümmerreste zu ebener Erde ließen ahnen, wo einst das Vorderhaus gestanden hatte. Unsichtbar hing das Haus in der Luft und erinnerte daran, dass irgendwann einmal, vor rund zwanzig Jahren, der Himmel über Berlin die Hölle gewesen war. Nun wollte sich eine Bausparkasse breit machen. Martin würde nicht mehr lange hier wohnen können, es war ihm gleichgültig, so wie ihm das wuchernde Gestrüpp gleichgültig war und der Stacheldraht, den der Hausmeister vor die offenen Kellereingänge des verschwundenen Hauses neben die Schilder Betreten verboten! Eltern haften für ihre Kinder! gespannt hatte.

Der Februar in Berlin war wie der November. Ein niedrig hängender grauer Himmel, aus dem es heute wieder nicht regnete und nicht schneite. Eine schäbige Decke, über die Dächer gespannt, als habe eine höhere Macht der Stadt blauen Himmel, Helligkeit und Leichtigkeit verboten.

 

Bundesallee, früher Kaiserallee, Reichshauptstadt, Frontstadt, die geteilte, die geheilte, unheilbare Stadt, wo bist du, wenn du in Berlin bist? Eine Stadt, die sich dreht und dreht, die Achse der Drehscheibe ist der zertrümmerte und in Trümmern befestigte Turm der Gedächtniskirche, ein hohler, angebissener Schokoladenweihnachtsmann mit einer Uhr als Gesicht, Kaiser Wilhelm liegt so tief im Trümmergrab der Geschichte, dass niemand weiß, ob des ersten oder des zweiten Wilhelm gedacht werden soll, ob der steinerne Weihnachtsmann das Gedächtnis an Wilhelms oder an Hitlers Trümmer, an Hitlertäter oder Hitleropfer wecken soll, Opfer gibt es genug, aus allen Zeiten und überall in der Stadt, Berliner sind immer Opfer der Geschichte oder wenigstens Helden und drehen sich mit, rund um die Gedächtniskirche, erniedrigt von den Bombennächten, erhoben von der Blockade der Russen und nun von der rohen Mauer rund um die Stadt wieder einmal zu Opfern und Helden befördert, und ihr Berlin ist aufgestiegen in den Schwindel eines Wallfahrtsorts der Weltpolitik, Opfer sind Grundbesitzer, die ihre plötzlich eingemauerten Immobilien verkauft haben und vor Ulbricht und den Russen nach Westen ausgerückt sind, Opfer sind die Leute, die nur an Schultheiß und Hertha BSC und Willy Brandt glauben können, also Geld her und junge Menschen, angeworben mit Berlinzulage, also fliehen Studenten aus Westen heran auf der Suche nach Freiheit und Freiheit vom Militärdienst, das Schaufenster des Freien Westens wird geputzt und geschmückt, es wird investiert in Freiheit und Glanz und Gloriakino, Filme, Cafés, U-Bahnen drehen sich um den Gedächtnisturm, eine neue Kirche ist neben die alte gestellt und dreht sich mit modernen Ecken und Kanten und einem süffigen Blau, ein Hochhaus mit fünfundzwanzig Stockwerken wächst an der Stelle des alten Romanischen Cafés, man darf auch im Neubau wieder romanisch Kaffee trinken, es werden Dichter für runde Tische gesucht, der Kurfürstendamm soll wenigstens eine Reise wert sein, und zwischen den Zootieren schmettert das Rias-Tanzorchester die Pfingstmusik Das ist die Berliner Luftluftluft in Rentnerohren, und während aus dem Erdreich immer noch Bomben des letzten Weltkriegs geborgen und entschärft werden, knallen vom Himmel hoch die donnernden Drohungen sowjetischer Düsenjäger, und die Schreie der Sterbenden an der Mauer gellen, verstärkt durch die schreienden Zeitungen, bis in die letzten Winkel der Stadt, und im Radio die Dauergefechte der Stimmen in mindestens vier Sprachen, jeder Sprecher gegen jeden, Ost gegen West, Deutsch gegen Alliierte, Tag gegen Nacht, alle halbe Stunde oder Stunde bellen sie gegeneinander, kläffen und jaulen, bis die Musik mit ein paar Takten Brahms oder Beethoven über alle Mauern hinweg einheitlich erhabene Gefühle stiftet gegen den Radau der Rechthaber, und aus dem Schöneberger Rathaus spricht die entschlossene Stimme Willy Brandts den Segen über alle, die diesseits und jenseits von Mauer und Stacheldraht, spricht den Segen auch über dich, der sich mitdreht und seinen eigenen Rhythmus, seine eigenen Bewegungen sucht und nicht findet und findet und auch im zweiten, im dritten Berliner Jahr an der Bushaltestelle, Baustelle, Nahtstelle Bundesallee noch fragt: Wo bin ich?

2

Jeden Tag wartete Martin auf ein Wunder. Das Wunder kam nicht, von allein kam es nicht. Langbeinig musste das Wunder sein, schön, nicht dumm, einen Rock tragen und einen Stummen verstehen. Es gab solche Mädchen auch in Berlin, aber wo sie finden, wie sie gewinnen, jeden Tag kreuzten die gleichen Fragen durch die Gedanken. Der einzige Trost blieben Franziska und Ellen, die ihn beide abwechselnd anzogen und wegstießen und ermunterten, seine Werbungen fortzusetzen.

Er klingelte an der Haustür bei Franziska, er war mit ihr verabredet, doch das bedeutete nicht viel. Sie hasste Uhren und Termine, sie hielt ihn oft bis zum letzten Moment im Unklaren, ob ihre Gefühle oder Pläne noch zu dem passten, was einige Stunden oder Tage vorher abgemacht war.

Sie öffnete nicht, er klingelte noch einmal. Jedes Treffen mit ihr war Glücksache, und wenn es gelang, wusste er vorher nicht, wie lange er in ihrer Nähe bleiben durfte. Manchmal erschien sie nur auf einen Wink und entschädigte ihn mit einem entschuldigenden Lächeln. Es ärgerte ihn, wie schnell sie ihn wieder versöhnlich stimmte, und es freute ihn, dass sie jede Enttäuschung mit der Aussicht auf künftige, bessere Momente zu heilen verstand. Nach und nach hatte er begriffen, dass die fröhliche Unberechenbarkeit zu ihren Reizen gehörte, besonders für einen, dem der Großvaterspruch Fünf Minuten vor der Zeit ist des Preußen Pünktlichkeit in den Kopf gemeißelt war.

Im Haustürschloss schnarrte es, er lief drei Stockwerke hinauf, der rote Läufer versprach Glück für den Abend. Die Wohnungstür weit geöffnet, Franziska stand davor, er sah zuerst ihre Beine, den engen schwarzen Rock. Er trat ein, er war willkommen, sie reichten sich die Hände wie Geschwister. Das Gesicht offen, die dunkelgrüne Bluse bis auf den obersten Knopf geschlossen.

Seine Begrüßung hätte stürmischer sein können, aber er wollte nicht wieder von der Erfahrung gekränkt werden, dass die Freundin die Schultern hochzog und in Abwehrstellung ging. Also hielt er Abstand. Er blieb scheu, in jungenhafter Ehrfurcht vor ihrer Schönheit und dem langen blonden Haar, das ihr weit über die Schulter wuchs. Sie band es nicht zusammen, steckte es selten hoch, trug es offen wie einen breit ausgelegten Schmuck um Kopf und Oberkörper, fast wie ein Schutzschild gegen unerwünschte Annäherungen. Mit dem Haar bannte sie die Männer und entrückte sich selbst wie in eine Ikone. Fall auf die Knie!, bete sie an! Nein, lieber erstarrte er in der Furcht, mit einem heftigen Gefühl, mit falscher Zudringlichkeit das Bild Franziska zu zerstören. Seine Taktik hieß: auf den richtigen Augenblick warten, aufmerksam sein, irgendwann kommt sie dir entgegen.

Sie zog sich zur Kosmetik ins Bad zurück und begann, als habe sie seit Stunden auf einen Gesprächspartner gewartet, hinter der angelehnten Tür zu erzählen. Von einem Zirkus, einer Trapezkünstlerin sprach sie, die zu ihr in die Buchhandlung gekommen sei und sich für ungarische Literatur interessiert habe, 56 aus Ungarn geflohen, «was für eine tolle, tiefe Stimme und so ein sanfter, habsburgischer Akzent!», morgen werde sie die Artistin im Zirkus sehen. «Wieder eine Schwester für dich», sagte Martin, als sie mit der Puderdose aus dem Bad kam.