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Anne Lorquet-Leithäuser - Kirschenzeiten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

ISBN 978-3-941524-17-0
ISBN 978-3-941524-35-4 (eBook)

Originalausgabe- 1. Auflage 2013
Alle Rechte vorbehalten
© 2013 Anne Lorquet-Leithäuser
© PalmArtPress
Pfalzburger Str. 69, 10719 Berlin
www.palmartpress.com

Umschlagfotos: Anne Lorquet-Leithäuser
Herausgeber: Catharine J. Nicely

Hergestellt in Deutschland

Anne Lorquet-Leithäuser

Kirschenzeiten

Roman

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INHALT

I. Der Weg

Ich komme an

II. Rives. Neue Ufer

Wenn es mir zu heiß wird

III. Geschichten von Wasser, Sonne und Körpern

Wasser holen.

IV. Der lange Tisch

Die Tür öffnet sich

Ballade von Christopher und seinen Verwandlungen

V. Im Kirschbaum

Rote Kirschen gegen ein Kleines Rotes Buch

VI. Bal-musette

Leider ist meine Mutter

Dann waren meine Ferien zu Ende

VII. Es war einmal

Aber was ist geschehen?

Eines Tages nimmt sie wieder den Zug

VIII. Ein neues Bett

Sie erzählen sich Geschichten

IX. Kleine weiße Schnecken

Gräser um mich herum

Rives
je veux parler d´un lieu
ce lieu existe et je le rêve
je le nomme Rives
rives de rêves1

I. Der Weg

Das Land.

Auf dem Land. Die Provence. Der Bus hat mich am Anfang des Weges abgesetzt.

Der Weg.

J´ai marché.

Ich bin gelaufen, den Weg entlang. Oft bin ich so angekommen. Débarquée. An Land geworfen, aus der großen Stadt, aus Paris. Ferienzeit.

Die Nacht im Zug. Frühmorgens fand ich mich am Bahnhof der kleinen südlichen Stadt wieder. Es war sehr früh. Die Luft aber schon mild. Sie verblüffte mich mit ihrem neuen Duft, der nicht von einer Stadt sein konnte. Leichte Brise. Platanenalleen, das Licht spielte auf den Stämmen. Dann habe ich den Bus genommen. Er fuhr durch die Hügel, die kleinen Dörfer. Und dann habe ich diesen Weg genommen.

Am Anfang habe ich nichts gefühlt. Noch nicht. Ich bin gelaufen, meinen Rucksack auf dem Rücken. Schwer. Heiß. Die rauen Gräser, die die Beine ritzen. Die Äste der zusammengeschrumpften Eichen schlagen mir ins Gesicht. Die hellen Steine kullern unter meinen Füßen. Die weite kristallene Luft. Sich ausstrecken.

Von hier erblickt man das Dorf, Rives, ein paar Kilometer entfernt. Stolzes Profil gegenüber dem Tal.

Angekommen. Aber noch nicht da. Das Gefühl war nicht so schnell wie der Körper. Das Tal ist schön, das wusste ich. Die Schönheit war hier. Endlich. Ich aber nicht.

Ich? Das war doch gerade noch:

Ein Etwas. Zwischen grauen Baukästen. Unabsehbar riesigen Baukästen. In der Stadt. Laufen. Sonntagsgepäck, mit Büchern schwer.

Ich, das war:

Der Stundenplan. Die Woche im Internat. Korridore gefüllt mit laut gestikulierenden rosa Kitteln. Arbeitszimmer. Schlafzimmerkästen, unsere Kajüten, zwischen Holztrennwänden mit einem rosa Vorhang zum Schließen: ein Bett, ein Tisch, ein Waschbecken, ein Schrank und eine Taschenlampe zum Unter-der-Decke-Lesen. Zentrale Perspektive vom Mittelgang auf 40 Bett-Tisch-Schrank- Kämmerchen mit rosa Vorhängen zum Schließen: Schlafsaalperspektive für die Nachtwächterin. Arbeitszimmerperspektive mit Tischen und gebückten Rücken in rosa Kitteln. Geflüster, Getuschel, überspanntes Gekicher, tolles Gelächter erstickt und doch losplatzend bis zu Bauchschmerzen und Wahnsinnsnähe.

Am Wochenende nach Hause. Schluchten zwischen grauen Bauten, die sich auf dem nassen Pflaster bodenlos fortsetzen. Sonntagsgepäck voller Bücher für die Rückkehr ins Internat. Himmel, verloren. Himmel, geträumt. Abends die Zärtlichkeit seines tiefen Blaus anstarren, die sich durch die Fenster des Arbeitssaals durchschmuggelt.

Ich konnte es nicht fassen. Auf dem Land war ich.

Ich erinnere mich.

Ein Mädchen kommt an. Ein Mädchen, das ich gewesen bin.

Immer wieder ist Marie in Rives angekommen, am Anfang der Ferien. Erst war sie 12, jetzt ist sie 16. Ankommen. Das ist einfach: man braucht nur den Zug zu nehmen. Leicht gesagt, aber das ist es nicht.

Ich bin noch ganz abgestumpft, wie in Watte. Eine ganze Nacht im Zug zusammengequetscht sitzend. Der Kopf rutscht, kann keinen Halt finden; den Kopf aufrichten, er rutscht wieder. Bedrückendes Durcheinander von Atemrhythmen im Dunkel, Atem des Zuges.

Vorher. Die Nächte im Schlafsaal.

Die Lichter werden bald ausgemacht. „Allons allons! les rideaux! Nun aber! Die Vorhänge zu!“ Erst noch als freundliche Aufforderung unserer Wächterin, sich in den jeweiligen privaten Nachtkäfig zurückzuziehen. Das Fließen des Wassers in die jeweiligen Waschbecken. Die Stimme meiner unsichtbaren Nachbarin, sie wagt es noch, wer kann wohl noch bei ihr sein? Schritte. Eins nach dem anderen gehen die Lichter aus. „Sie da! Gehen Sie sofort in Ihr Bett!“, sehr bestimmt, diesmal. „Nathali..ie!“, kreischend. Schritte, von der Wächterin, trocken und hart. Spitze Hacken. „Jetzt ist es aber genug! Gehen Sie!“ Mein Bett ist weich.

Und jetzt plötzlich hier.

Ich war noch ausgeschlossen. Außen. Außerhalb der Schönheit.

Ich war gerade noch im Internat. Ja, alles schön intern.

Himmel dort dahinten, hinter geschlossenen Fenstern.

Stundenplan. Die Glocke läutet. Aufstehenszeit. Waschzeit. Frühstückszeit, in Reihen vor dem Ess-Saal. Tischreihen. Butterbrot mit Marmelade. Café au lait, café ollé. Nein, zum Tanzen ist es nicht. Glocke. In Reihen vor dem Arbeitssaal. Tischreihen. Arbeitszeit. Glocke. Schulzeit. Zum gymnasialen Gebäude. Reihe vor dem Klassenraum. Tischreihen. Auf deinem Platz, ruhig sitzen, zuhören, arbeiten. Glocke. Pausenzeit, in rosa Kitteln spazieren unter den hohen Bäumen des Parks, einige spielen, die Kleinen. Glocke. Schulzeit. Glocke. Mittagessenszeit, schön in Reihen aufstellen. Ruhe, du wirst schon einen Platz kriegen an einem großen Tisch mit 12 Tellern, 12 Gabeln, 12 Messern und 12 Gläsern. Pausenzeit. Glocke. Arbeitszeit im Arbeitssaal. Schulzeit. Glocke. 4 Uhr Pause. In Reih und Glied für das Schokoladenbrot. Unter den Bäumen Mädchen in rosa Kitteln, Bäume in Reihen. Glocke, in den Arbeitssaal, Schularbeiten. Glocke. Abendessenszeit, in Reihen...

Waren auch die Träume in Reihen aufgestellt während der Schlafenzeit?

Ferienzeit.

Ich kam an einen Ort, wo alles schön ist. Die Schönheit.

In Rives hatte ich einen neuen Zugang zur Schönheit gefunden. Angefangen, sie zu genießen. Sie zu sehen, zu fühlen. Aber jetzt, wie jedes Mal, die erste Zeit nach dem Ankommen, bin ich blind, taub.

Ferienzeit. Drei Sommermonate. Ferien bei meiner Mutter. Andere Kinder verlassen dann ihre Eltern, um in die Ferien ins Unbekannte zu fahren. Bei mir war es umgekehrt. Ich fuhr zu meiner Mutter und zu ihren Freunden.

Unsere Freunde. Sie sind nicht von hier. Viele sind Ausländer. Sie sind meistens Künstler, Schriftsteller oder so was ähnliches. Sie kommen aus der Stadt, manchmal nur für einige Zeit. Zur Ferienzeit, wie ich. Einige wollen nicht mehr in der Stadt leben und suchen sich ein Haus hier in der Gegend.

Ich finde es schön, dass in unserem Haus für einige Zeit Freunde wohnen. Ich bin zwar Einzelkind, aber seitdem ich nicht mehr bei meiner Großmutter wohne, bin ich gewohnt, mit vielen Leuten zusammen zu leben. Es ist aber in Rives nicht wie im Internat, es gibt keine festen Regeln, keine großen Zwänge und es macht richtig Spaß, mit diesen tollen Leuten zusammen zu sein. Zusammen zu kochen, zu essen, zu wandern, zu malen - viele sind Maler -, oder... es gibt keine Grenzen. Sprechen, Diskutieren macht mir besonders Spaß. Das machen wir viel, über alles diskutieren, Kunst, Politik oder sonst was.

Die Bäume hier sind komisch: verkrüppelt, knorrig, struppig. Ich war allein auf dem Weg.

Ich, das gab es nicht. Wir - es gab nur das Wir - das war erlaubt.

Und doch ein bisschen Ich. Heimlich, im Versteck. Versuch, mir etwas Privates zu bewahren. Ein bisschen lesen, oder ganz viel? Zu viel. Schreiben, zeichnen, für mich.

Arbeitssaal. Die Aufseherin kommt vorbei, ganz nah bei mir. Sie guckt auf alles, was man macht. Man wird nie in Ruhe gelassen. Hier kann man keine Angst vor der Einsamkeit haben. Ich sitze inmitten des Saals. Bewegen verboten. Eigentlich müsste ich jetzt meinen Aufsatz vorbereiten. Oh die Frau nervt mich so, mit ihrer Art, immer durch die Reihen zu gehen. Ach! die Glocke. Aufhören zu schreiben, wir gehen essen.

Oder ich, das war Marie. Die Marie ihrer Großmutter: die Großmutter wusste, wie ich zu sein hatte.

Sonntags war ich immer bei meiner Großmutter.

Das rituelle Sonntagsessen, Beefsteak, grüne Bohnen. Morgens die Schularbeiten. Wenn ich doch nur Musik hören könnte! Wir haben kein Radio. Und meine Großmutter hört nie auf, von meiner Zukunft zu sprechen.

Der Weg. So oft gegangen in den letzten Ferien.

Der Weg, die rauen Gräser, die hellen Steine, die silberne Luft. Strahlende Wärme. Vor mir das Tal, der Berg. Hier müsste ich anders atmen.

In der Provence bist du, verstehst du? Giono hat so lyrisch darüber geschrieben. Er konnte die Schönheit fühlen und auch fühlen lassen.

Ich bin aber kein Giono.

Der Weg ist lang, wenn man nach längerer Zeit hier wieder ankommt.

Jetzt geht es die kleine Steigung hoch. Die ist steil genug, dass die vielen Steine bei jedem Regenschauer immer wieder herabrollen, und dass beim Hochfahren die Fahrzeuge sich in ihrem Schwung getäuscht haben und Asthma bekommen, der Steigung aber dennoch immer wieder so zahlreich trotzen. So viele haben uns besucht, haben hier gewohnt.

Ich bin den Weg gelaufen. Ich muss wieder laufen lernen.

Meine an den Asphalt gewohnten Füße. Das Teerklebeband der Stadt. Verhindert den Kontakt zur Erde. Erde? Wo? Höhlen. Unzählige unterirdische Schläuche. Das Vorbeiflitzen von Müll, von Wasser- und Abwasserfluten, von Licht, Wärme, Gesprächen. Wir laufen auf einem Luftgebilde, Luftzugsgebäude. Gewirr von Gerippen, Strömen, Kloaken.

Das Wasser des Himmels darf nicht in den Boden eindringen, ihn nähren. Das Wasser spiegelt unsere blassen Gesichter, unsere langen Schatten, findet in dunklen vergitterten Schächten einen Ausweg.

Meine hastigen Schritte auf dem Asphalt der Großstadt. Der zielgerichtete Kopf nach vorn. Die Augen nach innen gekehrt. Beschäftigt. Die Hände halten krampfhaft die Schultasche. Eckige Automatenschritte. Wie funktioniert diese Maschine? Sie funktioniert.

Donnerstags gehen wir raus aus den Internatsgebäuden. Wir laufen in Reih und Glied. Zeit für die Promenade. Donnerstagnachmittag. Marineblaue Jacken, marineblaue Plisséeröcke, weiße Hemden, weiße Socken.

Unsere Schritte auf dem Asphalt.

Wieder laufen lernen.

Bald wird es soweit sein. Lehm des Weges, der Felder. Dort entlang bin ich letztes Jahr gelaufen. Und die Jahre davor.

Lehm. Trockene Erde. Die Sonne trocknet die Erde meines Gesichts ab und erwärmt es. Mein Erdgesicht. Der Mistral tobt mit meinem Haar, kämpft mit meinem Hemd, meiner Brust, meinem Bauch, meinen Beinen. Le Mistral. Der Wind von Norden. Le vent de la pluie: das ist der Wind von Süden, der Regenwind. Ich habe gelernt, dass die Winde hier Namen haben. Sie haben Richtungen, sind Körper, Geruch, Stimme. „Les vents se coincent“. Die Winde verkeilen sich ineinander, sagte unser Nachbar Herr Magnan, ein alter Bauer, wenn es windstill war.

Rhythmus meiner Hüften, in harmonischem Kontrapunkt mit meinen Schultern, mit meinen Armen. Die Stadtmarionette belebt sich und wird von der wallenden Bewegung erfasst, die sich von der Fußspitze zum Kopf hochschlängelt. Hin- und Hergewoge meines Bauches, meines Hinterschiffes. Mein Fuß bedeckt mit seiner ganzen Fläche die Erde, ebnet sie ein und schwingt sich empor, leichte entspannte Kraft.

Das Mädchen geht.

Elle marche dans le chemin d´un pas étale.

Sie schreitet breiten, stillen Fußes auf dem Weg.

Ein stacheliger winziger Hügel aus Gräsern trennt den Weg in zwei Pfade. Es gibt kleine Strände aus weichem Sand: ein kurzer Regen hatte sie manchmal in dünne Seen verwandelt, die die Füße des Mädchens, riesige Elefanten, überschwemmten.

Der Wind streicht durch ihr Haar.

Die Kette aus Galläpfeln baumelt im Takt.

Rives
rives de rêves et rêves de rives
j´arrive?2

Ich komme an.

Die Steigung hoch, mit den vielen Steinen, die bei jedem Regenschauer immer wieder herabrollen.

Ich komme heute noch an, ich, die erwachsene Frau. Manchmal. Von weit her gefahren: aus Deutschland, aus dem Ausland. In die Provence, nach Rives. Immerhin ist es auch mein Land. Mein Haus.

Der Wagen greift die Steigung an, wird kurzatmig, stoppt. „Scheißweg“, sagt Onno, mein Freund, sonst meckert er nicht so. Der Wagen wagt es trotzdem noch mal. Die herabrollenden Steine. Die Kraft des Motors bewundere ich immer wieder. Der Wagen hat die Waagerechte wieder erreicht. Wir sind gleich angekommen.

Gleich angekommen? Ich komme nicht mehr an. Nicht mehr wirklich. Woher ich komme, ist noch weiter als früher. Fremdes Gesicht dieser Erde hier. Mein Gesicht? Mein Land, mein Haus? Weit weg lebe ich jetzt. Es ist eine Frage der Entfernung. Es tut weh. Weit weg. Der Weg führt...wohin? Ich komme nicht mehr an. Ausländerin bin ich geworden. Aus Länderin. Außen. Außenseiterin, abseits. Seiltänzerin, zwischen Ländern. Oder war ich es schon früher?

Der Weg läuft geradeaus. Nur noch ein wenig Rütteln auf isolierten Steinen. Die Äste der Eichen schlagen an die Fenster.

Mit geschlossenen Augen weiß ich, wann die Mauer, die das Feld auf der rechten Seite zurückhält, einige ihrer Steine abbröckeln lässt, wann die erste hellgraue Hauswand plötzlich aus dem grünen Gestrüpp erscheint.

Der Weg läuft geradeaus. Meine Füße führen mich von selbst. Jeden Stein erkenne ich. Hier fängt unser Grundstück an. Mein Stück Grund. Ich könnte bis zum Ende dem Weg weiter folgen, aber ich will sie überraschen. Ich biege nach links ab, ins Gestrüpp von jungen Eichen und Zedern. Der Rucksack ist schwer. Pause. Den Duft erkenne ich wieder. Thymian.

Es öffnet sich eine Feldterrasse, die in Talrichtung treppenartig zu anderen wilden Feldern führt. Ich könnte die Vielfalt der kleinen Pflanzen um mich betrachten, einatmen, aber ich will ankommen. Ich will sie wiedersehen. Meine Mutter. Und die anderen, unsere Freunde. Ich lasse mich überraschen, wer gerade da ist.

Ich bin neugierig, meine Mutter wiederzusehen. Bilder von früher sehe ich, wenn ich an sie denke. Auch von letztem Sommer, als wir zusammen auf den Berg gewandert sind. Wir allein.

Wer ist eigentlich diese Frau, die meine Mutter ist? Eine Frage, die sich die erwachsene Marie auch stellt. Alte Fotos vor der Abreise wieder angeguckt.

im oberen Teil vom Foto ist die Mauer hell. wird immer dunkler nach unten rechts.

das Gesicht darauf im Zentrum so hell wie die Mauer an dieser Stelle. schwarze Masse des kurzen Haares ringsum. die Brauen hochgezogen an den Winkeln. die schwarzen Punkte der Augen. der Mund eine klare Horizontale der Körper ganz gerade.

zwischen zwei Fingern die weiße Linie einer Zigarette, horizontal.

etwas Heftiges im Gesicht. ein Gefühl. man weiß nicht, was es ist. die Augen, der Mund. aber es wird von den Schultern festgehalten. geht nicht weiter.

sie ist einfach gekleidet.

ein dunkles Unterhemd, wahrscheinlich marineblau. Shorts. der Anfang der Beine durch den Fotorand abgeschnitten.

die Steine der Mauer erscheinen an manchen Stellen. der Putz abgeblättert

sie steht gegen die Mauer, berührt sie mit ihrem ganzen rechten Arm. das Wilde in den Augen. bereit jemanden anzuspringen.

eine rechteckige Mauer.

eine Frau ganz gerade.

und doch das rechte Bein ein bisschen schräg, entspannt.

alte Steine, schwebende Wolken im Putz.

die Zigarette aber eine klare kleine Linie. der Putz erzählt allerlei Geschichten mit verrückten kleinen Linien. die glatte Beschaffenheit der Haut dagegen. tief ausgeschnitten das dunkle Unterhemd. der helle Saum des Büstenhalters im Armauschnitt.

auf dem Bauch weiße Flecken, vom Arbeiten.

der Mund ist halb offen, eine schwarze Linie. die Augen auf etwas auf der Rechten gerichtet, schwarze Punkte. das Gesicht undeutlich im Zwielicht, sehr jung.

der Putz

hat etwas von einem Tanz.

die Frau steht in der Mitte des Fotos gegen die Mauer gelehnt.

mit dem Wilden

in ihren Augen

wird sie immer so bleiben?

anzuspringen bereit

die schwarze Linie ihres Mundes. die Brauen hochgezogen.

die Frau an die Mauer gelehnt auf dem Foto

ist meine Mutter

Fernande wirkt verschwiegen, sagt man. Großmutter sagt, sie ist verbohrt. Manchmal scheint sie ganz abwesend. In solchen Momenten kann Marie sie nicht erreichen und fühlt sich sehr einsam. Das war besonders so, als sie klein war. Viele Menschen halten sie für stolz, andere im Gegenteil für eine offene, spontane Frau. Marie weiß nicht wirklich, wie ihre Mutter ist.

Meine Mutter. Rives. Es ist nicht mehr meine Welt. Warum muss ich doch immer hierher kommen, aus dem Ausland?

Ich war schon früher eine Ausländerin, bevor ich ins Ausland ging. Jetzt ist es noch anders. Das Außensein hat sich verdoppelt, erweitert. Das Außen ist konkret geworden, es hat sich fixiert und materialisiert. Grenzenfixiert, verkörpert. Körper der Grenze, vergrenzt. Die Trennung. Ausland. Fremdes Land, doppelt so fremd, weil Deutschland. Wie kommst du dazu, in Deutschland zu leben...

Das Land. Die Provence. Das Haus. Ich komme nicht mehr an. Ich bleibe fremd. Und doch gefangen. Das Alte, die alten Erinnerungen, die alte Traumwelt hält mich gefangen.

Automatenschritte. Etwas in mir lässt sich nicht vom Rhythmus der Schritte erfassen. Wie funktioniert diese Maschine?

Meine hastigen Schritte auf dem Asphalt.

Hohe kaltgraue Häuser. Die sich auf dem nassen Bürgersteig widerspiegeln. Sind Riesenschiffe, die unbeweglich ihren Bug vorrücken. Die Garage. Beim Vorbeilaufen, die Nase zuhalten. Der warme Dunst in vertrauten Zügen beim Hineinströmen in den Bauch der Metro.

Jeden Stein erkenne ich. Hier ist es doch mein Land. Ich habe es so erwartet, hier entlang zu laufen. Warum fühle ich mich nicht zuhause? Noch nicht.

Die Luft so klar.

Ich will jetzt ankommen. Ich will sie wiedersehen. Jetzt das kleine Zederngehölz um die große Zeder. Leise gehen, die kleine Tür aufschieben.

Hier bin ich.

„Ich glaube,“ sagt Onno, „wir sind gleich bei dir, könnte das sein? He, ma belle, tu dors?3

Dieser Eindruck, jedes Mal am Ende der Welt angekommen zu sein. Jetzt kommt die letzte Prüfung für den Autofahrer. Die Kurve. Schrägstellung. Felsen verletzen den zarten Bauch des Wagens: scheußliches Geräusch. Die Kurve breit genug nehmen, ganz langsam. Gekratze der Äste an den Fenstern. Nervöses Gebell. Die Hunde sind wild geworden, sie hüpfen und ziehen an der Kette.

Das Tor. Etwas von einer strengen Klarheit. Das Haus.

Leise gehen. Die kleine Tür aufschieben. Hier bin ich. Die erste, die mich bemerkt hat, ist Wladi, unsere Hündin. Sie kommt zu mir, ohne zu bellen. Der Schwanz fegt durch die Luft. In den rauen Locken kraulen, in die brauen Augen blicken.

- Ah la voilà!

Die klare Stimme. Ist sie das, meine Mutter? Wie ist sie hier so nah. Sonnensplitter.

ihre Stimme

tiefes Rauschen, Springquell

erloschenes Symbol und doch, das Wunder steht nicht still

Springstimme

unaufhörliche tiefe Milde

Klangwellen

offenbaren sich,

von allen feinsten aquatischen Arten vernommen, die

die Tiefe des Ohrs und des Körpers mitreißen

es ist lange her

Ich war ein Kind

Wir gingen beide gegen den Wind, ich die Kleine und sie

die Große.

gemeinsame Taktmaße unserer Schritte. wir erforschten

die Weite

mit unseren sich vermischenden Stimmen.

Hügel für Hügel. das Feld unserer Riesinnenschritte.

Wir griffen die Kleinheit der Dinge an. wir lachten der Luft

wegen,

des Auffliegens der Wellen.

ein Bild von uns beiden?

meine kleine Stimme im Bauch ihrer

ihre große Stimme im Bauch meiner, der Kleinen

ich hatte sie erwartet

ich hatte sie vergessen

ihre Stimme. meine Mutter

Klare Stimme, helles Lachen, sie umarmt mich. Meine Mutter, Fernande.

Aus dem hinteren Teil des Hofes nähert sich eine hohe dünne Gestalt, linkisch geschmeidig, eine Schulter hochziehend. Tony, der neue Mann meiner Mutter. Lachende Zähne, spöttisch warmherzige Miene. Sein Kumpelklaps schüttelt meinen müden Körper.

- Hey, alors, ça y est! c´est les vacances? Na! sind schon Ferien?

Sommerferien.

Die Zeit, wo ich meine Mutter wiederfinde. Sie erfinde? Ma mère, ma maison, meine Mutter, mein Haus. Ma, meine, mein. Possessivpronomen. Ich bin nicht so gewöhnt, damit umzugehen.

Sie umarmt mich. Er nähert sich, grinst. Moment. Meinen Rucksack absetzen. Eine ganze Nacht im Zug. Ich stehe da. Ein wenig zu lang geraten, mit Armen und Beinen. Und weiß nicht, was ich tun soll.

Fernande. Meine. Mutter.

Was ist da richtig? Alles richtig. Ich glaube es nur nicht.

- Allez, viens t´asseoir. Tiens, voilà du thé, du pain. Qu´est-ce que tu veux? Was möchtest du? Marmelade? Tiens, je vais te faire une belle tartine de confiture.

Ich sitze am Tisch, in der Küche. Am ersten Tag bin ich die Königin. Ich werde bedient. Der Bauernsessel schaukelt auf den unregelmäßigen Steinplatten der Küche. Eine Tasse Tee. Brot. Marmelade.

Die kleine Tür aufschieben.

Hier bin ich.

Der Hof ist leer. Auf dem runden Steintisch - einem alten Mühlrad - vor dem Haus, liegt die Katze. Sie macht ein Auge auf, reckt sich. Pfingstrosen, ganz gerade, im Winkel. Ist vielleicht keiner da? Ich rufe, und trete in die Küche ein.

Manchmal war auch Judith, die beste Freundin meiner Mutter, schon zu dieser frühen Stunde, im Garten auf den Terrassen unterhalb des Hauses beschäftigt. Sie erblickte mich sofort, als ich die kleine Tür aufschieben wollte, stellte die Gießkanne auf den Boden. und eilte, um mich mit unglaublicher Kraft zu umarmen. Die kleine Frau mit dem kurzen grauen Haar und den lachenden Augen. Ich lachte auch, dass sie gerade wieder da war. Zwischen einer ihrer Expeditionen, wo sie manchmal für Jahre verschwunden war, irgendwo im tiefsten Frankreich oder in Algerien vielleicht. Judith, wieder in Rives, in ihrem Häuschen bei uns in der Nähe.

Oder: hier sind sie, unsere Freunde. Auch neue Gesichter. Um den frühstückgedeckten Steintisch sitzen Jacques, Olga, Sarah und Lewis. Oder Diego mit Yolande. Sigrid, Torvald. Oder Christopher und Rebecca. Oder...

Allgemeiner Aufbruch, Ausrufe, Schütteln, Schmatzküsse. So viele heftige Umarmungen nach der Stille auf dem Weg.

Oft habe ich aber auch am Bahnhof gewartet. Eine neue Luft, ein Duft von Wärme, ergreift meinen verschlafenen Körper, möchte ihn neu erschaffen. Behaglichkeit der Platanenstraßen und der niedrigen Häuser. Das Licht spielt auf den Stämmen.

Und dann kommt Tony, linkisch geschmeidig, hoch. Er lacht, umarmt mich. Der neue Mann meiner Mutter.

Die silbergrünen Pyramidenschiffe der Hügel kommen uns entgegen. Dann fahren wir hoch, die übereinander gestapelten Terrassen entlang. Den Weg, über den der Wagen souverän segelt, bis zum Ende.

Die Hunde sind wild geworden, tanzen um das Auto. Unter dem Tor erscheinen sie nacheinander: meine Mutter, Freunde.

Angekommen. Aber noch nicht wirklich da. Die Schönheit war hier. Ich aber nicht.

Es dauerte.

es gab ein Land, eine Provinz. so voller Schönheit, dass es Die Provence war.

es gab Hügel. ein Dorf, Rives. Menschen, die dort leben, und die, die dort vorbeikommen. und oft bleiben, denn dieser Ort ist etwas Besonderes. hat was Magisches. Bauern und Künstler. Ausländer und Landeskinder.

es gab ein Haus, das für viele etwas Besonderes war. ein Magnet. eine Lichtstätte, urwüchsig gewachsen wie ein Wunder, wo ein anderes Zusammenleben geübt wurde.

ein Mädchen kam dort an, für die Ferien. ankommen. leicht gesagt. scheint einfach. man braucht nur den Zug zu nehmen. aber das ist es nicht.

es gibt einen Ort, Rives. das heißt Ufer.

eine Frau erinnert sich. aus dem Ausland, in das sie ausgewandert ist.

diese vergangene Zeit wieder erwecken. an diesen vergrabenen Schatz wieder herankommen.

1. Rives. Ufer / ich möchte von einem Ort sprechen / dieser Ort existiert und ich erträume ihn / ich nenne ihn Rives. Ufer / Ufer von Träumen

2. Rives. / Ufer von Träumen und Träume von Ufern / ich lande an?

3. Meine Schöne, schläfst du?

la réalité de Rives est magique
jamais je n´y arrive
vraiment
je l´aborde
et elle me fuit
4

II. Rives. Neue Ufer

Ich bin vierundvierzig. Es wird nur über Vergangenes geschrieben. Was schmerzhaft nicht mehr da ist.

Voilà. Das ich erzähle, wie es war, für mich erst.

Ich wohnte seit der Geburt in der großen Stadt. Die kleine Wohnung von meiner Großmutter und mir vollgestopft mit aufgestapelten, angeordneten und etikettierten Gegenständen, vollgestopft mit ihr. Und mit ihren pulverisierenden Zornexplosionen und mit ihren Erwartungen von der Apokalypse. Und ich unwesentlich zwischen dem dickbauchigen braunen Geschirrschrank, dem großen braunen überfüllten Bücherschrank, unseren beiden Betten, dem großen eichenbraunen Tisch und den Familienporträts, ich, die ich mich in unverfestigter und unzulänglicher Länge dehnte, ich in schwammiger und träger Atmosphäre, in grauem Staub, ich dickköpfige und unbestimmte Schneckenart, kleines langes unförmiges Ding, mit Stülpnase.

Und dann hatte ich jeden Sonntagabend den Zug genommen, zu einer kleinen „Box“ im Internat, meinem Kämmerchen, wo ich abends meine kleinen Beschämungen und meine warmen Stolzgründe hinter rosa blümchenverzierten Vorhängen versteckte, in einem großen, von einem mit lauter Fräulein-in-Rosa blühenden Park umgebenen Gebäude, das, um die Schlösser des 17. Jahrhunderts nachzuahmen, aus Backstein und Quaderstein gebaut wurde, einem großen Gebäude, wo ich Lachkrämpfe und Komplizenschaften erprobte, wo ich eine in den Klassenräumen anerkannte Porträtistenkarriere begründete, wo ich geliebte weiße Blätter mit kleinen geheimen schwarzen Zeichen bedeckte, wo allmählich in mir kleine Grashalme der Tollheit und Freiheit trieben, die ich geduldig, in kleinen Dosierungen, der jähzornigen erstickenden Kralle der allmächtigen, mich einwickelnden, alles bedeckenden Einflussnahme meiner Großmutter entzog.

Voilà. Es war gar nicht so lange her, dass ich mir ein kleines Nest in dem großen Gebäude des 19. Jahrhunderts eingerichtet hatte, aber es gab noch jedes Wochenende das unsägliche Grau, die gestaltlose Schwere, den unendlichen Weg zwischen den hohen Gefängnismauern der Stadthäuser, das zu lange Mädchen, mit der Stülpnase, die Großmutter mit ihrem ganzen Gewicht an Pflichten auf ihr lastend. Ein ganzes Leben, das kein Ende von Pflichten, Aufgaben kennen würde, Schulaufgaben, immer Schule, immer arbeiten müssen, Lehrerin werden müssen, der schönste Beruf, du wirst drei Monate Ferien und eine sehr gute Rente haben, für eine Frau es ist das Beste, jetzt ist das wichtigste Jahr in deinem Leben, das entscheidendste Jahr deines Lebens, verstehst du...

Eines Tages, wie ein Wunder - ein sich wiederholendes Wunder – führte mich der Zug zu sonderbaren Düften...

ich bin auf einem Weg gelaufen

ich konnte nicht verstehen

alles war Licht

Es hatte Dramen gegeben, den Kampf: Wenn deine Mutter dich zu sich nehmen will, kannst du weggehen: das bedeutet meinen Tod, du hast es so gewollt. Aber Großmutti, du weißt doch, dass ich dich liebe. Ich wusste nicht, was geschah. Ich verstand nicht, der Hass das Schwarze der Tod der Abgrund alles versinkt aber Großmutti du weißt doch dass ich dich nie verlassen werde, ich werde nicht zulassen, dass sie mich dir wegnimmt.

Dann wurde verhandelt. Dann durfte ich doch hin. Zu meiner Mutter. Zum ersten Mal in ihr neues Haus. Dort, ganz weit weg, in der Provence.

Eines Ferientages befand ich mich vor diesem Haus aus zartgrauen Steinen. Das Licht brach hervor, weiß. Und ich betrat einen Raum. Eine dunkle Höhle. Was ist das? Das ist schmutzig. Ein Durcheinander. Ich bin durcheinander, ich bin verloren hier.

Hier sind Leute, die ich nicht kenne. Es gibt auch diesen großen Mann mit der Schottenkaromütze, der mich zusammen mit meiner Mutter am Bahnhof abgeholt hat. Tony, ihr neuer Mann. Und meine Mutter, die ich kaum wiedererkenne. Fernande. Ich kann sie nicht Mutter nennen.

Immer wieder lässt der Wagen neue Hügel auftauchen: Schiffsbuge, die nacheinander vorrücken. Die Straße ist immer lang für die, die sie das erste Mal entdecken. Ich ahne in diesem unendlichen Hügelgewirr etwas vollkommen Neues.

Hier im Haus war ein seltsames Durcheinander.

Ich war sehr gut erzogen, ich. Bisher war alles sehr ordentlich gewesen. Die Unordnung war – ja, es gab auch Unordnung bei meiner Großmutter mit so vielen Dingen -, die Unordnung war ordentlich. Es ist schwierig, das alles aufzuräumen, wir haben so wenig Platz. Da muss man sich klein machen. „Verstehst du, Kleines, du musst lernen aufzuräumen. Aber vor allem musst du gut für die Schule arbeiten. Du weißt, wie wichtig das ist.“

Bei Großmutter musste alles sehr schnell und ordentlich laufen. „Zeit ist Gold“, sagte sie immer. (Dieser Goldschatz an Zeit erschien Marie immer schrecklich unerreichbar.)

Sie wusste immer, was richtig ist, weswegen Marie sie bewunderte. Aber was sie nicht immer so lustig fand, war, dass die Großmutter natürlich auch immer genau wusste, was für Marie gut war. Wie sie das für ihre Tochter Fernande und für jedes ihrer Kinder auch gewusst hatte. Wenn ihre Vorstellung nicht genau der von Marie entsprach, sagen wir mal zum Beispiel, was diese gerade gern angezogen hätte, nahm sie an, sie wüsste es selbst nicht richtig. Und de facto wusste sie gar nicht mehr, was sie wollte. Diese ollen Dinger, abgenützte Kleider von reicheren Verwandten, die Marie noch länger und trostloser erscheinen ließen, als sie war. Außerdem dachte sie, es sei ihre Schuld, sie sei eben so hässlich, wenn die Kleider an ihr so blöd aussahen.

Die Großmutter hatte immer alle Entscheidungen getroffen. Die unzufriedene Marie versuchte schon manchmal dagegen anzukämpfen. „Tête de bourrichon! Du sollst doch nicht so eitel sein, du Dickkopf!“ Mit einem paar Ohrfeigen hatte sie das Problem gelöst. Sie wusste es eben besser.

Fernande, als einzige der vier Kinder von Elisabeth, - die anderen hatten den richtigen Weg verfolgt, den geraden, der von ihrer Mutter für sie bestimmt worden war - hatte gemeint, andere, eigene Vorstellungen davon zu haben, was für sie gut war, und sie hatte sich entschlossen, ihnen zu folgen und hatte sogar gewagt, mit neunzehn von zu Hause wegzulaufen und den brotlosesten Weg einzuschlagen - eigentlich keinen Weg, bloß ein „passetemps“, ein durchaus schätzbarer Zeitvertreib für gutsituierte Menschen. „Aber Künstler, die nicht wohlhabend sind und von ihrer Kunst leben wollen, sind Luxusprostituierte: sie müssen sich verkaufen“, sagte meine Großmutter.

Die Dickköpfigkeit von Fernande hatte schwere Konsequenzen gehabt. Für sie selbst erstmal: es hatte sie nämlich, wie von meiner Großmutter vorausgesehen, in die Misère der Bohème geführt. Und direkt in die Arme eines angeblichen genialen Menschen, der sich Künstler nannte, den aber Elisabeth gleich als schwachen Menschen erkannt hatte, beim einzigen Mal, wo er ihr vorgestellt wurde. Dieser eigenwillige Weg von Fernande hatte leider auch Konsequenzen für ihre Tochter, die sie, nicht mal in ehelichen Verhältnissen - vielleicht war es auch besser so, fand doch nachträglich die Großmutter - mit dem schwachen Menschen gezeugt hatte. Und für die sie unfähig war zu sorgen, wie es sich herausstellte. Nicht zu sprechen von dem Vater, einem deutschen Emigranten. Er war unfähig, sich in seiner neuen Heimat anzupassen und sein Brot zu verdienen, geschweige denn, eine Familie zu versorgen. Er war depressiv geworden und krank, und sowieso bald gestorben, noch bevor Marie auf die Welt kam.

Dies alles war die Schuld des Bruders meiner Großmutter, sie hatte es schon vorausgesehen. Nur weil er ein zwar lieber, aber schwacher Mann war, der gern in seinen freien Stunden einen Pinsel in die Hand nahm, und sich für die Begabung seiner Lieblingsnichte Fernande und deren Werke begeistert zeigte, hatte er sie ermutigt auf diesem Weg ins Verderben. Die Großmutter hielt ihn für schuldig am Unfug ihrer Tochter und hatte ihm die Tür verboten.

Die Großmutter hatte wenigstens versucht zu retten, was noch zu retten war, und es sich zur Aufgabe gemacht, aus dem armen kleinen Wesen etwas Ordentliches zu machen, als ihre Tochter mit der Sorge für ihr Kind nicht zurecht kam, weil sie es kaum schaffte genug für sich selbst zu verdienen.

Und jetzt war beinahe alles umsonst. Die zermürbende Mühe für eine so alte Frau, die schon als Witwe vier Kinder erziehen musste, die Sorgen in den schwierigen Nachkriegsjahren. Jetzt gerät das undankbare Kind unter den Einfluss ihrer Mutter und ihres unfähigen Künstlermilieus.

„Kunst ist ein schöner, aber brotloser Zeitvertreib.“ Nicht dass die Großmutter wirklich was gegen die schönen Künste hätte. Sie selbst war nicht unbegabt und stammte aus einer zwar nicht sehr vermögenden, aber ziemlich kultivierten Beamtenfamilie. Sie hatte gern als junges Mädchen mit dem Bruder Polo Aquarelle gemalt; die Eltern sahen das auch mit Vergnügen. Aber deshalb hätte sie sich nicht für eine Künstlerin gehalten, man hätte sie ausgelacht: „Une artiste, et puis quoi encore!“. Zum Kunstgenuß genügten wohl die Museumsbesuche, bei denen sie ihre Enkelin mitnahm. Aber zum Leben, „tu m´entends, ma petite,“ brauchte man was Ordentliches, was Solides in der Hand, besonders solange Marie keinen reichen Mann heiraten würde.

Der ideale Beruf für Marie, das wusste ihre unfehlbare Großmutter, war sicher - „und, vor allem, dass du mir nicht auf die Idee kommst, selbst eine ‚Künstlerin‘ zu werden, das verbiete ich dir, du siehst doch bei deiner Mutter, „c´est bon pour crever de faim, c´est tout5 -nein, das beste für Marie war, Lehrerin zu sein. Ein interessanter Beruf, mit dem man seine Unabhängigkeit erreicht, das beste, womit eine Frau sich behaupten kann. Denn Elisabeth war eine fortschrittliche Frau.

„Ich habe doch alles für dich geopfert!“ Sie hatte so viel Mühe gehabt, ohne Hilfe, in diesen extrem widrigen Umständen, dieses Kind ihrer verdorbenen Tochter zu erziehen. Sie hatte so viel Hoffnung in dieses Mädchen gesetzt. Und jetzt war fast alles umsonst gewesen.

Marie bedauerte sehr, die Erwartungen ihrer Großmutter enttäuschen zu müssen. Aber es gab jetzt „Rives“. Das konnte die Großmutter nicht verstehen, so gern sie es ihr mitgeteilt hätte.

Voilà. Das brave Mädchen will nicht mehr weg von hier. Die dunkle Dreckbude, die sie bei ihrer Ankunft so erstickt hat, ist ein warmes Heim, ist Freiheit geworden, Licht. Die Unbekannten sind Freunde. Mit diesen Gefährten erforscht sie die neue Welt.

Wie ist es gekommen? Das hat sie vergessen. Es dauerte. Und dann, irgendwann: sie war da. Dann musste sie mitlachen. Die Unordnung hat sie nicht mehr gesehen. Etwas in ihr, das sich früher dunkel gesehnt hatte - sie hatte nicht mehr gewusst, dass es in ihr war - kam jetzt ans Licht: es hatte sein Haus gefunden. Sie konnte rennen, hüpfen, in die Bäume klettern. Bäume pflanzen.

Ferien...hier singen die Sonne und die Steine. Die Gräser streifen mich. Ich möchte nicht, dass der Zug mich wieder von hier fortnimmt.

Die Häuser, hoch und schwarz, sind näher gekommen und enger zusammengerückt. Zurück..., sie hat gesagt, ich muss zurück. Ich verstehe nicht, Großmutti, was willst du von mir?

Wie willst du, dass ich verstehe, da, diese warme und belebende Luft, die mich ergreift, meinen Körper umarmt, - mein Körper, was ist das? -

Da, was ist dieses hier? Aus welchem Stoff die kleinen tollen Blätter, die mich streicheln, wenn ich vorbeilaufe?

Sag mir - was ist los?

Ich werde mich hier hinsetzen, auf einen Stein am Rand dieses Weges, bis ich weiß, was mit mir geschieht.

Ich hatte den Zug genommen. Ich war hier angekommen. Und jetzt muss ich wieder weg.

immer wieder den Zug nehmen

ankommen

wegfahren

vielleicht werde ich nie aufhören, in Rives anzukommen

„Rives“ hat nicht bezahlt! Das ist der Kriegsruf meiner Großmutter. Ihre vernichtende Missachtung für die NichtPersonen meiner Mutter und ihrer Komparsen.

Rives. Bezahlen.

Die Ferien, die Träume, endlich zu leben, das Licht, die Freunde. Bezahlen.

Das Geld. Die Aufgaben, die Schule, samstags zu Hause, beim Fleischer ganz am Ende der Hauptstraße einkaufen, weil er der beste ist und auch der billigste.

Aber nein Großmutti, du irrst dich, sie sind sehr lieb hier in Rives. Hier ist es sehr gut für mich. Sie tun alles, was sie können, sicher werden sie das Geld schicken.

Deine Großmutter! Dieser alte Drachen. Da siehst du doch, was sie mit dir anstellt!

Der bissige Mann mit der schottenkarrierten Mütze will mit hartem Geschoss das Bild derjenigen, die-alles-für- mich-geopfert-hat, zerstören.

Lasst mich in Ruhe!

- Lasst doch die Kleine in Ruhe! mischte sich Judith ein, die Alte ist doch nicht so schlecht. Immerhin hat sie Marie die notwendige Sicherheit gegeben. Glaubt ihr, ihr hättet wie die Alte mit eurer chaotischen Künstlerboheme dem Kind einen Halt geben können? Ich bewundere diese Frau mit ihrer wahnsinnigen Energie, die hat echt Mumm.

- OK, könnte Tony darauf geantwortet haben, die hat Kraft, die alte Zicke, aber sie ist ein echter Tyrann. Ich verstehe nicht, dass du sie verteidigst. Du weißt doch, wie sie schon mit allen Mitteln versucht hat, Fernande zu unterjochen.

Judith: - Und du, was machst du? Komm, du bist nicht viel anders, du hältst Fernande in deiner Abhängigkeit. Du spielst dich als großer Boss auf, machst alles hier, sogar das Kochen, ich will nicht sagen, dass es ein für Frauen reservierter Bereich ist, ich finde es schon toll, dass du das machst, außerdem schmeckt´s, aber du gibst ihr keine Gelegenheit etwas Selbstständiges zu entwickeln...

Tony: - Stimmt doch nicht, Fernande will es nicht. Eines kann sie gut: das ist die Kunst. Aber du weißt doch, dass sie alles Praktische verabscheut, kommt von ihrer schrecklichen Mutter, die sie zwingen wollte. Sie kann´s wirklich nicht...

Judith: - Quatsch! Wenn sie müsste, könnte sie´s. Nein, Tony, du magst es gern, den großen Retter zu spielen, den großen unersetzlichen Mann, ohne den nichts laufen würde. Und jetzt mischt du dich in Maries Angelegenheiten ein, wobei die Arme zwischen der Oma und euch beiden hin und her geschaukelt wird, es wird an ihr von allen Seiten gezogen und gerüttelt, wie an einem Kartoffelsack...

Lass sie doch mal in Ruhe.

Lasst mich in Ruhe!

lasst mich jetzt hier sein. ich versuche zu begreifen. es gibt Dinge, die sich öffnen. es gibt seltsame Blumen, klein, aus prallem Stoff, die zwischen den Steinen herausspringen und ihre Harmonien aus blassen Blütenblättern steigen lassen.

Mein Körper an der Luft.

Der Körper, das war früher, etwas, das versteckt war. Was man unbedingt verstecken musste. Eine geheime Sache. Nur für sich. Was man jedoch manchmal reinigen musste. Dieses Wasser, was herunterrinnt. Ekelhaft. Und dann. Ja, es gab auch Augenblicke. Etwas Heißes. Manche Spiele. Aufregend... Und auch allerlei Ängste, Schamgefühle. So genau wusste man nicht, was man damit sollte. Manchmal ein bestimmtes Unbehagen. Eine Beklemmung.