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Vladislav Bajac

Das Buch vom Bambus

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Vladislav Bajac

Das Buch vom Bambus

Roman

Aus dem Serbischen von

Angela Richter und Jana Mayer-Kristić

Herausgegeben von

Nellie und Roumen Evert

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Die edition Balkan im Dittrich Verlag
ist eine Gemeinschaftsproduktion mit
CULTURCONmedien

Die Übersetzung dieses Buches wurde unterstützt von:

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Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch TRADUKI, ein literarisches Netzwerk, dem das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, Kultur-Kontakt Austria, das Goethe-Institut, die Slowenische Buchagentur JAK und die S. Fischer Stiftung angehören.

REBUBLICA OF SERBIA – MINISTRY OF CULTURE; MEDIA AND INFORMATIC SOCIETY

Bibliografische Information der Deutschen

INHALT

Erster Teil

Zwischenwort

Zweiter Teil

Editorische Notiz

ERSTER TEIL

I

Obuto Nissan zog sich an und machte sich zur morgendlichen Besichtigung der Haine seines Herrn auf. Gewöhnt an die Einsamkeit, in der er so viele Jahre lebte, pflegte er beim Laufen Selbstgespräche zu führen. Seinen Entschluss, sich nicht unter die Leute zu mischen, wenn es nicht nötig war, hatte er wenige Monate nach der Hochzeit, am Todestag seiner Auserwählten gefasst. Das ganze Jahr über wütete in der Gegend die Pest und alles, was Nissan zu begreifen vermochte, war die Unendlichkeit menschlichen Leids. Als er schließlich einsah, dass das Schicksal ihn nicht um sein Leben bringen würde, meldete er sich bei Daimyō Bonzon als Hüter der entlegensten Bambushaine auf dem Berg Shito. Von da an stieg Nissan volle dreißig Jahre nicht vom Berg herab. Die einzige Berührung mit Menschen kam zustande, wenn einmal im Verlauf mehrerer Monate einer der Zen-Priester des Tempels Dabu-ji auf seiner Pilgerschaft in seine Hütte einkehrte um sich auszuruhen.

Sein Lohn wurde ihm einmal im Jahr von einem der Aufseher des Herrschers, dem Samurai Ishi gebracht, zusammen mit Nachrichten aus dem Kaiserreich. Mit ihm tauchten zur Bambusernte gewöhnlich auch Arbeiter auf, die nach verrichteter Arbeit zu ihren entlegenen Häusern zurückkehrten, ohne mit Nissan auch nur ein einziges Wort gesprochen zu haben. Nissan verbrachte seine Zeit in Gesellschaft des Riesengrases, dessen Seele er gar zu kennen glaubte.

An diesem Morgen erwartete ihn eine besondere Aufgabe: Er nahm Werkzeug mit, um das größte Bambusrohr der Plantage zu schneiden, und zwar auf Anweisung des Aufsehers Ishi. Der hohe Bambus schien sich zu sträuben und Nissan brachte all seine Kraft auf, um ihm beizukommen. Einige Stunden später lag der Bambus zu seinen Füßen. Müde ließ sich Nissan auf den Stamm nieder, starrte versunken auf die endlosen Reihen des Heeres, dessen Anführer er war. Er hatte die Angewohnheit, sich oft mit seinen Soldaten zu unterhalten. Diesmal antwortete ihm auf eine seiner Fragen ein undeutlicher Ton aus dem Stamm, auf dem er saß. Nissan erhob sich langsam, neigte seinen Kopf in Richtung Ton und wiederholte die Frage. Als er aus dem Innern des Stammes ein deutliches Klopfen vernahm, sprang er vor Schreck zur Seite.

»Da drinnen muss ein Tier sein. Aber wie ist es hineingekommen?«, fragte sich Nissan laut.

»Das werde ich dir nicht sagen, aber hilf mir hier heraus«, antwortete ihm eine schrille, deutliche Stimme.

Nissan sprang auf und versteckte sich schnell hinter dem erstbesten größeren Bambus. Von dort aus starrte er auf das, was sich vor seinen Augen abspielte.

Aus dem Bambusrohr krabbelte ein Kind, richtete sich auf und streckte seine Arme nach ihm aus. Nissan machte große Augen; er konnte einfach nicht glauben, was er da sah. Er rührte sich nicht von der Stelle. Das kleine Mädchen sprach:

»Ich fürchte mich nicht vor dir. Warum kommst du nicht zu mir?«

Nissan sammelte sich und eilte zu ihm hin. Noch immer gebührlich Abstand haltend, fragte er:

»Wer bist du?«

»Ich heiße Kagujahime. Ich habe niemanden und bin gekommen, um bei dir zu leben, falls du mich aufnimmst.«

»Aber woher bist du gekommen?«, fragte Nissan, um noch ein wenig Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

»Na, du hast es doch gesehen. Aus dem Bambus.«

»Hmm. Du wirst mir das später erzählen.« Er fasste einen Entschluss. »Ich nehme dich als meine Tochter auf.« Danach beendete er wortlos die begonnene Arbeit, während Kagujahime ihn schweigend beobachtete.

Gemeinsam machten sie sich zu Nissans Hütte auf. Die Kleine nahm dabei seine Hand. Er beobachtete sie heimlich aus dem Augenwinkel und schritt beinahe stolz aus. Bis jetzt hatte niemand Schutz bei ihm gesucht, geschweige denn seine Hand gedrückt!

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Kagujahime war erst zehn Jahre alt, doch sie verrichtete alle häuslichen Arbeiten flink und geschickt und machte Nissans Hütte zu einem echten Heim. Auf einmal hatte alles seinen Platz, jeder Winkel strahlte Ruhe aus. Nissan war überglücklich, hatte aber Sorge, nicht imstande zu sein, ihr seine Dankbarkeit zu zeigen. Doch die Kleine bemerkte auch das geringste Zeichen seiner Aufmerksamkeit und gab ihm das deutlich zu verstehen.

Immer wenn die Zen-Mönche bei Nissan einkehrten, zog sie sich, nachdem sie diese bedient hatte, sittsam in einen Winkel des Raums zurück und reagierte lediglich auf Nissans Geheiß. Nach und nach, angespornt von ihrer Zurückgezogenheit, bezogen sie die Kleine ins Gespräch ein. Es stellte sich heraus, dass sie sehr flink im Denken und sehr gebildet war.

Ein Jahr später vollzog sich auch eine erste merkliche Veränderung in Nissans Verhältnis zu den Menschen oder besser gesagt: der Menschen ihm gegenüber. Der Samurai Ishi war nicht der Einzige, der sich für die kleine Kagujahime interessierte. Die Plantagenarbeiter erfanden nach und nach verschiedene Ausreden, um irgendwie zur Hütte zu kommen oder diese gar zu betreten, und alles nur, um die Kleine zu sehen. Nissan fragte sich, was sie an ihr so interessant fanden. Er sah sie als Kind wie jedes andere auch. Und erst, als er zufällig einem Gespräch zweier Tagelöhner lauschte, begriff er, dass sie von der anmutigen Schönheit der Kleinen sprachen. An sie gewöhnt, hatte er sie nicht auf diese Weise betrachtet.

In den folgenden Jahren ebbte die Neugier der Leute nicht ab. Im Gegenteil, immer mehr Reisende kehrten in ihrem Heim ein, wiederum mit Hilfe verschiedener Ausflüchte. Egal, wer kam, er musste einen starken Grund haben, zu ihnen heraufzusteigen, denn ihre Hütte lag keineswegs an irgendeinem Weg. Nissan hatte sie an einem Ort erbaut, der den Leuten keine Einkehr bieten sollte. Von neuen Durchreisenden hörte er, dass die ganze Provinz um Kagujahime weiß und sie vom Volk Prinzessin genannt wird. Diese Nachricht stimmte Nissan traurig; selbst wenn sie ihre Zukunft nicht erahnen ließ, war das recht beunruhigend für das gemeinsame Glück. Er war nicht egoistisch, aber die immer häufigeren Besuche unbekannter Leute störten ihn zusehends. Kagujahime verstand ihn und ließ ihn wissen, dass sie sich jeder seiner Entscheidung beugen werde. Nissan entschied schnell und verkündete: Bis zum zwanzigsten Lebensjahr der Kleinen werde er niemanden mehr, ausgenommen die Zen-Mönche und Bonzons Aufseher, in seinem Heim aufnehmen. Das erlaubte ihm das Gesetz, und es half: Alle unnötigen Besuche blieben aus.

Fortan lebten sie abgeschieden wie in früheren Zeiten. Nissan widmete sich der Tochter und der Arbeit und verdrängte dabei die unangenehmen Gedanken über den Ablauf der Frist für seinen Entschluss. Die Zeit nahm auch weiterhin unsichtbar ihren Lauf und verschwand nur scheinbar von der Oberfläche des Geschehens.

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Es waren fast zehn Jahre vergangen und Kagujahime hatte nicht ein einziges Mal den Wunsch nach Veränderung des ruhigen Lebens zu zweit geäußert. Nissan wusste nicht, ob sie sich ihrer außerordentlichen Schönheit bewusst war, die jetzt auch er wahrnahm.

Es rückte der Zeitpunkt heran, da das Besuchsverbot für ihr Heim ablief. Angst vor dem baldigen Verlust der Tochter beschlich ihn. Er schob das auf sein bereits vorgerücktes Alter. Wenn es ihm auch gelang, die Zweifel zu zerstreuen, die Vorahnung von bevorstehenden stürmischen Ereignissen konnte er nicht vertreiben.

Alles begann mit dem Auftauchen eines Gesandten von Prinz Godoh, der dessen bevorstehenden Besuch bei Nissan ankündigte. Nissans Unruhe wurde durch das unveränderte Verhalten der Tochter gemildert. Dennoch sah er dem Prinzenbesuch mit Anspannung entgegen. Und der, verzaubert von der Schönheit Kagujahimes, nannte sie Prinzessin. Kagujahime ließ sich nicht beirren. Auf des Prinzen Angebot, seine Frau zu werden, antwortete sie ihm, dass sie akzeptieren werde (worauf Nissan sich vor Schmerz wand), aber unter einer Bedingung: Er müsse ihr beim nächsten Vollmond sagen, wie viele Sterne es am Himmel gibt. Der Prinz zeigte sich überrascht, versprach jedoch, einen Versuch zu machen.

Nach mehreren Wochen kam der Gesandte um mitzuteilen, dass der Prinz nicht erfolgreich war, weil die Nächte viel zu kurz waren, um alle Sterne zählen zu können. Obwohl der Prinz seine Garde zur Mithilfe beim Zählen einsetzte, vermochte er nicht, den Himmel in gleichmäßige Segmente zu teilen, damit unter den Zählenden Klarheit darüber herrschte, von wo aus und bis wohin sie ihre Sterne zählen sollten.

Kagujahime lächelte nur geheimnisvoll und übermittelte dem Prinzen einen Gruß. Nissan zitterte vor Aufregung, als ihm klar wurde, dass er nicht mehr wegen künftiger Freier in Sorge um sie sein musste. In den darauffolgenden Jahren wimmelte es vor Nissans Haus nur so vor Verehrern Kagujahimes, aber kein einziger schaffte es, die verschiedenen Aufgaben zu lösen, die die Prinzessin stellte. Sie nannten sie nunmehr »die Uneinnehmbare«. Diese ihre neue Eigenschaft stachelte die größten Krieger des Kaiserreichs an, vor ihr hartnäckig, doch ohne Erfolg all ihre größten Vorzüge zur Schau zu stellen. Doch Kagujahime blieb auch weiterhin eine uneinnehmbare Festung und gab ihre Hand niemandem.

Und dann kündigte auch der Shogun Osson der Jüngere sein Kommen an. Der wiederkehrende Kummer fesselte Nissan ans Bett. In seinem bereits hohen Alter konnte er seine Liebe zu Kagujahime schwer zügeln. Er wollte ihr nicht zeigen, dass ihr mögliches Fortgehen der Grund seines Unglücks war. Sie versicherte ihm, dass ihr abschlägiges Verhalten gegenüber den Freiern nicht von seiner Ergebenheit ihr gegenüber verursacht sei. Das beruhigte ihn ein wenig, kurierte ihn aber nicht.

Der Shogun traf mit großem Gefolge ein. Nachdem er in der Nähe von Nissans Hütte sein Lager errichtet hatte, ließ er wissen, dass er mit einem festen Entschluss gekommen war. Kagujahime jedoch verhielt sich zu ihm wie zu den übrigen Freiern. Der Shogun hatte Mühe, die Erniedrigung zu verkraften, aber er ertrug sie. Er ließ sich auf die erteilte Aufgabe ein: Es galt, alle eintausendzweihundert Bambusarten Japans, Chinas und Indiens zu benennen. Die Hälfte davon wuchs in seinem Land, aber es gab keinen Menschen, der sie alle kannte, außer Obuto Nissan selbst. Ihn konnte er nicht um Hilfe bitten. Der Shogun sandte Leute aus, verschickte Bittbriefe und Befehle überall im eigenen Land und auch in andere Länder; er wartete ein ganzes Jahr auf Antworten, ohne in die Residenzstadt zurückzukehren. Obwohl er versuchte, das Land von diesem Ort aus zu regieren, vernachlässigte er dennoch zahlreiche Staatsgeschäfte und brachte nach Einschätzung anderer das Land in eine gefährlich unsichere Lage. Den Schmerz unglücklicher Liebe linderte er, indem er in seinem zeitweiligen Heim zahlreiche Kurtisanen empfing.

Die endgültige Liste des Shoguns reichte Kagujahime nicht. Am Boden zerstört, ersuchte er vor seiner Rückkehr in die Residenzstadt um ein Gespräch unter vier Augen mit dem Mädchen. Aller Stolz war von ihm gewichen und er bekannte ihr seine Liebe wie auch seinen Entschluss, bis ans Ende seines Lebens keine einzige andere Frau zu heiraten. Kagujahime war von einer solchen Ergebenheit tief berührt. Sie beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen, die sie vor allen verborgen hatte.

»Beim nächsten Vollmond werden meine Wächter vom Mond herabsteigen und mich zurückholen – das ist nämlich mein eigentliches Zuhause.«

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Der Shogun reiste ab, schickte aber schleunigst zweitausend Soldaten, die von den ergebensten Samurai angeführt wurden, um Kagujahimes Fortgehen zu verhindern. Vergebens. Bei Vollmond verschwand Kagujahime einfach so. Obuto Nissan verließ sein Bett nicht mehr; der Bote des Shoguns kehrte mit einem von Kagujahime für den Shogun hinterlassenen Brief in die Residenzstadt zurück.

Keiner der Zeugen aus jener Zeit erfuhr den Inhalt dieses Briefes. Der Shogun Osson der Jüngere befahl, bevor er von den Heeren der aufrührerischen Machthaber geschlagen wurde, die feierliche Verbrennung des Briefes auf dem Gipfel des höchsten Berges im Land. So geschah es auch. Nach der erfolglosen Verteidigung der Hauptstadt stieg der Rauch des Briefes weiterhin aus dem Krater des Fuji auf, der auch Unsterblicher Berg genannt wird.

II

Über die Provinz Kagoshima senkte sich eine unruhige Nacht. Sie bestand aus Schichten, wie eine Festtagstorte: eine Schicht Stille, eine Schicht heiße Winde vom Meer. Wenn Wind aufkam, hatte man das Gefühl, einen zweigeteilten Körper zu haben: Bis zur Hüfte war einem kalt, man badete in dem Schweiß, den der Wind aus dem Körper presste und gleich danach, wenn er zurückwich, trocknete.

Der alte Osson kam sich vor wie eine vertrocknete Frucht, verdorrt vor Erwartung. Er dachte, dass das Stehen auf der Terrasse seine Aufregung verringern könnte, aber das führte nur zu einem Chaos im Organismus, in welchem in schwindelerregendem Tempo die Jahreszeiten einander ablösten.

Wenige Zimmer weiter brachte seine Frau, Prinzessin Konosakya, ihm ein viertes Kind zur Welt. Er wartete auf einen Erben. Den Zenit seiner Manneskraft hatte er bereits überschritten. Er musste einen Sohn bekommen. Seinen Töchtern hatte er die künftigen Ehemänner bereits zugeteilt; diese waren schon jetzt verpflichtet, mit ihren einflussreichen Positionen im Staat seinen noch größeren Einfluss auf den Shogun zu garantieren. Auch der Shogun selbst wusste, wie groß die Angst dieser wie auch aller anderen Edelleute vor Osson war. Ossons Gesetz war das Böse.

Sein persönlicher Diener Meno, der Inbegriff von Treue gegenüber allen Wünschen seines Herrn, näherte sich ihm von hinten und sagte mit verschwörerisch verzerrtem Gesicht: »Herr, der Arzt hat einen weiblichen Bambus genommen.« So lautlos, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder.

Osson machte vor Freude einen Luftsprung: Ein Messer aus weiblichem Bambus benutzte man zum Abtrennen der Nabelschnur bei einem männlichen Kind! Endlich war die Zeit gekommen, da sich so viele seiner Pläne verwirklichen würden. Die Freude an der Zukunft hob er sich für später auf und kehrte schnell in sein Regentenzimmer zurück. Niemand durfte erfahren, dass er bereits über das Geschlecht des Bambus informiert war.

Bald darauf brachte ihm die Dienerschaft der Prinzessin das Kind. Osson musste nicht so tun, als wäre er glücklich. Der Arzt teilte ihm mit, dass Kind und Herrin wohlauf sind. Als alle gegangen waren, gingen Osson und der Arzt in den Garten, um, wie es Brauch war, das Bambusmesser einzupflanzen. Der Arzt ließ es los, damit es ungehindert aus seiner Hand gleiten und sich in die Erde rammen konnte. Doch das Messer drehte sich im Fallen und bohrte sich mit dem Griff in den Boden. Der Arzt erbleichte, Osson wurde rot vor Wut. Für das Neugeborene wie für die ganze Familie war das ein schlechtes Omen. Osson reagierte blitzartig: Er führte den Arzt in einen anderen Hof, rief die Wache und befahl ihn unverzüglich zu köpfen. Schwerter blitzten auf. Das Leben des Arztes verlor sich in der Finsternis.

Meno zäunte auf Befehl den gepflanzten Bambus ein, damit ihn niemand mehr sehen konnte. Auf keinen Fall durfte er zeigen, dass er wusste, worum es ging, geschweige denn, dass er der einzige Zeuge des verhängnisvollen Fehlers des Arztes war. Das wären der Gründe genug, vom Leben Abschied zu nehmen. Er kannte seinen Herrn nur zu gut.

Obwohl er die Spur des schlechten Vorzeichens verschleiert hatte, blieb Osson nicht ruhig. Zu lange hatte er auf einen männlichen Nachkommen gewartet, um jetzt emotionslos ein Omen zu akzeptieren, dass ihm nicht passte. Er wünschte sich, dass sein Sohn den familiären Ruhm der starken Herrscher fortsetzen möge, und insgeheim stellte er sich jemanden aus der Familie des Großen Generals vor. Über den Sohn wollte er die Gunst des Shoguns nutzen. Der Herrscher saß gerade dank Ossons Clan recht sicher auf seinem Thron. Das Volk aus der Provinz Kagoshima beschwerte sich nämlich schon seit Jahren über die grausame Herrschaft Ossons und seiner Statthalter: über die zu hohen Steuern, die harten Geldstrafen, das Foltern von Gefangenen, das Morden wegen eines Vergehens. Kurzum, über die unaufhaltsame Willkür. Der Shogun indes konnte und wollte nichts gegen Osson unternehmen. Osson war für den Shogun, der befürchtete, dass andere Daimyōs ihn vom Thron stürzen könnten, eine Stütze, jemand, auf den er jederzeit rechnen konnte. Das wussten auch die anderen. Osson wiederum war dem Shogun nicht aus irgendwelchen romantischen Gründen treu, sondern wegen seiner strengen militärischen Erziehung, die ihn gelehrt hatte, sein ganzes Leben lang widerspruchslos dem Shogun zu dienen. Er behielt für sich die althergebrachte Eigenart des Hagakure-Kodex bei, der für ihn – wie veraltet er auch erscheinen mochte – eigentlich zahlreiche Zugeständnisse und Privilegien bereithielt. Osson war der einzige Daimyō, der sich noch derart streng an einige der uralten Samurai-Regeln hielt. Und das hieß, dass er in einigen Situationen auch der einzige Privilegierte war. Das grobe Verhalten wurde vom Shogun stillschweigend gebilligt. Solange Osson dessen Zuneigung genoss, schaltete und waltete er nach Gutdünken und hielt damit die anderen Daimyōs von Versuchen ab, den Palast anzugreifen. Mit eiserner Disziplin hatte er die stärkste Armee im Staat geschaffen und hielt mit ihr die anderen in Schach. Ein jeder hing vom anderen ab. Damit schien der Kreis unveränderbaren Geschehens ständig geschlossen.

Aber nun wurde Ossons Zufriedenheit von einem »entstellten« Bambus mit seinem Unheil verheißenden Omen gestört. Es beschlich ihn die Angst, seinen Traum nicht verwirklichen zu können: seinen Sohn zu einem noch grausameren Herrscher ausbilden zu können, als er selbst einer war, und damit zu einem noch gefährlicheren und dem Shogun noch näher stehenden.

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Unruhe schlich sich mit Macht in Ossons Tage, und besonders in die Nächte. Wenn sich alle friedlich ihren Träumen überlassen hatten, schlich er zu seinem Jungen, begutachtete ihn von allen Seiten, um eventuell irgendeine Veränderung zu erkennen. Aus Argwohn wechselte er in weniger als einem Monat mehrere Ärzte. Jeder versicherte ihm, dass das Kind völlig gesund sei, was er auch selbst genau sehen konnte. Doch das alles war ihm nicht genug. Er beschloss, mit dem Schicksal zu paktieren. Er wusste, dass er damit eine Strafe des Geheimwissens riskierte, jenes, das die menschliche Kraft auf die Probe stellt und künftige Ereignisse stört. Die Ungewissheit war stärker als die Angst. Als sie ganz von ihm Besitz ergriff, machte er sich zu den Bergen von Kanaka auf, angezogen wie ein Diener, begleitet lediglich von Meno.

Die Wahrsagerin fanden sie im dichtesten Nebel, am dritten Tag des Umherirrens durch die fast undurchdringlichen Wälder Kanakas. Sie saß in der Vertiefung eines großen Stammes, eingehüllt in spinnwebenartige Schleier, und beständig lachte sie über etwas, das ihnen weder bekannt noch lächerlich war. Osson fühlte sich zum ersten Mal verlassen. So als wäre er ganz nackt, ohne sein ansonsten stets vorhandenes Selbstbewusstsein.

Als sie sprach, war das so, als würde die Alte nur die Hälfte der ausgesprochenen Worte aus dem Hohlraum lassen, der sich Mund nannte, in dem es keine Zähne gab. Ihr Reden ähnelte eher einem Zischen.

»Sicher fragst du dich, warum ich lache? Na, auch du würdest das tun, könntest du dich sehen, wie ich dich sehe. Warum ist nicht jener berühmte Osson gekommen, der Herrscher, sondern hat dich geschickt?«

Osson verstand den Vorwurf, doch wie er sich auch mühte, es gelang ihm nicht, die verlorene Selbstsicherheit wiederzuerlangen.

»Er ist nicht da, alte Frau. Ein schlechtes Omen quält ihn.«

»Herr, du bist lächerlich. Aber ich bin an solche gewöhnt. Und ich bekomme auch keinerlei andere Gestalten zu Gesicht. Zu mir ist noch niemand gekommen, der glücklich und besonnen ist. Niemand, der eine schlechte Nachricht hören will. Alle kommen aus Angst oder voller Angst und alle möchten hören, dass sich ihre schönen Träume bewahrheiten. Doch das gibt es nicht.«

»Gibt es etwa keine Ausnahmen?«

»Nein. Vielleicht wirst du die erste!«

Wollte sie ihm helfen oder spielte sie nur? Oder genoss sie seine Ohnmacht?

»Osson, du bist ein starker Herrscher, aber ein übler Mensch. Dein Sohn wird eines von beiden sein. Was du mehr fürchtest, das unterstütze. Dein Sohn wird dem Shogun nahe sein. Er wird sogar seinen Sturz verursachen. Nun geh!«

Meno, der ein bisschen weiter im Gestrüpp hockte, zitterte vor Angst; auf diese Worte hin stürmte er mit den Pferden zu seinem Herrn und trieb ihn mit übermäßiger Dienstbeflissenheit zum Verlassen des Ortes an. Osson schwang sich auf sein Pferd und dachte dabei über die Worte der Alten nach. Er sah in ihnen nichts Schlechtes, und so fühlte er sich, je weiter sie ritten, immer besser. Der Diener betrachtete ihn aus dem Augenwinkel, versuchte dabei die Veränderungen in seinem Gesicht zu erfassen, das der einzige Beweis für alles war, was auch er gehört, aber nicht verstanden hatte. Als sein Herr plötzlich heftig sein Pferd anschrie, ihm die Sporen gab und über die Lichtung jagte, schrie Meno froh auf und folgte ihm. Das war das Zeichen, dass sein Herr seine Sicherheit zurückgewonnen hatte.

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In dem Maße, wie der kleine Nachfolger heranwuchs, verbrachte Osson immer mehr Zeit mit ihm. Zum wer weiß wievielten Male die Worte der Wahrsagerin durchgehend, nachdem er schon lange bestimmt hatte, wovor er sich am meisten fürchtete, nutzte Osson jede Gelegenheit, in seinem Sohn den Keim des unantastbaren Bösen einzupflanzen. Für ihn hing das Maß der Tauglichkeit jeglichen Vorgehens von der Quantität und Subtilität des Bösen ab. Er wollte seinen Sohn von dem Dilemma befreien, die Art und Weise zur Lösung einer Aufgabe wählen zu müssen. Macht war seiner Meinung nach ausschließlich eine Folge der dunklen Seite eines Charakters. Die Möglichkeit des Herrschens über Menschen und Situationen aus Güte schloss er aus. Jene war eine menschliche Schwäche und kein Charakterzug. Eine solche konnte in Verbindung mit Macht keine Ehrfurcht hervorrufen.

Ein erster Schritt war die Isolierung des Kindes von anderen Kindern. Es galt ihn zu überzeugen, dass er anders ist. Er musste ihn in allem unterweisen, damit der Junge größtes Wissen anhäufte und alles am besten wusste. Von leichter Auffassungsgabe, lernte er schnell. Voller Vertrauen akzeptierte er des Vaters Auswahl von Lösungen. Noch war er nicht in der Lage, selbst die eine Auswahl der anderen vorzuziehen. Das ganze Geheimnis der Erziehung lag laut Osson in langwierigen Vorbereitungen zur Vermeidung unerwünschter Dilemmata und das ließ sich in der Mehrzahl der Fälle mit umfangreichen und ernsthaften Vorarbeiten bewerkstelligen. Die ganze Mühe, den Kampf mit einer noch nicht existenten Aufgabe zu bestehen, sollte einen idealen, außerordentlich intuitiven und ungemein praktischen Herrscher hervorbringen. Er nutzte das Beispiel seines Erfolgs, demzufolge ihn alle für einen begabten Mann hielten, der in sehr kurzer Zeit auch das schwierigste Problem in den Griff bekam. Niemand wusste, wie viele fingierte Sachverhalte Osson gelöst hatte, bevor ein konkretes Dilemma tatsächlich eintrat. Hier lag das Geheimnis seiner Brutalität, sie ging hervor aus den in der Praxis noch nicht erprobten, aber in Gedanken bereits gefassten Beschlüssen. Wie sich herausstellte, waren einige nur für ihn sichtbare Details bereits in Schubladen systematisiert und ermöglichten so sein schnelles Reagieren. Die Rechtmäßigkeit der Lösung gehörte in eine andere Welt oder besser – in eine Welt, die für Osson nicht existierte.

Osson der Jüngere entwickelte sich immer mehr zu einem schönen und vor Kraft strotzenden jungen Mann. Sein Vater war mit den Ergebnissen der körperlichen und geistigen Ausbildung, die er seinem Sohn hatte angedeihen lassen, zufrieden. Schon stellte er ihn allmählich hinsichtlich selbständiger Entscheidungen auf die Probe. Der junge Mann verhielt sich nach den Regeln der genossenen Erziehung, worauf der Vater unverhohlen stolz war.

Im Land blieb das Kräfteverhältnis zwischen den Herrschern unverändert. Das einzig Sichtbare war das hohe Alter, das Osson und der Shogun erreicht hatten. Seit der Shogun seine Zuneigung zu Ossons Nachkommen kundgetan hatte, sahen sie sich häufiger. Der junge Mann begann seinen Herrscher nun auch unangekündigt aufzusuchen, und alsbald hatte er unbegrenzten Zutritt zu jedem Ort. Sein Sohn präsentierte sich allerorts als bescheidener und wohlerzogener Mann; dessen ausgezeichnete Schauspielerei und vor allem sein eigener Beitrag zu einer derartigen Fähigkeit des Sohnes versetzten Osson in Erstaunen. Sein Ziel hatte er fast erreicht. Er kündigte seinen Rückzug und die Ausrufung seines Sohnes zum Herrscher über die Provinz Kagoshima an. Der Shogun gab sein Einverständnis und schon bald wurde der junge Herrscher aus dem Osson-Geschlecht als neue Hoffnung des gespaltenen, nur scheinbar friedlichen Staates gepriesen. Der junge Mann kam allerdings nicht dazu, Nuancen seines Charakters zu zeigen. Die nachfolgenden Ereignisse überraschten ihn in einer sehr seltsamen Situation. Seine Ausrufung als Herrscher der Provinz machten sich alle Daimyōs für einen Aufstand zunutze, nicht gegen Osson, son dern gegen den Shogun. Ermutigt von Ossons Rücktritt, drangen die Herrscher anderer Provinzen, die bis dahin geduldig waren, mit ihren Armeen in die Residenzstadt vor.

Als er von dem Aufstand hörte, versammelte der junge Mann seine Truppen und machte sich mit dem Segen des Vaters zur überfälligen Verteidigung des Shoguns auf. Der Übermacht so vieler Armeen gegenüber seiner eigenen war er sich bewusst, doch die in ihm kochende Wut verhieß auch für seine Gegner nichts Gutes. Diese sahen das offensichtlich voraus, und so erwartete ihn vor den Toren der Residenzstadt eine Überraschung. Alle Daimyōs empfingen ihn friedlich, mit Fahnen signalisierten sie Verhandlungsbereitschaft. Hinzu kam eine weitere Überraschung: Sie boten ihm die Position des Shoguns an! Sie versuchten ihn davon zu überzeugen, dass er der Einzige im Lande war, der für eine solche Verantwortung geeignet wäre. Er bat um einen Tag Bedenkzeit und zog seine Armee von den Stadtmauern zurück.

Er witterte Betrug, war aber nicht in der Lage, die Sache zu durchschauen. Doch es hatte auch keinerlei Sinn, das Angebot ohne plausiblen Grund auszuschlagen. Ein Kampf gegen alle, wozu ihn eine abschlägige Antwort verpflichten würde, brächte keinerlei Gewissheit. Was würde ihm sein Vater in einem solchen Fall raten? Nun, sicherlich raffinierter als die anderen zu sein. Denn falls es zu viele Unbekannte gibt, lass wenigstens die Zeit für dich arbeiten, sie wird dir eine Lösung offerieren! Zeit hieß hier – Zustimmung zum Angebot.

Die Daimyōs nahmen die Zustimmung mit Erleichterung auf, nicht ohne Angst vor dem Ungewissen der Antwort. Im übrigen bedeutete das die Erreichung ihrer Ziele: dem äußerst jungen und unerfahrenen Herrscher möglichst viele Pflichten aufzuerlegen, sich selbst dadurch von solchen Pflichten zu befreien, und seine Überlastung und sein mangelndes Zurechtkommen für das ungestörte Herrschen über die eigenen Provinzen und auch über ihn selbst auszunutzen. In dem Moment, da man ihre Absichten und die bereits erfolgten Taten durchschauen würde, wäre es zu spät. Dann käme abermals eine Zeit, über neue Gründe zum Sturz des Shoguns nachzusinnen.

Keiner von ihnen vermochte alles vorauszusehen. In dem jungen Osson, dem mehr als alles andere der Frieden im Land am Herzen lag, überwog der Wunsch nach Bestrafung der Herrschermörder. Nach seiner Amtsübernahme erfuhr er nämlich, dass sie den alten Shogun weder geschont noch ihm Seppuku gestattet hatten. Seiner Position unwürdig, hatten sie ihn umgebracht und mit ihm die gesamte Familie. Deshalb handelte er unverzüglich. Er berief alle Herrscher zu einer wichtigen Absprache ein und befahl seinen Samurai, sie ausnahmslos alle zu köpfen. Seine Heerführer ernannte er zu neuen Herrschern und schickte sie in die Provinzen, damit sie mit ihren neuen Armeen das Begonnene zu Ende bringen konnten.

Osson kam zu seinem Sohn an den Hof und lobte überglücklich dessen weise Entscheidungen und grausamen Taten. Er fragte sich, wo das schlechte Omen von der Geburt des Sohnes war. Die Worte der Wahrsagerin hatten sich erfüllt! Sein Sohn war sogar auch ein starker Herrscher geworden. Aber ja! Nach ihren Worten konnte er nicht gleichzeitig ein schlechter Mensch sein. Allein die Möglichkeit, dass sein Sohn ein Guter werden könnte, war für Osson niederschmetternd. Bisher hatte der Sohn Entschlossenheit demonstriert, und da war für Güte kein Platz. Der öffentliche Gerichtsprozess gegen den Samurai, der den Shogun vor seiner Ermordung gequält hatte, konnte kein Zeichen der Schwäche des neuen Herrschers sein, als vielmehr ein bis dahin unüblicher Anstand gegenüber dem Vorgänger. Das verschaffte ihm übrigens viele Anhänger im Volk. Osson glaubte, dass dieses Vorgehen seines Sohnes ein wohl kalkulierter Schachzug war. Oder er redete sich das nur ein.

Sowohl der Vater als auch alle ihm Nahestehenden gingen daran, den jungen Shogun zu überreden, dass nunmehr die Zeit gekommen sei, an Nachkommen zu denken. Daher verkündete der Shogun bald darauf, dass er eine gewisse Prinzessin, die keine ist, namens Kagujahime zur Frau nehmen werde, die Tochter des Hüters der Haine, eines seiner Untertanen. Ihr Vater Obuto Nissan sei auch nicht ihr wirklicher Vater. Man sage von ihr, dass sie einem Bambus entsprungen sei. Schnell stellte der Shogun seine Begleitung zusammen und machte sich zu seinem Schicksal auf. Die Brautwerbung dauerte ein ganzes Jahr …

III

Am zweiten Tag seiner Regentschaft wurde der junge Osson von Lärm im Hof des Palastes geweckt. Kurz darauf erschien Meno, bis vor kurzem Diener seines Vaters, sichtlich erregt und erschrocken in den Gemächern.

»Herr, verzeih, dass ich dich behellige, aber an den Hof ist Seko gekommen, der persönliche Samurai des verstorbenen Shoguns. Er möchte sich dir anvertrauen, bevor er in der Frühe Seppuku begeht und sich zu seinem Herrn gesellt.«

Osson nickte zustimmend und die Wache führte den Angekündigten herein.

»Was ist es, das dich so sehr quält, dass du jetzt kommen musstest?«

»Herr, ich schäme mich, das einzugestehen. Seit dem Tag, an dem unser Shogun ermordet wurde, verstecke ich mich. Wegen meiner Ohnmacht gegenüber dem, was ich gesehen habe und wegen meiner Feigheit; werde ich in der Morgendämmerung aus diesem Körper entweichen. Ich möchte, dass du meine Zeugenaussage als Ersatz für meine Angst annimmst.« Er reichte dem Shogun einen zu einer Rolle geformten Brief, der zugebunden und versiegelt war.

»Ich bitte dich aber, ihn erst nach meinem Tod zu öffnen. Ich wollte dir in die Augen sehen, um sicher zu sein, dass du ihn erhalten hast. Ich würde dich nicht mit meiner Anwesenheit beleidigen, wenn der Brief nicht wichtig wäre. Mögen dir andere besser dienen als die Vormaligen des toten Herrschers. Leb wohl.«

Seko verneigte sich und ging hinaus.

Am Morgen setzte Meno den jungen Osson davon in Kenntnis, dass der Samurai sein Gelübde verwirklicht hatte.

Der Brief enthielt sehr unangenehme Fakten über die letzten Stunden im Leben des Shoguns; er trug die Unterschrift des Samurai Seko. Im ersten Moment verschlug es dem jungen Osson die Sprache, und dann überkam ihn eine unmäßige Wut. Er rief Meno zu sich und befahl die Zuführung des Samurai Senzaki durch die Palastwache. Dieser befand sich im Gefängnis, weil er mit weiteren Männern verdächtigt wurde, an der Ermordung des alten Shoguns und seiner Familie beteiligt gewesen zu sein.

Er sprach kurz mit Senzaki, danach erteilte er seinen Heerführern den Befehl, dass die Zusammenkunft, die er für heute mit seinen aufständischen Herrschern einberufen hat, ohne dass er selbst auftauchen werde, nicht ein einziger Daimyö lebend verlassen dürfe. Bis zum Ende des Tages sickerte in der Residenzstadt die schreckliche Geschichte von der Köpfung aller Statthalter des einstigen Shoguns durch.

Am nächsten Tag verkündete Osson seine Entscheidung, dem Samurai Senzaki den Prozess zu machen.

Als dieser einige Tage später begann, waren alle Anwesenden verwundert, dass auch Osson kam, der erklärte, dem ganzen Prozess beiwohnen zu wollen.

Zunächst wurde die Anklageschrift verlesen, in der Senzaki der grässlichen Folter des Herrschers bezichtigt wurde, die zu dessen Tod geführt habe. Die Anwesenden waren schockiert. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Schändung eines Shoguns nicht zulässig ist.

Im Brief des Samurai Seko wurde die Foltermethode des Anführers mit einem bis dahin unbekannten Mittel beschrieben. Man hatte den Shogun auf eine fest eingelassene Bank gelegt und ihn auf dem Bauch liegend darauf festgebunden. Die Bank hatte zwei Vertiefungen: eine runde für den Bauch und eine zweite, etwas engere, in Höhe der Augen des Shoguns, sodass er die Bodenfläche unter sich sehen konnte. Exakt unter die Öffnung für den Bauch pflanzten die Soldaten einen Bambussetzling und zogen sich dann zurück. Senzaki blieb in der Nähe, um die Wuchsrichtung des Bambusstängels zu kontrollieren. Aus der Erde schoss ungezügelt der schnell wachsende, in Japan von allen Arten am meisten verbreitete Madakebambus seinem Ziel entgegen. Zur Überwindung der Distanz von sechzig Zentimetern bis zur Bank brauchte er etwa zwölf Stunden. Ein aufmerksamer Beobachter, und ein solcher war Senzaki als auch der sich versteckt haltende Seko, konnte sehen, wie der Setzling gedieh. Als der Shogun Zeichen des Schmerzes zu zeigen begann, ließ Senzaki die Wache nach den Daimyōs schicken. Der Setzling bahnte sich mit seiner scharfen Spitze fast zwei Stunden lang einen Weg durch den Körper des Shoguns. Bis der Bambus den Rücken durchbohrt hatte, war der Shogun lebendig. Mit letzter geballter Kraft verkürzte er seine Qualen, indem er seinen Kopf auf die Bank aufschlagen ließ. Das war das Ende.

Senzaki gab die Tat, wegen der Anklage gegen ihn erhoben worden war, nicht zu. Er wiederholte, dass der Shogun ohne Folter umgebracht worden sei und dass er die Todestrafe ausgeführt habe, auf Befehl der Daimyös. Weder die eine noch die andere Wahrheit ließ sich beweisen: Der Körper des Shoguns wurde nicht gefunden.

Das Gericht verurteilte Senzaki zum Tode.

IV

Mein Geliebter,

erst jetzt, da ich durch andere Gewölbe wandle, die sich von denen unterscheiden, auf deren Oberfläche Du voller Trübsal und Leidenschaft zurückgeblieben bist, darf ich gestehen, wie viel von meiner Liebe ich bei Dir gelassen habe. Du müsstest sie spüren wie das Bündel Holz, das Du zum Feuermachen in Dein Haus getragen hast: Es ist hier, aber es ist nicht schwer. Und wie hast Du dieses Bündel verwendet? Du hast es nicht als Ganzes in den Ofen getan und angezündet, sondern immer nur Scheit für Scheit, um die Kohle zu entzünden. Und wann hast Du es gebraucht? Immer dann, wenn Dir kalt war. Hat es Dir geholfen, eines der Rätsel des Lebens zu lösen? Nein, aber es hat Dir die Möglichkeit eingeräumt zu beginnen, in Ruhe darüber nachzudenken. Hat es Dich ein wenig gewärmt? Ja, das ist sicher.

Als Du das ganze Bündel verbrannt hattest, war da nur noch Asche übrig oder hast Du in Deinem Blut noch die Wärme der einstigen Flamme gespürt?

Ich habe zehn Jahre meines Lebens in Pflanzen verbracht, wissend, dass es Dich gibt. Weitere zehn bei meinem Pflegevater, Deinem Untertanen mit dem schönsten Beruf der Welt. Jenen wunderbaren Hüter Deiner Haine habe ich ins Unglück gestürzt, um Deiner ansichtig zu werden. Ich weiß, dass ich ihn auch glücklich gemacht habe.

Niemand weiß, und es muss auch niemand wissen, dass ich nur wegen unserer zwei Begegnungen existiert habe, und wegen eines einzigen Jahres, in welchem ich in Deiner Nähe war.

Weit weg von Deinem Land lebt ein Tier, das von den Menschen König der Tiere genannt wird. Es ist tatsächlich das stärkste, schnellste, schlauste und furchteinflößendste Tier. Alle Menschen und Tiere wissen, dass es der König ist, nur das Tier selbst weiß das nicht. Es scheint fast alles zu können, als gäbe es keine Hindernisse. Und wenn es sich vor dem Menschen in Sicherheit bringt, geschieht das nicht aus Angst, sondern aus List und Schläue.

Das Schicksal des alten Shoguns und seiner Mörder ist mir bekannt. Verbrecher muss man bestrafen, nicht aber den Madake. Der Bambus hat eine Seele, aber das weißt Du nicht. Er würde niemals einen menschlichen Körper durchbohren. Er würde ihn berühren und sich einen anderen Weg suchen, würde einen Umweg machen. Pflanze einen in Deinem Heim, und zwar so, dass er über sich ein Hindernis hat, ganz gleich aus welchem Material. Du wirst sehen, er wird nicht einmal versuchen hindurchzukommen, sondern er wird wie die Weinrebe Raum, nicht Gegenstände für sein Leben fordern. Menschen wachsen und leben durch andere Menschen, Positionen, Gegenstände, nicht durch Raum, der ihr geistiges Zuhause ist. In ihm gibt es keine Hindernisse, denn hier kämpft der Mensch mit sich selbst, mit seinem Willen, seiner Kraft. Hier gibt es keine Materie.

Deshalb kann man eine Person sein ganzes Leben lieben, wenn man sich dazu entschließt: Das ist abermals ein Kampf mit sich selbst, nicht aber ein Kampf gegen sich.

Hast Du Dich jemals gefragt, was es heißt, erfolgreich zu sein, und besonders ein erfolgreicher Herrscher zu sein? Ist das Herrschen vielleicht die schlimmste Form, persönliche Unzufriedenheit zu offenbaren, das Scheitern der Aussöhnung mit sich und seinen Einstellungen? Die unnachgiebigsten (und eigentlich tyrannischsten) Herrscher sind die unglücklichsten Menschen auf der Welt. Ihre undefinierbare Unruhe versuchen sie durch den Kampf um die Macht zu kompensieren. Obuto Nissan hat mir einmal Wissen darüber vermittelt, das er in zwei Sätzen zusammenfasste:

1) Wenn Du nicht gelernt hast, Dich selbst zu beherrschen, wirst Du es vermutlich über das Herrschen über andere lernen. Wenngleich vergessen wird, dass das Herrschen über andere mit der Zeit die Notwendigkeit auslöscht, (über) sich selbst zu (be-)herrschen.

2) Wenn Du nicht gelernt hast, Dich selbst zu beherrschen, wirst Du das vermutlich durch das Herrschen über andere kompensieren.

Die Wahrheit über ein unerfülltes Leben wird einzig auf dem Sterbebett zugegeben. Diejenigen, die das selbst dann nicht begreifen, spüren vor dem Dunkel des Todes als Letztes einen seltsam bitteren Geschmack im Mund. Sie wissen nicht, dass jenes Bittere das Unglück ist. Und das Glück? Glück hat sich stets durch etwas eingestellt, was man am wenigsten erwartet: durch eine Hand auf dem Bauch der Gebärenden, durch eine gleichmäßig geformte Schöpfkelle, die in die Suppenschüssel eintaucht, durch ein Wort, das Dir gehört, aber von einem anderen ausgesprochen wird, durch einen Blick zum armseligen Himmel, aus dem eine Sternschnuppe ihren nicht vorhandenen Schenkel herausstreckt … Es gibt wenige weise Menschen, die nicht versuchen, aus ihrem Alltag das an die Oberfläche zu bringen, was ihnen wichtig erscheint. Denn die Größe gewöhnlicher Dinge hängt davon ab, welche Wichtigkeit und Größe wir ihnen beimessen, und man braucht ihnen nicht gegenüber anderen den Vorrang zu geben. Alle kleinen Dinge sind gleichermaßen schön, notwendig ist lediglich, sie in ein seidenes Knäuel ohne Knoten einzuwickeln und es kullern zu lassen.

Von hier aus, von wo ich auf Dich schaue, sieht alles, was Du siehst, ganz anders aus. Schlachten sind wie ein sinnloses Jagen nach dem Wind. Diejenigen, die sich für groß halten, sind genauso klein oder groß wie alle anderen. Als Obuto die Haine abschritt, bestaunte er nicht die erdachten Formen und Besonderheiten des Bambus, sondern das, was er auf ihm sah und das, was er von ihm wusste. Einzig das, was er im Unterschied zu anderen sah und wusste, unterschied ihn von ihnen. Er war auf der Suche nach etwas, was hier in seiner Nähe war, klein, einfach, alltäglich, aber existent und nicht jenseits des Lebens, das er führte.

Wenn der Mensch sich in seiner Umgebung nicht zu finden vermag, gäbe es ihn besser gar nicht. Die Umgebung ist immer nahe, mitunter zu nahe, um von uns wahrgenommen zu werden.

Kagujahime

V

»Habe ich mit meinem früheren Leben abgeschlossen?«, fragte ich mich, als ich vor dem verschlossenen Tor des Klosters Dabu-ji stand. »Bin ich mir sicher, dass die Vergangenheit wirklich Vergangenheit bleiben wird?« Natürlich war ich mir nicht sicher. Ich wünschte es mir zwar, glaubte aber, meinen Wunsch nach Vergessen leichter erfüllen zu können, wenn ich mir sagte, die Vergangenheit gebe es nicht. Aber wie, wenn es sie nun einmal gab? Ich suchte nach einem Weg, der das bereits Geschehene nicht leugnen, aber die Reste der Vergangenheit mit dem Willen aussöhnen würde, ein mir unbekanntes Ziel zu erreichen. Ich suchte nach etwas, was auf mich wartete. Etwas Vertrautes zu wählen, war keine Lösung. Ich musste es zulassen, dass mich neue Erfahrungen von der Fäulnis befreien, die sich wie ein Spinnennetz über meine Seele gelegt hatte.

Als schlimmster Feind erweist sich das, was bleibt. Der Mensch kämpft gegen größten Schmerz an, ohne nachzudenken oder einen Plan zu haben, weil die Natur ihm befiehlt, sich zur Wehr zu setzen. In einem solchen Moment sucht man nicht nach einer Lösung, sondern nur nach Schutz, nach einem Ausweg aus dem Schmerz. Ist der Sieg nicht vollkommen, erweist sich das, was von der Verletzung zurückbleibt, als schlimmer denn die Verletzung selbst. Man weiß nicht, wie man mit den Überbleibseln umgehen soll, kann ihnen nichts anhaben, denn sie zu besiegen, heißt, eine erprobte, sichtbare, sichere Lösung zu haben. Und das wiederum erfordert einen starken, abgebrühten Kämpfer, der mit dem Sieg etwas anzufangen weiß. Wer ausgelaugt ist, weil er einen Fels bezwungen hat, besitzt nicht mehr die Kraft, auch noch die Steinchen aufzusammeln, und er wird verletzlicher denn zuvor, als die Trompeten zum Angriff riefen.

Genauso stand ich nun vor dem großen, hölzernen Tor von Dabu-ji.

Es wurde mir von jemandem geöffnet, den ich nicht sehen konnte. Vielleicht war es aber auch von selbst aufgegangen. Vor mir lag ein beidseits von jungen Bambuspflanzen gesäumter Kiesweg, der zur Veranda von einem der Gebäude führte. Auf einem breiten Treppenabsatz mit einer Bank blieb ich stehen. Über ihr begann die blitzsaubere Veranda aus dunklen, glatten Dielen. Ich setzte den Hut ab, machte den Gürtel auf, nahm mein Bündel vom Rücken und legte alles vor mir ab. Um mich bemerkbar zu machen, schlug ich die Glocke, dann holte ich das Papier mit meinem Bittgesuch hervor. Halb auf der Bank sitzend beugte ich mich vornüber und ließ den Kopf auf meine Hände sinken, die auf dem Bündel lagen. In dieser Haltung wartete ich, dass jemand kommt. Nach mehr als zwei Stunden, in denen ich mich nicht zu rühren wagte, hörte ich Schritte näher kommen. Ohne den Kopf zu heben, sah ich eine Hand, die mein Bittschreiben aufhob. Eine Stimme fragte:

»Wer bist du?«

»Mein Name ist Cao und ich möchte hier Unsui werden.«

»Bei welchem Röshi hast du früher gelernt?«

»Ich hatte keinen Lehrer außer meinem Willen.«

»Warte einen Augenblick«, und weg war er.

Ich harrte noch einige Stunden in derselben Haltung aus, bevor ein zweiter Mönch erschien.

»Dieses Kloster hat genug Schüler. Wir können dich nicht aufnehmen.«

Ich blieb hartnäckig und bewegte mich keinen Zentimeter. Ich wusste, dass man meine Ausdauer und Willenskraft auf die Probe stellt und mich nicht aus den Augen lässt. Die Schmerzen im Rücken, in den Knien und in den Zehen wurden stärker. Gegen Abend kam der erste Mönch wieder.

»Hier herrscht strenge Disziplin. Geh besser an einen anderen Ort.«

Für mich, einen Anfänger, konnte es keinen anderen Ort geben. Gäbe ich jetzt auf, würde sich das schnell herumsprechen, und kein einziges Kloster würde mich mehr aufnehmen. Ausschlaggebend war einzig meine Ausdauer.

Die Schmerzen wurden unerträglich, doch ich presste mich weiter fest an meine Hände und den Boden unter mir. Niwazume verlangte nicht nur Bewegungslosigkeit, sondern auch vollkommene Stille. Ich ging auf keinen der abweisenden und beleidigenden Sätze ein, die man an mich richtete. Hätte ich auch nur ein Wort gesagt, wäre ich sofort hinausgeworfen und nie wieder durch ein Shöji gelassen worden.

Es wurde Abend. Den Körper spürte ich nicht mehr. Ich glaubte jeden Moment zusammenzubrechen. Da kam ein Mönch herbei und stellte mir eine Schale mit Reis hin. Mit langsamen Bewegungen, die meine Schmerzen und die Angst vor der Ohnmacht verbergen sollten, setzte ich mich auf und aß. Sogleich nahm ich wieder meine vorherige Haltung ein. Diesmal musste ich nicht lange warten. Man sagte mir, dass ich im Tankaryo übernachten könne und am Morgen das Kloster verlassen müsse. Die dünne Schilfmatte, die ich erhielt, schien mir so bequem, dass ich einschlief, sobald ich mich hingelegt hatte. Ich hatte weder Träume noch Albträume. Ich schlief nur ein, und als ich einen Augenblick später wieder wach wurde, war es Morgen. Schnell rollte ich den Futon zusammen und nahm am Platz vom Vortag, entgegen der gestrigen Aufforderung, den Garten zu verlassen, wieder meine demütige Haltung ein. Ein wenig an den Schmerz im Körper gewöhnt, ertrug ich das Warten auf neue Herausforderungen leichter. Zu Mittag erhielt ich, begleitet von neuen Kränkungen, dasselbe Essen wie am Vortag. Gegen Abend war aller Schmerz von zuvor ausgelöscht, betäubt von Schwellungen an Armen und Beinen. Ich fühlte, dass auch mein Gesicht aufgedunsen und geschwollen war. Der Mönch erschien erneut.

»Da du den aufrichtigen Wunsch zu haben scheinst, zu uns zu kommen, werden wir dich ins Tankaryo lassen. Glaub aber nicht, dass jetzt alles in Ordnung ist und deine Mühen abnehmen werden. Es kann dir jederzeit passieren, dass wir dich hinauswerfen.«