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Jennie Hermann

Backstreet Girl

Projektionsfläche Popstar –
Wenn der Fan zum Schriftsteller wird

Bestandsaufnahme und analytische Untersuchung
einer literarischen Nischengattung

Die Autorin

Jennie Hermann, Jahrgang 1976, hatte bis zum Jahr 1996 noch kein Popkonzert live erlebt. Darüber hinaus war ihr jeglicher Fanatismus fremd. Doch dann kam der 19. Juni 1996, ein Tag, der ihr Leben veränderte: Ein Live-Auftritt der Backstreet Boys löste bei ihr eine langjährige, intensive Fan-Leidenschaft für die amerikanische Boygroup aus – insbesondere für einen der Jungs.

Sie besuchte daraufhin nicht nur zahlreiche Konzerte der erfolgreichen Band, sondern reiste ihnen hinterher und lernte sie persönlich kennen. Ihre Leidenschaft führte sie bis nach Amerika, an jenen Ort, nach dem sich die Backstreet Boys benannten, über London wieder zurück nach Deutschland zu diesem Buch.

Bereits während ihrer Fanzeit begann die ambitionierte Schreiberin ihre Geschichte – und gleichzeitig die vieler anderer junger Frauen jener Zeit – aufzuschreiben und immer wieder zu reflektieren.

Nach ihrer Ausbildung zur Industriekauffrau studierte sie Kulturwissenschaften an der Universität Hildesheim. Hier konnte sie sich neben Kunst, Theater und Medien intensiv mit Kreativem Schreiben und Fantum auseinandersetzen. Als sie ihre fast vergessene Leidenschaft während des Studiums wieder einholte, machte sie das Thema zu ihrer Diplomarbeit. Heute arbeitet Jennie Hermann im Bereich Public Relations und Marketing.

Das Buch ist eine überarbeitete Fassung ihrer Diplomarbeit „Projektionsfläche Popstar – Wenn der Fan zum Schriftsteller wird. Bestandsaufnahme und analytische Untersuchung einer literarischen Nischengattung“ aus dem Jahr 2006 an der Universität Hildesheim.

Für Christian, Bettina und Kevin

Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. existiert seit 1998 und sammelt – als bisher einzige Einrichtung dieser Art in Europa – vor allem authentische Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der interessierten Öffentlichkeit in seinen derzeit 300 m2 umfassenden Bibliotheksräumen kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt das Archiv der Jugendkulturen auch eine umfangreiche eigene Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen, Vereine etc., bietet jährlich bundesweit rund 120 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert eine eigene Zeitschrift – das Journal der Jugendkulturen – sowie eine Buchreihe mit sechs Titeln jährlich. Das Archiv der Jugendkulturen e. V. legt großen Wert auf eine enge Kooperation mit Angehörigen der verschiedensten Jugendkulturen und ist daher immer an entsprechenden Angeboten, Reaktionen und Material jeglicher Art interessiert. Die Mehrzahl der Archiv-MitarbeiterInnen arbeitet ehrenamtlich.

Schon mit einem Jahresbeitrag von 48 Euro können Sie die gemeinnützige Arbeit des Archiv der Jugendkulturen unterstützen, Teil eines kreativen Netzwerkes werden und sich zugleich eine umfassende Bibliothek zum Thema Jugendkulturen aufbauen. Denn als Vereinsmitglied erhalten Sie für Ihren Beitrag das Journal der Jugendkulturen sowie zwei Bücher Ihrer Wahl aus unserer Jahresproduktion kostenlos zugesandt.

Weitere Infos unter www.jugendkulturen.de

archiv

der jugenkulturen e.v.

INHALT

Einleitung

TAGEBUCH

Intro

We’ve got it going on

Just to be close to you

You’re the one for me

I live my life the way to keep you coming back to me

Don’t leave me hanging here forever

Nobody but you

I’m looking for a sign in the things you do (I wanna be with you)

I deserve a try honey, just once

There is nobody who can make me cry, nobody – but you

Everything I do is for you

‘Cause I’m holding on with a love so strong

Backstreet’s back, alright?!

I might break down and cry just like a child

Tell me why can’t I be there where you are

It’s not that I can’t live without you

Once we were lovers, just lovers we were – you and I, what a lie

Outro

FANTUM

Fantum – eine Annäherung an ein Phänomen

Der Fan von Popstars und Popmusik. Ein Typologisierungs-Versuch

Weiblicher und männlicher Fan – (k)ein Unterschied?

Fantum – eine Suche nach den Ursprüngen.
Geschichtlicher Rückblick auf ein Phänomen

Der Fan als Schriftsteller

Das Schreiben als Akt des individuellen Fanausdrucks

Bücher von Fan-Autoren

Auswahl der Bücher von Fan-Autoren

Der Auslöser – wie und warum Fan-Autoren zu Fans wurden

Fan-Autorentypen

Analyse der Bücher von Fan-Autoren

Allgemeine Charakteristika der ausgewählten Fan-Texte

Aufbau und Struktur der Fan-Texte

Autobiografie und Tagebuch – ein Exkurs

Inhaltliche Aspekte der Bücher von Fan-Autoren

Sprache und Stil in Büchern von Fan-Autoren

Sonderform des fanspezifischen Schreibens – Fanfiction

Zielgruppen von Fan-Autoren

Typologie der Fan-Autoren

Fazit und Ausblick

INTERVIEWS

Elf Autoren über ihr Fantum und ihre Texte

Dagmar Vogt

Rosi Kieffer

Reni Kieffer

Yvonne Zarski

Ingrid Klages

Frederic Laudenklos

Claudia Zantopp

Christian Gasser

Caroline Sullivan

Frank Schäfer

Kerstin Grether

Die „andere Seite“. Interview mit einem erfolgreichen Musiker

ANHANG

Literatur- und Quellenverzeichnis

Thank Yous

EINLEITUNG

Fantum ist eine sonderbare, wunderbare, manchmal erschreckende Sucht.

Fantum ist eine sonderbare, wunderbare, manchmal erschreckende Sucht, die sich in allen Populärkulturen industrialisierter Gesellschaften findet. Sie führt dazu, dass Menschen sich verändern, sich selbst nicht wieder erkennen, wie besessen reagieren oder sich gar selbst aufgeben. Sind Fans besessen? Oder werden sie vielmehr besessen – zum Beispiel von Popstars oder Popmusik?

In diesem Buch geht es um Fans von Popstars und Popmusik, die über ihr eigenes Fantum ein Buch veröffentlicht haben. Zwei Bereiche der Kulturwissenschaften – die Populärkultur und die Literatur – treffen sich hierbei in einer kleinen, bisher wissenschaftlich unbeachtet gebliebenen literarischen Nischengattung. Die dazu zählenden Bücher sind hier Untersuchungsgegenstand und sollen dabei helfen, das Phänomen Fantum weiter zu erfassen und zu durchleuchten.

Für den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Analyse nutzte ich als methodisches Vorgehen im Sinne der Cultural Studies meine eigenen Erfahrungen1. Vor 13 Jahren wurde ich unvorhergesehen Fan der amerikanischen Boygroup Backstreet Boys und erlebte eine Fan-Karriere mit allen Höhen und Tiefen. Die Idee, aus diesen Erfahrungen ein Buch zu machen, entstand sehr bald. Doch erst durch Seminare im Rahmen des Studiums, in denen ich mich mit Kreativem Schreiben, dem Literaturmarkt, dem Thema „Autobiografie“ und dem Fantum beschäftigte, nahm das Wunschprojekt Form an.

Mein Manuskript war als Rohfassung fertig gestellt, als ich mich entschloss, das Thema zu meiner Diplomarbeit zu machen. Ich begann mit der Recherche nach Büchern ähnlicher Art und stieß auf eine kleine, versteckte Anzahl an Veröffentlichungen, mit denen Fans über die letzten Jahrzehnte als Schriftsteller auf den Büchermarkt getreten waren.

Um die Auswahl der Bücher einzugrenzen, beschränkte ich mich auf Bücher des deutschen Buchmarktes. Insgesamt wählte ich 14 Veröffentlichungen für die Analyse aus. Neben Texten deutscher Fan-Autoren befinden sich darunter auch ein Text eines schweizer Autors und zwei Übersetzungen amerikanischer Autorinnen. Die eigenen Fan-Erinnerungen stehen als Einführung und Beispiel am Anfang dieses Buches und sind ebenfalls Bestandteil der Analyse.

Im zweiten, wissenschaftlichen Teil begleiteten mich Grundfragen wie: Was sind es für Fans, die Bücher schreiben, und was hat das Schreiben für eine Bedeutung für sie? Wie unterscheiden sich die Bücher dieser Nischengattung und wie behaupten sie sich auf dem Büchermarkt? Ziel war es, herauszufinden, wie Fans sich schreibend mit ihrem Fantum beschäftigen und wie sie ihre Erfahrungen und Gedanken literarisch umsetzen.

Zunächst wird das Phänomen Fantum vorgestellt. Außerdem werden Begriffe, Eigenschaften und Geschichte des Fantums und Unterschiede innerhalb der Fans von Popstars und Popmusik thematisiert.

Die Analyse beschäftigt sich mit Fan-Autoren, ihrem Fantum und ihrem Schreiben. Es werden allgemeine Charakteristika von Fan-Texten aufgezeigt, auf Bezüge zur Autobiografie und zum Tagebuch eingegangen und der Textinhalt auf fanspezifische Merkmale hin untersucht. Entstanden ist keine rein klassische Analyse, vielmehr filtert die Untersuchung Auffälligkeiten und Charakteristika der Nischengattung heraus. Mit den gewonnenen Erkenntnissen wurde eine erste Typologie von Fan-Autoren erstellt.

Ausführliche Interviews, die ich mit elf Autoren und einem Musiker geführt habe, ergänzen die Arbeit im dritten Teil.

Fantum ist ein komplexes Phänomen. Es betrifft viele Bereiche wie zum Beispiel die Soziologie, Psychologie, Semiotik, Medienkunde und Kommunikationswissenschaft. Dementsprechend lieferte mir Fachliteratur aus vielen dieser Bereiche Ansätze und Erklärungen. Trotz der zunehmend positiven Bewertung des Fantums in der Wissenschaft ist das Negativ-Klischee vom unkritischen Fan, der weitgehend gedankenlos konsumiert, zumindest in den Medien immer noch weit verbreitet. Mit dieser Veröffentlichung versuche ich dieses Klischee weiter aufzulösen und bestehende Sichtweisen zu verändern. Neu ist dabei der Analysegegenstand, das heißt die veröffentlichten Bücher von Fans als auch den Fan als Schriftsteller zu betrachten.

Die untersuchte Nischengattung ist bislang weder theoretisch noch empirisch bearbeitet worden, deshalb haben viele Ausführungen heuristischen Charakter. Darüber hinaus erhebt die Veröffentlichung keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit. Vielmehr soll sie eine Einführung in die Nischengattung der Bücher von Fan-Autoren sein und einen ersten Überblick geben.

Fakt ist: Das Phänomen Fantum hat Aufmerksamkeit verdient. Es ist nicht nur ein aktuelles Jugendthema, sondern bewegt, verwundert und fasziniert seit langem viele Menschen in den unterschiedlichsten Altersklassen. Eine Sucht und Sehnsucht, die uns auch in Zukunft begleiten wird.

Jennie Hermann, Braunschweig, März 2009

1 Vgl. Lutter 2002, S. 21

Tagebuch

Intro

Die Backstreet Boys – Ende der 90er Jahre kannte sie jeder. An dieser Boyband kam niemand vorbei. Nick, AJ, Brian, Kevin und Howie waren die Lieblinge von Millionen von Mädchen, Müttern und sogar etlichen Jungs. Allein in Deutschland füllten sie Stadien mit über 30.000 Zuschauern.

Während die Backstreet Boys 1995 noch in weiten Basketball-Shirts und Baggy-Jeans als Vorband von DJ Bobo performten, lösten sie kurze Zeit später mit ihrer ersten eigenen Deutschland-Tournee eine flächendeckende Hysterie aus. Ihre Songs schossen in die Charts, die Jugendzeitschriften quollen über von Postern und Berichten, ihre Konzerte waren ausverkauft, die Hotels, in denen sie übernachteten, belagert. Alle waren verrückt nach den fünf Amerikanern.

Die Backstreet Boys tourten um die ganze Welt. Sie veröffentlichten sechs Alben und eine Best-Off-Compilation, die sich bis heute weltweit über 100 Millionen Mal verkauften.

Im Jahre 2000 verschwand die Boyband plötzlich von der Bildfläche. Dem Streit mit dem Management folgten Herz- und Alkoholprobleme. Die Backstreet Boys waren ausgebrannt. Sie hatten sich eine Pause verdient, mussten neue Kraft schöpfen und ihre eigenen Wege gehen.

Der einstige Publikumsliebling Nick floppte 2002 mit seinem Soloalbum und schaffte es danach nur noch, als Boyfriend von Paris Hilton Schlagzeilen zu machen. Leadsänger Brian heiratete, wurde Vater und widmete sich der christlichen Musik. Kevin heiratete ebenfalls und spielte zwischenzeitlich im Londoner Musical „Chicago“ mit. AJ machte einen Entzug wegen seiner Drogen- und Alkoholsucht. Um Howie blieb es ruhig.

Im Sommer 2005 wollten die Backstreet Boys es noch einmal allen zeigen. Mit einem neuen Album im Gepäck tourten sie erneut um den Globus. Doch das Comeback funktionierte nur mittelmäßig. Album und Singleauskopplung stiegen zwar in die Charts, aber die Konzerthallen füllten sich nur noch zur Hälfte. Die treuen Fans waren trotzdem überglücklich, die Jungs wiederzusehen, und feierten sie ohrenbetäubend. Woher ich das weiß? Ich war dabei – von Anfang an – und zwar ganz nah.

Vor fast zehn Jahren, als alles begann, hatten Boybands für mich keine Bedeutung. Ich hatte seit einem Jahr mein Abitur in der Tasche und wollte Industriekauffrau werden. Zusammengecastete Popgruppen, die auf der Bühne zappelten, fand ich lächerlich. Gut, als Zwölfjährige stand ich auf Patrick Swayze und Michael Jackson, aber mein Fantum beschränkte sich auf ein paar Poster an den Wänden. Meine kleine Schwester war da anders. Sie weinte vor dem Fernseher, wenn Take That, die erfolgreiche britische Vorgänger-Boygroup der Backstreet Boys, auftrat. Ich beäugte sie ungläubig.

Als Take That sich auflöste und damit eine Welle von Selbstmordgedanken bei jungen Mädchen lostrat, hielt ich das für übertriebenen Kinderkram. Ich fasste mich an den Kopf, wenn ich schreiende Fans im Fernsehen sah. Wie konnte man, um Himmels willen, beim Anblick eines hampelnden Milchgesichtes die Fassung verlieren? Wofür diese künstliche Aufregung? Das war doch nicht normal.

Was mir nicht bewusst war, war, dass man auch mit einem gewissen Alter nicht automatisch immun gegen diese besondere „Krankheit“ ist. Es gibt auch keinen speziellen Impfstoff dagegen. Obwohl ich mit meinen 20 Jahren weit über dem Durchschnittsalter eines BSB-Fans lag, infizierte ich mich am 13. Juni 1996 mit dem BSB-Fieber. Ich war nicht auf die Schnelligkeit vorbereitet, mit der sich das Fieber in mir ausbreitete. Es durchströmte mich, es bestimmte mich, es machte mich zu einem anderen Menschen.

Was ich in sieben Fieber-Jahren erlebt habe, erzähle ich in diesem Buch. Die Namen einiger Personen habe ich dabei aus Rücksicht verändert.

Das Buch beschreibt, wie mich die Welt einer Boygroup beeindruckt und aufgesogen hat. Es beschreibt aber auch, wie ich mich von meiner Faszination wieder befreit habe.

Die Geschichte ist für all diejenigen, die Ähnliches erlebt haben. Sie ist für diejenigen, die wissen wollen, wie es ist, einen Star zu „lieben“. Und sie ist für diejenigen, die diese Art von Liebe überhaupt nicht nachvollziehen können.

Bevor ich anfing zu schreiben, begann ich, alles herauszukramen, was sich in meiner Backstreet-Boys-Zeit angesammelt hatte. Ich baute mir einen Schreibplatz voller Erinnerungen, pinnte Fotos an die Wände, hörte BSB-Musik, schaute BSB-Videos, blätterte stundenlang in Zeitungsartikeln und begutachtete Konzertkarten und Dinge, die mein Backstreet Boy angefasst hatte und die ich aus diesem Grund nie hatte wegwerfen können.

Ich ließ mich noch einmal in die schönste und zugleich schlimmste Zeit meiner postpubertären Phase fallen.

Klar, dass ich meine Tagebücher mit anderen Augen las. Trotzdem sah ich alles genau wie damals vor mir. Es fing ganz harmlos an …

We’ve got it goin’ on

Braunschweig, 13. Juni 1996

Was für ein warmer, sonniger Frühjahrstag! Gegen 17.00 Uhr ruft mich meine Freundin Bettina an und verkündet, dass die Backstreet Boys in der Stadt seien. „Bitte wer?“ frage ich und überlege, wen sie meint. „Die sind echt süß“, schwärmt Bettina, „von denen ist doch das Video, das jeden Tag auf MTV läuft!“

Vergeblich versuche ich ihr zu erklären, dass ich diesen TV-Kanal nicht empfangen kann. Aber meine Freundin lässt nicht locker.

„Die sind total berühmt, lass uns doch mal hingucken!“

Berühmte Stars in Braunschweig? Eigentlich eine Seltenheit … Letztendlich willige ich ein, mit ihr an den Ort zu fahren, an dem die besagte Band ihr Konzert geben soll.

Ich interessiere mich eigentlich nicht für Popstars. Die letzte Bravo habe ich vor vielleicht vier Jahren gelesen … Mehr Zeit zum Überlegen bleibt mir nicht, Betty steht mit ihrem goldmetallfarbenen Golf II schon vor meiner Haustür. Ja, ich habe jetzt eine eigene Haustür! Seit ein paar Tagen wohne ich in meiner ersten eigenen Wohnung. Zu Hause wird es wegen meinen jüngeren Schwestern eng. Die werden immer größer und brauchen dementsprechend größere Zimmer. Außerdem beginnt meine kaufmännische Ausbildung bald und ich sollte langsam erwachsen werden (denken zumindest meine Eltern).

An der Eissporthalle ist die Hölle los. Vor dem Eingang hat das Rote Kreuz sein Areal durch eine Absperrung markiert und dahinter seine Zelte aufgeschlagen.

Das Konzert ist ausverkauft, deshalb gesellen wir uns zu den vielen jungen Mädchen und denen, die aussehen wie wartende Eltern. Was sich in der Halle abspielt, können wir nicht sehen. Dafür staunen wir über die gestressten Sanitäter, die vor uns ständig neue Bahren anliefern. 10- bis 14-jährige Mädchen mit schweißnassen Haaren liegen darauf. Mit dem Handrücken halten sie sich die Stirn. Bleich sind sie, die aufgestellten Knie schwanken kraftlos hin und her. Weitere Sanitäter versorgen sie mit Wasser, Decken und gutem Zureden. Vereinzelt gibt es eine Backpfeife. Ich traue meinen Augen kaum. Noch weniger meinen Ohren. Wie ein Windzug schriller Schreie, überdrehter Bässe und vereinzelter Töne heult es aus den Ritzen des Gebäudes. Und wenn die Musik von Zeit zu Zeit mit einem Paukenschlag verstummt, steigt der schreiende Geräuschpegel um das Doppelte. Was spielt sich im Innern dieser Halle ab?

Ich hatte ja schon Einiges gesehen, aber so etwas noch nicht. Ist das ein Scherz oder ist das ernst gemeint? Ist das ein normaler Zustand oder eine Ausnahme? Ich musste es herausfinden.

Mit einem Mal läuft ein Schwung Mädchen los. Bettina und ich rennen ohne nachzudenken hinter ihnen her, Richtung Hinterausgang der Eishalle. Ein Bild für die Götter. Wie von der Leine gelassene Pittbullterrier jagen wir und – sind zu spät. Der Polizeibus fährt an uns vorbei. Wir sehen nur noch, wie das Blaulicht auf der Straße immer kleiner wird. Wo wollen die Backstreet Boys hin?

Es ist kein Zufall, dass eines der Mädchen weiß, in welchem Hotel die Band wohnt. Woher soll ich auch wissen, dass das zur Taktik eines Boygroup-Managements gehört, um eine Band bekannt zu machen.

Bettina und ich haben Blut geleckt und nur eins im Kopf: Hinterher! Triumphierend eilen wir zu ihrem Auto. Außer uns hat niemand einen Führerschein, geschweige denn ein Auto. Wir knallen die Türen zu, bevor uns jemand ums Mitnehmen bitten kann, und geben Gas. Auf der Fahrt halten wir kurz inne: Was tun wir hier? Wir verfolgen die Backstreet Boys – eine Band, die zumindest ich nicht mal kenne. Aber wem so viele Mädchen hinterher schreien, der muss doch irgendwie toll sein. Und wir wollen wissen wie toll. Scheiß auf das Erwachsensein.

Die Backstreet Boys übernachten im Hotel Holiday Inn. Bingo! Das Hotel liegt direkt gegenüber meiner neuen Wohnung. Die Jungs könnten nachts heimlich zu mir herüberkommen, ja, eigentlich könnten sie gleich bei mir übernachten und sich das Hotel sparen. Es würde niemand erfahren. Betty und ich würden dichthalten und eine super Privatparty feiern. Welch unsagbare Vorstellung!

Vor dem Hoteleingang haben sich zu unserer Enttäuschung bereits etliche Teenies postiert. Sie stieren die Hotelwand hoch, danach lechzend, dass sich einer der „Hinterstraßen Jungs“ endlich aus dem Fenster hängt. Die können lange warten, denke ich abfällig. Mir vergeht unmittelbar die Lust, hier wie bestellt und nicht abgeholt herumzustehen. Dafür bin ich wirklich zu alt. Die Backstreet Boys würden doch niemals …

Doch – sie tun es. Einer von ihnen lehnt sich plötzlich aus dem Fenster im zweiten Stock, winkt und ruft:

„Hello!“

Ein Zweiter stützt sich über ihn und grüßt uns ebenfalls. Die beiden sind also der Grund, warum alle Mädchen so schreien? Die sehen doch ganz normal aus!

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13. Juni 1996: Hotel Holiday Inn in Braunschweig. Das Warten hat sich gelohnt. Ein Backstreet Boy lässt sich blicken.

Ein Mädchen neben uns singt einen Backstreet-Boys-Song. Ungläubig gucke ich sie an. Bettina grinst. Der Rest der Mädchen stimmt in den Gesang mit ein. Und dann passiert das Unglaubliche: Ich singe auch. Ich singe einfach mit, obwohl ich den Text gar nicht kenne. Bin ich von allen guten Geistern verlassen? Bettina jedenfalls scheint mein Verhalten nicht zu verwundern. Sie findet das Ganze völlig normal. Also ist es normal. Sie ist schließlich ein Jahr älter als ich.

Einer der Backstreet Boys lobt unseren Gesang:

„Beautiful, beautiful!“

Doch dann schließt sich das Fenster. Wir gaffen weiter, unsere Köpfe in die Nacken gekippt.

Es fängt an zu dämmern, doch das ist für uns kein Grund, nach Hause zu gehen. Im Gegenteil: Wir rühren uns nicht von der Stelle. Dafür wird ein anderes Mädchen ungeduldig. Weil es uns nicht erlaubt ist, in das Hotel zu gehen, versucht sie, das Fallrohr an der Hotelmauer hochzuklettern. Es wird gefährlich. Ich kombiniere: Fan sein bedeutet nicht nur, bei der Anwesenheit seiner Boygroup hemmungslos herumzuschreien, man riskiert dazu auch noch Kopf und Kragen. Das geht zu weit!

Wie wir so dastehen, fühle ich irgendetwas zwischen Peinlichkeit und Faszination. Was ist nur los mit mir? Bin ich schon infiziert? Etwa mit dem BSB-Fieber?

Einen Tag später finde ich mich am Kiosk um die Ecke wieder – ich kaufe eine Bravo. Danach führt mein Weg direkt zur Konzertkasse. Ich besorge mir zwei Karten für das nächste Konzert der Backstreet Boys in unserer Nähe. Es findet fünf Tage später in Hannover statt.

Just to be close to you

Hannover, 19. Juni 1996

Endlich ist er da, der große Tag. Die Sonne strahlt. Mein berufsvorbereitender EDV-Unterricht ist gähnend langweilig, so dass ich mittags einfach verschwinde. Bettina und ich müssen rechtzeitig in Hannover sein.

Gegen 14.00 Uhr steigen wir frisch geduscht in Bettinas Golf. Vier Stunden sind es noch bis zum Einlass. Das muss reichen.

Im Partnerlook fühlen wir uns einfach umwerfend. Dabei haben wir nur weiße, leicht taillierte T-Shirts und einfache schwarze Karotten-Hosen an. Ja, wir schreiben das Jahr 1996, da ist die Mode noch harmlos. Es gibt noch keine bauchfreien Tops, keinen Glitzerkram, keine offensiven Stiefel mit Pfennigabsatz, und trotzdem sind wir überzeugt, das passende Outfit für die erste Reihe zu tragen.

Als wir an der Eilenriedehalle in Hannover ankommen, wird klar, wie ahnungslos wir sind.

„Ach du Sch…!“, stöhnt Bettina beim Anblick der hundert lärmenden kleinen Schreihälse. Sie scheinen schon seit Stunden dort zu stehen, und wir verstehen endlich, warum es Mädchen gibt, die vor Konzerthallen übernachten.

Die Mädchenmasse entmutigt uns schlagartig. Wollen wir uns das wirklich antun? Ja, wir wollen und schieben uns in die Menge. Wenige Minuten später stehen wir eingepfercht zwischen 10- bis 16-jährigen Kinderkörpern und können weder vor, noch zurück. Kein schönes Gefühl in Anbetracht der Wartezeit, die wir noch vor uns haben. Ob wir das durchhalten?

Etwas abseits verkauft ein Mann Brezeln. Trotz knurrenden Magens ist es für uns undenkbar, uns aus dem Gedränge zu befreien. Bevor wir uns ganz hinten anstellen müssen, hungern wir lieber.

Die Menge beginnt, Songs der Backstreet Boys zu singen. Es wird anstrengend. Wir schauen uns hilflos um und blicken in verschwitzte Gesichter, deren Stirn und Wangen Schriftzüge wie „NICK“ und „BSB“ zieren. Wir passen hier nicht rein mit unseren zwanzig Jahren und fühlen uns extrem unwohl.

Die Masse ist so aufgeheizt, dass sie kocht. Der Geruch von süßlichem Kinderschweiß schneidet die Luft. Unsere Dusche am Mittag war vergebens, wir sind bereits komplett durchgeschwitzt.

Das Stehen und Warten wird unerträglich. Jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Wir verdrehen die Augen, unsere Stimmung ist dahin. Bettina hat höllische Paranoia, dass sich ihre Haare von der Feuchtigkeit locken. Zum Glück habe ich einen Schirm mitgenommen. Den spanne ich auf, um unsere Frisuren zu retten. Wie eine Kindergärtnerin rage ich aus dem Gedränge und schütze nicht nur Bettinas Haare, sondern gleichzeitig fünf weitere Schäfchen vor der Nässe.

So haben wir uns das nicht vorgestellt. Wir warten nun schon zwei Stunden. Es ist der reinste Stress. Aber wer ein echter Fan ist, beschwert sich nicht.

Alle fiebern dem Einlass entgegen. Immer öfter ertönt der Kampfesruf: „Wir wollen rein, wir wollen rein!“ Uns wird mulmig. Was, wenn jetzt Panik ausbricht und alle von hinten schieben? Wir sind kurz vor dem Aufgeben. Wären wir zwei 10-jährige, halbwüchsige Mädchen, wären wir längst kollabiert.

Endlich gehen die Türen auf. Die Menge schiebt sich ungeduldig vorwärts.

„Laaaaangsam!“, schreien die Securities von vorne.

Bettina und ich krallen uns aneinander, um uns nicht zu verlieren. Von hinten wird kräftig gedrängelt und wir haben Mühe, das Kleingemüse vor uns nicht zu zertrampeln.

Endlich sind wir drinnen. Ich schmeiße meinen Schirm in eine Ecke. Er hat das Gedränge nicht überlebt. Außerdem ist es uncool, mit einem Schirm in der Hand herumzulaufen.

Der erste Eindruck von der Halle ist enttäuschend. Dunkel, leer und langweilig sieht sie aus. Schwer vorstellbar, dass hier noch etwas passieren soll. Doch es füllt sich schnell. Wir beeilen uns, einen Platz nah an der Bühne zu bekommen, was uns wider Erwarten auch gelingt. Vor lauter Freude beschließen wir, uns nicht mehr von der Stelle zu rühren. Das ist ein großes Vorhaben, denn die Show beginnt erst in einer Stunde und wir können schon jetzt kaum noch stehen.

„Hinsetzen!!!“ schreien die Muskelmänner von der Security immer wieder.

Sie verstehen nicht, dass ihre Strategie nicht funktioniert. Immer, wenn sich ein Teil der Mädchen vor der Bühne hinsetzt, drängen die Stehenden von hinten nach vorne, in der Annahme, dass vorne Platz geworden ist. Aus Angst niedergetrampelt zu werden, stehen die Fans vor der Bühne natürlich schnellstens wieder auf.

Hinter uns kommen die ersten Beschwerden:

„Wir können nichts sehen!“

„Ihr seid zu groß!“

Ignoranz scheint uns die beste Antwort darauf zu sein. Doch die Zurufe werden lauter und wir schießen mit Wortbomben zurück. Bettina und ich ragen wie zwei Schiffsmasten aus der Menge und verteidigen unsere Position. Nach einer weiteren Viertelstunde sind unsere Nerven am Ende. Es ist unmöglich, die Plätze zu halten. Wir geben auf und ergreifen die Flucht. Die aufgeheizte Meute um uns herum jubelt.

Der einzige Platz, der jetzt noch auf uns wartet, befindet sich ganz hinten an der Hallenwand. Dort angekommen, sinken wir zu Boden und atmen seit Stunden das erste Mal wieder richtig durch. Der Abend ist gelaufen. Auf was haben wir uns bloß eingelassen? Nach ein paar Minuten Erholung kaufen wir uns die ersehnte Brezel und schlendern enttäuscht zum Merchandising-Stand. Auf den Tischen liegen dicke Packen überteuerter Poster, auf denen fünf aalglatte Jungs abgebildet sind. Wenn uns zu Hause jemand fragt, können wir zumindest sagen, dass die Backstreet Boys vor uns lagen. Auf Postern. Toll!

Der Blonde mit den halblangen Haaren ist wirklich süß. Aber der ist schon an Bettina vergeben. Der Ältere mit den schwarzen Haaren ist auch okay. Wer ist das? Kevin heißt er, aha.

Wir gehen zurück zu dem miesesten Platz des Abends, unserem Wandplatz. Von hier aus können wir alles sehen, nur nicht die Bühne. Wir würden uns gerne wieder hinsetzen, aber das sieht blöd aus, deshalb bleiben wir stehen.

Es vergeht keine Viertelstunde, da mustern uns zwei Jungs aus ein paar Metern Entfernung. Dass sie über uns sprechen, ist nicht zu übersehen. Beide sind außergewöhnlich groß. Sogar mich überragen sie um Einiges, und das kommt selten vor. Der eine sieht afroamerikanisch, der andere europäisch aus. Wir schätzen sie auf Ende Zwanzig. Um den Hals der beiden baumelt ein Kärtchen an einem Band. Das sieht wichtig aus und wird in den kommenden Jahren inflatorisch bei Veranstaltungen jeglicher Art imitiert werden.

Aber zurück zur Gegenwart: Wer sind die beiden?

Wir haben keine Zeit zu überlegen, denn sie steuern direkt auf uns zu. Der europäisch Aussehende spricht mich auf Deutsch an.

„Hättest du Lust, bei ‚I never break your heart‘ auf die Bühne zu kommen?“

„Wie bitte?“ frage ich, im festen Glauben, ihn falsch verstanden zu haben.

„Bei dem Song kommen immer ein paar Mädchen auf die Bühne“, antwortet er, „willst du dabei sein?“

Mein Herz beginnt zu rasen. Ich soll auf die Bühne – mit den Backstreet Boys? Jetzt sofort? Ich weiß noch nicht mal, dass „I never break your heart“ eine Ballade von ihnen ist. Erst viel später rekonstruiere ich, dass ich genau diesen Song vor dem Hotel in Braunschweig gesungen habe. Wie auch immer, ich glaube, ich muss hier jetzt zusagen.

„Ääh, ja klar!“, stammele ich und kann nicht fassen, dass er mich und nicht Bettina gefragt hat. Eigentlich wird sie immer angesprochen. Oh Schreck – was wird überhaupt aus Bettina?

„Kann meine Freundin auch mit?“ schiebe ich schnell hinterher.

Die beiden mustern Bettina und werfen sich einen Blick zu. Sie beratschlagen etwas auf Englisch und nicken.

„Yes, ja, okay. Um Viertel nach acht an der Ecke rechts vor der Bühne.“

Und weg sind sie. Peng, Krach, Bumm! Wir stehen da, wie vom Donner gerührt und vom Blitz getroffen. Das muss ein Traum sein! Die Welt steht still. Und in der nächsten Sekunde dreht sie sich wieder, tausendmal schneller als zuvor. Wir schlagen die Hände vor den Mund und merken nicht, wie wir langsam aber sicher zu pubertierenden Teenagern mutieren. Den Tränen nahe liegen wir uns in den Armen und können es nicht fassen. Wie haben wir das bloß geschafft? Haben sie uns ausgesucht, weil wir so „erwachsen“ aussehen? Oder finden sie uns sogar hübsch? Eins steht fest: Der Abend fängt gerade erst an.

Unser Euphoriebarometer steigt, während wir aufgeregt durch die mittlerweile gut gefüllte Halle tänzeln. Dabei lernen wir gleich noch ein Promotion-Team kennen. Vier goldige Jungs verteilen für den Toursponsor „Chipie“ Parfumproben. Wir stopfen uns mit der duftenden Erinnerung die Taschen voll. Der einzige Job der Jungs ist es tatsächlich, diese Giveaways unter die Fans zu streuen. Dafür werden sie bezahlt und dürfen auch noch die gesamte Tour der Backstreet Boys – auch hinter den Kulissen – begleiten. Oh, wie beneidenswert!

Bettina und ich verstehen uns auf Anhieb super mit den Vieren. Besonders sympathisch ist mir Marc. Er ist kleiner als ich, hat blonde halblange Haare und surft für sein Leben gern. Ich schließe ihn sofort ins Herz.

Vor lauter Spaß mit den Chipie-Jungs verpassen wir nicht nur den Beginn des Konzertes, sondern auch fast unseren wichtigen Termin. Schnell tauschen wir Telefonnummern aus, verabschieden uns und auf geht es zum abgemachten Treffpunkt.

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19. Juni 1996: Hannover, Eilenriedehalle. Das Konzert hat begonnen. Noch sind wir weit entfernt von den Backstreet Boys

Meine Hände triefen wie ein nasses Tuch. Es ist so aufregend. Hoffentlich haben die mit dem wichtigen Band um den Hals uns nicht vergessen.

Das haben sie nicht. Um 20.20 Uhr werden wir mit zwei weiteren Mädchen hinter die Bühne geführt. Wir sind stolz wie Oskar.

Der Typ, der uns angesprochen hat, heißt Fabian, ist 26 Jahre alt und gehört zur Crew der Backstreet Boys. Und siehe da: Nach wenigen Minuten ist sein gesteigertes Interesse an Bettina nicht mehr zu übersehen. Hab ich nicht gesagt, dass kein Mann an ihr vorbeigehen kann?

Wir stehen ganz lässig am Treppenaufgang zur Bühne. Es kann sich nur um Stunden handeln, bis hier etwas passiert, denke ich, als Brian, einer der Backstreet Boys, plötzlich zielstrebig die Bühnentreppe herunter auf mich zu kommt. Es durchzuckt mich wie ein Blitz. Nicht etwa, weil ich so begeistert bin – neeeeiiiin, im Gegenteil – Brian reicht mir gerade mal bis zum Kinn! Ich versuche mich wegzudrehen, doch er greift schon meine Hand. Es darf nicht wahr sein! Wie sehen wir bitte nebeneinander aus? Der Traum wird zum Alptraum. Brian hat meine Hand fest im Griff und zieht mich auf die Bühne. Ich habe keine Wahl.

Auf der Bühne stehen drei mit glitzernden Decken geschmückte Tische, umstellt von jeweils zwei billigen roten Klappstühlen aus Plastik. Auf jedem Tisch liegt eine rote Rose. Ich spüre die Blicke der 5.000 Mädchen, die mich anstarren, und wage nicht, in die Menge zu schauen. Die Band stimmt „I never break your heart“ an. Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Da lässt Brian meine Hand los. Und ich stehe vor jemand anderem. Und dieser Jemand ist größer als ich. Er kommt mir bekannt vor. Das ist doch der vom Poster! Das ist Kevin!

Vielleicht ist es das Chipie-Parfum, das eine opiumartige Wirkung auf mich hat, denn plötzlich kann ich nicht mehr klar denken. Ich blicke in die Augen von diesem Backstreet Boy und es reißt mir den Boden unter den Füßen weg. Ich falle und falle. Alle bisherigen Vorstellungen von einem Traummann brechen wie ein Jenga-Turm in mir zusammen. Schwankend, aber unaufhaltsam. Und ich stehe vor diesem Fremden, der mir nicht fremd ist, und plötzlich ist alles anders.

Kevin gibt mir seine Hand, meinen Wangen rechts und links ein Küsschen (Re-Li-Küsschen) und stellt sich vor: „Hello, I’m Kevin – nice to meet you, what’s your name?“ Er führt mich zu einem der Tische, wir setzen uns.

„Where are you from?“

Es ist so laut, dass ich ihn kaum verstehe. Auch er versteht mich nicht und schnappt nur auf, dass ich ihn in Braunschweig gesehen habe, obwohl ich ja nicht beim Konzert war, sondern nur vor seinem Hotel gestanden habe. Ich will es ihm gerade erklären, da unterbricht er mich und zieht mich hoch.

„So you know what we’ll do – we’ll dance.“

Vor lauter Überwältigung fällt mir nicht auf, dass Kevin nur seine Lippen bewegt. Oder hat er wirklich gesungen? Vergeblich versuche ich, Kevins Takt zu finden. Ich bin steif wie ein Brett und schiele neidisch zu Bettina. Sie strahlt und umtanzt Nick unglaublich sexy. Dieser wiederum scheint mit seinen sweet sixteen noch nicht damit umgehen zu können und wirkt unbeholfen.

Die Fans kreischen. Alles scheint wie in Zeitlupe abzulaufen. Ich stehe kurz vor einer Ohnmacht. Da ist der Spuk auch schon vorbei. Kevin überreicht mir die Rose, die auf unserem Tisch gelegen hat. Wir zwei sind spät dran. Bettys Hand umklammert längst das pflanzliche Andenken von Nick, und bevor wir uns versehen, führen uns die Jungs von der Bühne. Bitte lieber Gott, flehe ich, lass es noch nicht vorbei sein. Doch wir müssen uns verabschieden. Kevin drückt mir einen Kuss auf den Mund. Nicht rechts, nicht links, nein, direkt auf den Mund! Das war Absicht. Erschrocken weiche ich zurück und taumele von der Bühnentreppe. Das ist zuviel des Guten. Mein Abstieg ist nicht mehr aufzuhalten. Wenn ich es nicht schon beim Kauf der Konzertkarte gewesen bin, bin ich es jetzt allemal – verloren.

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Hannover, Eilenriedehalle, 19. Juni 1996: Bettina und ich sind Teil der Bühnenshow bei „I never break your heart“.

Glücklicherweise übernimmt Bettina jetzt die Führung, ich bin zu vernebelt, um mit jemandem zu sprechen.

Da sie sich blendend mit Fabian versteht, haben wir sogleich eine Einladung ins Grand Maritim. Das ist das Hotel, in dem die Backstreet Boys übernachten.

Ein Redakteur der Bild-Zeitung fängt uns ab, als wir die Halle verlassen, und macht das peinlichste Interview unseres Lebens.

Jeder, der sich mit dem Regenbogenjournalismus auskennt, weiß, dass wir das so nicht gesagt haben können. Der Redakteur dachte wohl, dass unser Alter dem eines durchschnittlichen Fans entspricht, und hat uns zur Strafe dessen Sprachgebrauch untergejubelt.

Aufgedreht fahren wir zum Grand Maritim. Vor dem Eingang stehen wieder etliche Fans im besten Teenager-Alter und warten. Fabian sammelt uns ein. Es hätte auch die Oscar-Verleihung sein können, zu der wir in seinem großen glänzenden BMW in die Tiefgarage des Hotels gleiten. Wir kommen uns vor wie zwei Diven.

In der Tiefgarage erwartet uns Nemo von der BSB-Crew. Er freut sich sichtlich und lobt Fabians Geschmack. Die leise Befürchtung, dass wir nur zum Zeitvertreib der Crew eingeladen worden sind, verdrängen wir lieber. Wir gehören jetzt einfach dazu. Nemo dreht sich ständig nach uns um. Besonders Bettina gefällt ihm.

Fabian ist außergewöhnlich nett zu uns. Trotzdem wirkt seine Art ehrlich, so dass wir uns gut aufgehoben fühlen.

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Konzertbericht aus der BILD-Zeitung Hannover vom 20. Juni 1996.

Im Hotel setzen wir uns zu den anderen hübsch gemachten Mädchen an die edle Bar und nuckeln an der Cola, die wir uns gerade noch leisten können. Sie gibt uns unauffällig eine Aufenthaltsberechtigung.

Wir warten und warten. Kein Kevin, kein Nick weit und breit. Irgendwann erfahren wir, dass eine private Party im Nebenraum stattfindet, zu der uns aber leider niemand einlädt. Fabian sagt, es seien zu viele Fans anwesend, deshalb kommen die Backstreet Boys nicht aus ihrem Versteck. Verdammt!

Dafür lernen wir Nemo näher kennen. Er setzt sich mit uns in eines der weichen Sofas, in das wir einsinken. Irgendwie lädt diese Sitzposition zum „Arm um die Schultern legen“ ein. Aber das braucht man unserer Begleitung nicht erst zu sagen.

Nemo ist 32 Jahre alt und sieht gut aus. Mit seinen Augen blitzt er uns schelmisch an, seine braunen glatten Haare hat er, genau wie Fabian, am Hinterkopf zu einem kleinen Schwänzchen zusammengebunden. Er hat dieses typisch amerikanische Selbstbewusstsein, von dem ich gerne ein paar Krümel abhätte. Was seine Aufgabe bei den Backstreet Boys ist, verrät er nicht.

Seine anfängliche Reserviertheit mir gegenüber legt sich, je mehr ich mich mit ihm unterhalte. Ständig betont Nemo, wie „beautiful“ wir seien.

„The most beautiful girls I’ve seen on tour.“

Wir fühlen uns geschmeichelt.

Da Bettina wenig Englisch und Nemo kein Deutsch spricht, muss ich dolmetschen. Natürlich bemerke ich, dass er Bettina toll findet. Das nutze ich aus, indem ich ihn über Kevin ausfrage.

„You like Kevin, don’t you?“, merkt er sofort.

Weil ich nur verschämt den Mund verziehe, ist seine Frage beantwortet. Er grinst und sagt, dass die Backstreet Boys saubere Jungs sind – keine Zigaretten, kein Alkohol, keine Frauen. Was soll das heißen?

Jemand von der Crew kommt vorbei und stellt sich vor: „Hello, nice to meet you!“

Wenn das nicht eine Familie ist – und wir mittendrin!

Nemo, Bettina und ich reden und reden. Gegen zwei Uhr nachts ist Fabian müde, schreibt uns seine Handynummer auf und verabschiedet sich. Wir geben die Hoffung nicht auf und bleiben weiter hartnäckig neben Nemo in der Hotellounge sitzen. Er versucht uns eine weitere Stunde zu überreden, die Nacht im Hotel zu bleiben und mit nach Berlin zu kommen. Sein Arm liegt immer noch hinter Bettina auf der Sofalehne. Er verspricht uns ein eigenes Hotelzimmer und eine Shoppingtour durch Berlin. Ob das Management immer ein paar freie Hotelzimmer zusätzlich bucht? Für das Vergnügen der Crew? Für den Fall, dass ein paar „Chicks“ bleiben wollen? Bettina und ich zögern. Wir sind naiv, aber nicht naiv genug. Außerdem habe ich weder Zahnbürste noch Ersatzklamotten mit. Und wenn Kevin mich am nächsten morgen ungeschminkt sehen würde …

Ich versuche Nemo dahingehend zu bearbeiten, Kevin einen Brief von mir zu geben. Gestern Abend ist es noch über mich gekommen, ich weiß nicht warum. Voller Hingabe habe ich gebastelt und ein Foto von mir beigelegt. Eben gerade habe ich den Brief in der Hoteltoilette noch einmal aufgerissen, etwas korrigiert und das Goldband wieder darumgewickelt, so dass Nemo nicht sehen kann, was ich geschrieben habe:

Dear Kevin, Nick, AJ, Howie and Brian, thank you for this beautiful concert. (Woher wusste ich eigentlich vorher, dass ich es gut finden würde?) I think you have a great future ahead. Stay as you are and don’t be confused of all these screaming girls (von denen ich mich mit dieser Bemerkung natürlich abheben wollte). The aura you create is very interesting and magnetic. I admire you and wish you all the best. Jennie. Peinlich …

Nemo erkennt die Dringlichkeit, mit der ich ihn bitte, den Brief weiterzuleiten. Halb im Ernst, halb im Spaß versucht er, mich zu erpressen. Er will den Brief Kevin nur geben, wenn wir die Nacht über bleiben.

Was will Nemo von uns? Denkt er, dass er sich mit uns beiden auf dem Hotelzimmer amüsieren kann? Bettina zögert. Ich will nach Hause. In ein paar Stunden muss ich hellwach in meinem Computerkurs sitzen.

Endlich einigen wir uns darauf, am nächsten Abend nach Berlin zu kommen, und Nemo versichert mir, Kevin den Brief zu geben. Ich bleibe skeptisch. Er bringt uns zum Auto und verabschiedet sich mit dem obligatorischen Re-Li-Küsschen. Um 4.00 Uhr sind wir zurück in Braunschweig.

You’re the one for me

Berlin, 20. Juni 1996

Zwei Stunden Schlaf sind eindeutig zu wenig. Ich bin mit den Gedanken in Berlin und kann meine Augen kaum offen halten. Gegen Mittag verlasse ich klammheimlich den Computerkurs.

Doch bevor ich Bettina treffe, um Fabian auf seinem Handy anzurufen, erstehe ich beim nächsten namhaften CD-Händler um die Ecke das Album der Backstreet Boys.

Der kurze Anruf bei Fabian aus der Telefonzelle kostet uns ein Vermögen, aber er lohnt sich. Natürlich dürfen wir nach Berlin kommen – er freut sich auf uns! Haben wir ein Glück! Handys, diese Geräte sind einfach Gold wert. Wenn wir nur auch eines hätten!

Gegen 17.00 Uhr machen wir uns auf den Weg. Die Fahrt ist die Hölle. Auch Bettina fehlt Schlaf, sie ist gereizt. Dazu kommt, dass wir von einem Stau in den nächsten geraten. Auch das von mir extra für das Kassettendeck aufgenommene Album der Backstreet Boys vermag uns nicht einzustimmen. In meiner Tasche schlummern die CD und eine geladene Kleinbildkamera. Ich träume davon, dass Kevin die CD signiert. Und vielleicht lässt er sich sogar mit mir fotografieren. Das wäre das Größte.

Drei Stunden später erreichen wir äußerst gestresst den Veranstaltungsort.

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Meine Eintrittskarte für das Konzert in Berlin am 20. Juni 1996.

Das Konzert ist in vollem Gange. Zum Glück finden wir Fabian gleich. Er drückt uns zwei „Guestcards“ in die Hand, mit denen wir mühelos durch die sonst undurchdringlichen Absperrungen gelassen werden.

Die Halle ist kleiner als die in Hannover, aber so haben wir immerhin gute Sicht auf die Bühne. Die erste Reihe können wir allerdings vergessen, dort ist ausschließlich Platz für den „Kindergarten“.

Nemo begrüßt uns nur beiläufig. Anscheinend haben nicht nur wir heute schlechte Laune. Wunderbar. Bettina und ich grübeln zusammen. Woher der plötzliche Sinneswandel?

Nemo jetzt auf Kevin anzusprechen, wäre taktisch unklug. Ich lasse es, auch wenn es mir auf der Seele brennt, zu erfahren, wie seine Reaktion auf meinen Brief war.

Wir verfolgen das Konzert und singen die Songs mit. Neidvoll müssen wir mit ansehen, wie sich bei „I never break your heart“ auf der Bühne dieselbe Szene wie gestern abspielt – nur nicht mit uns, sondern mit anderen Mädchen. Aber wir sind uns einig, dass Nick und Kevin mit diesen Mädchen nicht ganz so besonders umgehen, wie sie es mit uns getan haben.

Nach der Show laufen wir zu Bettys Auto zurück, um Fabians Cabrio hinterherzuhetzen. Es geht zum Hotel. Eine weitere Höllenfahrt, bei der Bettina am laufenden Band ausrastet. Ich schalte lieber auf Durchzug. Die Hauptsache ist, dass wir Fabian nicht verlieren.

Vor dem Hotel Excelsior warten schon hysterische Mädchen, die vergeblich versuchen, in das Hotel zu kommen. Privilegiert, wie wir sind, dürfen wir hinter Fabian in die Parkgarage fahren und ganz lässig ins Hotel hineinspazieren. Bis Fabian an der Rezeption eingecheckt hat, stehen wir unbeholfen in der Hotellobby herum. Doch es dauert keine Viertelstunde, da stürzen die Backstreet Boys auch schon zur Tür herein, auf der Flucht vor den Fans. Huch, wie klein AJ und Brian sind … und da ist ja … Kevin … ein Blick … er sieht mich und … erkennt mich … glaub’ ich … und lächelt … oh – mein – Gott. Meine Knie zittern. Klick. Ich drücke auf den Auslöser meiner Fotokamera und könnte mich ohrfeigen. Ich benehme mich wie ein Fan! Wahrscheinlich bin ich einer.

Und schon sind die Backstreet Boys wieder verschwunden. Es ist, als wären sie nie da gewesen, und nichts ist langweiliger als die mit dunkelgrünem Teppich ausgelegte Hotellobby. Wir kratzen unsere letzten Groschen zusammen, damit wir nicht weiter dumm herumstehen müssen, und bestellen uns ein Mineralwasser an der Hotelbar. Wichtig ist, dass die Daseinsberechtigung gesichert ist.

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Kevin trifft nach dem Konzert in Berlin im Hotel ein.

Die halbe Crew ist hier versammelt. Wir lernen Kiki und Ray kennen, der, wie er sagt, große Frauen liebt und sogleich beginnt, bei mir zu baggern. Ich fühle mich geehrt. Es kann ja nicht von Nachteil sein, wenn jemand von der Crew einen attraktiv findet. Auch Fabian gesellt sich zu uns und teilt uns ganz nebenbei mit, dass ein Zimmer für uns im Hotel reserviert ist, falls wir bleiben wollen. Falls??? Gelassen nehmen wir das Angebot an und überspielen so unsere explodierende Begeisterung. Natürlich wollen wir!!! Wahnsinn!!!

Ich unterhalte mich weiter mit Ray. Von Nemo ist weit und breit keine Spur. Dabei brenne ich nach wie vor darauf, ihn auf meinen Brief und Kevins Reaktion anzusprechen.

Die Crew will plötzlich zu McDonalds. Ich blicke panisch um mich. Unmittelbar habe ich zwei Probleme: Erstens, wo ist Bettina, und zweitens, wer versichert mir, dass ich Kevin nicht verpasse, wenn ich jetzt mitgehe? Wir befinden uns, wie schon gesagt, im Jahre 1996, wo Handybesitzer zu den Minderheiten der Bevölkerung gehören. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als mitzugehen, wenn ich nicht alleine herumsitzen und vielleicht noch aus dem Hotel geschmissen werden will.

Glücklicherweise ist die Crew nett und akzeptiert mich sofort. Mit „Hey Lady!“ werde ich begrüßt.

Es sind viele amerikanische, schwarze Muskelpakete dabei und es herrscht eine fröhlich-lockere Atmosphäre. Trotzdem fühle ich mich alleine ohne Bettina und bin froh, als wir das Hotel wieder ansteuern. Meine geliebte Freundin ist auch wieder aufgetaucht. Sie strahlt. Es war nur eine kleine Spritztour in Fabians Cabrio durch Berlin! Ohne mir Bescheid zu sagen! Ich bin empört und beleidigt zugleich, doch gegen ihre plötzliche gute Laune komme ich nicht an.

Keine Ahnung, wie lange wir schon in dieser schrecklichen Hotellobby warten, aber ich habe immer weniger Lust, erneut die ganze Nacht darauf zu hoffen, dass endlich einer der Backstreet Boys auftaucht. Ray merkt, wie es mit mir bergab geht, und versucht, mich aufzumuntern. Er prahlt damit, wie gut er Kevin kennt und verspricht mir großkotzig, ein Treffen mit dem BSB meiner Träume zu arrangieren. Dann könnte ich auch ein Foto machen und ein Autogramm bekommen. Das klingt verlockend, Ray, denke ich, aber erzähl’ mir lieber, wie viele Mädchen du mit dieser Masche schon herumgekriegt hast? Was du kannst, kann ich schon lange, geht es mir weiter durch den Kopf. Deshalb bleibe ich freundlich. Wer weiß, inwiefern er mir noch behilflich sein kann. Ich gebe vor, mich auf sein Angebot einzulassen, und beginne, mich mit dem trostlosen Abend anzufreunden. Etwas anderes bleibt mir sowieso nicht übrig.