Buchinfo

 

Verkauft? Die Apfelwiese ist verkauft worden? Sarah und Nico trauen ihren Ohren nicht. Und ausgerechnet ein Einkaufszentrum soll dort gebaut werden, wo jetzt ihr Baumhaus steht. Das muss verhindert werden! Ihre große Schwester Kaja dagegen ist Feuer und Flamme für das Shopping-Paradies. Es dauert nicht lange, bis sich die Geschwister gegenseitig überbieten mit Einfällen, wie sie ihr Ziel erreichen können. Ob sprechende Papageien, zahme Schnecken oder Hängebauchschweine mit Ringelsocken – den drei Streithähnen ist keine Idee zu verrückt …

Eine Familie im Ausnahmezustand – das ist Schmökerspaß mit Lachgarantie!

Autorenvita

 

Autor

 

© privat

 

Julia Breitenöder, geboren 1972 in Bonn, lebt mit ihrer Familie in Frankfurt am Main. Nach Studium der Sonderpädagogik, Au-pair-Jahr in Kairo und Um-die-Welt-Fliegen als Flugbegleiterin ist sie heute da angekommen, wo sie schon immer hin wollte: beim Geschichtenschreiben.

www.julia-breitenoeder.de

IT

Kap

 

 

 

 

 

 

 

Sarah

 

 

 

 

 

 

 

Warum schiebt sich immer ausgerechnet dann eine dicke, fette Wolke vor die Sonne, wenn man den Bikini angezogen, sich eingecremt und endlich im Liegestuhl zurechtgelegt hat?

»Hau ab, du blödes Ding!«, murmelte ich.

Nele auf ihrem Handtuch ließ die Sonnenbrille auf die Nasenspitze rutschen und blinzelte über den Rand zu mir hoch. »Ach, bist du fertig mit den Vorbereitungen? Dann können wir ja wieder reingehen. Garantiert regnet es gleich.« Sie stopfte sich eine Handvoll Chips aus der schon bedenklich leer aussehenden Packung in den Mund.

Ich schnitt eine Grimasse und machte es mir demonstrativ gemütlich, auch wenn die ersten Ausläufer einer Gänsehaut über meine Arme und Beine kribbelten. Mit einem hingeklatschten Handtuch auf der Wiese lümmeln kann ja jeder. Aber ein stilvolles Sonnenbad im Liegestuhl mit bereitstehenden Getränken und Snacks und dem richtigen Outfit braucht halt eine gewisse Vorbereitungszeit. Außerdem hatte es eine Weile gedauert, alle Schnecken aus dem Terrarium zu fangen und ins Freigehege zu setzen. Aber sie mussten dringend mal wieder an die frische Luft.

»Sind noch Chips da?«

»Sarah! Es ist kalt!« Wie hatte Nele es so schnell geschafft, sich komplett anzuziehen?

»Ja, aber nur jetzt gerade. Das ändert sich gleich wieder, wenn die Sonne rauskommt«, erklärte ich und rieb unauffällig über die zu Berge stehenden Härchen auf meinen Unterarmen. »So werden wir ja nie braun!«

Nele schnaubte. »Ja, das stimmt. Aber krank. Du siehst jetzt schon aus wie ein gerupftes, tiefgekühltes Hühnchen.«

Haha, sehr witzig. Diese Beschreibung war zwar nicht wirklich schmeichelhaft, aber ziemlich passend. Ich hätte es zwar nie und nimmer zugegeben, nicht mal Auge in Auge mit einer fetten Spinne – aber tatsächlich fühlte ich mich gerade ähnlich wie ein Tiefkühlhuhn. So elegant wie möglich kletterte ich wieder aus dem Liegestuhl und schlüpfte in T-Shirt und Shorts. Ich hatte den Reißverschluss noch nicht ganz hochgezogen, da klatschte der erste Regentropfen auf meinen Kopf.

»Oh, verflixt!« Und was jetzt? Liegestuhl zusammenfalten oder doch erst die Schnecken aus dem Freigehege holen? Ich versuchte beides, halb gleichzeitig, halb abwechselnd. Der Stuhl verwandelte sich in ein abstraktes Kunstwerk und ein Drittel der Schnecken befand sich auf der Flucht.

»Verdammt! Meine Mutter flippt aus, wenn der Stuhl nass wird! Ha! Da ist Schleimi!« Mit einem triumphierenden Schrei hechtete ich vor und pflückte die dicke Schnecke mit dem braunen gestreiften Häuschen vom Zaun. Nele verdrehte die Augen, schnappte sich den Liegestuhl und faltete ihn in null Komma nichts zusammen.

»Kommt der hier rein?«

»Nein, Nele, nein! Lass die Tür zu!«

Zu spät. Nele hatte schon an der Schuppentür gerüttelt und, als sie sich nicht öffnen ließ, den Schlüssel im Schloss herumgedreht.

»Wieso, was ist denn?« Erschrocken starrte sie mich an.

Für eine Antwort blieb keine Zeit. Ein brauner Rüssel quetschte sich durch den Türspalt, schnupperte und stieß die Tür mit einem energischen Grunzen weiter auf.

»Jule! Gerda! Ihr bleibt da drin!« Ich warf Schleimi ins Gras und stürmte zum Schuppen, aber die beiden Hängebauchschweine interessierten sich nicht die Bohne für mein Geschrei. Sie marschierten direkt zum nächsten Blumenbeet.

»Ach du grüne Neune! Was machen die denn hier!« Nele stand wie erstarrt. Warum hielt sie die Biester nicht fest? Ich pflügte quer durch das Beet und erwischte die quiekende Gerda am Bein. Jule suchte empört grunzend das Weite. Endlich setzte auch Nele sich in Bewegung. »Wieso sind die in eurem Schuppen? Ich dachte, die wohnen in der Praxis!«

»Haben sie auch. Bis sie zum dritten Mal ausgebüxt sind und die Beete der Nachbarn umgegraben haben. Die haben dann gedroht, Schnitzel aus ihnen zu machen. Also hat Mama sie umquartiert. Und jetzt werden sie gleich eine neue Feindin haben!«

Jule verschwand gerade in der Hecke, die den Garten vom Nachbargrundstück trennte. Frau Schröders Rosenbeete! Ich schubste Gerda in Neles Arme und spurtete los. »Sperr sie ein!«

Warum musste diese verflixte Hecke so stachelig sein? Und wie hatte dieses blöde Schwein sich problemlos da durchgezwängt? Ich quetschte mich zwischen den Ästen durch und stolperte in den Nachbargarten. Jule stand wie eine Schweinestatue mitten auf der Wiese und drehte den Kopf mal hierhin, mal dorthin. Wahrscheinlich konnte sie sich nicht entscheiden, wo sie anfangen sollte zu buddeln. Mit Triumphgeschrei stürzte ich mich auf sie und nahm sie in den Schwitzkasten. Jule quietschte, als wäre ich der Metzger mit einem langen Messer.

»Jetzt sei still, Schweinchen. Wenn Frau Schröder uns hier sieht, haben wir wirklich Grund zum Quietschen. Die scheucht uns mit dem Spaten vom Rasen.« Das zappelnde Tier fest an mich gedrückt, schlängelte ich mich zurück auf unser Grundstück.

Nele hatte Gerda im Schuppen abgesetzt und den unteren Teil der Doppeltür geschlossen. Gemeinsam hievten wir die immer noch protestierende Jule zurück in ihren Stall. Nele knallte das obere Türteil zu und sah mich an. Ihre Mundwinkel zuckten. »Soll ich jetzt dich in den Schuppen stecken? Du siehst auch aus wie ein Schweinchen.«

Ich guckte an mir herunter. Klitschnass, über und über mit Nadeln von der Eibenhecke übersäht, Schlammflecken an Ellenbogen, Knien und überall auf den Kleidern – und meine Haare fühlten sich an, als hätte ein Vogel dort sein Nest bauen wollen. Sogar mein Gesicht war klebrig und matschig. Grinsend musterte ich Nele. »Dann musst du aber mitkommen.«

Gerda hatte ihr Top von oben bis unten mit Rüsselabdrücken verziert, Stroh hing in ihren tropfnassen Haaren und klebte an ihren Beinen.

Wir starrten uns eine Weile lang an, dann kicherten wir beide los und ließen uns ins Gras fallen.

»Sarah, ihr seid unmöglich! Wer, bitte schön, hat denn zwei Schweine im Schuppen?«, japste Nele.

»Hängebauchschweine, bitte! Jule und Gerda legen sehr viel Wert auf die korrekte Bezeichnung!«

Lachend kugelten wir über die nasse Wiese. Schmutziger werden konnten wir ja kaum. Ich warf eine Handvoll Grashalme auf Nele und sie revanchierte sich mit einer Ladung Blumenerde.

Wir hörten erst auf, als eine Autotür zuschlug. Eilige Schritte klapperten über den Gartenweg. »Sarah! Kaja! Nico! Mama hat uns ein Pony mitgebracht!« Pias Stimme war bestimmt bis Amerika zu hören.

»Wenn deine Schwester noch nicht weiß, was sie später werden soll, hätte ich eine Idee: Lautsprecher!«, kicherte Nele.

Ich stand auf. Wovon sprach Pia? Pony? Was für ein Pony denn?

Kap

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kaja

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Himmelarschundzwirn! Mit kleinen Geschwistern war man wirklich gestraft! Nico ging ja noch, aber Sarah und Pia … Dieser ständige Lärm, dieses Gekreische … Na gut, bei Pia war das vielleicht normal, die ging ja noch in den Kindergarten. Aber Sarah … Kaja war sich zu hundert Prozent sicher, dass sie sich in dem Alter nicht begeistert im Schlamm gewälzt hatte. Und was war jetzt schon wieder passiert? Pias Schrei hatte die Fensterscheiben zum Wackeln gebracht und den Kajal zum Entgleisen. Kaja angelte ein Wattepad aus der Packung und wischte den schwarzen Strich weg, der sich wie eine Kriegsbemalung von ihrem Auge quer über die Wange bis zum Mund zog.

Nicht mal schminken konnte man sich in diesem Irrenhaus, ohne Gefahr zu laufen, sich das Auge auszustechen.

Sie warf den zusammengeknüllten Wattebausch in den Papierkorb und ging zum Fenster. Von draußen schrillte in unverminderter Lautstärke Pias Stimme herein, sie übertraf sich heute selbst. Ein Martinshorn war nichts dagegen. Was regte sie denn so auf?

Im Vorgarten scharten sich alle um ein schmutzig weißes Wuscheltier, Zeus umkreiste die Gruppe bellend. Was hatte Mama da wieder angeschleppt? War in der Praxis ein Eisbär abgegeben worden? Pias blonder Schopf war mitten im Gewimmel, Sarahs rotblonder gleich daneben. Goldlöckchen und Pumuckl. Kaja schnaubte. Omas Erfindung. Und sie war Schneewittchen – schwarze Haare, blasser Teint, rote Lippen. Tausendmal besser als Sarahs roter Wildwuchs mit Sommersprossen! Na ja, wenn sie die Wahl hätte zwischen einer Schreinerwerkstatt mit klebrigen Leimtöpfen und einem bisschen Haushalt bei sieben Zwergen, bevor ein Traumprinz vorbeikam – keine Frage, oder?

Seufzend machte sie sich auf den Weg zur Treppe. Was immer Mama mit dem neuen tierischen Mitbewohner plante – er brauchte wohl oder übel ein Dach über dem Kopf. Und nachdem im Schuppen neuerdings die Schweinerei hauste, bestand nun die Gefahr, dass als Nächstes die Kinderzimmer dran waren.

»Aber nicht meins«, murmelte sie entschlossen. »Ich muss dringend ein Schild an die Tür machen. Tierfreie Zone.«

Kaja schob Sarah und Nele zur Seite. »Puh, was habt ihr gemacht? Ihr seht nicht nur aus wie zwei Dreckschweinchen – ihr riecht auch so.«

Sarah funkelte sie an. Jetzt versperrte nur noch Pia die Sicht auf das neue Haustier. Kaja zwängte sich an ihrer kleinen Schwester vorbei, die die Arme fest um einen vor Dreck starrenden weißen Hals mit einer zottigen Mähne geschlungen hatte.

Das Pony sah zum Erbarmen aus. Abgemagert bis auf die Knochen, Fell, Mähne und Schweif wie von Motten zerfressen, ein Rücken, der an eine extrem durchgelegene Matratze erinnerte, und hässlich verwachsene Hufe.

»Was ist das denn für ein Schreckgespenst? Das Vieh fällt doch gleich tot um.«

»Gar nicht!«, gellte Pias Stimme wieder durch die Straße. »Guck doch mal, wie lieb der schaut!«

Tatsächlich blitzten unter den zerzausten Haaren zwei lebhafte dunkle Augen hervor. Aber das war auch alles, was an diesem Tier lebendig aussah.

»Mama! Du willst doch nicht ernsthaft auch noch ein Pony in den Garten stellen! Frau Schröder wird dir endgültig den Krieg erklären!« Kaja kam sich mal wieder vor wie die einzige Erwachsene in der Familie.

»Nee, die Mottenkugel kann echt nicht hierbleiben. Das ist ja voll uncool.« Kaum zu glauben, Unterstützung von Nico.

»Das ist keine Mottenkugel!«, kreischte Pia und drückte dem Pony einen Kuss zwischen die Nüstern. »Ihr seid so gemein!«

»Kinder, jetzt beruhigt euch mal.« Mama führte den unansehnlichen Gast auf den Rasen. Das Pony bewegte sich in Zeitlupe, als müsste es vor jedem Schritt überlegen, welchen Huf es nun hochheben sollte. »Natürlich behalten wir Krümel nicht hier. Aber ich habe ihn gerade erst aus dem Zirkus befreit, jetzt soll er sich hier ein bisschen ausruhen, bis ich einen Platz für ihn habe.«

»Ich will ihn aber behalten!« Pia schien an dem Pony festgeklebt zu sein. Na, dann sollte Mama eben einen Platz für Pony und Pia suchen – wie ruhig es dann hier wäre!

»Ja, Pia, das wäre schön. Ich wünschte, ich hätte schon meinen Gnadenhof.« Mama zauste dem Pony die Mähne und guckte verträumt in die Luft. »Aber eines Tages …« Sie seufzte. »Und bis dahin werde ich ihn bei Herrn Poth unterstellen. Kaja, du hast doch nachher eh Reitstunde, oder? Da kommen wir mit.«

Oh Gott, was war das? Ein Herzinfarkt? Ihr Herz raste, der Hals fühlte sich an wie zugeklebt. Kaja schnappte nach Luft. Ihre Wangen brannten, in den Ohren rauschte es. Sie hustete und würgte, irgendwer klopfte ihr fest auf den Rücken. Langsam schien sich der Klumpen im Hals aufzulösen, Luft strömte wieder in die Lungen.

»Bei Herrn Poth? Niemals! Das kannst du nicht machen! Der schmeißt dich und das verlauste Vieh hochkant raus! Und mich gleich mit. Mama! Bitte! Das kannst du mir nicht antun! Du blamierst mich bis auf die Knochen!«, keuchte sie.

»Aber du wolltest doch immer ein Pferd haben!« Wie schaffte Sarah es nur immer, mit ihren blauen Kulleraugen so unschuldig unter den roten Ponyfransen hervorzublinzeln, als könnte sie kein Wässerchen trüben? Dabei war sie eine richtige Hexe! Kaja hätte am liebsten einmal kräftig gegen den Apfelbaum getreten, aber da saß Zeus, und der verstand so was immer als Aufforderung zum Spielen. Eine Runde Toben mit Abschlecken war das Allerletzte, worauf sie jetzt Lust hatte.

Pia hatte den Klammergriff um den Ponyhals gelockert und beobachtete Kaja aus zusammengekniffenen Augen.

»Warum hast du eigentlich ein buntes Auge und ein nacktes?«

Na toll! Das war ihr auch noch nie passiert. Nicht einfach ungeschminkt aus dem Haus gegangen, nein, viel schlimmer, halb geschminkt. In dieser Familie wurde jeder früher oder später zur Witzfigur.

Sie beschränkte sich auf ein zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgepresstes »Das da ist aber kein Pferd!« und ging zurück ins Haus. Erst mal fertig schminken. Mit einem gelungenen Make-up war die drohende Blamage im Reitstall nur noch halb so schlimm, zumindest sah dann keiner mehr, wenn ihr Gesicht vor Scham die Farbe eines Feuerwehrautos annahm. Sollten die anderen doch weiter um diese Mottenkugel auf Hufen herumscharwenzeln. Sie hatte mehr als genug davon gesehen.

Kap

Sarah

 

Dass Schnecken keinesfalls lahm sind, hatte ich ja schon gewusst. Aber dass sie sich in Luft auflösen können, war mir neu. Nele und ich hatten jeden Grashalm umgedreht, trotzdem blieben Pritt und Uhu verschollen. Fraßen Hängebauchschweine Schnecken? Bei dem Gedanken, wie Jule mit ihrem feuchten Rüssel ein geringeltes Schneckenhaus knackte, wurde mir schlecht.

Nele musste leider gehen, zu einem mittelmäßig vergnüglichen Babysittingabend mit ihrem kleinen Bruder, wie sie mit einer Grimasse stöhnte. Ich hatte ja den Verdacht, dass sie eigentlich froh war, nicht länger durch den Garten kriechen zu müssen. Ihre Begeisterung für meine Haustiere hielt sich in Grenzen, ganz egal, ob ich sie irgendwo eingesammelt oder selbst gezüchtet hatte. Deshalb war ich ziemlich sicher, dass sie sich lieber mit ihrem Bruder vor die Glotze setzte, als weiterzusuchen.

Babysitten war etwas, das mir völlig erspart blieb, bei uns waren stets Oma und Opa im Einsatz, wenn unsere Eltern ausfielen – was zugegeben ziemlich oft der Fall war. Auch jetzt saß die Großfamilie um den Tisch versammelt. Fast jedenfalls. Papa hockte vermutlich noch im Büro, aber an seiner Stelle übernahm Opa den Tischvorsitz. Oma unterhielt sich mit Pia und versuchte mal wieder vergeblich, Kaja mit ins Gespräch zu ziehen, Nico lümmelte auf seinem Platz und nutzte jede unbeobachtete Gelegenheit, um sich heimlich Tonnen von Wurst und Käse ohne Brot einzuverleiben, und Mama war völlig vertieft in die Zahlen auf einem Block neben ihrem Teller.

»Morgenstund’ hat Gold im Mund!«, krächzte Puccini, als er mich entdeckte, und schickte eine Folge schräger Flötentöne hinterher. Hatte Pia heute wieder ihre Blockflöte gequält? Inzwischen war ich so daran gewöhnt, dass ich es schon gar nicht mehr hörte. Aber Puccini liebte es und nahm begeistert jede neue Melodie in sein Programm auf.

»Guten Abend, du verrücktes Huhn.« Ich strich Puccini sanft über das schräg gelegte Köpfchen und ging zum Tisch.

»Verrücktes Huhn, verrücktes Huhn!«, rief er mir hinterher.

Pia sah aus wie ein unter Strom stehendes Äffchen. Sie hampelte auf ihrem Stuhl herum, die blonden Kringellöckchen total verstrubbelt. Gleichzeitig biss sie große Happen von ihrem Leberwurstbrot ab, berichtete von ihrem Nachmittag mit Opa im Schwimmbad und gestikulierte wild. Dagegen wirkte Kaja auf der anderen Seite des Tisches wie versteinert. Das Einzige an ihr, das sich bewegte, waren die Finger, die eine Scheibe Knäckebrot auf dem Teller herumschoben, und ihre Augen, die wütende Blicke auf Mama abfeuerten. Anscheinend war es unserer Mutter gelungen, das mottenzerfressene Pony in der Reitschule unterzubringen, und nun musste Kaja für den Rest ihrer glänzenden Reiterkarriere mit diesem Schandfleck im Stall leben.

Ich setzte mich zwischen meine Schwestern, ignorierte die Eiseskälte, die von Kajas Seite herüberwehte, und lauschte Pias Erzählungen. Es ging um Schwimmflügel und Tauchringe.

»Hast du jetzt endlich dein Seepferdchen?«

Pia schnitt eine Grimasse, stopfte sich den Rest des Brots komplett in den Mund und kaute verbissen. Keine Antwort war auch eine Antwort.

»Viel fehlt nicht mehr«, erklärte Oma. »Sie kann ganz toll schwimmen. Nicht wahr?«

»Aber sie wird erst den Tauchschein machen«, kicherte Opa und zwinkerte Pia zu. Die schnaubte empört, ein Schauer von Leberwurstbrotkrümeln sprühte über den Tisch.

»Ach, mein Goldfisch, sei nicht böse mit mir!« Er wuschelte Pia durchs Haar. »Es stimmt doch. Unter Wasser schwimmst du wie ein Fisch – und dass der Bademeister dich immer wieder zum Luftholen rausholen muss, das kriegen wir auch noch in den Griff.«

Pia schnaubte wieder und griff in den Brotkorb.

Jetzt war es so still am Tisch, dass ich die Brösel von Kajas Knäckebrot auf den Teller rieseln hörte. Ach, es ging doch nichts über ein unterhaltsames Familienessen. Wie gut, dass ich noch eine Frage hatte.

»Nele und ich wollen mal wieder auf der Apfelwiese zelten. Dürfen wir nächstes Wochenende?«

Mama reagierte gar nicht, dafür warf Oma in diesem Moment ihr Milchglas um. Eine weiße Welle schwappte über den Tisch, direkt auf Mamas Block zu. Plötzlich war sie blitzschnell, packte ihre Papiere und sprang auf.

»Könnt ihr nicht aufpassen?«, fauchte sie.

»Oma war’s, Oma war’s!«, rief Pia und klatschte in die Hände. »Oma hat gekleheheckert!« Sie kicherte.

Mit einer Gesichtsfarbe, die den Tomaten in der kleinen Schüssel auf dem Tisch Konkurrenz machte, wischte Oma hektisch mit ihrer Serviette im Milchsee herum und schob Zeus zur Seite, der sich gern als Milchaufschlecker betätigt hätte. Opa holte einen Lappen aus der Küche und drückte ihn ihr in die Hand.

»Oh, danke! Das ist besser. Tut mir leid, das Glas ist mir aus der Hand gerutscht.«

Nico feixte und schnappte sich noch eine Scheibe Käse und ich wartete darauf, dass der Tumult sich wieder legte.

»Oma war’s, Oma war’s!«, krächzte Puccini.

»Irgendwann gibt es gebratenen Papagei, dass du’s nur weißt, du freches Tier!«, schimpfte Oma.

»Gebraaaatenen Papagei!«, schnarrte Puccini völlig unbeeindruckt.

Opa lachte und auch Oma konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. »Ein Irrenhaus«, seufzte sie. »Ein waschechtes Irrenhaus. Fehlen nur noch die Zwangsjacken.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte euch noch was sagen …«

»Aber erst ist Sarah dran!«, rief Pia. »Die hat nämlich noch keine Antwort auf ihre Frage.«

Manchmal war die Kleine einfach nur zum Knutschen. Und die Chancen auf Antwort standen gut, denn Mama schien sich gerade daran erinnert zu haben, dass Essenszeit war, hatte den Papierkram zur Seite gelegt und sich ein Brot genommen.

»Mama? Dürfen Nele und ich auf der Apfelwiese zelten?«

»Ähm, vielleicht kann ich doch erst …«, setzte Oma an.

»Von mir aus. Aber frag Oma, schließlich ist es ihre Wiese«, unterbrach Mama sie.

»Irrenhaus!«, jubilierte Puccini.

»Oma?« Sicher würde sie es erlauben, schließlich war sie die beste Oma der Welt. Allerdings gefiel mir ihr Gesichtsausdruck gerade gar nicht.

»Also, äh, ja …«, stammelte sie.

»Soll ich?«, fragte Opa.

»Nein!« Oma schüttelte den Kopf. »Ich mach das schon. Also, Sarah, von mir aus kannst du natürlich mit deiner Freundin auf die Apfelwiese. Ich bin sicher, dass der neue Besitzer nichts dagegen einzuwenden hat, wenn ihr dort zeltet, aber zur Sicherheit werde ich morgen nachfragen.«

»Wie, neuer Besitzer?« Ich starrte Oma an.

»Wir haben die Wiese verkauft«, sagte Opa. »Haben ein hervorragendes Angebot bekommen, schon vor einiger Zeit. Ein bisschen mussten wir überlegen, aber dann haben wir doch zugeschlagen. Jetzt mal ganz im Ernst – was sollen wir noch mit der Wiese? Irgendwann wollt ihr da auch nicht mehr rumhängen.«

»Verkauft?« Mama verschluckte sich an ihrer Milch, hustete und keuchte. Nico klopfte ihr auf den Rücken, bis sie wieder Luft bekam. »Aber … das geht doch nicht. Das kann nicht sein!«

»Zwangsjacke! Gebratenen Papagei!«, plärrte Puccini.

Obwohl sie leiser war als der verflixte Vogel, hatte Mama die volle Aufmerksamkeit. Sie sah aus, als würde sie gleich umkippen, kalkweiß, die Augen riesengroß in dem blassen Gesicht.

»Ihr wisst doch, dass mein Gnadenhof auf die Apfelwiese soll«, stieß sie hervor.

Oma legte ihr die Hand auf den Arm. »Ja, natürlich wissen wir, dass du seit Jahren von einem Gnadenhof dort träumst, Mona. Aber ich denke, du weißt genauso gut wie wir, dass das ein Traum bleiben wird. Wer soll das finanzieren?«

Mama kämpfte mit den Tränen. Sie tat mir so leid. Seit ich denken konnte, plante sie einen Tiergnadenhof. Für alte, ausgemusterte, nicht mehr gewollte Tiere, für die sie in ihrer Praxis und unserem Garten keinen Platz hatte. In ihren Träumen stand der Hof immer auf der alten Apfelwiese. Und obwohl sie genau gewusst hatte, dass dieser Traum vermutlich nie in Erfüllung gehen würde, schien sie das jetzt schwer zu treffen.

»Wer hat denn überhaupt Geld für diesen Acker lockergemacht?«, fragte Nico. Das interessierte mich auch brennend.

»Die Stadt. Die Gegend wird Bauland, und da …«

»Auf unserer Apfelwiese soll gebaut werden?« Jetzt fühlte ich mich auch nicht mehr gut. Wie viel Zeit hatten wir dort verbracht, gespielt oder einfach im Gras gelegen, die wildesten Pläne ausgeheckt und geträumt, gegrillt und gezeltet, waren um die Wette geklettert – und nun kamen Bagger und andere Baufahrzeuge und walzten alles platt? Fremde Leute, die auf unserer Wiese wohnten? An den Gedanken würde ich mich erst gewöhnen müssen.

Nico auch. »Etwa so eine scheußliche Siedlung, wo ein Haus aussieht wie alle anderen?« Den angebissenen Käse auf seinem Teller schien er vergessen zu haben.

»Nein, kein Wohngebiet«, sagte Opa. »Viel besser.« Triumphierend guckte er in die Runde, als wäre die Bebauung seine Idee gewesen. »Die Stadt plant ein Einkaufszentrum.«

Stille.

»Ein Einkaufszentrum? Wie cool ist das denn? Jipppieh!« Kaja klatschte in die Hände und trommelte auf den Tisch. »Endlich eine gescheite Shoppingmöglichkeit. Oder …« Sie sah Oma erschrocken an. »Oder kommen da nur so langweilige Bücher- und Lebensmittelgeschäfte rein?«

»So, wie ich das verstanden habe, soll alles rein, was ein richtiges Einkaufszentrum so braucht«, sagte Oma. »Also auch Kleider. Und Schuhe. Das meinst du doch, oder?«

Kaja nickte, stieß die Faust in die Luft und sprang auf. »Ich habe keinen Hunger mehr. Außerdem muss ich dringend Philip anrufen und ihm diese Neuigkeit erzählen! Und Ella auch! Und Ines …«

Mama war auch aufgestanden. »Ich fühle mich nicht wohl. Todmüde. Ich lege mich ein bisschen hin.«

»Kaja, warte! Sag es nicht gleich weiter, noch ist es nicht offiziell!« Oma sprach mit der Tür, die hinter Kaja krachend ins Schloss gefallen war. »Mona, brauchst du Hilfe?«

Mama winkte ab. »Aber wenn ihr bleiben könntet, bis Matthias hier ist?«

In der Tür stieß sie fast mit Papa zusammen. Ohne Begrüßung rauschte sie an ihm vorbei.

»Papa!« Pia warf sich in seine Arme. »Ich war mit Opa schwimmen und Oma hat die Milch umgeworfen und Sarah will im Einkaufszentrum zelten und …«

Papa wirbelte sie im Kreis durch die Luft und lachte. »Langsam, langsam, Goldlöckchen, lass mich doch erst mal richtig reinkommen. Was ist denn mit eurer Mutter los?«

»Sie fühlt sich nicht gut.« Oma zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, es ist wegen …«

»Irrenhaus! Morgenstund’ hat Gold im Mund! Einkaufszentrum! Gebratenen Papagei!«, krächzte Puccini.

Papa ließ sich auf Mamas Platz plumpsen. »Ehrlich gesagt, ich versteh nur Bahnhof. Eigentlich wollte ich heute mit euch feiern, aber Mama hat Migräne, Kaja brüllt ins Telefon und hier ist eine Stimmung wie bei einer Beerdigung. Was ist denn los?«

»Ein-kaufs-zen-trum!«, tönte es von der Vogelstange.

Kap

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kaja

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wie wenig es braucht, um eine öde, stinkige Kleinstadt lebenswerter zu machen. Während aus dem Wohnzimmer das »Einkaufszentrum«-Gekreische Puccinis durchs Haus drang und Mama im Schlafzimmer nebenan Türen knallen ließ, glühte Kajas Ohr am Telefonhörer. In den schillerndsten Farben malten sie und Ella sich aus, wie sie in Zukunft ihre Nachmittage im Einkaufszentrum verbringen würden.

Nie wieder auf dem verlassenen Marktplatz rumhängen. Nie mehr im Regen unter dem löchrigen Dach der Bushaltestelle hocken. Nie mehr die Eltern beknien, sie zum Bahnhof zu fahren, und dann noch dreißig Minuten in die nächste Stadt mit richtigen Geschäften zuckeln. Aus, Ende, vorbei!

»Weißt du, wann es eröffnet wird?«, schrie Ella.

Kaja hielt den Hörer ein Stück weiter weg vom Ohr. »Nee, keinen Plan. Sie müssen es ja erst mal bauen. Und es hörte sich nicht unbedingt so an, als würden sie morgen direkt damit anfangen. Leider.«

»Von mir aus können sie es über Nacht auf eure olle Wiese beamen. Stell dir vor, wie genial das wird. Ab sofort spare ich mein Taschengeld. Dann kann ich zur Eröffnung dem Shoppingrausch verfallen«, kicherte Ella.

»Shoppingrausch klingt gut.« Kaja hielt kurz inne und lauschte. Unten wurde eine Geige gestimmt. »Du, ich muss Schluss machen, ich glaube, heute steht noch ein Musikabend an und mein Vater ist immer sauer, wenn einer nicht mitmacht.«

»Voll spießig!«, sagte Ella. »Obwohl ich froh wäre, wenn mein Alter sich überhaupt mal für mich interessieren würde. Dafür würde ich eventuell sogar Klavier spielen lernen.«

Kopfschüttelnd beendete Kaja die Verbindung. Dieses verrückte Huhn! Wenn sie wüsste, wie furchtbar Papas Hausmusikabende werden konnten, wäre sie bestimmt nicht neidisch. Pias Flötentöne konnten Tote aufwecken.

Unten saßen schon alle zusammen. Opa als fachkundiger Zuhörer auf dem Sofa wickelte wie immer Omas neuste Wolle auf. Papa und Nico mit den Geigen, Oma mit der Querflöte, Pia hüpfte mit ihrer heiß geliebten Blockflöte in der Hand auf und ab.

»Können wir jetzt anfangen? Kommt Mama heute nicht?«

»Schätzchen, Mama fühlt sich nicht wohl«, sagte Oma wahrscheinlich schon zum tausendsten Mal. Pia war eine hartnäckige Fragerin.

Kaja grinste und setzte sich neben Sarah auf die Klavierbank. »Wir können ihr ja ein Gutenachtlied spielen.«

»Ob das eine gute Idee ist bei Kopfschmerzen?«, prustete Sarah. »Ich glaube, wir sind eher begabte Aufwecker.«

»Konzentration!«, brummte Papa und hob einen imaginären Dirigentenstab. »Wir spielen Der Mond ist aufgegangen. Eins, zwei, drei!«

Der Anfang klang schön. Das Klavier war der einzige Ort, an dem Sarah und sie harmonierten. Einzig Opas Verdienst, der Ewigkeiten mit ihnen geübt hatte. Bestimmt waren die Klavierstunden einer der Hauptgründe, warum ihm fast alle Haare ausgefallen waren, so oft, wie er sie sich raufen musste. Jetzt lauschte er ganz andächtig. Allerdings nicht lange. Schon bei »Der Wald liegt schwarz und schweiget« verzog er das Gesicht, als hätte er üble Zahnschmerzen. Pias Flöte brach aus der Melodie aus und erzeugte eine Folge quietschender Töne, gefolgt von einem noch schrilleren Echo aus Puccinis Schnabel. Kaja widerstand dem Drang, sich wie Sarah die Ohren zuzuhalten. Sie ließ die Finger auf den Tasten und versuchte, das Quietschen zu übertönen, das nun auch noch durch Nico verstärkt wurde, dem wohl der Bogen durchging.

Papa verdrehte die Augen und brachte das Stück zu einem halbwegs eleganten Ende.

»Jetzt Guten Abend, gute Nacht! Und keine Extratouren.« Ein strenger Blick zu Pia, dann zählte er an.

Nach dem fünften Lied musste auch Papa zugeben, dass die Schlaflieder ihre beruhigende Wirkung verfehlten. Pia hüpfte wie ein wild gewordener Flummi durchs Zimmer, Puccini flatterte laut krächzend auf seiner Stange hin und her und aus dem Schlafzimmer waren dumpfe Schläge zu hören.

»Was macht Mama?«, keuchte Pia.

»Ich schau mal nach.« Sarah stand auf. An der Tür blieb sie stehen. »Wolltest du nicht irgendwas mit uns feiern, Papa?«

Mit Schwung ließ er die Schlösser des Geigenkastens einrasten. »Na ja, vielleicht ist es etwas früh zum Feiern – aber wir haben einen grandiosen Auftrag bekommen. Heute sind die ersten Entwürfe abgenickt worden. Die Stadt will nämlich ein großes …«

»Einkaufszentrum bauen«, beendeten Kaja, Nico, Sarah und Pia seinen Satz.

»Ach, ihr wisst es schon?«

»Was denkst du, woher Mamas Migräne kommt? Oma hat vom Verkauf der Apfelwiese erzählt.« Kaja schnitt eine Grimasse, die hoffentlich deutlich machte, wie kindisch sie das alles fand. Wie konnte jemand ernsthaft gegen ein Einkaufszentrum sein? Papa war schließlich auch Feuer und Flamme.

»Wieso bekommt sie davon Migräne?« Papa stand offensichtlich auf der Leitung.