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Jacques Berndorf
Eifel-Krieg

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Mords-Eifel (Hg.)

Der letzte Agent

Requiem für einen Henker

Der Bär

Tatort Eifel (Hg.)

Mond über der Eifel

Der Monat vor dem Mord

Tatort Eifel 2 (Hg.)

Die Nürburg-Papiere

Die Eifel-Connection

Eifel-Bullen

Jacques Berndorf ist das Pseudonym des 1936 in Duisburg geborenen Journalisten, Sachbuch- und Romanautors Michael Preute.

Sein erster Eifel-Krimi, Eifel-Blues, erschien 1989. In den Folgejahren entwickelte sich daraus eine deutschlandweit überaus populäre Romanserie mit Berndorfs Hauptfigur, dem Journalisten Siggi Baumeister. Dessen bislang jüngster Fall, Eifel-Bullen, erschien 2012 als Originalausgabe bei KBV.

Berndorf setzte mit seinen Romanen nicht nur die Eifel auf die bundesweite Krimi-Landkarte, er avancierte auch zum erfolgreichsten deutschen Kriminalschriftsteller mit mehrfacher Millionen-Auflage. Sein Roman Eifel-Schnee wurde im Jahr 2000 für das ZDF verfilmt. Drei Jahre später erhielt er vom »Syndikat«, der Vereinigung deutschsprachiger Krimi-Autoren, den »Ehren-Glauser« für sein Lebenswerk.

Jacques Berndorf

Eifel-Krieg

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für meine geliebte Frau Geli
für Susanne und Alfred Dietrich in Kelberg

»Grüßen Sie Detective Inspector Ruiz. Richten Sie ihm aus,
dass altgewordene Polizisten nie sterben.
Sie setzen höchstens mal einen Takt aus.«

Michael Robotham, Todeskampf, München 2012

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

1. Kapitel

Mein Kater Satchmo ist tot. Er war achtzehn Jahre lang ein sehr guter Kumpel, und er bestand achtzehn Jahre lang auf seiner Unabhängigkeit, er war nicht käuflich. Er war eine echte Eifeler Scheunenkatze.

Mein Freund Tom Ewertz, Bauer in Niederehe, hatte ihn mir geschenkt, als er nicht mehr war als eine Handvoll. Anfangs lebte er zusammen mit seinem Bruder Paul bei mir, bis der an einem nebligen Tag stracks in ein Auto rannte. Satchmo mochte Autos seitdem nicht und schaute durchaus aufmerksam, ob er die Dorfstraße gefahrlos queren konnte.

Es war kein Auto, es war das Alter. Satchmo baute rapide ab, die Nieren machten ihm Schwierigkeiten, er lag desinteressiert herum, er ging immer weniger hinaus in den Garten, er wurde hager wie ein alter Mann ohne Mut und Hunger. Er sprach auch nicht mehr mit mir, was er sein ganzes Leben lang getan hatte. Immer wenn wir aufeinandertrafen, jaulte er in allen erdenklichen Tonlagen, und ich hatte den Eindruck, er wollte mir mitteilen, was er den Tag über im Dorf erlebt hatte. »Stell dir vor, wen ich getroffen habe. Die alte Lisbeth. Auf dem Weg zum Friedhof …«

In den letzten Tagen des vergangenen Jahres war es ganz schlimm. Er fraß nicht mehr. An Silvester verlor er jede Kontrolle, da begann er zu sterben, das machte mir Angst. Er konnte nicht mehr stehen. Und wenn er sich mühsam auf die Beine zu stellen versuchte, begann er, sekundenlang wild zu schwanken, und schoss dann mit zwei, drei Trippelschritten vollkommen haltlos gegen irgendein Hindernis. Gegen einen Heizkörper zum Beispiel oder einfach in eine Zimmerecke oder gegen einen Plastikeimer. Er fiel um und blieb an dem Platz, an dem er scheiterte. Es war so, als würde er nichts mehr sehen, als wäre er blind. Und wenn ich ihn rief, hob er nicht einmal mehr den Kopf.

Ich konnte nicht mehr zusehen und rief in der Praxis von Susanne Fügen in Daun an. Ich sagte, was zu sagen war. Satchmo kam in seinen Plastikbehälter, er wehrte sich nicht, und wir fuhren nach Daun. Gewöhnlich hatte mein Kater mit wilder Hysterie auf diese Praxis reagiert und mit noch größerer Hysterie auf den blanken Stahltisch. Das schien ihn nicht mehr zu berühren, wahrscheinlich begriff er das alles nicht mehr.

Er bekam eine Winzigkeit intravenös gespritzt, er zuckte nicht, er blieb ganz ruhig, zu Tode erschöpft. Dann war er fort, und Susanne Fügen fragte mich freundlich und sanft, ob ich noch eine Weile lang mit ihm allein sein wolle. Das wollte ich nicht.

Immer wieder, wenn ich im EDEKA in Kelberg einkaufen gehe, finde ich mich in der Abteilung Tierfutter wieder und überlege, ob ich Katzenstreu oder Katzenmilch mitnehmen muss. Das wird seine Zeit brauchen, auch mein alter Satchmo geht nie so ganz.

Aber eigentlich will ich die Geschichte von Blue erzählen, die in diesem sommerlichen Juni so hinterhältig, brutal und traurig begann und schlussendlich in einem Chaos endete, mit dem niemand hatte rechnen können.

Es fing an, als Rodenstock mich gegen Abend beiläufig anrief und damit lockte, dass Emma gerade Melonen mit rohem Schinken von Otten in Strohn auf den Tisch brachte – »handgeschnitzt«, wie er mir versicherte. Ob ich denn in Heyroth aufschlagen könne, um Schinken und Melone zu zerstören? Ich sagte natürlich zu, weil ich immer zusage, wenn es irgendetwas Kostenloses gibt, da bin ich sehr konsequent. Ich fuhr also die lächerlichen zwei Kilometer zu ihrem Haus und freute mich auf ein munteres Geplauder bei Schinken und Melone unter einer abendlichen, immer noch warmen Sonne.

Rodenstock stand in der Tür, empfing mich mit einer hastig geflüsterten Information, von der ich kein Wort verstand, drehte sich um und stapfte vor mir her.

Emma kam auf mich zu, umarmte mich kurz, wies hinter sich und brüllte erschreckend laut: »Das ist Tante Liene aus Sydney. Sie will noch mal Europa sehen.«

Besagte Tante Liene hockte auf einem Kissenberg in einem alten Ledersessel und sah aus wie ein Wesen aus einer anderen Welt, ein klassischer Alien. Ihr Gesicht war ein kleines, ovales, rissiges Stück altes Leder, nicht einmal die Nase war ohne Falten. Ihr Haar war ein verwirrendes, helles Gespinst in äußerst lockerer Bebauung, das in einer einzelnen Strähne quer über ihren ansonsten vollkommen kahlen Schädel gelegt war. Sie konnte auf keinen Fall mehr als vierzig Kilo wiegen, und ihre Figur war tropfenförmig. Sie trug irgendetwas Dunkelbraunes und Sackartiges, das mich an die Naturbegeisterten meiner Jugend erinnerte. Sie konnte höchstens eins vierzig groß sein, und nur ihre Augen lebten. Diese Augen waren zwei winzige, tiefschwarze, leuchtende Punkte.

Ich musste mich räuspern, dann sagte ich brav etwas lauter: »Ich bin der Siggi«, und reichte ihr eine Hand.

»Sie hört nicht mehr richtig«, dröhnte Emma. »Aber sie ist immerhin auch schon dreiundneunzig.«

Tante Liene griff nicht nach meiner Hand, wahrscheinlich sah sie gar nichts mehr.

»Mit dem Sehen ist das auch so eine Sache«, schrie Emma.

Ich wiederholte lauter: »Ich bin der Siggi« und legte der Zwergin flüchtig eine Hand auf die Schulter.

»Und nun wollen wir essen!«, schrie Rodenstock.

Die Zwergin fragte krächzend: »Is er a Jidd?«

»Neeh!«, brüllte Emma. Sie stand an der Arbeitsplatte und matschte eine Scheibe der Melone mit einer Gabel klein, dann schnitt sie eine Scheibe des Schinkens in winzige Bestandteile, kam mit dem Teller zu der Zwergin, setzte sich auf die Sessellehne und schrie: »Dann wollen wir mal!«

»Du lieber mein Vater!«, flüsterte Rodenstock mit geschlossenen Augen.

»Wie ist sie denn hergekommen?«, hauchte ich. »Mit einem Segelschiff?«

»Verwöhnkomfort, Singapore Airlines, erste Klasse«, antwortete er. »Den Rest von Frankfurt mit dem Taxi. Vorgestern waren wir noch völlig ahnungslos. Sie will vier oder sechs Wochen bleiben. Ich fange an, meine Frau zu hassen. Wir hatten es hier so schön.«

Einen Augenblick lang dachte ich, Rodenstock wäre ein hervorragender Bauchredner, seine Lippen bewegten sich kaum. »Wieso seid ihr nicht gewarnt worden?«

»Das hätte doch keinen Sinn gehabt, sie wäre sowieso gekommen. Und wahrscheinlich waren die in Sydney froh, sie mal loszuwerden.«

»Das hast du gut gemacht«, stellte Emma laut fest. »Willst du jetzt ein Schläfchen machen?«

»Yep!«, nickte Tante Liene. Dann sackte ihr Kopf zur Seite, und sie tat einen tiefen Atemzug. Sie atmete leicht rasselnd, sie schlief.

»Setzen wir uns in den Garten?«, fragte Emma lächelnd.

Wir nahmen das Geschirr und setzten uns in den Garten an den Holztisch. Emma brachte die Eifeler Köstlichkeiten.

»Das wird eine Katastrophe«, murmelte Rodenstock düster.

»Es ist schwer! Ja!«, pflichtete Emma mit schneidender Stimme bei. »Aber du wirst den Mund halten, verdammt noch mal.« Sie machte eine Pause und nahm einen neuen Anlauf. »Liene hat Auschwitz überlebt. Da war sie fünfundzwanzig. Sie hatte zwei kleine Kinder, sie hatte einen Ehemann. Alle drei wurden getötet.« Sie machte wieder eine Pause. »Es ist gesagt worden, dass sie nur überlebte, weil sie mit ein paar Männern der KZ-Aufsicht schlief. Wann immer die es wollten. Sie war bei einem dieser furchtbaren Todesmärsche dabei. Sie hat bis heute nie mehr darüber geredet. Es war also ein Scheißleben, Rodenstock! Und sie ist einfach zu uns gekommen, weil sie den Schlussstein ihres Lebens sucht.«

»Ist ja gut, es tut mir leid«, murmelte Rodenstock. Dann stand er auf, beugte sich zu seiner Frau hinunter und umarmte sie.

Weil Emma plötzlich weinte, schwiegen wir.

»Verdammte Kacke!«, explodierte sie heftig. »Es muss doch endlich mal Schluss sein damit.«

Natürlich war das Essen vergessen, natürlich schwiegen wir, natürlich wirkte das sehr gequält, bis Rodenstock mich fragte: »Kennst du einen jungen Mann, der Blue genannt wird? Hier aus der Gegend? Ungefähr zwanzig Jahre alt?«

»Nie gehört. Wer ist das?«

»Angeblich lebt er seit drei Jahren auf dem Eulenhof. Aber so ganz genau scheint das niemand zu wissen.«

»Eulenhof? Diese Leute, von denen es heißt, sie seien Neonazis?«

»Genau«, sagte er und nickte knapp. »Neonazis und Zuhälter und Rassisten und was weiß der Teufel noch alles.«

»Keine Ahnung«, sagte ich.

»Der Junge ist seit gestern spurlos verschwunden. Er wollte frühmorgens zu seinen Eltern nach Trier. Er kam aber nicht dort an. Dann riefen seine Eltern die Polizei, und die fuhr ein bisschen herum und erkundigte sich. Bisher ohne Erfolg. Die vom Eulenhof haben gesagt, sie hätten keine Ahnung, wohin der Junge verschwunden sein könnte.«

»Warum fragst du ausgerechnet mich? Hätte er bei mir klingeln sollen?«

»Nein, aber der Vater hat mir gesagt, dass der Junge oft hier bei uns im Ahbachtal war. Immer, wenn er allein sein wollte. Er streunte herum. Lag im Gras und so, meistens allein. Beobachtete Vögel, hatte wohl auch eine Gruppe Wildkatzen im Blick. Deshalb frage ich dich.«

»Keine Ahnung«, wiederholte ich. »Ich habe keinen jungen Mann gesehen. Wie sieht er denn aus?«

»Eins achtzig, blondes Haar, sehr schlank«, antwortete Rodenstock. »Ich bin mittags mal das Tal abgefahren, aber gesehen habe ich nichts. Man kann von der Straße aus nicht alles einsehen.«

»Nun esst doch mal was«, nörgelte Emma.

»Wieso rufen diese Eltern denn gleich die Polizei, wenn der zwanzigjährige Junior nicht wie verabredet eintrudelt? Ist das nicht etwas übertrieben?«, fragte ich.

»Kann man so sehen«, brummelte Rodenstock. »Aber der Vater klang sehr ängstlich, hysterisch sogar. Und jetzt will ich etwas essen.«

Also machten wir uns an die Nahrungsaufnahme und blickten alle drei von Zeit zu Zeit auf Tante Liene, die im Hintergrund mit offenem Mund auf ihrem Kissenberg saß und vor sich hinrasselte.

»Wie kam sie denn nach Australien?«, fragte ich.

»Das wissen wir nicht genau, sie wird es uns sagen«, antwortete Emma. »Sie heiratete nach dem Krieg in Australien noch einmal, bekam drei oder vier Kinder. Sie hatte zwei oder drei depressive Zusammenbrüche, kam in die Psychiatrie, wurde jedes Mal gerettet und zog sich mit ungefähr fünfundsiebzig Jahren aufs Altenteil zurück.«

»Und wie bist du mit ihr verwandt?«, fragte ich Emma.

»Das weiß ich noch nicht genau«, lächelte sie. »Ich glaube, sie war eine entfernte Großcousine von einem Mann, der im Europa des Zweiten Weltkriegs Großonkel Bonni genannt wurde. Der lebte in Paris. Bonni ist natürlich längst tot. Aber das ist ja auch wurscht, sie gehört halt dazu. Ich muss in meinen Papieren nachschauen.«

»Aber sie muss eure Adresse gehabt haben«, sagte ich.

»Hatte sie«, sagte Rodenstock und grinste. »Man kriegt’s mit der Angst zu tun, wenn man sich vorstellt, wer alles in den äußersten Winkeln dieses Planeten unsere Adresse in Heyroth hat, nur weil Emma sich seit vielen Jahren um die Überlebenden kümmert.«

»Rodenstock!«, mahnte Emma. Dann wandte sie sich mir zu und fragte süßlich: »Unsere Staatsanwältin hat mich angerufen und erzählt, dass du zwei Tage in Trier gewesen bist. Ihre Kinder sind ganz begeistert von dir, hat sie mir erzählt.«

»Es war sehr schön«, bestätigte ich. »Ich werde allerdings nicht samt Haushalt nach Trier verschwinden, um deine nächste Frage zu beantworten.«

»Du weißt doch, Emma ist der Meinung, niemand sollte allein leben«, murmelte Rodenstock. »Du schon gar nicht!«

»Er hockt da mutterseelenallein in seinem Haus!«, stellte Emma vorwurfsvoll fest. »Da muss man sich doch kümmern dürfen!«

»Ach, Emma!«, sagte ich.

In diesem Moment tat Tante Liene einen sehr lauten Schnaufer und räkelte sich. Sie bekam tatsächlich beide Arme in Höhe ihrer Schultern gehoben und schlug die Augen auf. Sie sagte: »Humpf.«

Emma rannte zu ihr ins Wohnzimmer, und Rodenstock murmelte: »Ich erwarte tatsächlich das totale Chaos.«

Rodenstock und ich blieben auf der Terrasse. Emma blieb drinnen mit Tante Liene zugange.

»Wie kommt sie eigentlich hoch ins Gästezimmer?«, fragte ich.

»Ganz einfach«, antwortete Rodenstock. »Ich nehme sie auf den Arm und trage sie hoch. Das hatten wir gestern Abend schon einmal. Und sie benutzt reichlich irgendetwas von Dior. Riecht angenehm.« Er grinste diabolisch.

»Und wie lebt sie in Sydney?«

»Allein in einem großen Haus mit allen möglichen Bediensteten. Jedenfalls ist das unser Kenntnisstand. Emma wird heute Nacht mit irgendjemandem aus der Familie in Sydney sprechen, um das herauszufinden.«

»Tante Liene kann doch nicht hierher reisen, ohne vorher festzustellen, ob es diese Adresse überhaupt gibt.« Mir schien das rätselhaft.

»Tatsache ist, dass sie hier vor acht Tagen persönlich anrief und nach Emma fragte. Emma bestätigte das: ›Ja, ich lebe hier.‹ Dann legte Tante Liene auf. Emma ist in der ganzen Sippschaft weltweit als äußerst solide bekannt. Also konnte Tante Liene herkommen, das Risiko war gleich Null.« Er sah eine lange Zeit zum Waldrand hinüber, dann fragte er: »Rauchst du eine Pfeife? Ich hole mir eine Zigarre.«

»Das können wir tun«, sagte ich und stopfte mir bedächtig eine Gotha 58 von design berlin. Ich benutzte die neue Mischung Nr. 1 von Wilhelm Friederichs in Düren und schaute dann Rodenstock zu, wie er seine Montecristo schnuppernd unter der Nase durchzog, um sie dann feierlich zu beschneiden und anzuzünden.

Rauchopfer einer verfolgten Minderheit.

»Was halten wir vom Rücktritt des Papstes?«, eröffnete er dann.

Ich mochte das Thema nicht, ich antwortete: »Der Mann war ein sicher sehr kluger Religionslehrer, aber Begeisterungsstürme hat er weltweit nicht ausgelöst. Er war schlapp und gebrechlich, und er wollte das Amt nicht.«

»Moment, er hat aber kluge Dinge gesagt«, widersprach er.

»Ja, ja, und alle brennenden Probleme ließ er folgerichtig links liegen, die Lesben, die Schwulen, die Frauen, den Zölibat, die gründliche Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, das erschreckende Fehlen an jungen Priestern. Nur dass er kündigte, zeugt von sehr viel Mut.« Ich hatte das Thema nicht gewollt, jetzt war ich mittendrin. Rodenstock schaffte es immer wieder. Ich fuhr fort: »Die katholische Kirche hat seit 1990 in Deutschland fast vier Millionen Gläubige verloren. Das ist nichts für uns, Rodenstock, nicht in dieser katholischen Eifel, in der Gläubige in den Kirchen nur noch wie die Versammlung eines Altenheims aussehen. Der Verein liegt in Europa am Boden und gibt das nicht einmal zu. Für mich ist er kein Thema mehr.«

Er lächelte und fragte: »Und wie ist es mit der Windkraft im Wald?«

»Ein paar Ortsbürgermeister machen den Wald kaputt, sonst nichts«, entgegnete ich. »Wer das ernsthaft will, zerstört das Waldland Eifel. Auch kein Thema.«

»Pferdefleisch?«, fragte er gemütlich. »Bio-Eier?«

»Das muss man reparieren, sonst nichts. Ein paar gierige Firmen dichtmachen, nichts weiter. Aber das wird sowieso nicht passieren.«

»Und der neue Heino? Ist er nicht wunderbar?«

»Ja, durchaus, da stimme ich dir zu. Das hat einsame Klasse. Aber ein Thema ist es auch nicht.«

»Und wie bewerten Eure Heiligkeit die Abartigkeiten des neuen Kapitalismus?«

»Wunderbar. Ich rede grundsätzlich gerne über Obszönes.«

»Was ist mit Zypern und Griechenland?«, fragte er weiter.

»Was soll damit sein? Euro ist Krise, Zypern ist Krise, Griechenland ist Krise, Italien auch. Man sagt uns ständig, dass wir in einer Krise leben. Und wir fallen drauf rein. Wir haben Angst um unser Erspartes, nächste Krise. Ich denke, da wird systematisch übertrieben. Wir sind Europa, wir haben den Euro, wir erleben Fehler und Schwächen, wir müssen reparieren. Aber wir haben ja auch die Mutter aller Krisen, diese Merkel. Die wird es richten.«

Dann lachten wir beide und ließen jede Diskussion sein.

Nur einmal blies er eine gewaltige Qualmwolke in den langsam dunkler werdenden Himmel und murmelte: »Ich wette, Tante Liene wird uns alle schaffen.«

Ich machte mich vom Acker und ließ Rodenstock mit seiner Montecristo allein. Es ist ein schönes Gefühl, miteinander schweigen zu können.

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Auf meinem Anrufbeantworter war die Staatsanwältin und murmelte: »Du scheinst eine geheime Geliebte zu haben. Ich werde das Weib brutal fertigmachen und dich langsam über Holzkohle grillen. Ruf mich doch mal an, bitte.«

Also rief ich sie an, und im Hintergrund war ein Riesenlärm, ein grelles Lachen.

»Ich bin es. Läuft da eine Orgie?«

»So etwas Ähnliches. Stell dir vor, da sind zwei Mädchen vorbeigekommen, mit denen ich mal Abitur gemacht habe. Und jetzt sind wir längst über die Martinis hinaus.«

»Das freut mich. Dann lass ich euch mal allein.«

»Ich ruf dich morgen an, ja?«

Ich hockte noch eine halbe Stunde auf meiner Terrasse und sah zu, wie die Nacht anbrach. Eine der wilden, grauen Scheunenkatzen aus dem Dorf lief durch meinen Garten und starrte mich erst sachlich und dann feindselig an, ehe sie um die Hausecke verschwand.

Dann ging ich ins Büro und arbeitete eine Weile an einem Text, der ziemlich schwierig war, weil das Thema mich wütend machte. Es ging um die geradezu lächerlichen Renten einiger alter Bauersfrauen, deren Männer schon verstorben waren. War irgendjemandem klar, was es hieß, von 318 Euro im Monat zu leben?

Gegen Mitternacht gab ich auf und verschwand ins Schlafzimmer. Ein wütender Journalist ist selten ein guter.

Ich wachte früh auf, es war erst kurz nach sechs. Mein Heimatsender SWR1 teilte mit, es sei nichts Besonderes zu vermelden, der geneigte Hörer könne bedenkenlos guter Laune sein. Das befolgte ich weitgehend, schrieb den Text über die Rentnerinnen ohne jede Schwierigkeit zu Ende und schickte ihn ab. Ich aß ein Stück trockenes Brot mit zwei Mandarinen und fühlte mich gut. Ich setzte mich in mein Auto und fuhr hinüber nach Heyroth.

An der Stelle, an der links der erste Bauernhof lag, nahm ich die scharfe Kehre nach rechts in einen schmalen Wirtschaftsweg und fuhr am Ahbachtal entlang. Ich kann nicht einmal genau sagen, warum ich das tat, wahrscheinlich war ich nur gründlich. Ich erinnerte mich an das, was Rodenstock gesagt hatte. Daran, dass der Junge namens Blue einen ängstlichen Vater hatte, der ihn hysterisch vermisste. Dass der Junge eigentlich bei seinen Eltern in Trier sein müsste, dort aber nicht angekommen war.

Das Tal des Ahbachs war ein Ort zum Träumen. Es schlängelte sich der schmale Bach in wilden Kehren und Schleifen durch das enge Wiesental, gluckerte besänftigend und schaffte eine beinahe vollkommene Stille. In großen Abständen standen Gruppen kleiner Erlen an seinem Ufer, und da, wo das Wasser ein wenig breiter einen kleinen, flachen Tümpel schuf, ging das Vieh auf die andere Seite – immer auf der Suche nach dem saftigsten Gras. Man sah Graureiher, die kleine Fische aus dem Wasser zogen, angeblich hatten Naturfreaks Schwarzstörche gesehen, Raubvögel horsteten an den Waldhängen, ganz früh am Morgen und am Abend trat Rotwild aus dem Wald. Es gab keine Störungen, keine Menschen, keine Maschinen. Und keine Straße, auf der irgendein Verkehr floss. Und jedes Mal, wenn man in den Wiesen Leute sah, dachte man erschreckt: Jetzt haben die blöden Touristen das Tal entdeckt und machen es kaputt.

Ich hielt an einer Stelle, von der aus ich leicht in die Wiesen unter mir gelangen konnte. Es war vollkommen still. Der Bach lag unter der morgendlich grellen Sonne, Kohlweißlinge, Zitronenfalter und viele Kleine Füchse taumelten durch das Licht. Es gab Insekten in Hülle und Fülle, und auf vielen Gräsern saßen die Käfer, die man Blutstropfen nannte und auf deren Rücken eine intensive, rote Punktierung strahlte – Überschwang des Lebens.

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Anfangs siehst du nicht genau, deine Augen können Hell und Dunkel noch nicht voneinander trennen, müssen sich erst an die Umgebung gewöhnen.

Also hockte ich mich an das munter plätschernde Wasser und stopfte mir eine Pfeife. Es war eine Mariner 10 von design berlin, eine sachliche, konservative Schöpfung mit edler, grüner Lackierung. Ich paffte vor mich hin, während meine Augen sich an dieses stille Tal gewöhnten und allmählich das Sehen lernten. Auf der rechten Seite trat ein dichter Mischwald unmittelbar und ohne Grenze bis an die Wiesen im Tal, linkerhand war der steile Hang mit Weißdorn und Schlehenbüschen, ein paar Kiefern und Haselnusssträuchern besetzt.

Ich suchte nach Auffälligkeiten, nach Farbflecken, die nicht in das Tal gehörten. Zuerst lief ich eine Zeit lang unschlüssig umher, mir war nicht klar, in welcher Richtung ich suchen sollte. Dann sah ich auf dem linken Hang irgendetwas unter einem Haselbusch, das blau war, konnte aber nicht erkennen, was es genau war. Ich schlenderte dorthin.

Er lag im Schatten unter einem sehr dichten Haselstrauch. Er lag auf der Seite, das linke Bein lang ausgestreckt, das rechte hoch an den Körper gezogen. Beide Hände lagen frei nach vorn ausgerichtet, als hätte er versucht, noch einmal aufzustehen. Er trug nur ein graues T-Shirt, darüber eine kurze, grüne Allwetterjacke, einfache, abgetragene Jeans, dazu braune Sneakers ohne Strümpfe.

Wahrscheinlich sagte ich irgendetwas, wahrscheinlich einfach »Hallo!« oder »Guten Tag«, ich erinnere mich nicht mehr. Ich weiß nur, dass die meisten Menschen unter diesen Umständen einfach irgendetwas sagen, weil sie hoffen, dadurch den Tod zu verscheuchen, und weil da die Erwartung ist, dass der Tote sich mit einem leichten Grinsen erhebt.

Ich kniete neben ihm nieder und sah zuerst seinen halb offenen Mund, der auf trockenen, welken Blättern aus dem Vorjahr lag. Neben seinem zur Hälfte geschlossenen rechten Auge saß eine Schmeißfliege, ich scheuchte sie fort. Die Gesichtshaut war totenblass.

Der Schuss hatte ihn genau in die Mitte der Stirn getroffen, es war ein vollkommenes, kleines Rund, umgeben von längst getrocknetem Blut. Keine dunklen Schmauchspuren, nichts deutete daraufhin, dass er selbst sich getötet hatte. Der Schusskanal verlief leicht von unten nach oben, das Projektil hatte ihm die hintere Schädeldecke zerschmettert. Eine Waffe gab es nicht.

Ich ging aus dem Schatten hinaus in die Sonne und rief Rodenstock an. Ich sagte: »Ich habe den Jungen gefunden. Jemand hat ihn erschossen. Wenn du auf die Straße kommst, fährst du in Richtung Brück und dann sofort den Wirtschaftsweg links hinunter. Da steht mein Auto.«

»Kann er sich selbst getötet haben?«

»Kaum. Dann müsste eine Waffe da sein. Aber ich habe hier keine entdeckt«, antwortete ich.

»Also das ganze Programm?«

»Das ganze Programm.« Ich beendete das Gespräch, Rodenstock wusste, was zu tun war. Ich nahm meine Nikon und fotografierte die Szenerie gründlich.

2. Kapitel

Es ist schwierig zu erklären, was du denkst, wenn so etwas geschehen ist. Du bist unsicher und erschreckt, und es entsteht ein massives Durcheinander im Kopf. Schnelle, wirbelnde Gedankenfolgen lassen nicht locker und erzeugen eine Art frustrierenden Stau, der sich nicht auflösen lässt, weil es keine Antworten gibt.

Wer erschoss aus welchem Grund einen so jungen Mann? Wer könnte einen Grund gehabt haben, zu einer solchen Brutalität zu greifen? Stritten sie sich um eine Frau? Lag es an den Banalitäten des Lebens, an plötzlich auftauchendem Hass? War ein weiblicher Täter denkbar? War der Tote mit seinem Mörder hier in diesem Tal verabredet? War der Tote ahnungslos? Waren sie zusammen in dieses Tal gegangen, um über irgendein Problem zu sprechen? War die Situation dann plötzlich eskaliert? Aber warum hatte einer von ihnen eine Waffe mitgebracht?

Das Tal war sehr still, irgendwo jubilierte eindeutig eine Feldlerche. Ich ging an den Bach und setzte mich ins Gras. Ich hatte plötzlich die irritierende Idee, es sei gut, sich auszuziehen und die Füße ins Wasser zu stellen. Ich zündete die Pfeife wieder an.

Es wurde eindeutig Zeit, dass Rodenstock auftauchte. Er verfügte über die seltene Gabe, seinem Umfeld selbst im Chaos die notwendige Ruhe zu verschaffen. In solchen Situationen wirkte er wie ein Zauberer.

Als er endlich kam, stieg er sehr selbstsicher über ein Stück verrotteten Stacheldrahtzaun, sah mich an, sah meinen Zeigefinger und ging stracks zu dem Toten unter der Haselnuss. Er blieb stehen, sah die Leiche an, hockte sich neben ihr hin, betrachtete sie lange. Dann stand er wieder auf, sah sich das Tal in beide Richtungen aufmerksam an, betrachtete dann den Toten erneut, hockte sich wieder hin und schien mit ihm zu sprechen. Er nannte das »einen Tatort trinken«, und er würde noch über Monate hinweg wissen, wie weit entfernt von der rechten Hand der Leiche ein kleiner Zweig mit zwei Nüssen lag.

Rodenstock stellte sich hin und teilte mit: »Es kommen ein Streifenwagen und drei Leute von der Mordkommission. Mehr sind nicht verfügbar.«

»Er hat sehr gepflegte Hände«, sagte ich.

»Wie meinst du das?«

»Na ja, lange, elegante Hände mit gepflegten Fingernägeln, sauber geschnitten und gefeilt. Irgendwie intellektuell. Keine Schwielen. Er hat wohl niemals mit den Händen gearbeitet.«

»Ein Intellektueller unter Neonazis?«, spottete er.

»Ein stiller Typ. Warum nicht?«

»Baumeister«, mahnte er an, »du weißt ganz genau, dass Tote immer ein bisschen betrügen. Er war im richtigen Leben vielleicht ein Teufel.«

»Er sieht aber nicht aus wie ein Teufel«, wandte ich ein.

»Eben«, bemerkte er bissig.

»Du bist mir eindeutig zu negativ! Wie heißt er denn eigentlich?«

»Paul Henrici aus Trier, genannt Blue, zwanzig Jahre alt, kein Beruf. Ich hätte mir eine Zigarre mitnehmen sollen.«

»Wir können nicht sicher sein, dass er das wirklich ist. Ich habe den lebenden Blue jedenfalls nie gesehen.«

»Ja, sicher«, grummelte Rodenstock.

Ein Streifenwagen hielt hinter unseren Autos. Die beiden Beamten waren eine Frau und ein Mann, beide jung und offenbar hungrig. Wahrscheinlich war ihr Alltag monoton. Die Frau ging mit einem Pferdsprung über den Stacheldraht, ihr jüngerer Kollege versuchte es auch und scheiterte. Er fluchte wie ein Bierkutscher, und die Frau lachte unterdrückt.

Sie kam zu uns und sagte hell: »Mein Name ist Meinart, guten Tag. Herr Rodenstock, Sie haben uns informiert.« Dann wandte sie sich an mich. »Und Sie sind Siggi Baumeister, ich hätte nicht gedacht, dass ich Sie eines Tages mal in einer Situation wie dieser persönlich kennenlernen würde. Sie haben ihn gefunden, richtig?«

»Richtig«, antwortete Rodenstock, bevor ich etwas erwidern konnte. »Er liegt da unter der Haselnuss.« Er wies mit der Hand hinüber zum Fundort der Leiche.

»Dann habe ich noch auszurichten, dass Frau Doktor Tessa Brokmann von der Staatsanwaltschaft in Trier kommt. Sie ist schon unterwegs«, sagte die Beamtin. »Tja, dann gucke ich mir das jetzt mal an.« Sie trug einen sehr blonden, langen Pferdeschwanz, und sie bewegte sich ausgesprochen weiblich.

Ihr Begleiter verfiel der nächsten Lächerlichkeit und folgte ihr mit winzigen Trippelschritten, wobei er dauernd aus dem Tritt kam, weil er sich gleichzeitig von dem eindrucksvollen Riss am rechten Knie seiner Uniformhose ein Bild machen wollte. Wahrscheinlich war er unsterblich in sie verliebt, und wahrscheinlich war es ihm wurscht, wie er wirkte.

»Die Komik des deutschen Mannes liegt in seinem bloßen Dasein«, flüsterte Rodenstock.

»Haben Sie den Toten etwa berührt?«, fragte die Polizistin.

»Nein, natürlich nicht«, gab ich Auskunft. »Ich habe ihn aus allen erdenklichen Winkeln fotografiert, mehr nicht.«

»Absperren brauchen wir hier wohl nicht«, stellte sie fest.

»Das ist richtig«, sagte Rodenstock.

»Ist er mit einem Auto hergekommen?«, fragte sie.

»Wissen wir nicht. Wenn er mit einem Auto gekommen ist«, bemerkte ich, »dann muss der Wagen auf der anderen Seite des Baches im Wald stehen. Da münden zwei Waldwege, die man von hier aus nicht einsehen kann.«

»Gregor, geh mal gucken«, bestimmte sie.

Gregor hüpfte mit erstaunlicher Eleganz über den Bach und verschwand in den Wald.

Frau Meinart beugte sich hinunter zu dem jungen Mann, auch bei ihr sah das für einen kurzen Moment so aus, als wollte sie ihm etwas zuflüstern. Komm, steh auf, das wird schon wieder. Dann kam sie hoch und bestätigte: »Ja, das ist er, kein Zweifel. Das ist der Junge, der von seinen Eltern vermisst gemeldet wurde. Ein Foto des Vermissten war an uns alle rausgegangen.«

Gregors Stimme tönte zwischen den Bäumen zu uns herüber: »Hier steht ein uralter Polo. Schlüssel steckt.«

»Wenigstens etwas«, bemerkte die junge Beamtin. Dann, ein wenig lauter: »Nicht drangehen. Wegen der Spuren.« Sie wandte sich Rodenstock zu und fragte: »Können Sie sich vorstellen, was hier abgelaufen ist?«

»Das kann ich nicht«, antwortete er. »Was wissen wir denn über diesen Eulenhof? Man sagt, die Bewohner seien Neonazis. Und der Getötete war dort gemeldet.«

»Also, den Namen Paul Henrici kennen wir. Er hat auf dem Eulenhof seinen Wohnsitz gemeldet.« Sie schloss die Augen, als sie sich konzentrierte. »Wir sind angehalten, immer auf den Eulenhof zu achten. Wenn da etwas los ist, was aus dem Ruder läuft, dann sollen wir Meldung machen. Wir sollen auch darauf achten, wer dort zu Gast ist. Die Leute nennen den Hof ja auch die Reha. Es ist gesagt worden, dass Leute aus dem Osten dort Ferien machen. Aber auch Leute aus dem Ruhrgebiet. Manchmal wird dort wie irre gesoffen, haben wir gehört. Aber einen polizeilichen Einsatz gab es bislang noch nie. Und es ist bekannt geworden, dass die Leute einen Schießstand betreiben. Sie haben einen Verein für Schießsport gegründet, und sie schießen mit Kurz- und Langwaffen. Also, komisch ist das schon, wenn Sie mich fragen. Aber direkt verboten ist das ja auch nicht.«

»Wer prüft denn die Waffen?«, fragte ich schnell.

»Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Wir wissen eben nur von Experten, dass in der Eifel sehr viele schwarze Waffen vorhanden sind. Aber vielleicht sind die Waffen auf dem Eulenhof alle ordnungsgemäß gemeldet. Aber, ehrlich gestanden, glaube ich das nicht.«

»Wie viele Bewohner sind dort gemeldet?«, fragte ich.

»Ständig sechzehn oder achtzehn«, antwortete sie.

»Junge Frau«, murmelte Rodenstock nachdenklich, »was war denn Ihr erster Gedanke, als Sie hörten, da sei einer vom Eulenhof erschossen worden?«

Sie überlegte nicht lange. »Da habe ich gedacht: Vielleicht hat er geredet, vielleicht wollte er aussteigen.«

»Das ist eine sehr kluge Idee«, lobte Rodenstock. »Und wem könnte er etwas verraten haben?«

»Na ja, vielleicht irgendeinem Agenten des Verfassungsschutzes? Oder vielleicht jemandem von den Medien?«

»Sie sollten zur Kripo gehen«, bemerkte Rodenstock.

»Das habe ich auch vor«, erklärte das erstaunliche Wesen selbstsicher.

Gregor hüpfte zurück auf unsere Seite des Ahbachs. »Das Auto ist mindestens fünfzehn Jahre alt«, berichtete er. »Da drin herrscht eine Ordnung wie bei Hempels unterm Sofa.«

»Wobei uns die Ordnung unter Hempels Sofa unbekannt ist«, sagte ich.

Gregor errötete sanft.

Auf dem Wirtschaftsweg über uns kam das nächste Auto an. Es war Holger Patt von der Mordkommission, der sofort nach dem Aussteigen lauthals verkündete: »Die Hilfe ist nah!«

Er war ein großer, sehr dünner Mann um die Fünfzig, der so aussah wie ein neugieriger Vogel mit einer Hakennase. Und er ging auch so. Bei jedem Schritt ruckte sein Hals mit dem Kopf nach vorn. Er machte den Eindruck eines Gelehrten, den menschliche Angelegenheiten nicht im Geringsten interessieren. Er ging den vergammelten Zaun natürlich nicht mit einem Hechtsprung an, sondern bahnte sich einen Weg durch einen danebenstehenden Ginsterbusch, dessen Blütenpracht ihn nicht weiter kümmerte. Er schleppte zwei große Koffer mit sich.

Er grinste uns an und sagte: »Guten Tag die Dame, meine Herren! Ich muss zunächst den Toten dokumentieren. Ach, da ist er ja. Hat sich ein Plätzchen im Schatten ausgesucht. Sehr klug.« Patt war für derartige Bemerkungen bekannt, es war seine Art, der Realität eines gewaltsamen Todes auszuweichen.

Er bückte sich und öffnete einen der Koffer. Er nahm eine Kamera heraus, dann verschiedene Objektive, legte sie nebeneinander auf ein schwarzes Samttuch, starrte die Leiche an und seufzte tief. »So ein junges Leben«, stellte er sachlich fest und schüttelte den Kopf. Er setzte eines der Objektive auf die Kamera und ging die zwanzig Schritte zu dem Toten. »Muss ich auf irgendetwas besonders achten?«, fragte er.

»Nein«, entschied Rodenstock. »Es sei denn, du entdeckst irgendetwas, was wir übersehen haben.«

»Ich mache mich vom Acker«, sagte ich.

»Wir brauchen aber ein Protokoll, Ihre Aussage zum Auffinden der Leiche«, wandte die Polizeibeamtin schnell ein.

»Natürlich«, nickte ich. »Wollen Sie das in Papierform oder an Ihre Mail-Adresse?«

»Auf Papier wäre mir lieber«, sagte sie. »Ich käme dann bei Ihnen in Brück vorbei.«

»Okay, ich mache es sofort.«

»Willst du nicht auf Tessa warten?«, fragte Rodenstock leicht erstaunt.

»Ich sehe sie bestimmt bei dir, oder auch bei mir«, sagte ich. »Ich will ein wenig telefonieren.«

»Du denkst an Lippmann, nicht wahr?«, fragte er.

Bodo Lippmann war ein Bauer, der die Felder und Weiden um den Eulenhof herum bewirtschaftete. Er lieferte Kälber für die menschliche Ernährung, und er verfügte über einen trockenen, beißenden Humor.

»Natürlich«, stimmte ich zu. »Bis gleich.«

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Zu Hause angekommen erledigte ich zuerst den Fund des toten Paul Henrici für die Polizei. Ich schrieb eine Dreiviertelseite voll, schilderte, warum ich nach Blue gesucht hatte, wann genau am Tag das gewesen war, dass ich Rodenstock um Hilfe gebeten hatte, der seinerseits alle notwendigen Schritte unternommen hatte. Ich druckte das Protokoll aus und speicherte es zusätzlich auf einem Stick, sodass die Polizeibeamten es leichter haben würden.

Dann war Lippmann an der Reihe. Seine Frau sagte mir, dass sie ihn erst suchen müsse. Es dauerte einen Moment, aber sie hatte Erfolg.

Bodo Lippmann fragte mit dröhnender Stimme: »Wat willste denn, Jung?«

»Alles, was du über den Eulenhof weißt. Da gibt es seit heute einen Toten, einen jungen Mann namens Paul Henrici, der Blue genannt wurde. Erschossen hier bei uns im Ahbachtal. Weißt du etwas über ihn?«

Lippmann schien es für einen Moment die Sprache verschlagen zu haben. Aber er fing sich, schnaufte, dann antwortete er: »Nichts. Da muss ich dich enttäuschen. Ich kenne die einzelnen Leute nicht, also, ich weiß ihren Namen nicht. Nicht bei den Frauen, nicht bei den Männern. Nur den Chef kenne ich. Der heißt Ulrich Hahn, ist so knapp an die dreißig Jahre alt und hat ein Maulwerk, dass Gott erbarm. Ich habe seine Wiesen in Pacht. Der sagt mir in aller Gemütsruhe, ich soll seinen Betrieb nicht stören und auch nicht drüber reden. Falls ich drüber rede, hat er gesagt, werde ich meines Lebens nicht mehr froh. Hoppla, denke ich, was redet der für einen Scheiß? Kommt daher und droht mir. Aber dann lief alles ruhig, und ich hatte keinen Grund zur Klage. Du weißt ja, es ist eine Siedlung. Praktisch läuft da alles hinterm Zaun, du erfährst nichts.«

»Was heißt das genau?«

»Na ja, in den Sechzigern und Siebzigern des vorigen Jahrhunderts war es möglich, aus den viel zu engen Verhältnissen in der Dorfmitte auszuziehen und am Dorfrand zu siedeln. Also ein großes Wohnhaus, einen großen Stall, eine große Scheune, eine große Futterscheune, eine große Halle für die Maschinen, sodass man viel Platz hatte und vernünftig wirtschaften konnte. Das nannte man dann eine Siedlung. Das wurde vom Staat mitfinanziert. So wie bei mir, das kennst du doch.«

»Das ist jetzt klar. Wann hat denn diese Familie Hahn den Hof übernommen?«

»Das ist fast fünfzehn Jahre her. Die kamen aus dem Ruhrgebiet, und sie sagten, sie würden Autos umbauen für Rallyes und auch für Rennen auf dem Nürburgring. Na ja, dachte ich, dann macht mal. Aber daraus wurde nichts, weil der Chef der Familie gerne einen gepichelt hat, also, der Udo hat alles versoffen. Und dann ist er auf seinem Quad mit vierkommanochwas Promille und Vollgas geradeaus gegen die Betonumrandung seines Mistplatzes gedonnert. Schluss aus. Seine Frau lebt ja immer noch auf dem Hof, die alte Tilly, ein Schlachtross so breit wie hoch. Der möchte ich nicht gegen Abend auf einem Waldweg begegnen, das kann ich dir versichern.«

»Und wer macht jetzt den Betrieb da oben?«

»Der Sohn, Ulrich Hahn. Er muss so an die dreißig sein. Und seitdem er den Betrieb da regelt, seitdem ist da immer Remmidemmi. Die Mutter hat nichts mehr zu sagen, Sohn Ulrich soll ihr ein paar gescheuert haben, als sie sich einmischen wollte. Der Mann ist eindeutig rechts außen, der ist gefährlich, sage ich dir. Da kommen Autos aus Sachsen und Thüringen, und da kommen Autos aus Düsseldorf und aus dem Münsterland. Die Leute machen da richtig Ferien, und sie machen immer einen drauf. Lustige Leute.«

»Und sind die alle rechts außen? Bodo, pass mal auf: Ich kann nichts anfangen mit dem Gerücht, es reicht mir nicht, wenn dauernd die Bemerkung kommt, das wären Neonazis, ich brauche handfeste Tatsachen.« Ich merkte, dass ich wütend wurde, und das war kein guter Zustand.

Er schwieg sehr lange. Dann erklärte er: »Ja, okay. Kapiert. Reicht es dir, wenn ich sage, dass sie mit ungefähr dreißig Mann und ein paar Frauen um ein Lagerfeuer gesessen haben und einer las aus Hitlers Mein Kampf vor? Reicht dir das?«

»Wie kannst du denn so etwas behaupten? Kannst du das Buch auswendig zitieren?«

»Kann ich nicht!«, erwiderte er wütend. »Aber ich habe immer noch ein Exemplar von meinen Großeltern, und ich habe es aufmerksam gelesen. Schließlich muss ich meinen Kindern die Wahrheit sagen. Da drin steht der berühmte Satz: Ich aber beschloss, Politiker zu werden! Das kennst du doch, oder? Jeder kennt das. Jedenfalls standen an der Stelle einige von denen auf, hoben die Hand zum Hitlergruß und riefen: ›Heil! Heil! Heil!‹ Aber zitieren kannst du mich nicht, sonst habe ich kaum Zukunft.«

»Ich würde dich gerne in den kommenden Tagen besuchen. Geht das?«

»Ruf aber vorher an, damit ich da bin.«

Artig bedankte ich mich für das Gespräch und verabschiedete mich mit dem Versprechen, mich wieder melden zu wollen.

»Mach et joot, Jung«, sagte Bodo Lippmann zum Schluss.

Ich setzte mich eine Weile auf die Terrasse und trank einen Becher Kaffee. Ich musste Hitler und seine Bewunderer wahrnehmen, ich konnte nicht mehr ausweichen, ich fiel augenblicklich in eine strenge Art des Fremdschämens.

Du denkst empört: Das kann doch nicht sein! Nicht in meiner Eifel! Gleichzeitig weißt du, dass das ab jetzt Realität ist, dass es nicht erlaubt ist wegzuschauen, dass es höchste Zeit ist, darüber zu reden.

Und jetzt dieser Tote, der dort drei Jahre lang zu Hause gewesen sein soll, wie Rodenstock berichtet hatte.

Der Streifenwagen kam durch die Kurve auf meinen Hof gerollt. Ich nahm das Protokoll und den Stick und brachte es ihnen an den Wagen. Sie bedankten sich und fuhren weiter.

Ich rief Hansemann in der Redaktion in Hamburg an und fragte: »Hättet ihr Interesse am Wachsen und Blühen einer jungen Neonazigruppe in tiefster Provinz?«

»Das kommt darauf an«, antwortete er. »Wenn es typisch ist. Wenn etwas Besonderes damit ist.«

»Da ist ein Mord passiert.«

»Okay, ich notiere das. Und du rufst wieder an?«

»Ich rufe wieder an.«

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Danach saß ich mit dem nächsten Becher Kaffee wieder auf der Terrasse und dachte darüber nach, dass wir über diesen Eulenhof nichts wussten. Nichts über die Verhältnisse dort, nichts über die Menschen. Seit wann war es eigentlich die Regel, dass wir knapp, kommentarlos und selbstverständlich die Meinung äußerten, die Leute dort seien Neonazis? Seit Jahren. Ich dachte erschreckt: Da muss ich sofort fragen gehen.

Ich setzte mich also in mein Auto und fuhr nach Bongard hinüber. In der engen Straßenkehre unten am Ahbach hielt ich an und dachte: Du baust Blödsinn, mein Freund. Du baust Blödsinn, weil wahrscheinlich jemand von der Mordkommission auf dem Hof ist und herauszufinden versucht, wie die Stellung des toten Blue zu beschreiben ist.

Ich bremste mich selbst und meinen Eifer, indem ich Rodenstock anrief. »Hat die Mordkommission den Eulenhof besucht?«, fragte ich. »Und was sagen die Leute dort?«

»Das ist merkwürdig«, antwortete er. »Sie sagen, dass der junge Mann dort gemeldet sei, aber eigentlich mit den Leuten auf dem Hof nichts mehr zu tun habe. Ursprünglich habe er dort auch hin und wieder ausgeholfen. Zum Beispiel in der Küche, zum Beispiel beim Saubermachen der Gästezimmer. Dann seien diese Arbeiten immer seltener geworden, jetzt sei das schon Jahre her. Sie hätten keine Ahnung, weshalb der Junge im Ahbachtal war, und weshalb er dort erschossen wurde. Das tue ihnen bitter leid, denn er sei ein netter Kerl gewesen. Aber eben nur ein Untermieter, mit dem sie gar nichts mehr zu tun gehabt hätten. Und ehe du mich fragst: Nein! Ich glaube davon kein Wort. Du willst doch nicht etwa auf den Hof?«

Ich wollte ihn nicht direkt belügen und antwortete: »Wie kommst du denn darauf?«

»Ach, so was denkt man als alter Mann schon mal. Wir müssen übrigens nicht zu seinen Eltern nach Trier. Die sind beide schon hier und verlangen Auskunft. Tapfere Leute, aber in einem elenden Zustand. Ach so, ich soll dich von Tessa fragen, ob du ein Bett für die Nacht hast.«

»Sag ihr: selbstverständlich. Bis später.«

Ich fuhr weiter nach Bongard, dann auf die Dorfstraße nach rechts in Richtung Kelberg. Nach einem halben Kilometer lag rechterhand der Eulenhof vor einem Mischwald, eine ziemlich große Ansammlung verschiedener, strahlend weißer Gebäude.

Die Anfahrt war ein etwa dreihundert Meter langes, asphaltiertes, schmales Band, an dem große, weiß gestrichene Felsbrocken lagen. Das wirkte dekorativ. Aber dass die Holzzäune ebenfalls weiß gestrichen waren, kam mir übertrieben vor, erinnerte mich an große Pferdehöfe im Münsterland.

Kein Mensch hatte beim Eulenhof je etwas von Pferden gesagt. Mir fielen die vielen Blumen auf, die in großen Trögen aus rotem Sandstein gepflanzt waren. Große Büsche Vergissmeinnicht, Geranien in allen Rottönen. Alles in allem war das ein höchst gepflegtes Anwesen. Passte das zu Neonazis? Warum nicht. Vielleicht passten Geranien in Rotsandsteintrögen besonders gut zu überzeugten Rassisten. Blumen sind bekanntlich geduldig.

Es gab einen Parkplatz außerhalb des großen Gevierts, das die Häuser bildeten. Für unsere Gäste. Herzlich willkommen! stand da auf einem weißen Plastikschild. Der Parkplatz reichte für zwanzig Autos, acht parkten jetzt dort. Die Kennzeichen waren Dresden, Erfurt, Gotha, Köln, Oberhausen. Ich parkte und stieg aus.

Ein Mann bog um die Ecke des Hauptgebäudes, kam stracks auf mich zu, reichte mir seine Hand und sagte mit einem Lächeln: »Guten Tag, Herr Baumeister. Das freut mich, dass wir Sie hier sehen, wenn auch aus einem traurigen Anlass. Mein Name ist Ulrich Hahn.«

»Hallo«, murmelte ich etwas lahm und versuchte, meine Überraschung zu verbergen. »Nun, ich habe ein paar Fragen zu Paul Henrici.«

»Kommen Sie, wir gehen in die Küche«, erklärte er freundlich. »Die Herren der Mordkommission waren auch schon da. Aber leider konnte ich ihnen nur wenig helfen.«

Er war unüberhörbar ein Freund höflicher, sanfter Töne, und er sah auch so aus. Das schwarze Haar kurzgeschnitten, leicht gegelt. Das Gesicht wurde von den Augen beherrscht, die graubraun gesprenkelt waren und sehr eindringlich wirkten. Das Gesicht schmal geschnitten, durchaus elegant. Er war etwas größer als ich, vielleicht eins fünfundsiebzig, und er trug die teure Freizeitkleidung gut betuchter Leute. Einen Kaschmirpullover in Beige über einem dunkelroten Hemd, dazu eine braune Cordhose und braune Sneakers. Ich hatte mir etwas ganz anderes vorgestellt, einen aggressiven Rabauken vielleicht, nicht so einen sanften Typen.

Der Hof war sehr groß und sehr gepflegt. In umstehenden Gebäuden waren auffällig viele Türen angebracht, über denen Nummern an die Wände geklebt waren. Über jeder Tür eine Bogenlampe. Das war offensichtlich so etwas wie ein Hotel.

»Hier, bitte«, sagte Hahn, öffnete eine Tür und ließ mich eintreten.

Der riesige Raum, den wir betraten, lag in einem Dämmerlicht. Der Kamin war ausladend, rechts und links waren Holzkloben aufgeschichtet, ein großer Kupferkessel hing über der Feuerstelle. Vor dem Kamin zwei braune Ledersessel. Dann ein Tisch, dessen Platte aus einem einzigen Stamm geschnitten war, Esche. Dazu etwa zwölf hohe Eichen-Stühle. Über dem Tisch an der Decke ein riesiges Wagenrad aus schwarzem Metall mit aufgesetzten, elektrischen Kerzen.

Ich dachte sofort: Das ist übertrieben, das glaube ich nicht, das taugt nicht. Ich sagte: »Du lieber Gott, ist das hier Wotans Halle?«

»Unsere Gäste lieben das«, erwiderte er einfach und ging nicht weiter auf meine Bemerkung ein. »Kaffee?« Er stand vor einer italienischen Kaffeemaschine, lächelte mich an und dachte wahrscheinlich: Du kannst mich mal.

»Mit viel Milch, bitte.«

»Nehmen wir die Sessel?«, fragte er und trug zwei Tassen auf ein kleines Tischchen zwischen den Sesseln. Dann nahm er ein Handy aus der Hosentasche und sagte: »Veit, kommst du mal bitte.« An mich gewandt sagte er: »Ich hole gern einen Zeugen dazu, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Nicht im Geringsten«, erwiderte ich. »Das ist in Ordnung.« Ich setzte mich in einen der Sessel.

Der Mann, der durch eine schmale Tür in den Raum trat, war an die zwei Meter groß, hatte eine spiegelnde Glatze, zwei Augen, die wie nutzlose Murmeln in einem feisten Gesicht saßen, und er lächelte töricht.

»Das ist Veit Glaubrecht«, erklärte Hahn. »Er leitet meine Marketingabteilung, und er macht die Pressearbeit. Veit, das ist Siggi Baumeister. Er arbeitet als Journalist in der Eifel und ist für Magazine tätig. Du weißt schon, Spiegel und Konsorten. Setz dich.«

Der ganz in Schwarz gekleidete Veit nickte mir freundlich zu, setzte sich an den großen Tisch und legte ein kleines, schwarzes Kästchen vor sich hin. Ein Aufnahmegerät, dachte ich. Es war ein ausgesprochen unhöfliches Arrangement: Ich hatte Veit Glaubrecht im Rücken und konnte ihn nicht sehen. Ich fühlte mich sofort unbehaglich.

»Herr Baumeister, Ihre Fragen bitte«, sagte Hahn und setzte sich in den zweiten Sessel.

»Meine erste Frage betrifft den Toten«, sagte ich. »Soweit ich informiert bin, wohnte er hier seit drei Jahren. Ist das richtig?«

»Das ist richtig«, bestätigte Hahn. »Im ersten Jahr hat er geholfen, das war sehr gut. Er hat Arbeiten in der Küche erledigt, schon mal Kaminholz geschlagen, Autos der Gäste gewaschen und poliert, unsere Putzfrauen eingeteilt, eingekauft bei der Metro in Köln. Dann hatte er kein Interesse mehr. Wir haben ihn aber weiter hier wohnen lassen, warum auch nicht, er war schließlich ein netter Kerl. Wir trauern.«

»Und Sie haben nicht die geringste Vorstellung, wer ihn erschossen haben könnte?«

»Ich gebe zu, das hat mich geradezu geschockt. Aber wer so etwas getan haben könnte, ist mir vollkommen schleierhaft. Hier auf dem Hof sind alle erschreckt, und keiner von ihnen konnte einen möglichen Grund nennen. Blue hatte keine Feinde.«

»Haben Sie mit seinen Eltern gesprochen?«

»Die sind jetzt in der Eifel, ich weiß. Aber wir konnten ihnen nicht helfen, wir wissen einfach nichts. Sie wollen kommen und Blues Zimmer ausräumen. Morgen, haben sie gesagt.«

»Kann ich das Zimmer sehen?«

»Natürlich, wann immer Sie wollen.«

»Dann will ich das jetzt«, sagte ich und stand auf.

Hahn war einen Augenblick lang irritiert, stand dann aber auf und sagte: »Gehen wir.«