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Margarete Wenzel | Anita Ortner

Es war 1001 Mal

Märchenreisen durch Leben und Welt

Tyrolia-Verlag • Innsbruck–Wien

2015
© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlagbild: Anita Ortner, Wien
Grafische Gestaltung: Nele Steinborn, Wien
Schriften: Diaria Pro, Solex, Imagination Station

Inhalt

Erzählen wirkt Wunder

Der Geist der Erde aus Afrika

Dschinroku aus Japan

Der weiße Wolf aus dem deutschsprachigen Raum

Mushkil Gusha aus Persien

Unsere Sonne aus England

Woher kommt das Brot?

Vom Mädchen, das für Brot am besten log nach einem griechischen Motiv

Rettung mit dem Löffel aus Japan

Im Handumdrehen satt Romaerzählung

Sven, mein Knecht! aus Schweden

Wie König Cathal gesunderzählt wurde aus Irland

Guten Tag, Tod!

Gevatter Tod aus Deutschland

Die alte Frau und der Tod aus dem deutschsprachigen Raum

Die Frau im Mond aus Hawaii

Der Meister der Teezeremonie aus Japan

Tuo Lanka, der ewige Maler aus China

Savitri und Satyavan aus Indien

Lebenswege

Die eigene Farbe finden aus Mazedonien

Die Kaiserin hat eine rote Nase aus Griechenland

Der faule Lars aus Dänemark

Wie der Drache Siebenklau ein Häppchen zu viel bekam deutsches Kunstmärchen

Vom Zigeuner, der Goldamsel und dem fürchterlichen Drachen Romamärchen

Bär und Wildschwein auf Erkundungstour aus Korea

Kaulu aus Hawaii

Ein Schüler hat seinen Meister gefunden chassidische Erzählung

Das Brokatbild aus Asien

Kommen und Gehen aus dem arabischen Raum

Zu dumm ... oder weise?

Wer pflügt? aus der Toskana

Nasreddin Hodscha türkisch/arabisch/persisch

Der Ring, Sich ausweisen, Gücklich verloren,

Den üblichen Weg gehen, Die Decke, Zwei Fragen, Wer hat Recht?

Die Teetasse des Meisters aus Asien

Der verkaufte Traum aus Japan

Das Glöckchen aus Japan

Achmeds Furz in Österreich überliefert

Ein Papagei – gefangen und frei in den USA überliefert

Des Königs Pferd – des Königs Narr in Österreich überliefert

Die gerupfte Gans aus der Türkei

Der Wunsch der Wahrheit in den USA überliefert

Der Wünschebaum in Frankreich überliefert

Ein begabter Großwesir im deutschsprachigen Raum überliefert

Geschichten hinter den Geschichten

Mündlich Erzählen

Wer Geschichten lauscht, pflegt und ordnet dabei die eigenen Erlebnisse.

Wer Geschichten lauscht, sieht, was es in der Welt und im Menschenleben gibt und wo sich Motive wiederholen.

Wer Geschichten erzählt, begreift Folgerichtigkeiten und Zusammenhänge, geht ins Detail und spürt aus den Reaktionen der Zuhörenden, wie die Erzählung runder und besser wird.

Erzählen ist also eine kluge, anspruchsvolle Tätigkeit. Aber sie ist zugleich vergnüglich. Geschichten werden einfach zur Unterhaltung erzählt.

Um zu erzählen und zuzuhören, kommen Menschen zusammen und nehmen sich Zeit. Dabei entsteht ein Austausch über das Leben im Allgemeinen und über Erlebnisse im Besonderen. Individuelles wird mit Allgemeinmenschlichem verglichen und es zeigen sich Übereinstimmungen.

Wer traditionelle Geschichten (Mythen, Volksmärchen …) kennt, „blickt über den Tellerrand“, schaut in den Erfahrungsschatz früherer Generationen und anderer Kulturen. Wer sich auf diese erprobten Stoffe einlässt, kann sie nützen, um sich zu orientieren und eigenständig den Weg durchs Leben zu finden, wie es die Märchenheldinnen und -helden tun. Jedes Mal, wenn die gleiche Geschichte in einem konkreten Leben wirksam wird, wird sie neu interpretiert und „mit Wirklichkeit gefüttert“, sodass sie weiterleben kann. Die mündlichen Geschichten eines Kulturkreises bilden also ein mehrdimensionales Gefüge, das identitätsstiftend und orientierungsfördernd wirkt.

Die meisten Märchen und Weisheitsgeschichten, die in diesem Buch aufgeschrieben sind, entstammen nicht einem spezifischen gemeinsamen Kulturkreis, sondern einer individuellen „Wiederbelebungs-Aktion“, die vor einem hohen und breiten Regal voller Bücher mit Märchen aus aller Welt begann.

Diese Bücher sind entstanden, weil Menschen in verschiedenen Ländern mündliche Volksmärchen sammelten und aufschrieben. Dazu suchten sie Erzählerinnen und Erzähler auf und notierten deren Stoffe. Sie verfolgten dabei meist kein mündliches, sondern ein literarisches oder ethnologisches Interesse. Sie passten die mündlichen Erzählungen zum Teil sehr massiv schriftlichen Anforderungen an und ließen die spezifische Erzählsituation sowie die Individualität der oder des Erzählenden oft links liegen.

Ich las eine große Menge solcher ursprünglich mündlicher Stoffe, die in der schriftlichen Überlieferung überlebt hatten und in unsere Kultur gereist waren. Sie alle waren stark überformt worden. Ich nahm sie vor dem Hintergrund meiner mündlichen Erfahrung wahr und filterte sie im Hinblick auf konkrete Erzählsituationen. Ich wählte einzelne aus. Jeden dieser Stoffe lernte ich sorgfältig anhand innerer Bilder, erforschte die Dynamik der Handlung, befragte Erfahrungswerte und recherchierte zu historischen und kulturellen Tatsachen. Ich schlüpfte in die Rollen der Märchengestalten, um sie besser kennenzulernen. Erst dann ging ich mit der vertraut gemachten Geschichte in eine Erzählsituation.

Von da an prägten meine eigenen Beobachtungen als Erzählende und die Reaktionen der Zuhörenden die weitere Gestaltung der Geschichten. Das Vertrautwerden mit einer Geschichte ähnelt dem Kennenlernen eines Menschen. Immer wieder entdeckt man Eigenarten und tritt mit der Geschichte in Dialog.

Das Wieder-mündlich-Machen eines verschriftlichten Stoffes ist zu vergleichen mit dem Kochen eines Gerichtes nach dem Kochbuch. Als Rezept bleibt die Geschichte duft- und leblos. Nur durch persönliche Erfahrung, Herbeiholen der Zutaten, Herstellen der notwendigen Bedingungen, durch Nachschaffen und Abschmecken kommen wir dem ursprünglichen Geschmackserlebnis wieder nahe.

Erst nachdem die Geschichten einst zwischen Buchdeckeln persönlich gefunden, wieder lebendig gemacht, mit anderen Geschichten und realen Lebenssituationen der Gegenwart in Berührung gebracht und von heutigen Menschen neu erlebt worden waren, wurden sie im Ton dieser neuen Mündlichkeit aufgeschrieben. Wer sie liest, bekommt einen Hauch von mündlicher Erzählsituation, eine Kostprobe von aktuellem Mit-Geschichten-Leben in die Hand.

Erzählen wirkt Wunder

Der Geist der Erde

aus Afrika

Noch bevor es Menschen gab, lebte der Geist der Erde ganz allein in seinem Dorf. Er hatte genug zu essen. Er hatte genug zu trinken. Er hatte genug Tabak zu rauchen. Dennoch saß er oft da und war unfroh. Etwas fehlte ihm.

Eines Tages ging er hinaus aufs Feld. Dort wuchs ein großer Baum mit Kola-Nüssen. Er packte den Baumstamm und rüttelte daran. Unzählige Kola-Nüsse prasselten herab. Er hob davon so viele auf, wie er tragen konnte, und schleppte sie zum Dorfplatz. Dort legte er sie hin, ging um den Haufen herum, sah ihn sich genau an, wiegte besorgt den Kopf, schüttelte ihn und ging wieder aufs Feld hinaus. Er sammelte alle Kola-Nüsse auf, die noch herumlagen, und trug sie ebenfalls auf den Dorfplatz. Der Haufen Kola-Nüsse war nun viel höher und breiter geworden. Prüfend umkreiste ihn der Geist der Erde. Er war noch immer nicht zufrieden. Also ging er ein drittes Mal aufs Feld hinaus. Er schüttelte den Kola-Baum mit aller Kraft und abermals prasselten Nüsse in großer Menge herab. Sie alle klaubte der Geist der Erde auf und trug sie ins Dorf. Nun war der Haufen Kola-Nüsse sehr groß und der Geist der Erde wirkte endlich zufrieden.

Doch dann machte er sich erst recht ans Werk. Er schleppte alle Kola-Nüsse hinunter zum Meer. Dort lag sein schönes Boot, aus Holz geschnitzt und bunt bemalt.

Als alle Kola-Nüsse im Boot waren, war kaum mehr Platz für den Geist der Erde. Er zwängte sich dennoch hinein und pfiff. Ein Krokodil paddelte herbei. Der Geist der Erde legte ihm ein Zaumzeug um. Auf seinen Befehl hin zog es das Boot weit hinaus aufs Meer, so weit, bis das Festland nur noch eine Ahnung am Horizont war. Da nahm der Geist der Erde eine Kola-Nuss, hauchte sie an, sprach: „Werde ein Mensch!“ und warf sie ins Wasser, in Richtung Festland. Die Nuss schwamm davon. Der Geist der Erde schaute kurz hinterher, griff dann nach der nächsten Nuss, hauchte sie an, sprach: „Werde ein Mensch!“ und warf sie ins Wasser. So tat er es mit jeder Nuss im Boot. Wie eine Herde schwammen sie dahin. Von fern sahen sie aus wie Lebewesen, von denen beim Schwimmen nur die Köpfe über Wasser waren.

Endlich war der Geist der Erde fertig. Keine Nuss war mehr bei ihm. Er pfiff das Krokodil herbei, damit es ihn im Boot zurück zum Festland zog. Und das war jetzt unglaublich leicht, denn was wiegt schon ein Geist?

Sie erreichten das Ufer. Der Geist der Erde verabschiedete sich vom Krokodil und stieg aus dem Boot. Er sah am Ufer die Menschen stehen, Kinder, Frauen und Männer. Sehr viele waren es. Sie winkten ihm zu und riefen „Hallo, hier bin ich!“, „Und hier bin ich!“, „Ich bin hii-ier!“, „Hallo, siehst du mich?“, „Hallo ich bin’s!“, „Hallo, Geist der Erde, willkommen zurück!“, „Hier bin ich, schön, dass du da bist!“ ...

Alle miteinander gingen sie hinauf ins Dorf, entfachten ein Lagerfeuer und kochten Maisbrei. Dann aßen und tranken sie genüsslich. Als sie satt und zufrieden waren, stopfte der Geist der Erde seine Pfeife, entzündete sie, schmauchte ein wenig und reichte sie weiter. Sie rauchten die Pfeife, reichten sie im Kreis herum und dann begannen sie, jede Menge Geschichten zu erzählen.

Seitdem ist der Geist der Erde nie mehr allein und langweilig ist ihm auch nie mehr. Und wenn sie nicht aufgehört haben, dann sind sie jetzt noch beim Lauschen und Geschichten-Erzählen.

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Dschinroku

aus Japan

In einem fernen Land lebte vor Zeiten ein Bauer, der drei Söhne hatte. Die beiden ältesten lebten wie ihr Vater, dachten wie er und bestellten die Felder mit Sorgfalt. Der jüngste, Dschinroku, war anders. Er träumte immer wieder vor sich hin, hüpfte und summte und äußerte allerlei versponnene Gedanken. Wo er nur konnte, lauschte er Geschichten. Wenn das Wandertheater in die Gegend kam und im ausgetrockneten Flussbett eine Bühne errichtete, war Dschinroku vom ersten Moment an dort. Hatte er kein Geld, um den Eintritt zu zahlen und das Stück anzusehen, dann verkaufte er einen Topf, eine Pfanne oder sonst etwas Brauchbares aus dem Haushalt. Das trieb seinem Vater die Zornesröte ins Gesicht.

Eines Tages, als alle drei Söhne bereits erwachsen waren, rief der Vater sie zu sich, gab jedem drei Silberstücke, die er erspart hatte, und schickte sie in die Welt hinaus, damit sie Erfahrungen sammeln und sich im Leben beweisen sollten.

Zu dritt zogen sie los. Aber sobald sie den väterlichen Hof hinter sich gelassen hatten, begann Dschinroku gedankenverloren hinter den beiden Brüdern her zu zockeln und diese sprachen zueinander: „Was sollen wir mit dem da anfangen? Der stört uns nur und bringt das Geld durch. Wir müssen schauen, dass wir ihn baldmöglichst loswerden“, und sie nickten einander zu.

Als es Abend wurde, entzündeten sie ein Lagerfeuer und legten sich nieder. Sobald aber Dschinroku eingeschlafen war, machten sich die beiden Brüder ohne ein weiteres Wort wieder auf den Weg.

Beim Erwachen hörte Dschinroku dennoch zwei Stimmen neben sich. Das mag uns verwunderlich erscheinen, ihn jedoch wunderte es nicht. Er war überzeugt, seine Brüder säßen neben seinem Lager, und wiegte sich in seinen Träumen. Dabei stieg ihm von der Feuerstelle her ein nahrhafter Duft in die Nase.

Als er die Augen öffnete, staunte er nicht schlecht, denn seine Brüder waren nirgends zu sehen. Stattdessen saßen zwei Bettler am Lagerfeuer. Einer von ihnen rührte im Topf.

„Ah, siehe da! Unser Schützling erwacht“, rief er. „He, Jüngling, bist du von allen guten Geistern verlassen? Weißt du nicht, dass es hier im Wald wilde Tiere, Räuber und allerlei Gefahren gibt?“

Der andere brach ein Stück Brot in drei gleich große Teile. „Als wir dich hier mutterseelenallein am erlöschenden Feuer liegen sahen, dachten wir, wir setzen uns her und behüten dich. Schau, wir haben auch eine heiße Suppe gekocht.“

Da saßen die drei am Feuer, unterhielten sich über das Wandern und die Welt und ließen sich das Morgenessen schmecken. Dschinroku spürte in der Tasche die drei Silberstücke, holte sie hervor und sagte: „Seht nur, wie gut sich die Dinge manchmal fügen hier draußen in der Welt, das ist fast wie in den Geschichten, die ich so liebe. Was für ein Glück, dass ihr vorbeigekommen seid und für mich gesorgt habt, als ich hier in der Wildnis ganz allein am Feuer schlief. Und wie gut: Ich habe hier drei Silberstücke und wir sind ebenfalls drei. Also soll jeder von uns eines bekommen.“

Die Bettler freuten sich herzlich, als sie die Münzen in Händen hielten, denn mit ihnen waren sie sicher, nie wieder Hunger leiden zu müssen.

„Zum Dank für das Wertvolle, das du uns gegeben hast, wollen wir dir auch etwas geben, das du brauchen kannst“, meinte daraufhin der eine. „Hier, nimm diese Nadel. Sie fädelt dir alles auf, was du auffädeln willst. Alles, hörst du?“

„Und dieser Faden“, setzte der andere fort, „wird immer so lang sein, wie du es brauchst.“

Sorgsam steckte Dschinroku die Gaben ein. Dann gingen die drei noch ein Stück Wegs zusammen, bevor sie freundlich voneinander Abschied nahmen.

Der Weg war lang. Dschinroku ging. Ihm wurde dabei gründlich langweilig. Da traf er einen Händler, der einen Sack auf dem Rücken trug und der die gleiche Richtung hatte. Da gingen sie zusammen und leisteten einander Gesellschaft.

„Mein Freund“, sagte der Händler, als sie eine Weile über dies und das geredet hatten, „mir scheint, du liebst Geschichten. Sicher hast du auch einige zu erzählen.“

„Ach“, seufzte Dschinroku, „da hast du gerade meinen wunden Punkt getroffen. Wie viele Geschichten ich auch höre und genieße, ich kann sie nicht erzählen. Das finde ich schade, aber so ist es nun mal.“

„Wie gut, dass du mich getroffen hast“, lächelte da der andere. „Weißt du, ich bin ein Geschichtenverkäufer.“

Dschinroku, der zwar noch nie von diesem Beruf gehört hatte, aber aus den Geschichten wusste, dass es vieles gibt, was man irgendwann einmal zum ersten Mal hört, horchte auf.

Der Geschichtenverkäufer schwang den Sack von der Schulter und setzte ihn auf den Boden. Er schaute hinein, ohne ihn allzu weit zu öffnen.

„Jaaa“, strahlte er schließlich, „ich habe da genau das Richtige für dich. Für ein Silberstück kann ich dir die allerfeinste Geschichte verkaufen und die wirst du erzählen können.“

Dschinroku reichte ihm sein Geld. Der Händler hob ihm den Sack ans linke Ohr. Da spürte Dschinroku erstaunt, wie es aus dem Sack leise zu rauschen und in ihn hinein zu brausen begann. Das ging eine ganze Weile so, bis es endlich ausklang.

„Viel Glück!“, wünschte der Geschichtenverkäufer, schulterte seinen Sack wieder und verabschiedete sich.

Dschinroku fühlte sich sonderbar. Leicht benommen ging er seiner Wege. Es schien in seinem ganzen Körper zu prickeln, zu wispern, zu plaudern und – das ist schwer zu beschreiben – zu geschehen.

Als er sich einigermaßen an das Geschichtengefühl in seinem Körper gewöhnt hatte, kam er in eine Stadt, deren Fürst einen Wettbewerb ausgerufen hatte: Wer ihm eine Geschichte erzählen könne, die endlos lang und wirklich wahr sei, so hatte er verkünden lassen, der solle reich belohnt werden. Ohne zu zögern machte sich Dschinroku auf zum Palast.

„Hast du denn auch gehört“, fragte der Wächter, bei dem er Einlass begehrte, „dass jenen, die es versuchen und denen es nicht gelingt, der Kopf abgeschlagen wird? Der Fürst will nicht, dass jeder Dahergelaufene ihm seine Zeit stehlen kann.“

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„Aber das tue ich ja auch nicht“, begütigte Dschinroku, der so etwas schon aus vielen Geschichten kannte und der, seit der Sack des Geschichtenverkäufers ihn berührt hatte, von närrischer Zuversicht getrieben war.

Er wurde also eingelassen. Des Fürsten Familie versammelte sich, um zu lauschen, und Dschinroku begann: „Es war einmal eine tausend- und abertausendjährige Eiche, die auf einer großen Wiese wuchs. Der Stamm war so dick, dass dreiunddreißig große Männer ihn nur mit Mühe umfassen konnten. Die Eiche war dreihundertdreiunddreißig Meter hoch.“

„Halt!“, rief der Fürst. „Das ist nicht erwiesen! Wahr und wirklich muss die Geschichte sein!“

„Aber das ist sie, Herr“, erwiderte Dschinroku seelenruhig. „Der König jenes Landes nahm es mit der Wahrheit so genau wie ihr. Er befahl, ein dressierter Affe solle in den höchsten Wipfel des Baumes klettern und eine Schnur herabhängen lassen. Der Oberhof-Rechenmeister maß dann unter den Augen des Königs und aller Minister die Länge der Schnur und schrieb das Ergebnis ins verbürgte goldene Buch, wo ihr es nachlesen könnt. Die Eiche reckte ihre Zweige so weit, dass sie auf den gegenüberliegenden Seiten in die angrenzenden Länder reichten. Von einem Ende des Gezweigs zum anderen waren es dreitausenddreihundertdreiunddreißig Meter.“

„Beweise es!“, unterbrach der Fürst abermals.

„Edler Fürst, nichts einfacher als das: In jenem Land nördlich des Baumes lebte eine weise Frau. Sie sammelte Wissen. Sie versorgte sich mit Seilen und Haken, sicherte sich gut und kletterte durch den ganzen Baum, von einer Seite zu anderen. Sie hatte heilende Kräuter dabei, die sie den Herrschern der anderen Länder schenkte, damit sie ihr wohlgesonnen seien, obwohl sie in ihr Land eindrang. Mit einem Stab maß sie die Meter und schnitt für jeden gemessenen Meter eine Kerbe hinein. Eines Tages brachte sie der Königin des Landes all ihr Wissen und diese richtete eine Schule ein, in der bis auf den heutigen Tag der Maßstab aufbewahrt und das Wissen der weisen Frau gelehrt wird. Den Ort kann ich auf Wunsch benennen.“

Dschinroku warf einen Blick zum Fürsten und dieser nickte ihm zu, er solle weiter erzählen.

„Die Eiche, euer Wohlgeboren, trug dreihundertdreiunddreißigtausendreihundertdreiunddreißig Eicheln. Im Herbst reiften sie. Die erste fiel am Stamm entlang geradewegs herab und wurde vom kleinsten aller Frischlinge gefressen, der daraufhin zum größten aller Eber heranwuchs. Die zweite Eichel fiel ins Meer, wo sie lange an der Oberfläche dahinschwamm, von sanften Winden getrieben, bis ein blau und gelb geringelter Fisch sie verschluckte. Er wurde nach drei Tagen und drei Nächten von einem Mädchen mit schwarzen Zöpfen geangelt. Als sie ihn ausnahm, fand sie die Eichel und pflanzte sie vor das Haus ihrer Eltern, wo sie noch heute der Familie im Sommer wunderbaren Schatten gibt. Die dritte Eichel …“

„Deine Geschichte ist wirklich lang. Ich will dir glauben, dass sie endlos ist, und wenn wir wollen, werden wir Zeit finden, ihr weiter zu folgen“, sprach der Fürst. „Aber ob diese Geschichte auch wirklich ganz und gar wirklich ist, müssen wir noch prüfen.“

„Wenn ihr Tatsachen wünscht, Herr“, erwiderte Dschinroku, „so wollt ihr vielleicht noch wissen, dass der Eichenbaum dreimillionendreihundertdreiunddreißigtausendreihundertdreiunddreißig Blätter hatte. Ich habe sie selbst und eigenhändig gezählt, so wahr ich hier vor Euch stehe.“

„Das behauptest du“, wandte die Prinzessin ein. Dschinroku schaute sie sich genau an und was er sah, gefiel ihm gut. Die Prinzessin hatte bereits beim Zuhören einen erfreulichen Eindruck von ihm gewonnen und was ihre Augen den seinen sagten, das ging nur sie beide etwas an.

„Wollt ihr es sehen?“, schmunzelte Dschinroku. „Soll ich euch zeigen, wie ich es gemacht habe?“

Die Blicke, die auf ihm ruhten, waren Antwort genug. Er griff in die Tasche und förderte Nadel und Faden zutage. „Mit diesen beiden“, erklärte er, „fädelte ich alle Blätter, während ich sie zählte, auf und deshalb bin ich sicher, dass ich jedes Blatt der Eiche genau einmal gezählt und keines ausgelassen habe.“

Ein Tumult brach los: „Ha, das kann nicht sein!“, „Was soll der Unsinn!“, „Mit Nadel und Faden? Will der Schneider uns zum Narren halten?“

Der Wirbel legte sich, als die klare, warme Stimme der Prinzessin erklang: „Wir werden sehen. Wie heißt du, guter Mann?“

„Dschinroku“, antwortete dieser und verneigte sich.

„Dschinroku, dort draußen im Schlosspark sind Blätter genug. Zähle sie für uns, dann werden wir sehen, ob deine Geschichte wirklich wahr sein kann.“

Dschinroku warf Nadel und Faden in die Luft. Sie fuhren durchs offene Fenster, sausten zwischen den Bäumen des Palastgartens hin und her und fädelten, unter den staunenden Blicken der Fürstenfamilie, die Blätter der Parkbäume eins nach dem anderen auf. Aber plötzlich erklangen genau dort, wo die Nadel am Werk war, ein Schrei und ein dumpfes Geräusch. Der Fürst blickte beunruhigt. Er befahl der Palastwache nachzusehen, wer da verbotenerweise in seinem privaten Garten war.

Bald darauf kehrten die Wachen mit einem Gefangenen zurück. Er wurde befragt und verriet schließlich, dass er den Auftrag gehabt hatte, die ganze Fürstenfamilie zu töten.

Nachdem er den Wachen befohlen hatte, den Kerl in den Kerker werfen, nahm der Fürst Dschinroku beiseite. „Das nenne ich eine wirklich wahre und wirksame Geschichte!“, rief er begeistert. „Sie hat wahrhaftig mir und meiner ganzen Familie das Leben gerettet! Weißt du, mein Freund, bei all den Dampfplauderern und Lügenbaronen, denen wir in letzter Zeit lauschen mussten, hatte ich wirklich schon beinahe die Hoffnung verloren. Aber du hast dir die versprochene Belohnung mehr als verdient. Nimm sie entgegen und sei unser Gast. “

Dschinroku blieb bei Hofe und lernte dort allerlei, das ihm gefiel. Er bekam die Gelegenheit, seine endlose Geschichte weiterzuerzählen. Die Prinzessin und er kamen einander immer näher und ihre Liebe wuchs. Das taten auch ihre Kinder und Enkel.

Ihr fragt, ob die Geschichte inzwischen ein Ende gefunden hat? Wir wollen es nicht hoffen, so bleibt das Ende offen.

Der weiße Wolf

aus dem deutschsprachigen Raum

Es war einmal ein König, der auf der Jagd von seinem Gefolge abgeschnitten wurde und lange Zeit im wilden Wald umherirrte. Am dritten Tag, er war schon ganz verweint, erschien wie aus dem Nichts ein schwarzes Männlein vor ihm und sagte: „Ich führe dich aus diesem Wald hinaus, wenn du mir das schenkst, was dir zuhause als erstes entgegenläuft.“

Das „Wenn“ in des Männleins Worten war noch nicht verklungen, da rief der König schon: „Einverstanden!“, denn das „Wenn“ wollte er in diesem Moment einfach nicht hören. Zumal er ja auch von klein auf gewöhnt war, etwas zu bekommen, ohne dafür zahlen zu müssen.

Sie gingen los, das Männlein voraus und der König hinterher.

Unterwegs tauchte das „Wenn“ aus den Tiefen seiner Erinnerung jedoch wieder auf. Er hielt inne und sprach vor sich hin: „Ich hoffe wohl, dass mir, wenn ich nach Hause zurückkehre, mein Jagdhund entgegenläuft und mich als erstes erreicht. Ihn will ich, wenn es sein muss, für meine Rettung opfern.“

„Ich aber hoffe“, schmunzelte das Männlein, „dass dir deine jüngste und liebste Tochter entgegenläuft.“ Dann gingen die beiden weiter. Sie erreichten den Waldrand und traten hinaus in die Weite. Der König sah augenblicklich das heimatliche Schloss vor sich.

Dort ertönte ein Jubelruf aus der obersten Kammer des höchsten Turmes. Von hier aus hatte des Königs jüngste Tochter die ganze Zeit hindurch voll Sehnsucht und Sorge Ausschau gehalten. Kaum war er aus dem Wald ins Freie getreten, hatte sie ihren Vater schon entdeckt. Sie rannte mit fliegenden Röcken die Turmtreppe hinunter, ihm entgegen und fiel ihm um den Hals. Der lang Vermisste brach daraufhin in Tränen aus.

„Vater, wie gut, dass du gerettet und wohlbehalten wieder bei uns bist!“, rief die Prinzessin. „Aber was ist los? Freust du dich nicht?“

Schweren Herzens erzählte der Vater, er habe sie dem schwarzen Männlein zum Lohn für seine Rettung versprochen.

„Beim nächsten Vollmond sei bereit. Ich lasse dich abholen“, bestimmte das Männlein zufrieden und ging seiner Wege.

Nach einigen Tagen des Abschiednehmens stand der kugelrunde Mond am Himmel. Da kam ein riesengroßer, zottiger, weißer Wolf aus dem Wald, auf dessen Rücken die Prinzessin stieg.

Ein wilder Ritt begann. Der Wolf trug sie über Stock und Stein, abseits der gebahnten Wege. Sie hatte alle Hände voll zu tun, sich am dichten Fell festzuhalten, um nicht hinunterzufallen. Nach einer Weile fragte sie: „Bitte, wie lange muss ich noch so reiten?“

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„Sei still!“ fauchte der Wolf und rannte weiter.

Die Prinzessin klammerte sich mit aller Kraft fest. Immer holpriger und heftiger wurde der Ritt. Zweige peitschten ihr Gesicht und Dornen zerrissen ihr Gewand.

„Bitte, wie weit ist es denn noch zum schwarzen Männlein?“, rief sie nach einer Weile abermals.

„Sei still und halt dich fest! Bis zum Glasberg ist’s noch weit!“, knurrte der weiße Wolf, warf ihr aus feurigen Augen einen flüchtigen Blick zu und rannte dann noch schneller.

So gut sie konnte, klammerte sich die Prinzessin fest und schwieg, bis sie fürchtete, sich nicht mehr halten zu können, denn der Wald wurde immer unwegsamer.

„Bitte“, stieß sie hervor, „wann sind wir denn endlich da?“

Da heulte der Wolf einmal kurz und laut, bäumte sich auf, warf sie ab und war gleich darauf im Unterholz verschwunden.

Die Prinzessin kam auf die Füße, schaute sich um und ging los, ohne auf die Dornen zu achten, die an ihrem Gewand zerrten. Als es finster wurde, sah sie zwischen den Bäumen ein Licht funkeln, ging darauf zu, fand eine Hütte und klopfte an. Eine alte Frau öffnete ihr und ließ sie ein. Über dem Feuer brodelte ein Topf mit Hühnersuppe. Die Prinzessin bekam eine Schüssel voll davon, aß mit der Alten und erzählte ihr, was ihr geschehen sei.

„Weißt du“, fragte sie zum Schluss, „wo ich den weißen Wolf finden kann?“

Die alte Frau schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid. Ich weiß nicht, wo er wohnt. Aber geh zum Wind. Der bläst überall hinein und kann ihn dabei leicht getroffen haben. Bleibe über Nacht bei mir. Ich will dir ein Lager richten. Und morgen früh zeige ich dir den Weg zu seiner Hütte. Nimm dir die Hühnerknochen aus der Suppe mit. Die können dir noch nützlich sein.“

Und so geschah es.

Am Abend sah die Prinzessin ein flackerndes Licht zwischen den Bäumen, ging hin, fand eine Hütte und klopfte an. Der Wind war zuhause. Er kochte Hühnersuppe und lud sie zum Essen ein. Sie erzählte von ihren Abenteuern und endete mit der Frage: „Weißt du, wo der weiße Wolf wohnt?“

„Nein“, brauste der Wind, „vom weißen Wolf weiß ich nichts. Aber ich rate dir, frag die Sonne. Die ist den ganzen Tag unterwegs und schaut überall hinein. Übernachte bei mir und morgen will ich dir den Weg zu ihrer Hütte weisen. Und nimm dir die Hühnerknochen aus der Suppe mit. Du wirst sie alle brauchen.“

So geschah es.