Titelbild
Titelbild

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Übersetzung aus dem Französischen von Dietlind Falk und
Lisa Kögeböhn

ISBN 978-3-492-97164-5

November 2015

© Bertrand Piccard 2014

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Changer d’altitude. Quelques solutions pour mieux vivre sa vie« bei Éditions Stock, Paris.

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Covermotiv: Ludwig Rauch (Porträt Bertrand Piccard);
gettyimages (Fluglinien)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Für die Momente im Leben, in denen wir uns unserer
inneren Stärke bewusst werden.

EINFÜHRUNG VON
MATTHIEU RICARD

An Bertrand Piccard bewundern wir seit jeher, dass er es geschafft hat, allein durch die Kraft seiner Vorstellung, seine Kreativität, sein Durchhaltevermögen und seinen Mut Träume wahr werden zu lassen. In Die richtige Flughöhe lässt er uns an den Früchten seiner Erkenntnis teilhaben – und dies  mit einer erfrischenden Natürlichkeit. Ihm geht es nicht darum, Theorien darüber aufzustellen, wie wir unser Leben am besten planen können. Er berichtet von eigenen Erfahrungen, die ihm heute besonders hilfreich erscheinen und ohne Weiteres in die Tat umgesetzt werden können.

Dabei ruft er uns vor allem in Erinnerung, dass alle Unzufriedenheit im Leben hauptsächlich auf dem Fehler beruht, sich die Gegenwart anders zu wünschen, als sie ist. Ein sinnloses Unterfangen. Jeden Tag stehen wir an einer Kreuzung, und alle Wege führen zu einem neuen Ausgangspunkt für eine unvorhersehbare Zukunft, deren inspirierte Architekten wir sein können. Unsere Angst vor dem Ungewissen verblasst, wenn wir die innere Stärke finden, die Unwägbarkeiten des Lebens nicht länger zu bekämpfen. Hierfür, so schreibt Bertrand, müssen wir uns vom Joch unserer vorgefertigten Überzeugungen lösen, denn: »Die meiste Zeit halten uns nicht die Winde des Lebens gefangen, sondern unsere eigene Art zu denken und unsere Existenz zu begreifen.«

Unser Geist kann unser bester Freund oder unser schlimmster Feind sein, und die Qualität jedes gelebten Moments ist eng mit der Art verknüpft, wie wir die Welt wahrnehmen. Ganz gleich, was passiert, wir können die Dinge immer wieder neu erfahren, und es liegt an uns, ob wir sie in ein gutes oder schlechtes Gefühl verwandeln.

Bertrand wehrt sich dagegen, »alles zu kontrollieren, alle Fragen zu beantworten, sich beruhigende Überzeugungen zurechtzustricken und vorgefasste Erklärungen anzunehmen«.

Unsere Kontrolle über äußere Umstände ist begrenzt, flüchtig und häufig sogar illusorisch. So schwer diese Bedingungen auch wiegen: Ob es uns gut oder schlecht geht, hängt häufig davon ab, wie wir unsere Erfahrungen deuten. Wir müssen uns also fragen, welche inneren Voraussetzungen wir erfüllen müssen, um Freude am Leben zu haben, und wie wir sie nähren können. Unsere Weltsicht zu ändern erfordert keinen naiven Optimismus, ebenso wenig wie gekünstelte Euphorie, die nur dazu dient, Gegenwind zu neutralisieren.

»Im Leben«, so Bertrand, »widerfahren uns immer wieder Situationen, die wir nicht ändern können, und doch haben wir gelernt, sie abzulehnen, statt sie zu unserem Vorteil zu nutzen. […] Das chinesische Schriftzeichen für ›Krise‹ macht uns zu ebendieser Mut. Es besteht aus zwei Elementen: Das erste steht für Risiko und Gefahr, während das zweite das Konzept einer Handlung ausdrückt, die man ausführt, oder einer Chance, die man ergreift.« Die Steine, die sich uns in den Weg legen, sind an sich nicht wünschenswert, können aber zu Katalysatoren von Veränderung werden, wenn man sie zu nutzen weiß. Sich von Schicksalsschlägen nicht aus der Bahn werfen zu lassen bedeutet nicht, dass sie uns nicht nahegehen oder dass sie uns nichts anhaben können, doch sie verbauen uns nun nicht mehr unser Leben. Von höchster Bedeutung ist es, weder Angst noch Mutlosigkeit die Oberhand gewinnen zu lassen. Shantideva, ein buddhistischer Meister aus dem 7. Jahrhundert, ruft uns dies ebenfalls ins Gedächtnis: »Wenn es eine Lösung gibt, wozu der Unmut? Wenn es keine Lösung gibt, wozu der Unmut?«

Das Gleiche gilt auch für das Leid. Bertrand zitiert eine Studie, in der an Krebs erkrankte Menschen die Frage beantworten: »Hatte der Krebs in irgendeiner Form einen positiven Einfluss auf Ihr Leben oder Ihr Lebensgefühl? Wenn ja, welchen?« Etwa die Hälfte aller Befragten bejahte und gab als positive Aspekte an: ein intensiveres und bewussteres Leben, mehr Verständnis für andere, ein besseres Verhältnis zum Partner, eine verstärkte innerliche wie auch soziale Selbstentfaltung.

Im Buddhismus ist Leid nicht wünschenswert. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass man es sich nicht zunutze machen kann, um menschlich und geistig zu wachsen, wenn das Leid unvermeidbar ist. Der Dalai Lama erklärt es immer wieder: »Tiefes Leid kann unseren Geist und unser Herz öffnen, und so öffnen wir uns unseren Mitmenschen.« Leid kann eine außergewöhnliche Erfahrung sein. Es führt uns den oberflächlichen Charakter unserer Alltagssorgen vor Augen – dass die Zeit unvermeidlich verstreicht, dass wir verletzlich sind –, und vor allem führt es uns vor Augen, was tief in unserem Inneren tatsächlich zählt.

Wie wir diese Wellen des Leids erleben, hängt hauptsächlich von unserer Einstellung ab. Anstatt von ihnen überrascht zu werden und in Trauer zu verfallen, sollte man sich mit ihnen vertraut machen und sich innerlich auf sie vorbereiten, denn sie sind unvermeidbar: Krankheiten beispielsweise oder das Alter und der Tod. Körperliches oder psychisches Leid kann ungeheuer groß sein, ohne deshalb unseren positiven Blick auf unsere Existenz zu brechen. Wenn wir erst einmal einen gewissen inneren Frieden gefunden haben, ist es viel leichter, unsere seelischen Zustände zu halten oder schnell wiederzufinden, selbst wenn wir mit außergewöhnlich schweren äußeren Umständen konfrontiert sind.

Erlangen wir diesen geistigen Frieden ganz einfach dadurch, dass wir ihn uns wünschen? Wohl kaum. Das Leben lässt sich nicht durch reines Wünschen bestreiten. Und so ist der innere Frieden ein seelischer Schatz, den man nicht ohne Anstrengung erlangt. Wenn wir uns jedoch von unseren persönlichen Problemen überrollen lassen, und seien sie auch noch so groß, sorgen wir nur dafür, dass sich unsere Situation verschlimmert und wir für die Menschen um uns herum zur Last werden. Sämtliche Umstände werden dann als Angriff interpretiert, wir wehren uns verbittert gegen unser Los, und das bis zu dem Punkt, an dem wir die Sinnhaftigkeit unserer Existenz anzweifeln. Deshalb ist ein gewisser innerer Friede von essenzieller Bedeutung. Ohne unsere Sensibilität, unsere Liebe und unseren Altruismus aufzugeben können wir uns dann auf die Tiefen unseres Seins verlassen.

Bertrand widmet einen Teil seines Werks der Lösung von Konflikten, indem man die Perspektive seines Gegenübers einnimmt, sich öffnet und Verständnis zeigt, um gemeinsam Lösungen zu finden und eine noch größere Kluft möglichst zu vermeiden. Ein chinesisches Sprichwort sagt, mit einer Hand könne man nicht klatschen. Ebenso wenig kann man sich mit jemandem streiten, der die Konfrontation gekonnt vermeidet. Wohlwollen und innere Ruhe sind die besten Mittel, um aufkommenden Konflikten den Nährboden zu entziehen.

»Die Freiheit«, so Bertrand, »die wirkliche Freiheit liegt nicht darin, alles tun zu können, sondern alles denken zu können. In alle Richtungen zu denken und auf allen Höhen gleichzeitig, grenzenlos.« Schon Mahatma Gandhi sagte: »Die äußere Freiheit, um die wir kämpfen, hängt von unserer inneren Freiheit ab. Wenn dies die richtige Auffassung von Freiheit ist, müssen wir uns vor allem einer Veränderung in uns selbst widmen.«

In den Siebzigerjahren traf ein Tibeter einen alten Meister, den auch ich schon besucht habe, in der Nähe von Darjeeling in Indien. Er erzählte ihm zunächst von all seinen vergangenen Leiden, gefolgt von einer Liste all seiner künftigen Sorgen. Währenddessen wendete der spirituelle Meister vor sich ein paar Kartoffeln auf einem kleinen Grill. Nach einer Weile sagte er zu seinem jammernden Gast: »Was reibst du dich so auf wegen etwas, das vergangen ist, und wegen Dingen, die noch gar nicht existieren?« Verdutzt schwieg der Gast und blieb lange Zeit wortlos bei dem Meister sitzen, der ihm ab und zu eine wohlschmeckende, knusprige Kartoffel reichte.

Innere Freiheit erlaubt es uns, die Schlichtheit des Augenblicks zu genießen, befreit von Vergangenheit und Zukunft. Sich von Erinnerungen nicht einnehmen zu lassen bedeutet nicht, dass man keine nützlichen Lehren aus vergangenen Erfahrungen ziehen kann. Und sich von Zukunftsängsten frei zu machen bedeutet nicht, dass man der Zukunft nicht mehr mit wachem Geist begegnen kann, sondern lediglich, dass man unnötige Ängste vermeidet.

Zu einer solchen Freiheit gehören eine gewisse Geistesgegenwart, Transparenz und Lebensfreude. Sie werden aber durch ständige Sorgen und schlechte Vorstellungen unmöglich gemacht werden. Sie erlauben uns, Dinge mit innerer Ruhe zu akzeptieren, ohne in Passivität oder Schwäche zu verfallen. So lassen sich sämtliche Lebensumstände nutzen, die guten wie die schlechten, da sie uns Raum zum persönlichen Wachstum geben. Wir können vermeiden, dass wir abgelenkt oder arrogant werden, wenn uns das Glück hold ist, oder deprimiert, wenn uns das Leben übel mitspielt. So sind wir, ohne unsere Seelenstärke und unseren inneren Frieden zu verlieren, in der Lage, uns fortwährend dem Wohl anderer Menschen zu öffnen und uns guten Zwecken zu widmen, die jedem Augenblick einen Sinn verleihen.

Matthieu Ricard

VORWORT –
SIE, EIN BUCH UND ICH

Wie beginnt man ein Buch, das vom Leben erzählen soll?

Nicht von dem Leben, das wir von der Geburt bis zum Tod verleben, ohne uns Fragen zu stellen. Auch nicht von dem alltäglichen Leben voller Gewohnheiten und Sicherheiten, in dem wir uns damit begnügen, nur auf das zu reagieren, was uns stört. Nein. Es soll von einem Leben erzählen, in dem wir verstehen wollen, wohin die Reise geht, unsere Existenz spüren, uns steigern, uns entwickeln wollen; in dem wir das unbestimmte Gefühl haben, dass es irgendwo einen höheren Bewusstseinszustand gibt, der uns zu mehr Leistungsfähigkeit, Intelligenz und Weisheit befähigt; in dem wir uns bemühen, eine harmonischere Beziehung zu einer Welt zu entwickeln, die normalerweise an uns vorüberzieht.

Ich würde Ihnen gern erzählen, was ich von diesem Leben weiß, was mich meine Erlebnisse als Psychiater, Abenteurer und Luftfahrer gelehrt haben.

Ich würde Ihnen gern etwas über Hypnose erzählen, über Kommunikation, Krisenmanagement, Religion, Spiritualität, über all die Dinge, die uns manchmal helfen können, durch die Unwägbarkeiten im Wind des Lebens zu navigieren.

Doch wie finde ich von Anfang an die richtigen Worte, um mich verständlich zu machen und den Leser, der sich häufig bereits beim Überfliegen der ersten Zeilen eine endgültige Meinung bildet, sofort in meinen Bann zu ziehen? Und wie kann ich jemanden in genau dem Gemütszustand berühren, in dem er sich beim Aufschlagen dieses Buches befindet? Wie kann ich es vermeiden, falsche Erwartungen zu wecken?

Wer sind Sie, und wonach suchen Sie in Ihrem Leben?

Sie interessieren sich sicher für Gesundheitstipps, denn wer tut das nicht? Sie wissen vielleicht, dass ich Psychiater bin, spezialisiert auf Hypnose. Sie könnten also hoffen, dies sei ein Buch über Therapiemöglichkeiten.

Wenn Sie Flieger sind, werden Sie mich als Luftfahrer kennen. Sie wissen, dass mir die erste Erdumrundung ohne Zwischenlandung mit einem Ballon, dem Breitling Orbiter 3, gelungen ist und dass ich Solar Impulse ins Leben gerufen habe, ein Projekt mit dem Ziel, die Erde mit einem Solarflugzeug zu umrunden. Sie erwarten also möglicherweise ein Werk, das sich mit der Luftfahrt beschäftigt.

Oder aber einen Abenteuerbericht, schließlich vertrete ich die dritte Generation einer Familie von Forschern, die sowohl die Stratosphäre als auch die Tiefseegräben erobert haben. Der Stratosphärenballon und der Bathyscaph finden allerdings nur in diesem Vorwort Erwähnung …

Die Vorträge, die ich vor Unternehmern halte, könnten Sie zu der Annahme verleiten, ein Buch über Management in den Händen zu halten. Das wäre nicht völlig falsch, mit der Einschränkung, dass es sich in diesem Fall um persönliches und nicht um projektbezogenes Management handelt …

Und wenn Sie eines der Interviews gehört haben, die ich zu meiner spirituellen Suche gegeben habe, stößt dieses Thema Sie entweder ab oder aber Sie brennen darauf, jeden meiner Gedanken zu hören, und sei er auch noch so unbedeutend. Weil meine Gedanken mit Ihren Existenzängsten und religiösen Fragen zu tun haben …

Doch wie schaffe ich es, von alledem etwas anzusprechen, ohne mich auf eins dieser Themen festzulegen? Am liebsten wäre es mir, wenn Sie einfach alles vergessen, was Sie von mir zu wissen glauben, damit Sie entdecken können, was ich denke und warum ich schreibe. Womit ich Ihnen vielleicht sogar neue Schubladen liefere, in die Sie mich stecken können.

Alles hängt natürlich auch von dem Gemütszustand ab, in dem Sie dieses Buch aufschlagen. Wie fühlen Sie sich gerade? Fühlen Sie sich unverwundbar, geschützt durch Ihre Überzeugungen und Gewissheiten? Bemühen Sie sich, nichts an sich heranzulassen, um die Verletzlichkeit zu vermeiden, die mit Sensibilität unweigerlich einhergeht?

Oder aber lassen Sie Ihre ganz eigene Schwachstelle zu, die es Ihnen ermöglicht, Dinge zu hinterfragen, und erlauben ihr, ihre tief greifende und wohltuende Wirkung zu entfalten?

Ich wende mich an Sie in Ihrer ganzen Sensibilität. An das menschliche Wesen, das wir alle in unserem Inneren tragen, mehr oder weniger versteckt oder vergessen, das aber jedes Mal wieder zum Vorschein kommt, wenn wir krank oder verängstigt sind, wenn wir jemanden verlieren, der uns wichtig ist, wenn wir glauben, im Wind des Lebens vom Weg abgekommen zu sein; jedes Mal, wenn wir die Hoffnung verloren haben oder – aber das kommt selten vor – wenn wir uns fragen, woher wir kommen und wohin wir gehen, was wir auf dieser Erde tun, isoliert in einem Winkel des Weltalls, umgeben von Abermillionen von Sternen. Ja, da kann einem wirklich schwindelig werden! Haben Sie Lust, diesen Schwindel zuzulassen, diese Fragen zu leben und herauszufinden, wie Sie sich derart von ihnen erfüllen lassen können, dass Sie auf einmal spüren, wie Sie mit Ihrem gesamten Wesen existieren? Sie können diese Fragezeichen natürlich vergessen und dieses Buch auf der Stelle wieder zuschlagen, um sich zu beruhigen und Ihre Komfortzone wiederherzustellen. Sie können aber auch die Lektüre fortsetzen und herausfinden, wohin sie uns führt, Sie und mich.

Ich schreibe für die Männer und Frauen, die durch bestimmte Erfahrungen in ihrem Leben verletzlich geworden sind, die es wagen, sich anzuhören, was in ihnen und anderen vor sich geht. Für diejenigen, die noch so etwas wie kindliche Unschuld spüren können. Die die Verbindung aufrechterhalten zwischen dem, was sie einmal waren, und dem, was sie einmal werden möchten. Für all jene, die darunter leiden, die Zeit verstreichen zu sehen, ohne zu wissen, warum sie eigentlich am Leben sind. Ich wende mich an diejenigen, die sich freiwillig in einen Zustand der Aufnahmefähigkeit versetzen, der es zulässt, dass man sie in ihrem tiefsten Inneren berührt, jenseits aller Schutzmauern und Sicherheiten, aller Grundsätze und anderer Überzeugungen.

Ist es möglich, sich an alle gleichzeitig zu wenden, ob sie nun auf der Suche nach Therapie, Abenteuer, Forschungsberichten, Managementratschlägen oder Spiritualität sind, und den einfachen Fragen Raum zu geben, die wir so häufig zu umgehen versuchen? Wie können wir unseren Drang nach Selbstverwirklichung am besten ausleben? Mit uns selbst? Mit anderen? Mit dem Leben? Durch die Suche nach dem, was unserer Existenz, dem Leiden und dem Tod einen Sinn gibt?

Ich habe dieses Buch absichtlich mit einer Reihe von Fragezeichen begonnen. Fragen statt Aussagen, Zweifel statt Gewissheiten. Dies mag denjenigen bedrohlich erscheinen, die vergessen, dass Fragen immer Türen öffnen, während Überzeugungen oft Gefängnisse sind, und dass Antworten nur jenen zugänglich sind, die den Mut haben, Fragen zu stellen. Umso besser! Wir kommen nur weiter, wenn wir in Kauf nehmen, dass dieses Unterfangen uns ein wenig aus der gewohnten Bahn wirft.

Sie werden auf den folgenden Seiten also keine in Stein gemeißelten Antworten erhalten, lediglich einige Lösungsvorschläge, die auf meinen Erfahrungen oder denen meiner Patienten oder der Frauen und Männer beruhen, die mich inspiriert haben. Ich lade Sie ein, gemeinsam mit mir einige Gedankengänge zu verfolgen, um zu ergründen, wie unser Leben zu einem bereichernden Abenteuer werden kann.

Und ich würde mich freuen, wenn Sie mir nach der Lektüre von Ihren Eindrücken berichten. Sind einige Passagen womöglich unverständlich, einige Ansichten zu kategorisch, einige Beispiele wenig überzeugend? Zögern Sie nicht, mir mitzuteilen, wie ich mich klarer ausdrücken und hilfreicher für Sie als Leser sein kann. Auf diese Weise schreibe ich mein nächstes Werk mit Ihnen gemeinsam …

Bertrand Piccard

changerdaltitude@bertrandpiccard.com

GEFANGEN IM WIND DES LEBENS?

Ganz gleich, wie unsere jeweiligen Träume vom Glück und unsere Hoffnungen auf Erfolg auch aussehen mögen, gewisse Ereignisse im Leben treffen uns unvorbereitet und treiben uns wie mehr oder weniger turbulente Winde in Richtung Ungewissheit. Unsere Furcht vor Kontrollverlust führt dazu, dass wir uns an vermeintliche Gewissheiten klammern, dass wir uns gegen jegliche Art der Veränderung wehren und uns ständig abrackern, um zu bekommen, was wir wollen. Macht uns das glücklich?

Erste Vorstellungen

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Mich berührt es jedes Mal zutiefst, wenn ich höre, wie ein Kind von seiner Zukunft spricht, als würde sie in jedem Fall in dieser Form eintreten. Kinder unterscheiden nicht zwischen ihren Träumen und Hoffnungen und der Realität einer unbekannten Zukunft. Unabhängig vom Alter stellen sie sich vor, dass sie, »wenn sie einmal groß sind«, einen Beruf ausüben, der ihnen gefällt, dass sie reich, schön und tolle Mütter/Väter und Ehefrauen/Ehemänner sein werden. Sie sagen nicht, »falls« es so kommen sollte – für sie ist alles nur eine Frage der Zeit. Ich finde diese absolute Gewissheit in ihrer Vorstellung, dieses natürlich Urvertrauen, zugleich wunderbar und furchteinflößend. Sie wissen noch nichts von all den Stolpersteinen, die mit der menschlichen Existenz einhergehen: Unfälle, Krankheiten, Gewalt, Missgunst, Ungerechtigkeit. Mich fasziniert ihre Arglosigkeit, ihre zuversichtliche Naivität, die im totalen Gegensatz zu unserer Lebenswirklichkeit steht. Aber sie beunruhigt mich zugleich, denn in diesen frühen Vorstellungen liegt auch der Keim für Enttäuschung, Leid und kommende Desillusionierungen.

Dieselben Befürchtungen wecken in mir Eltern, die sich für ihre Kinder wünschen, dass sie glücklich, intelligent, lebensfroh und kerngesund sein mögen. Voller Zärtlichkeit und Liebe widmen sie sich ihren Sprösslingen und stehen den Abwegen des Schicksals trotz allem gänzlich machtlos gegenüber.

Ist es uns nicht allen früher so gegangen, haben wir nicht alle geglaubt, dass unser Leben genau unseren Vorstellungen entsprechen würde, dass alles im Leben glasklar wäre und die Zukunft ein Klacks? Erinnern Sie sich noch daran? Haben Sie noch Zugang zu diesen kindlichen Gefühlen? Akzeptieren Sie die Gefühle, die heute Ihr Handeln lenken?

So unterschiedlich wir auch sein mögen, vieles haben wir gemeinsam: Wir alle haben Träume und Hoffnungen, wir fühlen uns angesichts der Lebensrealitäten häufig verwundbar, wir hängen schönen Erinnerungen nach und ängstigen uns, weil die Zeit viel zu schnell vergeht.

Was ist aus uns und unseren Ambitionen geworden? Die Zeit ist vergangen und hat uns altern lassen. Wir sind verheiratet, verwitwet, geschieden oder alleinstehend, erfreuen uns guter Gesundheit, sind krank oder haben eine Behinderung. Das Leben hat sämtliche Abstufungen von gut bis schlecht für uns bereitgehalten. Wir haben einen Job oder sind arbeitslos, im Ruhestand, in Führungspositionen oder freischaffend. Wir sind arm oder einsam, oder mit viel Glück durch gute Chancen und harte Arbeit reich oder berühmt geworden. Neigen wir nicht dazu, uns auf Lorbeeren auszuruhen, die uns nur durch Zufall zuteilgeworden sind, oder anderen die Schuld für Enttäuschungen zuzuschieben, die wir durch unsere eigene Blindheit selbst zu verantworten haben? Häufig fragen wir nach dem Sinn der Schicksalsschläge, die uns ereilt haben, oder aber wir ergeben uns ihnen wie gelähmt und voller Fatalismus. All das macht uns glücklich, unglücklich oder gleichgültig, angriffslustig oder resigniert, vielleicht auch betäubt vom Leid.

Die Unschuld von damals ist still und leise dem Realismus gewichen, einer Mischung aus Zufriedenheit und Enttäuschung, Stolz und Frust, Glück und Trauer. Wir nennen das »Reife«. Muss es so sein, dass diese Reife unsere Träume zum Platzen bringt, sobald das Band zerschnitten ist, das uns mit dem Kind in uns verbindet?

Wie konnte es so weit kommen? Was ist in uns und um uns herum passiert, dass sich unsere Hoffnungen im Laufe der Zeit in Luft auflösen, bis es am Ende so scheint, als hätte es sie nie gegeben? Wieso verändern die Welt und das Leben uns so sehr? Diese Frage habe ich mir schon immer gestellt, und in diesem Buch will ich gemeinsam mit Ihnen darüber nachdenken.

Mir scheint, das Problem liegt nicht so sehr im Lauf der Zeit, sondern eher darin, wie der Wind des Lebens weht, wie wir ihm begegnen und vor allem, welche Richtung wir in ihm erkennen. Verstehen wir, wer oder was unsere Schritte lenkt, oder auch nicht? Wissen wir, woher wir kommen, wohin wir gehen und warum?

Der Wind des Lebens

Was diese Welt für uns bereithält, ist unvorhersehbar und ebenso unkontrollierbar wie der Wind. Auf gesellschaftlicher Ebene gilt das für Moden und Trends, Naturkatastrophen, Kriege oder die Börse. Aber auch die Erwartungen unserer Mitmenschen, politische Entscheidungen, finanzielle oder wirtschaftliche Krisen, die Folgen der Globalisierung oder der Klimawandel sind Beispiele dafür.

Auf persönlicher Ebene sind Gesundheit, Krankheit, Unfälle, Todesfälle, Begegnungen, Erfolge, Krisen, Enttäuschungen, Liebe und Glück so launisch wie der Wind.

Die meisten Ereignisse im Leben passieren unerwartet, sie treten überraschend ein, ohne dass wir uns auf sie hätten vorbereiten können, und wie der Wind treiben sie uns ins Ungewisse.

Zunächst einmal haben wir also allen Grund, uns vor dem Wind des Lebens in Acht zu nehmen …

Denken Sie an Ereignisse, die wir nicht kontrollieren können und die selbst die ruhigsten und stabilsten Existenzen aus der Bahn werfen. Oft braucht es so wenig, um alles ins Wanken zu bringen. Eine Krankheit, ein Unfall, eine schicksalhafte Begegnung oder eine Scheidung. Ein politischer oder sozialer Wandel. Eine Naturkatastrophe. Eine Finanzkrise.

Ganz gleich, wer wir sind, ob von den Lebensumständen getragen oder gebrochen, letztlich suchen wir alle nach Erfüllung. Wir bemühen uns, trotz der Turbulenzen alles so gut wie möglich zu meistern. Und so versuchen wir, alle nur möglichen Hebel in Bewegung zu setzen, um unsere Ziele zu erreichen, wir stemmen uns gegen Wind und Wetter, ganz gleich, ob wir von höchstem Ehrgeiz geleitet werden oder uns mit der Suche nach ein bisschen Glück zufriedengeben. Wir brauchen das nötige Werkzeug, um uns selbst zu entwerfen, wir müssen Handlungs- und Lebensstrategien entwickeln.

Nicht immer ist es einfach zu verstehen, worin unsere Verantwortung der Geschichte besteht. Wir werfen unserem Schicksal vor – manchmal zu Recht –, dass es uns keine idealen Erfolgsvoraussetzungen beschert hat, und ziehen daraus den Schluss, wir hätten nicht die geringste Chance, unsere Ziele zu erreichen. Also platzt der Traum, manchmal schon in der Kindheit: Wer nichts mehr zu verlieren hat, resigniert oder rebelliert.

Aber wir sollten nie vergessen, dass unsere Verantwortung nicht an die Situation geknüpft ist, in die wir geboren wurden, sondern an das, was wir daraus machen! Wer diese oberste Regel nicht versteht, der verdammt sich selbst zu einem Leben voller Frust und Klage.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir verdient haben, was das Schicksal uns beschert – dafür müsste man an Wiedergeburt oder Karma glauben, und ich ziehe es vor, mich auf unser jetziges Leben zu beschränken, was schon kompliziert genug ist. Unser Umgang mit dem Schicksal liegt jedoch ganz und gar in unserer Hand.

Für unseren Lebensentwurf brauchen wir Strategien, doch in Wirklichkeit lernen wir oft nur Weltanschauungen. Wir müssen uns Verhaltensweisen aneignen, die uns helfen, mit uns selbst und anderen Menschen umzugehen. Wir müssen lernen, die Zeichen zu deuten, was mit uns passiert und wie wir damit umgehen können; wie wir erahnen können, was sich hinter dem Schleier des Sichtbaren verbirgt. Anstatt in festgefahrenen Ansichten zu verharren sollten wir anerkennen, dass es Tausende Arten von Wirklichkeiten und Denkweisen gibt. Sowohl in der Familie als auch in der Schule wird uns zu häufig eine einseitige Auffassung unserer Existenz beigebracht, und unsere Ansichten werden umso fester in uns verankert, je mehr wir diejenigen bewundern, die sie uns vermitteln. Ein Börsenbroker an der Wall Street, eine evangelikale Familie und ein militanter Gewerkschafter leben vielleicht auf demselben Planeten, aber nicht in derselben Welt. Ihre Version der Realität hängt von Bildungsgrad, Erfahrungen und Glaubenssätzen ab, die sich im Laufe der Zeit ergeben haben. Doch sie alle sind sicher, dass sie recht haben, und würden ihre Ansichten jederzeit verteidigen.

Kontrolle, Kraft und Geschwindigkeit

Welcher Mittel bedienen wir uns in der westlichen Welt, weil wir Weltbilder mit Handlungsstrategien verwechseln? Vor allem sind es wohl Kontrolle, Kraft und Geschwindigkeit, die wir nutzen, um unserer eigenen Auffassung von der Realität möglichst viel Platz einzuräumen.

Wir lernen, dass wir kämpfen müssen, um zu bekommen, was wir wollen, und allem anderen zu widerstehen. Wille und Mut werden zu wichtigen Fähigkeiten stilisiert, die dazu da sind, Hindernisse und Turbulenzen zu überwinden. Kraft und Kontrolle sollen uns befähigen, unsere Zukunft unseren Wünschen gleichzumachen. Und das alles mit größtmöglicher Geschwindigkeit – je schneller, desto besser.

Wir lernen, uns so zu verhalten, als hinge alles nur von uns ab, obwohl dies bei Weitem nicht der Fall ist. Dies lenkt uns von der Unvorhersehbarkeit des Lebens ab. Was die Menschen um uns herum brauchen, ist oft dem entgegengesetzt, was wir selbst brauchen. So verfallen wir automatisch in den Kampfmodus: Wer ist der Stärkste? Und sobald uns eine Situation einmal über den Kopf wächst, grübeln wir plötzlich über unsere geheimnisvolle Existenz nach, zweifeln an uns und sind frustriert. Ganz besonders abscheulich finden wir es, wenn wir wieder einmal feststellen, wie machtlos wir sind.

Die Angst vor dem Ungewissen

Für Unsicherheit gibt es in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr. Wir haben gelernt, uns vor ihr in Acht zu nehmen, seit Descartes und seine Anhänger behauptet haben, mit dem Verstand ließe sich alles erklären. Wir haben angefangen, das Ungewisse als Bedrohung wahrzunehmen, als ginge es darum zu beweisen, wie intelligent und verantwortungsbewusst wir doch sind.

Bereits in jungen Jahren werden wir dazu angehalten, uns der Dinge sicher zu sein und unsere Annahmen zu festigen, als seien sie unser Schutzschild gegen Fragen und Zweifel. Unser Bildungsweg von den Naturwissenschaften über die Geschichte, Physik und Politik wird begleitet von logischen und einseitigen Erklärungen. Was sich nicht rational erklären lässt und nicht mit unserer Kultur übereinstimmt, wird beiseitegelassen. An manchen Schulen wird Darwin eingeimpft, an anderen wiederum die biblische Schöpfungslehre, statt beide Theorien nebeneinander zu lehren und zu vergleichen. Wir sind derart angewidert von der Mehrdeutigkeit, dass wir alles daransetzen, Erklärungen zu finden, das heißt zu erfinden. Wir sind bemüht, Antworten auf sämtliche Fragen zu finden und jedes Fragezeichen durch ein Ausrufezeichen zu ersetzen. Wir geben uns mit Teilerklärungen und Halbwissen zufrieden und wollen nicht einsehen, dass einige unserer Überzeugungen Vorurteile sind. Dabei wiegen uns unsere Vorurteile in Sicherheit. Wir sagen uns, dass die Natur jede Leere auszufüllen sucht, doch das stimmt nicht. Dem Menschen ist die Leere nicht geheuer, und es ist der Mensch, der all seine Zweifel mit Tatsachen ausfüllen will. Dabei vergessen wir: Ein offenes Herz und ein offener Geist sind davon abhängig, dass wir nicht aufhören zu fragen. Ein Ausrufezeichen setzt allem immer ein Ende.

Warum erlauben wir es Schülern und Studenten nicht, vor Fragen zu kapitulieren, auf die niemand je eine Antwort finden wird? Warum ermutigen wir sie nicht dazu? Warum lassen wir sie nicht über die Geheimnisse unserer Existenz staunen, um Neugier zu entwickeln, statt nach Sicherheit zu suchen? Nicht die Kinder sind es, die davor Angst haben, sondern wir, die Erwachsenen …

Um unsere Ängste hinsichtlich der Unwägbarkeiten des Lebens zu beruhigen, laufen wir Gefahr, uns unwissentlich im Alltagstrott einzusperren, und unsere Angewohnheiten werden zu Scheuklappen, durch die wir die Fragezeichen ausblenden, die uns umgeben. Wir leben, als gäbe es den Tod nicht, und verbannen aus unseren Gedanken, was wir nicht wahrhaben wollen.

Unsere Komfortzone

Wenn wir vor der Notwendigkeit, neue Dimensionen zu entdecken, die Augen verschließen, machen wir es uns nach und nach in unserer Komfortzone bequem. Sie ist gemütlich mit all den Dingen eingerichtet, die wir im Laufe der Zeit als Orientierungspunkte, Überzeugungen und Gewohnheiten etabliert haben. Sie beinhaltet unsere Art zu denken, uns zu verhalten, mit unserer Umwelt zu interagieren. Sie ist unsere Sicht aufs Leben, auf die Welt, auf die anderen und uns selbst. Sie besteht aus allem, was wir mit den Werkzeugen, die uns seit unserer Geburt in die Hand gegeben wurden, errichten konnten, aus all unseren Erfahrungen.

Sie ist zugleich unsere Stärke und unser Schwachpunkt. Sicherlich hilft sie uns dabei, nicht unterzugehen, doch in Wahrheit ist sie unsere einzige Möglichkeit, zu existieren. Oft sprechen wir von Kreativität, von Innovation oder Weltoffenheit und bewundern Pioniere und Erfinder, doch meistens sind dies eben nur leere Worte, von deren wahrer Bedeutung uns unsere Schutzhaltung abschneidet. Wie sollen wir jemals kreativ, innovativ sein, wenn wir uns nie aus dieser Komfortzone herausbewegen, die uns an unsere Gewohnheiten kettet?

Ohne es zu wollen bezahlen wir für unser Sicherheitsgefühl einen hohen Preis, denn auf die Momente, in denen der Wind des Lebens sich dreht und uns in eine neue Richtung treibt, sind wir nicht vorbereitet. Unsere mangelnde Flexibilität und das fehlende Verständnis für Gesamtzusammenhänge bringen uns ins Straucheln, sobald ein Ereignis unsere Fähigkeiten zum Selbstschutz, zur Gegenwehr und zur Kampfbereitschaft überschreitet. Haben Sie noch nie geschmunzelt, wenn Sie gehört haben, dass eine Gruppe Touristen in T-Shirts und Turnschuhen auf einem Berg in 4000 Metern Höhe von einem Unwetter überrascht worden ist? Sind wir selbst denn besser dafür ausgestattet, den Gipfel unseres Lebens zu erklimmen?

Wir haben unsere Überzeugungen, politisch, sozial, religiös, beruflich, individuell, moralisch, finanziell und was die Familie anbelangt, doch sie reichen nur aus, wenn der Wind immer aus derselben Richtung weht und keine Turbulenzen auftreten.

Was für Schlüsse ziehen wir, wenn unsere Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr dazu ausreichen, uns im Gleichgewicht zu halten? Dass das Leben hart ist, ungerecht und grausam! Anstatt uns selbst einzugestehen, dass wir nicht genügend vorbereitet waren, dass wir nicht genug Weitsicht hatten, um zu verstehen, woher die Krise rührt, und dass wir unsere Denkweise ändern müssen.

Auf diese Art lassen wir viele Gelegenheiten zur Weiterentwicklung links liegen, die das Leben uns bietet. Denn mit der Zeit wollen wir nicht mehr nur gegen das Ungewisse kämpfen, sondern gegen sämtliche Eventualitäten im Leben, gegen alles, was uns davon abhält, die Ziele zu erreichen, die wir uns gesetzt haben. Wir lernen, uns gegen die Veränderungen zu wehren, die uns das Leben beschert. Wir betrachten sie als Bedrohungen, die uns daran erinnern, dass wir nicht sind, was wir zu sein glauben, und dass unsere Existenz vielleicht doch nicht genau den Sinn hat, den wir ihr geben wollen …

Ein Teufelskreis setzt sich in Gang und wird immer stärker. Wir wehren uns, wir kämpfen und festigen das Bollwerk, das uns vor den Dingen schützen soll, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Wir nennen das Ganze natürlich nicht »Bollwerk«, sondern verwenden positive Ausdrücke: »Sicherheit«, »Rückzugsort«, »Fähigkeit«, »Willensstärke«. Dabei sind dies alles nur Mauern, die uns vor den unterschiedlichen Weisen schützen sollen, uns selbst und unsere Mitmenschen zu betrachten.

Innerhalb unseres Bollwerks horten wir immer weiter unsere Ansichten, unsere Gewohnheiten, unsere Überzeugungen. Wir entwickeln eine fragmentarische Sicht auf das Leben, die mit unseren inneren Überzeugungen übereinstimmt. Mit der Zeit verfestigen sich unsere Ansichten, werden durch Erfahrungen, die sie bestätigen, immer starrer, während wir zunehmend gegensätzliche Überzeugungen ablehnen, wenn sie unsere eigenen infrage stellen.

Sicher kann man mir vorwerfen, dass ich gleich im ersten Kapitel dieses Buches ein allzu düsteres Bild zeichne. Vermutlich finden Sie, dass ich übertreibe. Doch übertreiben würde ich nur, wenn ich den Eindruck erwecken würde, als täten wir all diese Dinge aus Dummheit, Egoismus oder ganz einfach, weil wir unsere Mitmenschen dominieren wollen. So ist es natürlich nicht. Wir haben uns lediglich angewöhnt, alles zu tun, damit unser Leben so reibungslos wie möglich abläuft und damit wir uns selbst verwirklichen können, ebenso wie die Menschen, die uns nahestehen. Das Problem ist nur: Irgendwann werden die Werkzeuge, die wir dafür verwenden, zu Steinen, die uns im Weg liegen.

Ebenso falsch wäre es, zu behaupten, wir alle würden die Dinge, die unsere Überzeugungen bedrohen, auf dieselbe Art abwehren. Manch einer würde dies gern tun, verfügt aber nicht über die nötige Kraft oder die nötigen Mittel und schafft es nicht. Diese Menschen werden dann als der Abschaum der Gesellschaft gebrandmarkt oder werden zum schwarzen Schaf in der Familie oder einer anderen Gruppe, deren Mitglieder die Kunst der Selbstbestätigung besser beherrschen.

Versuchen Sie einmal, dem sanftmütigsten und zurückhaltendsten Menschen in Ihrem Bekanntenkreis vorzuschlagen, das Leben aus einer Perspektive anzugehen, die seinen eigenen psychologischen, religiösen, politischen, sozialen oder moralischen Überzeugungen komplett zuwiderläuft. Worin besteht die Gefahr? Sie werden die Person destabilisieren. Sämtliche Ungewissheiten und Ungereimtheiten, die sie bisher so erfolgreich verdrängt und hinter die Außenmauern ihres Bollwerks verbannt hat, könnten plötzlich wie ein Trojanisches Pferd auftauchen und das zerbrechliche, flüchtige Idealbild einreißen, das sie zuvor in jahrelanger Kleinstarbeit aufgebaut hat. Die Reaktion kann auch aggressiv ausfallen, je nachdem, wie groß die Angst ist, die Sie durch diese Bedrohung der Schutzmechanismen hervorgerufen haben. Auch dieser Mensch ist in seinen eigenen Überzeugungen gefangen, ebenso wie Sie und ich.

Der erste Schritt in die Freiheit ist die Erkenntnis, dass es dieses selbst auferlegte Gefängnis gibt und dass außerhalb seiner Mauern eine andere Art zu leben liegt.

Das Joch der Weltanschauung

Die meiste Zeit halten uns nicht die Winde des Lebens gefangen, sondern unsere eigene Art zu denken und unsere Existenz zu begreifen. Dieser Satz wird denjenigen bedeutungslos erscheinen, die sich auf die paar Vorteile konzentrieren, die unsere Art zu funktionieren mit sich bringt. Und sicherlich erlaubt diese uns auch, ab und an auf einem Weg voranzuschreiten, auf dem wir glücklich und zufrieden sind. Das ist schön und gut, doch es bringt uns umso mehr dazu, unsere eigene Weltanschauung zu verteidigen und uns schließlich mit dieser Lebensart zufriedenzugeben, und sei sie auch noch so lückenhaft.

»Ist das denn nicht genug?«, könnten Sie mir entgegnen. Wenn es Ihnen genug ist, wird Ihnen nicht gefallen, was Sie in diesem Buch lesen. Jede Verkündung einer Diagnose ist schmerzhaft, bevor mit der Behandlung begonnen werden kann. Wenn Sie jedoch, genau wie ich, das Gefühl haben, dass wir bisher immer nur gelernt haben, an der Essenz des Lebens vorbeizusegeln, dann wird Ihnen die weitere Lektüre sicher Vergnügen bereiten.

Die Essenz des Lebens? Dieser Punkt ist so subjektiv, dass ich ihn an dieser Stelle vielleicht nicht hätte erwähnen sollen. Subjektiv und nicht zu beweisen!

Lassen Sie es mich anders ausdrücken. All das, was uns als persönliches, familiäres oder materielles Glück zuteilwird, hängt vom Wind des Lebens ab. Seine Böen kommen und gehen. Einzig unsere inneren Fähigkeiten des Bewusstseins, der Güte und Weisheit können andauern und sind unabhängig von den Umständen. Alles andere kann jeden Moment fortgeweht werden.

Dies zu begreifen ist furchterregend. Deshalb ziehen wir es vor, nicht allzu sehr darüber nachzudenken, um die begründete Angst zu vermeiden, die uns jedes Mal ergreift, wenn die Lösungen, auf die wir zurückgreifen könnten, außerhalb unserer Komfortzone liegen.

Wir fühlen uns sicherer, wenn wir die Augen vor der Wirklichkeit verschließen. Genau deshalb machen uns die Überzeugungen, die wir uns angewöhnt haben, nicht zwangsläufig sofort unglücklich, nicht im Geringsten. Doch sie halten uns mit Sicherheit davon ab, einen Teil unserer Ziele zu erreichen. Nur wissen wir das nicht. Krücken sind sinnvoll, wenn sie eine Beeinträchtigung korrigieren. Wenn es uns genügt zu gehen, können sie uns helfen. Erst wenn wir rennen wollen, ist es Zeit, sich um die Beeinträchtigung selbst zu kümmern, um sich anschließend der Krücken zu entledigen.

Kämpfen oder loslassen?

Das Leben und unsere Mitmenschen haben uns beigebracht, unseren Mut darauf zu verwenden, uns gegen jede Veränderung zu wehren, die unser Gleichgewicht bedroht, und sei sie auch noch so unbedeutend. Wir haben gelernt, jede Unwägbarkeit zu bekämpfen, und versuchen, die Ziele zu erreichen, die wir uns gesteckt haben. Oft funktioniert das ganz gut, zumindest am Anfang. Aus vielen Situationen können wir nur erfolgreich hervorgehen, wenn wir kämpfen. Das Problem ist, dass wir nicht nur kämpfen, um etwas zu erreichen, sondern auch gegen die Dinge ankämpfen, die uns eine andere Richtung einschlagen lassen, als wir uns vorgenommen haben. Dabei ist dieser Kampf ganz unnötig, weil es ausreichen würde, unsere Überzeugungen und unsere vorgefertigten Annahmen über Bord zu werfen und die Situation anders aufzufassen. Obwohl es in gewissen Fällen notwendig ist zu kämpfen und zu kontrollieren, vergessen wir am Ende, dass dies Ausnahmen sein sollten, die die Regel bestätigen.

Im Grunde sollten wir sinnvollerweise nur das kontrollieren, was wir auch tatsächlich kontrollieren können. Alles andere nicht! Kennen Sie das arabische Sprichwort, das besagt, man solle nur bellen, wenn man auch beißen kann? Und genau dieses »alles andere«, auf das wir keinen Einfluss haben, das wir eben nicht beißen können, macht nun einmal den Großteil unserer Existenz aus. Dieses andere ist die Unwägbarkeit, die der Wind des Lebens mit sich bringt.

Wenn wir lernen, alles kontrollieren zu wollen, Veränderungen zu meiden und jegliche Ungewissheit zu hassen, verwandelt sich unsere gesamte Existenz in einen Albtraum. Dann haben wir uns nicht die nötigen Fähigkeiten angeeignet, um immer wieder aufzustehen. Wir wissen noch nicht einmal, wo wir nach ihnen suchen sollen.

Wenn wir hingegen begreifen, was die Ungewissheit für uns bereithalten könnte, dann verwandelt sich das Leben in ein weites Feld voller Aufgaben und Entdeckungen, in ein Experimentierfeld, auf dem wir lernen können, neue Kräfte zu entwickeln, uns neue Lösungen auszudenken, um jenen Zustand des Erfolgsgefühls und des Glücks zu erreichen, nach dem wir alle streben.

Und was gilt es zu verstehen? Was gilt es zu entwickeln? Wenn ich Bücher zur Persönlichkeitsentwicklung lese, dann sind mir diese Worte zuwider, denn viel zu selten findet man dort konkrete Handlungsansätze. Die meisten Bücher beschreiben zwar das Ziel, das man erreichen sollte, aber nicht den Weg dorthin. Hundertfach habe ich gelesen, man solle loslassen. Doch den Dingen zu entsagen, die man sich tief im Innern am meisten wünscht, ist doch das Widernatürlichste überhaupt.

Wie soll man im alltäglichen Leben diesen Satz des Dalai Lama verstehen, geschweige denn anwenden: »Zu erreichen, was wir uns am meisten wünschen, ist nicht immer ein Segen.«? Wo ist die Gebrauchsanweisung?

Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass man sich nicht an Dingen festklammern sollte, die man ohnehin unmöglich erreichen kann. Aber woher soll man wissen, dass etwas unmöglich ist, bevor man es versucht hat?

Loslassen? Das scheint zunächst einmal unmöglich, sogar widersinnig. Man denke nur einmal an jene Geschichte über den Bergsteiger, der beim Klettern stürzt und sich plötzlich an den Rand einer Gebirgsspalte geklammert vorfindet. Bis zur Spitze über ihm sind es 1000 Meter, und 1000 Meter geht es unter ihm in die Tiefe. Im Sturz hat er sämtliche Seile und Haken und Karabiner verloren. Er ruft: »Kann mir jemand helfen?«

Eine kräftige Stimme meldet sich: »Hab Vertrauen. Lass los.«

Der Bergsteiger blickt noch einmal ins Nichts unter sich und ruft mit kläglicher Stimme: »Ist da jemand?«

Sicherlich geht es nicht darum, äußerlich einen Griff zu lösen, sondern in uns selbst – unsere Art zu funktionieren loszulassen. Es geht darum, zu entdecken, wie Turbulenzen uns guttun können, um besser zu funktionieren. Erst ab diesem Moment kann das Abenteuer unseres Lebens wirklich beginnen.