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Über den Autor

Dr. Reinhard Pohanka, geboren 1954, ist Archäologe am Historischen Museum der Stadt Wien. Zahlreiche Veranstaltungen mit den Schwerpunkten Mittelalter und römische Zeit, über 15 Publikationen, darunter bei marixwissen: Die Herrscher und Gestalten des Mittelalters; Der Amerikanische Bürgerkrieg; Die Völkerwanderung, Dokumente der Freiheit, Das Rittertum und Die Römer.

Zum Buch

Das Byzantinische Reich war eine der größten Zivilisationen der Welt. Es war ein dynamischer und kosmopolitischer Schmelztiegel, der die Kunst, Kultur und Geschichte von West und Ost umfasste. In seiner mehr als tausendjährigen Geschichte bewahrte Byzanz das Erbe der Antike für Europa, beschützte den Kontinent für Jahrhunderte vor Invasionen aus dem Osten und schuf mit seiner Kunst und seinem Hof Vorbilder, die bis heute nachwirken. Seine religiösen Vorstellungen finden sich in der orthodoxen Christenheit wieder. Gegen alle späteren Meinungen war Byzanz kein dekadenter und korrupter Staat, sondern ein lebensfrohes Reich mit vielen Kulturen und Völkern, der Europa aus den dunklen Jahrhunderten in die moderne Welt führte. Das vorliegende Buch erzählt die Geschichte von Byzanz von seiner Gründung 330 bis zu seinem Untergang 1453 und beleuchtet die Kunst, Kultur und Lebensweise jenes Volkes, das sich als Nachfolger des Römischen Reiches stets stolz die „Rhomäer“ nannte.

Reinhard Pohanka

Das Byzantinische Reich

Reinhard Pohanka

Das Byzantinische
Reich

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INHALT

VORWORT: WAS WAR BYZANZ?

1.   DIE GEOGRAPHIE DES BYZANTINISCHEN REICHES

2.   DIE ENTSTEHUNG EINES NEUEN REICHES – DAS ENDE DER ALTEN WELT UND DER NEUBEGINN IM OSTEN (330–641)

Erste Reichsteilungen

Konstantin I. der Große (306–337)

Die Bedeutung des Christentums

Von Valentinian I. bis Zenon und das Ende des Weströmischen Reiches (337–476)

Das Ostreich von Theodosius II. bis Justinian (408–527)

Das Zeitalter Justinians und seiner Nachfolger (518–641)

3.   DAS DUNKLE ZEITALTER VON BYZANZ: DAS SPÄTE SECHSTE UND DAS SIEBTE JAHRHUNDERT (641–717)

Soziale und wirtschaftliche Veränderungen im 7. Jahrhundert

Das Themensystem und die Reorganisation der Verwaltung

4.   DIE DYNASTIE DER ISAURIER UND DAS ZEITALTER DES BILDERSTREITES (717–842)

5.   LEBEN IN BYZANZ

Der Hof des Kaisers

Das Heerwesen

Die byzantinische Marine

6.   DIE MAKEDONISCHE DYNASTIE AUF DEM KAISERTHRON (867–976)

7.   DER HÖHEPUNKT BYZANTINISCHER MACHT (976–1057)

8.   DIE BYZANTINISCHE GESELLSCHAFT

Die Verwaltung

Die Mönche

Handwerker und städtische Arbeiter

Die Frauen

Die Landwirtschaft

Die Armen

Der Hausbau

Das Münzwesen

Erziehungswesen

9.   DIE DYNASTIEN DER DUKAI UND DER KOMNENEN (1057–1185)

Das Reich im 12. Jahrhundert

10. DER VIERTE KREUZZUG (1202–1204)

11. DAS LATEINISCHE REICH VON BYZANZ (1204–1261)

12. DIE HERRSCHAFT DER PALAIOLOGEN UND DER NIEDERGANG VON BYZANZ (1261–1354)

13. DIE LETZTEN JAHRE DES BYZANTINISCHEN REICHES (1354–1453)

14. DER FALL KONSTANTINOPELS 1453

Byzanz nach 1453

Die orthodoxe Kirche unter türkischer Herrschaft

Das Weiterleben der byzantinischen Kultur

15. DAS BYZANTINISCHE ERBE

ZEITTAFEL

LISTE DER SPÄTRÖMISCHEN UND BYZANTINISCHEN KAISER

LITERATUR (IN AUSWAHL)

VORWORT: WAS WAR BYZANZ?

Byzanz war ein Staat, der niemals existierte, zumindest nicht unter diesem Namen. Kaum einem Bewohner jenes Reiches, das von 326 bis 1453 bestand, wäre es je eingefallen, sich einem Byzantinischen Reich zugehörig zu sehen oder sich als Byzantiner zu bezeichnen. Man nannte sich stolz Römer oder, da Griechisch die Hauptsprache des Staates war, Rhomäer. Der Begriff Byzanz für das Reich stammt erst aus der Geschichtsschreibung der Renaissance, geschaffen, um das Reich, das wir heute als das Byzantinische kennen, vom Reich der Römer, das von 753 v.Chr. (der Sage nach) bis 476 n.Chr. (Abdankung des letzten weströmischen Kaisers) bestand, zu unterscheiden.

Dieses Byzantinische Reich war die wesentliche Brücke zwischen den Welten des Orients und dem westlichen Europa, ebenso eine Verbindung zwischen der Antike und dem Beginn der Frühen Neuzeit und der Renaissance. Dennoch weiß man in Europa weniger über Byzanz als über das westliche Mittelalter oder über andere Reiche und Kulturen. Das Byzantinische Reich war auf dem Höhepunkt seiner Macht, als Europa nach dem Ende des Weströmischen Reiches hinter viele Errungenschaften der antiken Kultur zurückgefallen war und Jahrhunderte brauchte, um neue staatliche Strukturen, eine eigenständige Kunst und ein politisches System entstehen zu lassen. Und dennoch, wenn man heute von »byzantinischen Verhältnissen« spricht, so meint man religiösen und staatlichen Konservativismus und einen Staat, der von Korruption, Falschheit und Treulosigkeit bestimmt war. In Ansätzen mag das stimmen, die byzantinischen Kaiser, der Adel und die Hofbeamten verhielten sich in ihrer Zeit aber nicht anders als die Herrscher auf den westlichen Thronen. Trotz offensichtlicher Mängel war das Byzantinische Reich eine Zivilisation, die mehr als eintausend Jahre lang bestehen konnte und die alle Länder rund um das Mittelmeer, auf dem Balkan und in Westeuropa beeinflusste. Auch wenn dieser Einfluss einmal mehr und einmal weniger stark war – er war immer vorhanden.

Das Byzantinische Reich sah sich als der legitime Nachfolger des Römischen Reiches und existierte noch für fast eintausend Jahre, nachdem Rom an die Goten gefallen war. Seine Menschen sahen es als ein ewiges Reich an, von Gott dazu bestimmt, die Menschheit zu regieren vom Erscheinen Christi bis zum Jüngsten Gericht. Das Reich umfasste viele Ethnien und Kulturen, wenngleich die griechische die »Leitkultur« (im doppelten Sinne) und das Griechische Amts- und Umgangssprache war. Das Christentum war die offizielle und dominierende Religion, auch das Judentum und der Islam wurden toleriert, nicht aber andersgläubige, sogenannte häretische Christen. Das Byzantinische Reich hatte seinen strahlenden Mittelpunkt bis zum Schluss in der Stadt Konstantinopel, einst als Byzantion bekannt und seit 1930 Istanbul genannt.

Die schlechte Nachrede, die man den Byzantinern im Westen angedeihen ließ, beruhte unter anderem auf ihrem Beharren auf einer eigenständigen Konfession, die nicht den Papst, sondern den Kaiser in Konstantinopel als den Stellvertreter Christi auf Erden ansah und die im Westen als häretisch und abtrünnig gesehen wurde. Man verstand die Orthodoxen nicht als rechtmäßige Christen, und die westlichen Zivilisationen konnten nicht verstehen, wieso sich die Byzantiner und ihre Religion so unterschiedlich von ihrer Form des Christentums entwickelt hatten, gingen doch die westliche und die byzantinische Kultur auf die Antike zurück, und besonders auf das Römische Reich. Man sah Byzanz als den dekadenten armen Verwandten und übersah dabei, dass die Byzantiner dieselbe Meinung von den westlichen Zivilisationen hatten. Auch sie hatten im größten Teil ihrer Geschichte die Tendenz, sich als überlegen gegenüber anderen Zivilisationen zu sehen, sie betrachteten ihre Kultur und Lebensweise als die am weitesten fortgeschrittene und sich selbst als das eigentlich von Gott zur Herrschaft auserwählte Volk. Auch die Art, wie sie ihre orthodoxe Religion1 ausübten, sowie ihre religiösen Ansichten und Lehrsätze hielten sie für die einzig wahren und stießen dabei zunehmend auf die Gegnerschaft der Christen im Westen, die genau dasselbe von ihrer römischkatholischen2 Religion dachten.

Dabei war es dem sogenannten lateinischen Westen nicht bewusst, welche Kraft das Byzantinische Reich aus dem Umstand bezog, dass es sich als so alt und erfahren ansah. Schon zur Zeit Kaiser Justinians (527–565) war das Reich 200 Jahre alt und konnte auf eine Tradition von noch einmal 1000 Jahren zurückblicken, es sah sich so gefestigt, dass man glaubte, nichts und niemand könne es ins Wanken bringen. Das Byzantinische Reich war nach seiner Idee eine Einheit unter der Herrschaft eines Kaisers, einer Religion und einer Kunst. Alles, was sich im Westen erst entwickeln musste, ein Hof mit einem Hofstaat, Diplomatie, eine Zivilbürokratie, Rechtssicherheit durch geschriebenes Recht, der Glanz der höfischen Feste und auch die Möglichkeit, dass eine Frau an der Spitze des Reiches stand, war hier schon seit Jahrhunderten vorhanden. Dazu kam ein übersteigertes Selbstbewusstsein, da man den Kaiser, den Basileus in Konstantinopel, als den einzig wahren Kaiser sah, auch wenn sich Karl der Große 800 zum Kaiser des Westens in Rom krönen ließ und man dies in Byzanz später notgedrungen und aus politischer Räson anerkennen musste. Im Inneren wussten die Byzantiner von ihrer Überlegenheit und zeigten dies auch gerne nach außen. Aber diese Überzeugung ließ den byzantinischen Staat immer wieder auch schwerste Krisen überstehen, den Aufstieg fremder Reiche an den Grenzen wie das der Araber, der Bulgaren und der Serben oder die Kiewer Rus. Das Byzantinische Reich hatte sogar die Kraft, nach seiner Auslöschung durch den Verrat des Westens im Vierten Kreuzzug von 1204 eine Auferstehung zu schaffen, wenngleich dies so viel Substanz gekostet hatte, dass danach das Reich nur mehr ein Schatten seiner selbst war.

Das Selbstverständnis der byzantinischen Kaiser als Herrscher der bekannten Welt wurde noch verstärkt durch das Wissen über ihre Nachfolge der Kaiser des Römischen Reiches und besonders durch die Sprache, die seine mittelalterlichen Gelehrten und Wissenschaftler mit der altgriechischen Kultur verband. Dies befähigte sie, die Haupttexte der antiken Philosophen, Mathematiker, Geographen, Astronomen, Historiker und Arzte zu bewahren, indem man sie immer wieder kopierte und weitergab, oft durch zeitgemäße Kommentare verfeinert. Dazu kam, dass man sich nicht scheute, auch die Texte und Wissenschaften der Araber, der größten Feinde des Reiches, zu studieren, die so in Übersetzungen an das Abendland weitergegeben wurden. Besondere Beachtung fanden die antiken Schriftsteller, man las die Stücke von Aischylos, Sophokles, Euripides und Aristophanes und gab kritische Kommentare von Ilias und Odyssee heraus. Die Werke Platos und Demosthenes’ waren bekannt und brachten heidnisches Wissen in die ansonsten streng christliche Welt von Konstantinopel.

Das alte Kulturerbe verband sich in Byzanz auf das Idealste mit dem christlichen Glauben, der mit der Zeit in allen Teilen des Reiches die heidnischen Kulte ersetzte. Die byzantinische Kultur nährte die frühen Klostergemeinschaften auf den heiligen Bergen Sinai und Athos, sie vollzog die Christianisierung der Serben, Bulgaren und der Rus3 in einem Gebiet, in dem sich der orthodoxe Glaube bis heute erhalten hat. Als im 7. Jahrhundert die Patriarchate von Antiochia, Alexandria und Jerusalem an die Muslime verloren gingen, blieben die Byzantiner hier die spirituelle Schutzmacht der Christen, und sie dehnten ihren religiösen Einfluss auf so weit entfernte Länder wie Äthiopien, den Sudan, Persien, Armenien und Georgien aus.4

Indem es sein römisches und griechisches Erbe nutzte, verhalf Byzanz der antiken Ingenieurskunst zu überleben, man baute weiterhin Aquädukte, Befestigungen, Straßen und Brücken. Man schuf daraus auch Eigenständiges wie die gewaltigste Kirche ihrer Zeit, die Hagia Sophia in Konstantinopel, den größten Kuppelbau des Mittelalters, der erst tausend Jahre später vom Petersdom übertroffen wurde. Diese Kirche sollte Vorbild werden für alle Kirchen der orthodoxen Welt und lebt bis heute in der Form der Mehrzahl der Moscheen der Muslime nach. Selbst der Felsendom in Jerusalem, einer der wichtigsten Plätze des Islams, stammte aus der Hand byzantinischer Handwerker, die im 7. Jahrhundert vom Kaiser Justinian II. dem Kalifen Abd el-Malik gesandt wurden.

Aus Rom übernahm Byzanz das Justizsystem und die militärischen Traditionen. In Byzanz lebte man nach dem Gesetz; gab es ein legales Problem, so richtete darüber ein ausgebildeter Jurist nach gesammelten und geschriebenen Gesetzen. Im ganzen Reich konnten die Menschen, wenn sie sich unrecht behandelt fühlten, zu einem Gericht gehen und empfingen dort einen Richterspruch, den sie zu akzeptieren hatten.

Obwohl das System der römischen Legionen die Spätantike nicht überlebt hatte, übernahm die byzantinische Armee doch deren Traditionen. Man verwendete weiterhin römische Strategien, übernahm die Art der Waffen, die dann den Zeiten angepasst wurden, und neue Erfindungen wie das Griechische Feuer verhalfen den byzantinischen Armeen und der Flotte zu glänzenden Siegen.

Das Byzantinische Reich sah sich stets selbst als das Zentrum der Welt und seine Hauptstadt Konstantinopel als Ersatz für das an die Barbaren verloren gegangene Rom. Obwohl sie griechisch sprachen, sahen sich der Kaiser, sein Hofstaat, die Beamten und die Menschen bis hinunter zum einfachsten Bauern als Römer und als Schutzmacht für alle griechisch sprechenden Gemeinden in Sizilien und in Unteritalien, die aus der griechischen Expansion vom 11. bis zum 6. Jahrhundert vor Christus hervorgegangen waren. Ohne den Handel mit Byzanz wäre der Aufstieg der italienischen Küstenstädte wie Venedig, Amalfi oder Genua nicht möglich gewesen, und auch wenn diese Städte später Byzanz als Handelsmächte übertrafen, so blieb die Stadt am Bosporus doch einer der bedeutendsten Handelspartner im gesamten Mittelalter.

Die wichtigste Aufgabe erfüllte Byzanz in seiner Rolle als Schutzmacht des christlichen Europas vor dem Vordringen des Islams. Bis zum 7. Jahrhundert war Byzanz das weitergeführte Römische Reich gewesen und hatte seine Stützpunkte und Militärposten rund um das Mittelmeer verteilt. Dann kam der Aufstieg des Islams, und in einem Siegeszug sondergleichen fielen Städte und ganze Landschaften den Muslimen anheim. Syrien, Persien, Palästina und Ägypten wurden in kurzer Zeit erobert, nur Byzanz hielt aus und bewachte mit dem Bosporus und den Dardanellen den Zugang nach Europa. Sein Sieg über die Araber 678 vor den Mauern von Konstantinopel hat denselben Stellenwert wie die weitaus bekanntere Schlacht von Tours und Poitiers 732, die im Westen die islamische Invasion beendete. Hätte Konstantinopel 678 nicht ausgehalten, so wäre der Islam möglicherweise ungehindert in den Balkan eingefallen und hätte Europa von Süden her aufgerollt, wie es später die Osmanen gemacht haben, die aber bei ihrer Ankunft bereits auf ein politisch gefestigtes Europa trafen und die, obwohl sie zweimal bis Wien vordringen konnten, ihr Ziel, nämlich die Unterwerfung Europas, nicht erreichen konnten.

Eine erste Kluft zwischen dem Westen und Byzanz brach in den Kreuzzügen auf. Die Byzantiner konnten diese Bewegung nicht verstehen und haben sie abgelehnt, was den Kreuzfahrern, die geglaubt hatten, christlichen Mitbrüdern zur Hilfe zu kommen, wie ein Verrat vorgekommen sein muss. Aus byzantinischer Sicht war dies aber verständlich, der Kaiser sah in den durch die Franken von den Muslimen eroberten Ländern sein eigenes Territorium und die Kreuzzüge als eine Einmischung in seine inneren Angelegenheiten. Diese Feindseligkeiten eskalierten bis 1204 soweit, dass der christliche Westen die Hauptstadt des christlichen Ostens eroberte und das Byzantinische Reich zerstörte, mit Konsequenzen, die sich über Jahrhunderte hinziehen sollten. Dennoch hat die Eroberung von Konstantinopel 1204 für den Westen einen ungeheuren Aufschwung gebracht, man brachte die byzantinische Kunst und Kultur in den Westen, siedelte die byzantinischen Glashandwerker und Seidenweber nach Italien um und las die Übersetzungen der arabischen Schriftsteller, die man aus den geplünderten Bibliotheken von Konstantinopel geraubt hatte. Im 14. Jahrhundert holte man griechische Gelehrte an italienische Universitäten, und sie und ihre Schüler begannen, die antiken Philosophen ins Lateinische zu übersetzen und bekannt zu machen. Die Byzantiner trugen ihren Teil zum Beginn der italienischen Renaissance bei, und dies setzte sich auch fort nach dem Fall von Konstantinopel 1453, als zahlreiche Flüchtlinge aus dem Byzantinischen Reich in den Westen kamen. Noch Jahrzehnte später beriefen sich die Evangelischen der Reformationszeit auf die ihrer Meinung nach unverfälschten Texte der Bibel, wie man sie aus byzantinischen Klöstern überliefert bekommen hatte.

Fasst man all dies zusammen, so entsteht das Bild eines gewaltigen Reiches, nicht nur in geographischer, sondern auch in politischer und kultureller Hinsicht, eines Wachtpostens der Christenheit am Bosporus, eines Verteidigers des christlichen Glaubens. Mag auch der englische Historiker Edward Gibbon von diesem Reich im 18. Jahrhundert geschrieben haben, dass es schwach und dekadent war, dass seine Kaiser unmoralisch und verdorben, dass Intrigen, Hinterlist und Mord am byzantinischen Hof allgegenwärtig waren, so bleibt es doch die politische und kulturelle Leistung des Reiches, tausend Jahre als ein Hort von Kultur überstanden zu haben und trotz aller Widrigkeiten und Niederlagen sich gegen eine Vielzahl von Völkern behauptet zu haben. Der Ausdruck »byzantinisch« kann daher nicht für etwas Konservatives und Dekadentes stehen, es muss die Beschreibung einer Kultur sein, die in vielerlei Hinsicht für Jahrhunderte der westlichen überlegen war und die Fackel der Zivilisation in den »dunklen Jahrhunderten« Europas hochgehalten hat. Obwohl die Byzantiner niemals ein einziges Volk in ethnischer Hinsicht waren, verstanden sie es doch, sich gemeinsam einer feindlichen Welt entgegenzustellen und sich zu behaupten – eine gemeinsame Kultur, die das Trennende von Herkunft, Hautfarbe und kulturellem Hintergrund beiseiteließ. Die Menschen im Reich besaßen eine byzantinische Identität und ließen von dieser nicht ab, ein Vorbild, das zu erreichen Europa bis heute nicht gelungen ist. So gesehen war Byzanz, anders als die Römer der Antike, die ihre Aufgabe in einer durchdringenden Romanisierung des Reiches gesehen hatten, der erste Staat, der bewusst multikulturell und multinational war und dies auch über ein Jahrtausend bewahren und zusammenhalten konnte. Die Aufgabe, die Byzanz von der Geschichte übertragen bekommen hatte, war die Bewahrung der antiken Kultur, bis der Westen bereit war, dieses Geschenk wieder anzunehmen, oder wie es der Historiker Steven Runciman ausgedrückt hat: »Die große befestigte Stadt von Konstantinopel stand für Jahrhunderte als das Bollwerk der Christen gegen die Kräfte des Ostens. Seine Bürger mit ihrem Respekt vor den Errungenschaften und der Kultur der Antike bewahrten jene Traditionen, die für uns sonst verloren gegangen wären.«5

1 Die orthodoxe Kirche hat sich aus der römischen Reichskirche in den östlichen Teilen des Reiches herausgebildet und unterscheidet sich in der Lehre insbesondere hinsichtlich des Primats des Papstes und des Verständnisses vom Heiligen Geist. Die Trennung der sich auch in ihren Traditionen unterschiedlich entwickelnden Konfessionen wurde endgültig 1054 im Morgenländischen Schisma vollzogen, als sich der Papst und der Patriarch von Konstantinopel gegenseitig bannten. In ihrem Selbstverständnis ist die orthodoxe Kirche die einzige Bewahrerin der christlichen Wahrheit und der Tradition der Urkirche.

2 Der Begriff »katholisch« stammt bereits aus dem 1. Jahrhundert n.Chr. und bedeutet: »das Ganze betreffend«, »allgemein«.

3 Das Wort Rus’ bzw. Ruś, das eigentlich Rusj transkribiert werden müsste – hier wird die gängige Umschrift Rus verwendet –, ist ein Fem. Sing., der aber, da er sowohl das Land als auch das Volk bezeichnet, mit einem Prädikat im Plural steht.

4 Christian Lange, Karl Pinggéra (Hrsg.): Die altorientalischen Kirchen. Glaube und Geschichte, Darmstadt 2010.

5 Steven Runciman: The Fall of Constantinople 1453, Cambridge 1990.

1.
DIE GEOGRAPHIE DES BYZANTINISCHEN REICHES

Um das Byzantinische Reich in seiner ganzen geschichtlichen Größe und Aufgabe zu verstehen, ist es notwendig, den geographischen Rahmen zu betrachten, in dem sich die Geschichte dieses Staates zwischen 330 und 1453 entfaltete.6 Das Schicksal des Byzantinischen Reiches, seine Kommunikationswege, sein Handel, die Industrie und das Klima, das für die Landwirtschaft notwendig war, waren von seiner Lage am Mittelmeer bestimmt. Die Küsten der Meere von der Straße von Gibraltar bis zum Bosporus unterschieden sich in Klima und Vegetation nicht wesentlich. Dieser Küstenbereich erstreckte sich bis etwa 100 Kilometer ins Landesinnere, ab hier änderten sich der Bewuchs, die Fruchtbarkeit des Bodens und die landwirtschaftlichen Möglichkeiten dramatisch und unterschieden sich je nach Region. Es ist daher verständlich, dass die großen Städte des Reiches oft an den Küsten angesiedelt waren, einerseits, um hier Handel zu treiben, und andererseits wegen der Fruchtbarkeit ihres Hinterlandes, die es ermöglichte, auch eine große Anzahl von Einwohnern verlässlich zu versorgen.

Das Klima an den Küsten war das gesamte Jahr über mild, im Sommer bestimmt von kühlen Winden, die vom Meer herauf wehten, manchmal aber auch von Stürmen aus der Sahara, die heiße Luft ins Mittelmeergebiet führten, im Winter von Winden aus dem Landesinneren, die Kälte, aber auch Niederschläge brachten. Dennoch wehten je nach Jahreszeit die Winde in der Regel aus der gleichen Richtung, was für die Schifffahrt die Sicherheit brachte, zu bestimmten Zeiten in See stechen zu können und das Ziel sicher zu erreichen. Man war auch widrigen Winden nicht hilflos ausgeliefert, das Mittelmeer weist eine stark in Buchten und Vorgebirge gegliederte Küstenlinie auf, die Schiffen auch bei schlechtem Wetter zahlreiche gute Ankerplätze geboten hat. Es waren diese natürlichen Gegebenheiten, welche seit frühester Zeit das Mittelmeer zu einem Handelsweg machte, der die unterschiedlichen Völker an seinen Küsten verband und zum Austausch von Waren und Kultur führte.7

Ein zweites wichtiges Element der Geographie ist der Regen, da nur mit ihm eine intensive Landwirtschaft möglich ist. An den Küsten des Mittelmeers regnet es zumeist im Winter, sodass Anbau und Ernte davon beeinflusst werden. Man betrieb daher den Anbau von Weizen, Gerste und Roggen im Winter und erntete im Frühjahr, wenn der Boden begann auszutrocknen. Ein Hindernis war, dass die Böden rund um das Mittelmeer nicht sehr fruchtbar sind; die Humusdecke ist nur dünn und kann leicht vom Regen weggeschwemmt werden. Dazu kommt, dass die Küstengebiete gegen das Landesinnere zumeist von Gebirgszügen getrennt werden, aus denen Flüsse zum Meer strömen. Diese führen aber über das Jahr gesehen nicht konstant dieselbe Menge an Wasser, sondern vermehrt im Winter, dann aber oft große Wassermassen, die fruchtbares Land wegspülen können. Bis auf den Nil, die Donau und den Euphrat, die zeitweise die Grenzen des Byzantinischen Reiches bildeten, waren diese Flüsse zum Großteil nicht schiffbar und konnten zum Transport von Gütern nur wenig beitragen.

Hinter den Küstenstrichen liegen im Gebiet des Byzantinischen Reiches zumeist größere Landmassen. Das westliche Europa und Afrika können hier vernachlässigt werden, da sie nur für kurze Zeit im Einflussbereich von Byzanz lagen, die Hauptbereiche waren Kleinasien, Syrien, Ägypten und der Balkan, wovon aber im 7. Jahrhundert Syrien und Ägypten, die bis dahin die Kornkammern des Reiches gewesen waren, durch die arabische Invasion verloren gingen. Das Niltal war das reichste dieser Gebiete, es bezog sein Wasser durch den Nil, und die alljährlichen Nilhochwasser brachten fruchtbare Erde auf die Felder. In Syrien war der fruchtbarste Bereich das Hochland zwischen dem Orontes im Westen und dem Euphrat im Osten. Dieses Gebiet war mit mehreren großen Städten dicht besiedelt, und hier lagen große Güter reicher Großgrundbesitzer.

Kleinasien war das agrarische Kernland des Reiches bis in das späte 11. Jahrhundert. Während der Osten durch die gebirgigen Regionen von Georgien und Armenien geprägt war, wies das Zentrum ein hochgelegenes Plateau auf, das heiß im Sommer und bitter kalt im Winter sein konnte. Eingerahmt wird dieses Plateau von hohen Gebirgszügen wie dem Pontischen Gebirge und dem Taurus, aus denen zahlreiche Gewässer zu den Küsten des Schwarzen Meeres und des Mittelmeers herabstürzen und Täler und Ebenen formten, die wie Karien, Lydien, Bithynien und teilweise auch Phrygien zu den fruchtbarsten Gebieten des Reiches zählten. Kleinasien war seit der Zeit des römischen Kaiserreiches gut durch Straßen erschlossen, und es hatte sich eine Aufteilung in der Landwirtschaft ergeben; im Landesinneren wurde bevorzugt Viehzucht betrieben, während man an den Küsten Wein, Oliven, und Korn anbaute.

Der Balkan war nach Kleinasien die zweitwichtigste Region des Byzantinischen Reiches. Zwar war er ebenfalls für Jahrhunderte ein Teil des Römischen Reiches gewesen, er war aber phasenweise nicht so dicht besiedelt und wies mit den Karpaten, den Dinarischen Alpen, den Bergen des Balkans und den Rhodopen mächtige Gebirgszüge auf, deren Täler und Ebenen sich nur zum Teil zur Landwirtschaft eigneten. Dazu kam, dass sich hier zwischen dem Schwarzen Meer und der südrussischen Steppe eine Lücke auftat, welche als der Steppenkorridor bekannt ist, über den immer wieder Völker aus dem Inneren Asiens in das Zentrum des Balkans vordringen konnten. Nur wenige Flüsse fließen vom Balkan aus zum Mittelmeer wie der Vardar bei Thessaloniki, die Struma und die Nesta. Die oft tief eingeschnittenen Täler bildeten die wichtigsten Einfallspforten vom Mittelmeer nach Südosteuropa, eine Kontrolle dieser Flüsse und Täler bedeutete stets auch die Beherrschung dieses Gebietes.

Innerhalb Südosteuropas ist das fruchtbare Land in eine Vielzahl von kleinen Ebenen aufgeteilt, die sich oft isoliert entwickelten, was immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Küstenbewohnern führte. Mit der Einwanderung der Bulgaren und später der Serben entstanden hier in byzantinischer Zeit zwei Reiche, deren Grenzen weit über das Gebiet des heutigen Bulgariens und Serbiens hinausgingen. Bulgarien reichte im Norden von der Donau bis nach Thrakien und im Westen bis hinein in das heutige Ungarn, Serbien konnte zeitweise sein Reich bis in das nördliche Griechenland und nach Thessalien ausdehnen.

Griechenland und die Peloponnes können zu den Küstengebieten gerechnet werden, da das Meer selten weit entfernt ist, das Landesinnere am Taygetos und am Pindargebirge glich aber schon mehr den dürftigen Berggebieten des übrigen Balkans.

Geht man von den geographischen Gegebenheiten aus, nimmt man dazu die Verkehrswege, die Verwaltungseinheiten der Römischen Kaiserzeit und die im 6. Jahrhundert weitgehend abgeschlossene Christianisierung, so ergaben sich daraus die Bedingungen, unter denen sich das Byzantinische Reich und seine Bewohner zu einer politischen Einheit formten, die fast eintausend Jahre Bestand haben würde.

6 Klaus Belke, Friedrich Hild, Johannes Koder, Peter Soustal (Hrsg.): Byzanz als Raum. Zu Methoden und Inhalten der historischen Geographie des östlichen Mittelmeerraumes. Wien 2000.

7 Vermutlich haben bereits die Neandertaler das Mittelmeer befahren, siehe dazu: Alan Simmons: Mediterranean Island Voyages. In: Science, 16 November 2012 (Vol. 338 no. 6109) pp. 895–897.

2.
DIE ENTSTEHUNG EINES NEUEN REICHES – DAS ENDE DER ALTEN WELT UND DER NEUBEGINN IM OSTEN (330–641
)

ERSTE REICHSTEILUNGEN

Rom hatte in zahlreichen Kriegszügen und Schlachten ein Reich aufgebaut, das von den Säulen des Herakles bei Gibraltar bis zum Persischen Golf reichte, von den Rändern der Sahara im Süden bis an den nebelverhangenen Rhein und bis zum Land der Skoten und Pikten im hohen Norden. Es hatte alle Völker des Mittelmeerraums und Mitteleuropas unter seine Herrschaft genommen, hatte Ägypten und Vorderasien beherrscht, und ein Sechstel der Erdbevölkerung lebte und starb unter der Herrschaft der römischen Kaiser.8 Die Römer brachten aber nicht nur den Krieg, mit ihnen kam die römische Zivilisation zu den unterworfenen Völkern, äußerlich sichtbar vor allem an Bauwerken wie Thermen, Wasserleitungen und Straßen.9

Nur an zwei Orten wurde ihrem Expansionsdrang Einhalt geboten, im Norden durch die Germanen, welche zwar den römischen Luxus zu schätzen wussten, dafür aber nicht ihre Freiheit und Stammeskultur aufgeben wollten, und zum anderen im Osten durch das Großreich der persischen Parther. Das Hauptziel der Politik der römischen Kaiser lag darin, Germanen und Perser von den Reichsgrenzen fernzuhalten, ohne damit in einen Zweifrontenkrieg zu geraten. Die Germanen konnten durch eine kluge und ausgewogene Klientelpolitik bis zum Ende des 2. Jahrhunderts n.Chr. ruhig gehalten werden. Anders die Parther, die seit den Zeiten Julius Caesars (100 v.Chr. – 44 v.Chr.) eine ständige Bedrohung der römischen Ostgrenzen darstellten.

In der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n.Chr. kam es zum Ernstfall. Ein Aufstand in Armenien zugunsten der Parther und der Einfall der Markomannen und Quaden an der Donau machten es zum ersten Mal notwendig, die Befehlsgewalt im Reich in einen westlichen und einen östlichen Bereich zu teilen. Kaiser Mark Aurel (161–180) übernahm die Abwehr der Germanen, während sein Mitkaiser Lucius Verus (161–169) die Parther im Osten bekämpfen musste.

Noch war diese Teilung nicht zum Dauerzustand geworden, dies änderte sich aber nach 226, als die Dynastie der Sassaniden im Neupersischen Reich die Parther ablöste.10 Mit ihrer Wiedererweckung der altpersischen Religion Zarathustras und durch ihre Ablehnung des römisch-hellenistischen Einflusses zugunsten einer nationalen Selbstbesinnung gerieten sie sofort in schärfsten Gegensatz zum Römischen Reich. Dieses war im 3. Jahrhundert in die Krise geraten, das Militär ernannte Kaiser in rascher Folge, die fast alle eines gewaltsamen Todes starben. Zugleich drängten die Germanen immer stärker auf die Nordgrenze, sodass der Zweifrontenkrieg für die Römer zur Regel wurde. Daher verfügte 254 Kaiser Valerian (253–260) zu einer Zeit, als das Reich an der Donau von den Markomannen und im Osten durch die Sassaniden bedroht war, abermals eine Teilung des Kommandos. Er selbst übernahm den Osten und residierte in Antiochia, sein Sohn, der spätere Kaiser Gallienus (260–268), übernahm die Verteidigung des Westens. Dass sich der Kaiser den Osten vorbehielt – jenen Teil des Reiches mit seinen Millionenstädten, seinen Reichtümern und den Handelskontakten zur Welt des Orients – deutet auch auf den Stellenwert, den dieser Reichsteil besaß.

32 Jahre später wurde diese Teilung der militärischen Gewalt in die Reichsverfassung aufgenommen, als Kaiser Diokletian (284–305) Maximian zum zweiten Augustus ernannte und diesem Mediolanum (Mailand) als Sitz zuwies, während er in Nikomedia in Bithynien residierte. Diese Herrschaftsform bedeutete aber noch keine faktische Reichsteilung, da sich Diokletian das Recht, Gesetze für das ganze Reich zu erlassen, vorbehielt.

Das System der organisatorischen Aufteilung wurde von Diokletian erweitert, neben der Regierung der zwei Augusti wurden als deren Nachfolger zwei Caesares eingesetzt, die den Augusti nach 20 Jahren nachfolgen sollten. Dieser Plan scheiterte aber aufgrund der menschlichen Neigungen, die nicht auf Verfassungstreue, weiser Selbstbeschränkung und Einsicht beruhten, sondern aus purem Machtstreben bestanden. Es brach zusammen, da es die Macht des Heeres, das fast hundert Jahre lang die Kaiser ausgerufen hatte, nicht berücksichtigte. Daher kam es in der Nachfolge Diokletians zu Kämpfen zwischen den Augusti und den Caesares, die darin endeten, dass sich der Augustus des Ostens, Konstantin I. (306–337), gegen seinen Rivalen Maxentius 312 in der Schlacht an der Milvischen Brücke durchsetzte und er als ranghöchster Augustus das Prinzipat im Reich beanspruchte. Zwar musste auch er sich mit seinem Mitkaiser Licinius auseinandersetzen, ab 324 war er aber der alleinige Herrscher im Römischen Reich. 326 begann er mit dem Bau einer neuen Hauptstadt im Osten auf dem Boden der alten griechischen Kolonie Byzantion,11 die am 11. Mai 330, noch unfertig, unter dem Namen Konstantinopolis feierlich geweiht wurde.

Konstantin hätte keinen besseren Platz für seine neue Hauptstadt wählen können. Sie lag auf einer Halbinsel, die in den Bosporus ragte und an drei Seiten von Wasser umgeben war, gegen das Land hin konnte sie mit einer Mauer gesichert werden. Viel wichtiger war ihre geopolitische Lage am Schnittpunkt zwischen Ost und West, in etwa gleicher Entfernung zu den Krisenherden des Reiches an Rhein und Donau und im Orient. Dazu kam, dass die als Konstantinopolis bezeichnete Stadt auch eine wichtige Schnittstelle zwischen den östlichen und westlichen Provinzen darstellte.

KONSTANTIN I. DER GROSSE (306–337)