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Über dieses Buch:

In schweren persönlichen Krisen sehnen wir uns oft nach Veränderung. Doch meist fehlt uns der Mut, den Schritt ins Neue zu wagen. Lieber halten wir an gewohnten Ritualen und Mustern fest, auch wenn wir sie als schädlich erkannt haben. Hans Kreis zeigt in einfühlsamen Worten und mit großer Lebenserfahrung und spirituellem Wissen, wie wir den Mut finden, Veränderung zu wagen und Krisen positiv zu begreifen.

Ein weiser, einfühlsamer und kompetenter Wegweiser durch die schwierigen Zeiten im Leben.

Über den Autor:

Hans Kreis stieg nach einer steilen Karriere in der Kommunikationsbranche aus, um sein psychologisches und spirituelles Wissen zu vertiefen. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung und seiner kreativen Begabung ist er heute ein gefragter Berater und »Visions«-Coach. Er lebt in Italien und Deutschland.

Von Hans Kreis ist bei dotbooks bereits Leben, Lust & Leidenschaft erschienen.

Die Website des Autors: www.imaco.de

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Neuausgabe November 2012

Dieses Buch erschien bereits 2006 unter dem Titel Lebenskrisen als Chance zum Neubeginn: Entdecken Sie die Kraft, die in der Veränderung steckt bei Knaur

Copyright © der Neuausgabe 2012 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: © Stefan Körber – Fotolia.com

ISBN 978-3-95520-026-8

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Hans Kreis
Die Kraft der Veränderung

Lebenskrisen als Chance erkennen

dotbooks.

Inhalt

Einführung

Führer in ein neues Leben

Von der Verwundung zur Krise

Herausforderung und Chance

Durch Leid zur Erfüllung

Eine Krise kommt nicht plötzlich

Gefangen in den eigenen Gedanken

Die Wunde ist nicht die Krise

Was löst Krisen aus?

Nichts ist radikaler als die Liebe

Ihr Wert hängt nicht vom Urteil anderer ab

Warum Trennungen so schmerzen

Grausamkeit oder Fürsorge?

In die Eigenständigkeit entlassen

Der geheime Blick in die Giftküche

Einsicht erfordert Wiederholungen

Wir brauchen die Vielfalt

Kapitulieren heißt neu starten

»Du kannst das nicht!«

Worte können Menschen verändern

Weg der Heilung

Wunden aus der »Steinzeit«

Unsere erste Krise war vor der Geburt

Bei Ihnen ging alles gut

Selbst uralte Wunden sind heilbar

Mehr Ahnung als Vorstellung

Der Umgang mit Wunden

Lifestyle fordert schnelle Heilung

Wunden anschauen und annehmen

Andere Lösungen finden

Die Wunden-Macher

Macht hat Macht

Wenn der kindliche Wille bricht

Heimliche Kämpfe um die Macht

Eigenständig wird das Ich nur durch das »Nein!«

»Aber Mama weinet sehr …«

Vertrauen macht stark

Verwöhnen entmündigt

Lebenslänglich an der Nabelschnur

Probleme zerkauen

Die Folgen der Verwöhnung

Was die Sucht sucht

Die Seele schützt vor zu viel Leid

Das Krisen-Perpetuum-mobile

Mut macht Veränderungen möglich

Strategien furchtlos überdenken

Die Opferrolle ablegen

Zwänge wegputzen

Das Muster der Krise

Hingabe oder Aufgabe

Wunsch oder Phantasie?

Offenheit entwaffnet

Impotenz oder Wenn nichts mehr geht

Selbstständigkeit macht selbstbewusst

Das ewige Stirb und Werde

Krisen erlösen

Wunden wollen Freunde sein

Mach etwas daraus

Freunden gehört unser Herz

Den Schmerz willkommen heißen

Die Stärke des Machtlosen

»Pass auf!«

Dem Schicksal vertrauen

Täuschungen enttäuschen!

Das Schicksal meint es gut mit jedem

Die Sprache des Herzens

Liebe ist bedingungslos

Die Vision – der innere Führer aus dem Leid

Der Angst trotzen

Heilung heißt, wieder in Ordnung kommen

Für jeden gilt eine andere Ordnung

Die Vergangenheit würdigen

Vergangenes ruhen lassen

Sich selbst vergeben

Auf die Ordnung einlassen

Wenn die Ordnung nicht mehr in Ordnung ist

So wie ich bin, bin ich gut

Probleme in Ruhe überdenken

Würde – der Schlüssel zur Ordnung

Wir haben die Wahl

So werden Sie Ihr eigener Krisen-Regisseur

Was habe ich nur falsch gemacht?

Rollen tauschen

Zuhören statt Probleme lösen

Entwicklungsbedingte und schicksalhafte Krisen

Durch Mangel wachsen

Chance, aber auch Gefahr

Der Anfang vom Ende der Krise

Arbeitslos und gedemütigt

Rituale, Helfer in der Krise

Der Feind des Rituals ist die Routine

Das Bleibende im Wandel

Der Weg zum Heilsein führt auch über die Krise

Neubestimmung von Werten

Gnade, Demut, Dankbarkeit

Entscheidung zur Krise

Entscheidung zwischen Macht und Ohnmacht

In der Ordnung aufgehoben

Ein lebenslanger Prozess

Dank

Lesetipps

Einführung

In der schwersten Krise, im härtesten Verlust und in der schmerzlichsten Trennung bleibt Ihnen immer noch die Wahl: in der Lebenskrise zu verharren oder diese als Chance zu begreifen, an der Sie wachsen können. Sie sehen vielleicht keinen Weg mehr oder können sich vor lauter Wegen für keinen entscheiden – dieses Buch zeigt Ihnen, wie Sie sich Ihrer eigenen Verantwortung bewusst werden und mit dieser klug umgehen können, damit Sie einen Weg gehen können, der Ihrem Wesen gemäß ist. Erst dann entwickeln Sie sich hin zu Ihrer Bestimmung, weil Sie herausfinden, was Sie wirklich wollen. Die Kraft, die Sie auf diesem Weg brauchen, finden Sie in sich selbst. Dieses Buch wird Ihnen den Weg zu Ihrer Bestimmung weisen und Ihnen dabei helfen, die Krise als etwas Erlösendes verstehen zu lernen. Dabei werden sich Ihre seelischen Wunden zu Leuchttürmen in Ihrem Unbewussten wandeln. Ihnen wird mit einem Mal klar werden, warum Sie immer an den Falschen geraten, warum so vieles schief gelaufen ist, warum das, was Sie anfingen, immer zum Scheitern verurteilt war. Wer sich noch an überholte Lebensmuster klammert, hat keine freien Ressourcen, um neue Strategien zu erfinden. Wenn Sie sich mit Ihren Wunden beschäftigen, gerade mit denen, die schon lange zurückliegen, werden Sie entdecken, dass diese für Ihre Lebensdramaturgie bestimmend waren. Sie zu interpretieren führt zur Ursache der Krise.

Ihr Mut, diese Wunden zu berühren, sie zu betrachten und zu befragen, wird Sie mit der Erkenntnis belohnen, was Sie in Ihrem Leben verändern können und was Ihre wahre Aufgabe ist. Ihre Verletzungen zeigen, wo Sie bisher von Ihrem eigentlichen Wesen getrennt waren. Oft haben Sie Ihr Handeln an den Erwartungen anderer orientiert, haben nicht das gemacht, was Sie wirklich wollten, und sind so immer wieder in die gleiche oder ähnliche unbefriedigende Lebenssituation geraten.

Führer in ein neues Leben

Alte Wunden werden zu Führern in ein neues Leben. Sie zu akzeptieren, sich um sie zu kümmern, ja sie sogar zu wirklichen Freunden zu machen führt dazu, dass Sie sich befreien – von Zwängen, Angst, Unsicherheit und übersteigerter Eigenliebe. Und Sie haben die Chance, aus dem Kreislauf von Enttäuschung und Selbstmitleid herauszutreten. Mit diesem Buch werden Sie von Kapitel zu Kapitel ein größerer Experte in Sachen Wunden und Krisen. Sie werden andere Menschen und sich selbst besser verstehen, weil Sie sich eine neue Sichtweise zu Eigen gemacht haben. Fortan wird Sie ein grundtiefes Verständnis im Umgang mit Wunden bei sich und anderen leiten. Getragen wird dieses Verständnis von der Gewissheit, dass wir alle unsere Wunden heilen und in einen Nährboden für Neues verwandeln können. Doch wir haben zunächst Angst davor, dieses Neue zu wagen. Wir halten lieber an alten Mustern, Gewohnheiten und Beziehungen fest, die immer wieder in die gleiche missliche Lage und in das gleiche Leid führen. Aber langsam wird der Wunsch, am Bekannten und Sicheren festzuhalten, der Sehnsucht nach Freiheit weichen. Dann ist es Zeit, dass wir uns von den falschen Führern, den trügerischen Zielen und den Lebenslügen trennen, die uns immer neue Wunden zufügen und im Leid verhaften lassen. Den Weg der Heilung, den wir in diesem Buch gemeinsam gehen wollen, gab es schon immer. Generationen von Menschen haben ihn vor uns beschritten. Wir können aus diesem jahrtausendealten Wissen der Menschheit so viel schöpfen, wie wir möchten. Manchmal liegt es uns aber nur verschlüsselt vor, wie etwa in unseren Träumen. Wir müssen dann lernen, diese Sprache wieder zu entschlüsseln. Ein Lernprozess, der sich lohnt, weil dann aus jeder Krise etwas Positives erwachsen kann.

Warum müssen die einen unter bestimmten Situationen leiden, die anderen aber nicht? Die Ankündigung des Arbeitgebers, Stellen zu streichen, löst bei dem einen Existenzangst aus, wohingegen ein Kollege lapidar feststellt: »Dann suche ich mir etwas anderes.« Natürlich weiß auch er, dass es nicht leicht sein wird, wieder Arbeit zu finden. Auch er ist getroffen, doch er hat eine Strategie parat, einen Plan, der ihn aus der Schwierigkeit herausführen könnte. Sich seiner selbst bewusst wird er die Kündigung als Chance ansehen und sich selbstständig machen. Bei seinem Gegenüber jedoch reißt dasselbe Ereignis eine Wunde, vielleicht aufgrund einer alten Erinnerung, die in einer Krise endet: Eine tiefe Angst lähmt ihn. Er sieht sein Leben zerstört, sich in Armut und Bedeutungslosigkeit abdriften, eine Zukunft ist ihm unvorstellbar. Denn er fühlt sich wertlos. Dieses eben ausgeführte Beispiel zeigt, dass ein Ereignis an sich nicht zwangsläufig zu einer Krise führt. Erst wenn ich mit keiner meiner bisherigen Lösungsstrategien auf dieses Ereignis eine Antwort geben kann, kann es zu einer Krise kommen. Der Kollege, der eben noch souverän war, als er von seiner Kündigung erfuhr, ist auf der anderen Seite unsicher und ängstlich, wenn es um seine Gesundheit geht. Jede seiner Reisen plant er minutiös, dass er notfalls so schnell wie möglich ärztliche Hilfe bekommen kann. Denn die kleinste Unpässlichkeit deutet er als Vorboten einer schweren Krankheit. So verschieden die Menschen sind, so verschieden sind auch die Anlässe, die zu einer Krise führen: etwas Schwerwiegendes wie der Tod eines Menschen, eine Krankheit, ein Verrat, eine Trennung oder etwas scheinbar Banales. Es gibt immer zwei Möglichkeiten, auf schwierige Situationen zu reagieren. Entweder wir geraten in Panik, weil wir uns überfordert und ohnmächtig fühlen – dann bringen wir gar nichts mehr zustande. Wir können aber auch mit einem klugen Krisenmanagement auf die neue Situation reagieren, indem wir versuchen das Rechte zu tun und die Wunde in uns zu erlösen. Diese Methode lässt uns reifen, sie macht uns stark, sodass wir mit ähnlichen Situationen immer gelassener umgehen werden. Wunden, nur fälschlicherweise »Schwachstellen« genannt, haben ihre Geschichte, an deren oft weit zurückliegendem Ursprung die Medizin für ihre Heilung liegt. Irgendwann im Laufe unseres Lebens antworteten wir oder ein anderer für uns auf ein bestimmtes Problem mit einer ganz bestimmten Lösung. Meist passierte dies unbewusst. Was sich aus Mangel an Zeit, Alternativen oder Urteilsfähigkeit einst als richtig erwiesen hat, ist später oft die Quelle für Ängste, Zwänge und Schuldgefühle. Ohne es uns jemals bewusst zu machen, haben wir seit dieser Zeit immer auf dieselbe Weise reagiert und von Wahlmöglichkeiten keinen Gebrauch gemacht. Die Wunden, die so entstanden sind, lassen sich nicht mehr ungeschehen machen. Aber wir können sie ansehen, sie akzeptieren und neue Einsichten gewinnen, die uns andere Strategien bieten als die, deren unbewusste Anwendung unweigerlich in der Krise geendet hat. So können wir kompetenter und souveräner mit Wunden umgehen. Das vorliegende Buch hilft dabei und trägt mit neuen Einsichten zur Heilung bei.

Damit nicht alles Wissen nur graue Theorie bleibt, sondern auch Anwendung in Ihrem Leben findet, habe ich eine Vielzahl von Heilsamen Übungen aus meiner Praxis zusammengestellt, die allesamt leicht durchzuführen sind.

Lesen Sie das Buch nicht nur mit den Augen, sondern mit dem Herzen. Lassen Sie sich berühren. Denn nur wo Sie berührt werden, ist Heilung möglich.

Von der Verwundung zur Krise

Der Schmerz, den wir fühlen, wenn das Alte zerstört und das Neue geboren wird, zeigt, wo wir nachreifen müssen.

Was für ein Leben wäre möglich, wenn wir nicht verwundet wären? Wenn wir nicht verlassen worden wären? Wenn wir die große Liebe finden würden? Wenn wir all unsere Chancen genutzt hätten? Wenn wir einen anderen Beruf oder einen anderen Partner gewählt hätten? Endlos lange lässt sich diese Liste fortsetzen, derart groß ist die Zahl der Verwundungen, deren Schmerzen uns daran hindern, so zu leben, wie wir es uns wünschen. Die Zeichen, die auf versteckte Ängste, heimliche Sehnsüchte und unterdrückte Wünsche hinweisen, offenbaren sich einem aufmerksamen Beobachter in vielfacher Weise: Ein Rücken zeichnet sich gekrümmt unter den Kleidern ab, ein Mund drückt seine Freude mit einem einseitigen Lachen aus, ein Brustkorb ist wie ein Segel aufgebläht, die Knie sind durchgedrückt, die starre Haltung gleicht der einer Statue. Auch wer genau zuhört, stößt auf untrügliche Zeichen: Warum sprechen die einen so ängstlich, so leise, während die anderen mit ihren gescheiten Reden und dem harten Klang ihrer Worte einen Widerspruch so schwer machen? Dort tritt jemand forsch auf, ein anderer hält indes seine Hände meist verschränkt. Auf welche Verwundungen weisen all diese Zeichen hin? Was müsste sich bei diesen Leuten ändern? Und wie sähe jemand aus, der geheilt worden ist? Lassen Sie uns zusammen durch die Straßen der Stadt schlendern und Menschen beobachten.

Dort sitzen zwei Freundinnen zusammen, eine redet, die andere weint. Der Mann, dem sie zwei Kinder schenkte, betrügt sie seit langem, jetzt hat er sie verlassen. Gerade wenn die ersten Falten sichtbar werden, ist sie allein. Was muss alles geschehen, bis Wunden heilen, die eine verratene Liebe gerissen hat? Der Mann, der uns hier mit gesenktem Haupt entgegenkommt, hatte einen Termin beim Personalchef. Stets war es in seinem Beruf aufwärts gegangen, doch jetzt, mit 54 Jahren, hieß es, er werde nicht mehr gebraucht. Wenige Stunden zuvor hatte er sich noch auf sein erstes Weihnachtsfest in den eigenen vier Wänden gefreut. Vor der vielen Arbeit und den Überstunden, um die Schulden zu bezahlen, hatte er sich nicht so sehr gefürchtet wie vor der Arbeitslosigkeit. Gibt es Heilung für Wunden, die eine Kündigung reißt? Dort drüben auf dem Friedhof spielt sich eine alltägliche Szene von tiefer Traurigkeit ab. Eine Frau sucht nach Händen, an denen sie sich festhalten kann, während der Sarg für immer ins Grab gleitet. Sie greift ins Leere. Niemand ist da, der in der Verzweiflung hilft. Wo der Tod so tiefe Wunden schlägt, kann dort das Leben noch etwas heilen? Hören Sie, wie jenes kleine Kind weinen muss? Seine Mutter hat es wütend nach oben in die leere Wohnung geschickt, weil es den Möbelpackern ständig im Weg gestanden hatte. Aber nirgends kann es sich mehr hinsetzen, alles ist ausgeräumt, alles Vertraute verschwunden; das Kind hat Angst, denn gleich muss es sein Zuhause für immer verlassen. Was muss alles geschehen, dass eine von Angst verwundete Kinderseele heilt? Was hätte die traurige Frau da vorne zu erzählen, wenn sie aufhörte zu weinen? Es wäre die Geschichte einer großen Liebe mit einem grausamen Ende. Sie hat Familie, Heimat und Beruf aufgegeben und alles verloren. Sie ist allein. Wie können Wunden heilen, die eine große Enttäuschung riss?

Herausforderung und Chance

Es ist schwer zu glauben, dass genau diese Wunden für unsere Entwicklung notwendig sind. Sie rühren an unsere Sehnsüchte, und wenn wir uns berühren lassen, weisen sie den Weg zur Heilung. Mir begegnen oft Menschen, deren Not so groß ist, dass man sich fragt, wie sie diese aushalten. Doch dann kommt der Tag, an dem sie verändert vor mir stehen: Psychisch gewachsen und menschlich gereift strahlen sie wieder Zuversicht und Lebenswillen aus. Wie schafft ein Mensch nach all dem Leid solch eine positive Wandlung? Wir wollen diese leidenden Menschen auf eine Reise in eine Zeit schicken, in der es ihre Verwundungen noch nicht gab. Aus meiner täglichen Arbeit weiß ich, wie die Gesichtszüge plötzlich freundlicher werden und die Augen heller glänzen, wenn ich etwa Menschen im Scheidungsstreit nach ihrer ersten tiefen Begegnung frage, wenn ich sie an ihre ersten zärtlichen Berührungen erinnere. Das Ende der Reise in die Vergangenheit markiert meist ein tiefer Seufzer. Denn wie lernt ein Mensch wieder lieben, dessen Liebe verraten wurde? Wie lernt ein Kind wieder lachen, das bitter enttäuscht wurde? Wie kommt wieder Sinn in das Leben, wenn alles sinnlos erscheint? Wie entsteht wieder Vertrauen, wenn die Angst regiert? Wie keimt wieder Hoffnung, wenn der Tod alles zerstörte? Wie lernen wir wieder »Ja« zu sagen, wenn »Nein« jede Entwicklung blockiert? Erstaunlicherweise haben wir alle die Antworten auf unsere offenen Lebensfragen in uns, wie einen geheimen Fahrplan zu unserem persönlichen Glück. Wir wissen mehr, was zur Heilung notwendig und Not wendend ist, als wir uns selbst in unserem Leid zugestehen und zutrauen. Oft bedarf es nur einer einzigen Person, die den Schleier des Schmerzes von den Augen der Betroffenen reißt und den Blick auf die eigenen Kräfte und in die heilsame Richtung lenkt.

Krise ist ein bedeutungsschwerer Begriff in unserer Sprache. Wir verwenden ihn ausschließlich negativ besetzt. Wer in einer Krise steckt, ist in Gefahr, hat einen Rückschlag oder eine schwere Krankheit erlitten. Im Hinterkopf schwingt meist mit, dass die Situation hätte vermieden werden können, sodass noch ein strafendes Element deutlich wird, was sich beim Betroffenen in Schuldgefühlen äußert. Das Wort Krise stammt übrigens aus dem Altgriechischen, dort bedeutet es Urteil, Entscheidung, Wahl, im Chinesischen bedeutet das Schriftzeichen ebenso Gefahr wie Chance. Die Ambivalenz der Situation hat also sogar in den Sprachen ihren Niederschlag gefunden. Aber Krisen sind keine Strafen, die den Menschen auferlegt werden, sondern sie gehören zu unserem Leben. Manche sagen, sie sind Herausforderung und Chance zugleich. Ich denke, sie sind Sollbruchstellen in unserer Entwicklung, die uns zu der Persönlichkeit reifen lassen, die jedem innewohnt. Nehmen wir einen Apfelkern, der den Winter unter der Erde verbringt; dunkel und feucht ist es dort, aber auch sicher. Bringen die ersten Sonnenstrahlen die Wärme zurück, geschieht etwas mit dem Apfelkern dort unten, ein Impuls drängt ihn, dem zu widerstehen Tod bedeutet: Er strebt in Richtung der Sonne. Dieser Wechsel im Bewusstsein, das Verharren unter der Erde gegen das Wachsen tauschen zu wollen, den Mut aufzubringen, die sichere Samenhaut an einer ganz bestimmten Stelle zu sprengen, ist eine Krise im Sinne einer Sollbruchstelle. Ohne diese wäre Leben überhaupt nicht möglich. Von nun an hat dieser Apfelkern die Möglichkeit zu wachsen, oder auch nicht. Die nächste Krise erlebt er beim Austritt aus der Erde oder beim Entwickeln des Stammes, der Blätter und der Blüten. So wird dieses Lebewesen, das einst im feuchten Dunkel lag, unzählige Wandlungen im Laufe der Jahre und Jahreszeiten durchmachen, jede mit einer Krise verbunden, bis hin zur letzten Krise, dem scheinbaren Sterben.

Durch Leid zur Erfüllung

Warum tun wir uns so schwer mit dem Neuen, das werden will? Warum empfinden wir den Zusammenbruch des Alten als etwas Schmerzhaftes, obwohl die Vernunft doch sagt, dass alles vergänglich ist? Liegt der Grund für die – angebliche – Grausamkeit, mit der das Schicksal die Menschen behandelt, in uns selbst, in unserer eigenen Persönlichkeit? Was ist der Sinn von so viel Grausamkeit und so vielen Wunden? Leiden wir vielleicht an mangelnder Ein-Sicht, sodass wir jemand anderen für unser Schicksal verantwortlich machen wollen? Wenn Sie sich diese Fragen stellen, sind Sie nicht alleine. Solche Themen haben die Menschen zu allen Zeiten bewegt. Schon in den ältesten Mythen finden sich Belege für die Suche nach dem Sinn des menschlichen Leids, die zunächst immer mit Zweifel und Verzweiflung beginnt: Warum gerade ich? Selbst der verratene und ans Kreuz geschlagene Jesus ist über diesen Schmerz nicht erhaben, wenn er fragt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Liegt die Erlösung für die Kreatur gar im Schmerz verborgen, vor dessen Unerbittlichkeit wir oft kapitulieren? Kann eine andere Einstellung zum Schmerz und zur Wunde vielleicht die Schmerzen lindern und Erlösung bringen?

Nur wer eine Frage stellt, hat die Chance auf eine Antwort: Warum sind Wunden notwendig? Wir brauchen sie für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit auf dem Weg zur Reife. Unsere Seele ist voller kleiner und großer Wunden, die sie im Laufe des Lebens hinnehmen musste. Meist im Rückblick lassen sie sich als Stationen der persönlichen Entwicklung ausmachen, an denen man sich seiner unbekannten Potenziale besonnen hat, die lange im Verborgenen geblieben waren oder von deren Vorhandensein man höchstens geträumt hatte. Wenn es gelänge, den Blick, mit dem wir diese Verletzungen betrachten, radikal zu ändern, sähen wir, wie wir ebendiese zu unserem Nutzen verwenden können. Welche Möglichkeiten zur Entwicklung seiner Persönlichkeit können in einer Trennung liegen, einem Verlust, einer Enttäuschung, ja sogar in einer schweren Krankheit? Ein erster Schritt besteht darin, die zerstörerische Sichtweise abzulegen, die uns zum bemitleidenswerten Opfer macht: Die Flucht in die Opferrolle verschafft nur scheinbar Hilfe. »Womit habe ich das verdient?« oder »Warum gerade ich?« sind keine Fragen, die einen Weg aus der Situation anbieten, sondern Klagerufe, die in die Hilflosigkeit münden. Die Lösung liegt darin, trotz seiner beklagenswerten Lage die vom Schicksal gestellte Aufgabe zu meistern und daraus eine Lehre zu ziehen. So kann eine neue Ehrlichkeit entstehen, die der Frage nach dem Sinn eine erleuchtende Antwort gibt und die fähig ist, uns für eine Zukunft empfänglich zu machen, die das bereithält, was uns gemäß ist. Leider bedarf es in vielen Fällen, vielleicht sogar in den meisten, einer schmerzlichen Erfahrung, um das Alte aufzugeben und sich etwas Neuem zuzuwenden, sich eben weiter zu entwickeln. Das folgende Beispiel ist ein geradezu klassischer Fall, der dies verdeutlicht.

Eine Krise kommt nicht plötzlich

Eine Krise kommt nicht plötzlich von heute auf morgen, sie kündigt sich oft langsam an, sodass wir sie anfangs gar nicht wahrhaben wollen. So unscheinbar sind die Anzeichen, dass wir ihnen nicht die angemessene Beachtung schenken. Ich arbeite oft mit Menschen, die sich einreden, sie seien eines Tages aufgewacht und hätten bemerkt, dass es so nicht mehr weitergehen könne. Nach einigen Gesprächen müssen sie aber zugeben, dass ihnen dies schon viel früher hätte auffallen müssen. Doch als ob sie bisher wirklich »geschlafen« hätten, ist es ihnen entgangen. Solches erlebte auch ein Verkäufer, der mir seinen »Absturz«, wie er es nannte, beschrieb. Wie er so vor mir saß, hätte ihn keiner für einen der Besten seiner Branche gehalten. Damit war es jetzt ja auch vorbei, sein Schicksal hatte ihn zu einem Schatten seiner selbst degradiert. Jahrelang lebte er auf der Überholspur, beruflich wiesen alle Pfeile in Richtung Erfolg, die Karriereleiter erklomm er mühelos. Geldsorgen plagten ihn ebenso wenig wie die Angst vor dem Scheitern. Seine Frau und die beiden Kinder boten einen zusätzlichen Halt. Unter diesen Voraussetzungen erhielt er »die Chance seines Lebens«, ein Ausdruck, dessen tiefe Wahrheit er erst Jahre später begreifen sollte. Das Unternehmen, in dem er beschäftigt war, schickte ihn ins Ausland, wo er Pionierarbeit leisten sollte. Wie immer wandte er alle Mühe auf, um ein Mammutprogramm zu bewältigen. Und es sollte ihm wie immer bestens gelingen. Doch danach, nach seiner Rückkehr, trat statt der großen Freude – die »große Leere« ein, wie er mir sagte. Plötzlich sei nichts mehr da gewesen. Über allem schwebte die Frage: »Was mache ich jetzt?« Brach es wirklich so plötzlich auf, wiesen wirklich keine Indizien auf das Kommende hin? Die Spurensuche in der Vergangenheit brachte etliche Kleinigkeiten zutage. Er erinnerte sich, dass seine Kinder sich in den letzten Monaten vor Beendigung der Arbeit darüber beschwert hatten, er würde leichter als sonst zornig werden. Er selbst hatte sich in dieser Zeit häufiger müde und gereizt gefühlt, seinen Zustand aber auf die viele Arbeit geschoben. Erst zwei Jahre später, als er zurückblickte, erkannte er in seiner Verhaltensweise Vorboten seiner schweren Krise. Es gibt unzählige solcher Irritationen, die uns darauf hinweisen, dass irgendetwas in dem Räderwerk unseres Lebenslaufs nicht mehr passgenau ist, nicht mehr so wie früher funktioniert oder nicht so, wie wir es gerne hätten. Die Abstände, in denen sich die Anzeichen melden, sind anfangs noch groß, deshalb messen wir ihnen keine allzu große Bedeutung bei, oft genug nehmen wir sie nicht einmal bewusst wahr. Aber genau so verläuft die erste Phase einer Krise, manchmal dauert sie Tage oder Wochen, nicht selten sogar Jahre. Zwischendurch kann es Perioden geben, während deren alles wieder so wie gewöhnlich läuft, sodass wir uns zu dem Trugschluss verleiten lassen, alles sei in Ordnung. Aber die Irritationen kehren zurück. Auch bei dem erfolgreichen Verkäufer kehrten sie zurück, wurden immer häufiger und intensiver und mündeten schließlich in lähmenden Selbstzweifeln. »Ich glaubte, nichts mehr Größeres schaffen zu können«, sagte er mir. Wer so denkt, hat eigentlich keine Ziele mehr, nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt. Eine Zukunft konnte er sich nicht mehr vorstellen, jedenfalls nicht, wenn sie so aussehen sollte, wie seine Gegenwart aussah. In seiner Handlungsfähigkeit wurde er langsam ausgebremst, weil er einfach keinen Sinn mehr in dem fand, was er tat. Die gewaltige Kraft, auf die er hatte bauen können, und seine Lebensfreude, mit der er andere angesteckt hatte, schwanden zusehends. Sogar an sich selbst begann er zu zweifeln und er resignierte, indem er alle seine Leistungen in Zweifel zog. In diesem Stadium merkte er, dass er blockiert war – »Es ging nicht mehr so weiter wie gewohnt!« Mit Sorge hatte seine Familie schon längst die Veränderung registriert. Trotzdem war es irgendwie weitergegangen: Es gab zwar öfter Streit mit seiner Frau, die Kinder zogen sich zurück, aber er wusste diese Symptome nicht zu deuten und versuchte, den gewohnten Gang der Dinge beizubehalten, anstatt etwas zu ändern. Noch mehr Arbeit sollte wieder an alte Erfolge anknüpfen.

Gefangen in den eigenen Gedanken

Dabei war er mit der Zeit ein anderer geworden. Seit einigen Monaten rauchte er wieder, trank ab und zu mehr als er vertrug und vernachlässigte sich und seine Familie. Beruflich klappte immer weniger. Verwöhnt vom Erfolg wie er war, litt er darunter, weil seine Leistungen sich verschlechterten. Aber das war kein Wunder, denn er war rund um die Uhr mit sich selbst beschäftigt. Seine Gedanken drehten sich nur noch im Kreis, oft war es so schlimm, dass Kopfschmerzen ihn quälten, gegen die keine Tabletten halfen. Es schien, als ob er nichts anderes mehr zu denken fähig war. Die immer gleichen Fragen hämmerten in seinem Kopf, Verdrängung half nichts, Ablenkung half nichts, erneute Anstrengung half nichts. Sein Wille war gleichsam ausgeschaltet. Dieser Mensch war in seinen Handlungen eingeschränkt, seine Spielräume verengten sich. Was konnte er anpacken, welche Pläne sollte er fassen, wo ihn doch stets die gleichen Themen geißelten: die Sinnlosigkeit seines Tuns, die Perspektivlosigkeit seines Strebens und die Ratlosigkeit, was er stattdessen machen sollte? Mitten am Tag wachte er nach langem Nachdenken auf und wunderte sich, wo die Zeit geblieben war. Worüber er eigentlich nachgedacht hatte, hätte er nicht zu konkretisieren gewusst.

In solchen Situationen neigen wir dazu, mit der dunklen Grundstimmung der Seele das ganze Leben zu unterlegen. Freude, Genuss und Entspannung haben dort keinen Platz mehr, wo diese abgrundtiefe Traurigkeit regiert. In diesem Zustand blieb meinem Klienten der geschäftliche Erfolg versagt. Dass er keine Aufträge für seine Firma mehr einholte, bezog er auf seine schlechte Ausstrahlung, was aber nur zum Teil richtig war. Denn zum anderen hatte sich die wirtschaftliche Lage deutlich verschlechtert. Doch selbst wenn es offensichtlich nicht an seiner Person liegen konnte, führte er seine Erfolglosigkeit auf seine innere Öde zurück, denn objektive Urteile über sich konnte er nicht mehr fällen. So zogen ihn auch die ganz alltäglichen Misserfolge immer tiefer hinunter. An allem, was in seinem beruflichen Umfeld misslang, fühlte er sich schuldig. Die Trennung von seiner Familie war nur noch eine Frage der Zeit, aber auch in einer leeren Wohnung hätte er den Grund für all die Geschehnisse nicht nennen können. Eine neue Phase von stechendem Schmerz hatte begonnen. Bis dahin waren fast zwei Jahre vergangen, zwei Jahre Talfahrt, die erst an einem absoluten Tiefpunkt zu Ende waren. Die Diagnose lautete Herzinfarkt. So nahe war er dem Tod noch nie gekommen. Aber er wollte leben.

Plötzlich, und hier hat das Wort seine Richtigkeit, besann er sich seiner Ressourcen. Doch er musste diese inneren Kräfte in die richtige Richtung umlenken. Ansonsten hätten sie sich weiter gegen ihn selbst gerichtet und ihn zugrunde gehen lassen. Bis er erkannte, auf welche Chancen ihn die schwere Krise hingewiesen hatte, war sie tatsächlich eine Gefahr für seine Existenz. Nur weil er die entsprechenden Selbstheilungskräfte mobilisiert hatte, war es nicht zu schweren Folgeschäden gekommen; Suizidgedanken hatte er von Zeit zu Zeit gehegt, zu viel Alkohol getrunken und begonnen, sich, seinen Beruf und seine Kontakte zu vernachlässigen; dies alles hätte ihn isolieren können oder in sozialem Abstieg verbunden mit finanziellem Ruin enden können. Als er viel später an diese schlimmen Tage zurückdachte, sah er sie als »Nullpunkt« an, an dem er neu angefangen hatte. Das Schicksal ließ keinen Selbstbetrug mehr zu, er musste sich die Dinge so anschauen, wie sie waren, auch sich selbst. Vorher hatte er noch die Kraft gehabt, sich an den Lebensentwurf zu klammern, mit dem er gescheitert war. In großen Krisen sind wir schicksalhaft auf uns selbst zurückgeworfen, es bleiben dann keine Hilfsmittel in Form von Dingen oder Personen mehr, die eine Stütze oder eine Ablenkung bieten können. Erst da, wo die Zerstörung ihren Höhepunkt erreicht hat, brechen die Ressourcen auf, ein Wille packt uns, der zum Neuaufbau drängt, allerdings unter geänderten Vorzeichen. Denn eines will jede Krise lehren: So wie bisher kann es nicht weitergehen, denn eben weil es so nicht weitergegangen ist, stecken wir ja in einer Krise.

Die Wunde ist nicht die Krise

Eine Wunde selbst ist weder eine Krise, noch löst sie automatisch eine aus. Sicher vor ihr ist derjenige, der mit der Verletzung umgehen kann. Nur dann, wenn der Betroffene das nicht schafft, entsteht die Gefahr, in eine Krise zu rutschen. Sie zeigt sich zuerst daran, dass Schmerzen ausgelöst werden, die über die eigentliche Verwundung hinausreichen und in einem umfassenden Leid enden. Zum Beispiel gesellt sich zur Ohnmacht zusätzlich eine panische Angst davor, alleine gelassen zu werden. Zur Verzweiflung über den ausbleibenden Erfolg etwa kommen die fieberhafte Suche nach den Ursachen und ein Minderwertigkeitsgefühl verbunden mit einer mysteriösen Angst vor weiterem Versagen. Der Verlauf des bisherigen Lebens garantierte dem Verkäufer eine Sicherheit, auf die er sich verlassen konnte. Ist die Quelle der Normalität aber versiegt, verzweifelt der bisher Wohlbehütete, weil er mit einer neuen Situation konfrontiert ist, in der er sich scheinbar ohne sein bisheriges Wissen behaupten muss. Was sicher war, ging verloren. Des Gewohnten beraubt fühlen wir uns überfordert und wissen nicht weiter, einen klaren Gedanken können wir oft nicht mehr fassen. Ich habe Menschen in meiner Arbeit kennen gelernt, deren Angst vor Neuem so groß war, dass sie lähmend wirkte, weil sie sich selbst für etwas entscheiden und motivieren mussten. Dieses Überangebot an Freiheit, plötzlich ganz andere Dinge tun zu können als die gewohnten, und die Verantwortung für sich selbst kennzeichnen die neue Situation, mit der viele nicht umzugehen gelernt haben. Es kam bei dem Verkäufer deshalb zu einer Krise, weil er keine Möglichkeit sah, sein neues Leben als eine neue Chance zu sehen. Ebenso kann es zwei Menschen, die einst in Liebe verbunden waren, gehen. Die Wunde des Verlassenwerdens wird zu einer, die nicht nur Schmerz auslöst, sondern auch tiefes Leid, und die eine Angst einflößt, die in Handlungsohnmacht endet. Es ist ähnlich wie mit einem Schnitt in der Haut. Ein kleiner Kratzer nach der Wanderung durch einen dichten Wald wird kaum der Rede wert sein. Jeder kann mit solch einer Situation umgehen. Zwar ist der Kratzer manchmal schmerzhaft, aber wir wissen, dass die Wunde ungefährlich ist und wie wir sie behandeln können. Wir haben Erfahrungen im Umgang mit solchen Wunden gesammelt. Erst wenn wir das Gefühl bekommen, dass der Kratzer unsere Kompetenz übersteigt, droht er eine Krise auszulösen. Was ist nämlich, wenn der angeblich harmlose Kratzer am Bein eines kleinen Kindes plötzlich stark anschwillt, dass dessen Schreie immer lauter werden? Wie werden die Eltern reagieren, wenn sie ihr Kind nicht mehr mit den üblichen Streicheleinheiten beruhigen können? Sie werden nicht mehr wissen, was zu tun ist. Dann wächst in ihnen eine Angst, dass es sich um eine ernste Verletzung mit noch ernsteren Folgen handeln könnte, etwa um einen Schlangenbiss, der tödlich enden könnte. Im schlimmsten Fall macht sie eine lähmende Angst handlungsunfähig. Ein Fotomodel, das ich eine Zeit lang beruflich begleitete, hat es einmal auf den Punkt gebracht. Sie hatte sich aus Unachtsamkeit eine kleine Verletzung im Gesicht zugezogen. Etwas war heruntergefallen, sie erschrak, und bei einer heftigen, unkontrollierten Bewegung war es geschehen. Sie war »völlig am Ende«, denn in wenigen Stunden hatte sie einen Termin für ein Fotoshooting, bei dem sie makellos schön aussehen musste. Jemand anders hätte die Verwundung mit Salbe und einem Heftpflaster behandelt. Aber sie konnte mit dieser Situation nicht umgehen, hatte so etwas noch nicht erlebt. Ein Kratzer war zu einer existenziellen Wunde für sie geworden. Bei vielen reicht sogar schon die bloße Vermutung, dass eine böse Verletzung vorliegen könnte. Entweder reden sich die Betroffenen selbst diese Gefahr ein oder sie setzen ein fatales Vertrauen auf die Aussagen eines anderen. Besonders die angenommene Schwere der Verwundung, die aus einer solchen Manipulation resultiert, kann zu einer Krise führen, denn plötzlich stellt sich unsere Phantasie in den Dienst unserer Angst. Je phantasievoller Menschen sind, umso größer wird die Angst. Unser Fotomodel war sehr phantasievoll.

Exkurs: Wie du mir, so ich dir und mir

Wunden bestimmen unser Leben. Manchmal sind wir Opfer, manchmal aber auch Täter. Dabei schmerzen die Wunden, die wir anderen schlagen, oft mehr als die, welche uns andere zufügen. Denn der Akt einer jeden Gewalt entspringt einer brutalen Logik: Was wir erlebt haben, geben wir ungefiltert weiter. Der irgendwann einmal im Laufe seiner Entwicklung Verletzte oder Gedemütigte wird das Erlebte selbst wiederholen, meist unbewusst. Allzu häufig stehen die Menschen dann erschüttert vor dem, was sie angerichtet haben. Sie spüren im Grunde, dass nicht das Opfer, sondern sie selbst das Objekt ihrer Aggression waren; sie kommen in solchen Situationen ihren tiefen Wunden oft ganz nah.

Was löst Krisen aus?

Was war aber der Auslöser für die Krise bei dem Verkäufer aus meinem Beispiel? Der berufliche Abstieg, der Zerfall seiner Familie, sein übermäßiger Alkoholkonsum, all dies waren Symptome einer Krise, die zeigten, dass er mit dem, was er empfand, nicht mehr umgehen konnte. Irgendeine Wunde war tief in seinem Inneren aufgebrochen und hatte zu bluten begonnen. Statt sich darauf zu konzentrieren, warum er sich Fragen nach dem Sinn seines Tuns stellte, reagierte er, wie er es gewohnt war, mit mehr Arbeit, mehr Anstrengung und noch weniger Zeit für sich: eben mit Verdrängen. Hätte er auf die Reaktionen seines Körpers und seiner Seele gehört, hätte er gemerkt, dass es so wie bisher nicht weitergehen konnte. Im Kampf gegen diese Erkenntnis musste er viele Schläge einstecken, bis er endlich in der Niederlage einsah, dass sein Weg ihn in eine Sackgasse geführt hatte. Sein Schicksal zwang ihn auf die Intensivstation, wo er, den Tod vor Augen, keine Ausflüchte mehr machen konnte. In seinem Schmerz erkannte er, wie wichtig ihm seine Familie war und wie verhältnismäßig wenig er sich um sie gekümmert hatte. Sein Streben war auf wenige Punkte reduziert, auf Arbeit, Leistung, Erfolg. Die Krise hatte ihm die Augen dafür geöffnet, dass es noch andere wichtige Faktoren in seinem Leben gab, die beachtet werden wollten. Und er hatte gespürt, als er dem Tod nahe war, welche Kräfte in ihm steckten. Trotz des beruflichen Abstiegs und seines Schmerzes über den Verlust seiner Arbeit und seiner Familie hatte er seinem Untergang etwas entgegengesetzt: Ein Ja zum Leben. An den Rand des Abgrunds war er gedrängt worden, aber er widersetzte sich, weil er die Ressource in sich fand, die anfänglich nur ein Gefühl war, das ihm ein »Du schaffst das!« zuhauchte. Diese Quelle der Kraft hatte ihm in einer scheinbar ausweglosen Situation geholfen, einen Ausweg zu finden und nicht daran zu verzweifeln, dass er alles verloren hatte. Nach dem Leid hatte er die Kraft gefunden, auf den Trümmern seines alten Lebens neu anzufangen. Heute geht er wieder seinem alten Beruf nach, aber er setzt die Gewichtung anders. Er muss nicht mehr überall der Beste sein, er muss nicht mehr alles selbst machen, er hat führen, delegieren und teilen gelernt und ist menschlicher und sympathischer geworden. Die Arbeitszeit hat sich deutlich reduziert, er hat neue Beschäftigungen für sich entdeckt und ist mit weniger Anerkennung zufrieden. Der Schmerz, den er fühlte, als sein altes System zusammenbrach, zeigte ihm, wo er nachreifen musste. Später werden wir Methoden kennen lernen, wie das gelingt.

Wo Menschen miteinander umgehen, sind Krisen unvermeidlich. Dies trifft umso mehr zu, je enger die Beziehung ist, in der man steht. Nichts ist radikaler als die Liebe, und nichts schlägt tiefere Wunden als eine Trennung. Oft sehen wir in dem Verlassenen nur das Opfer. Er ist es, der allein zurückbleiben muss. Wie grausam muss hingegen der sein, der verlässt? Warum entschließt er sich zu diesem Schritt, warum kann es nicht so weitergehen wie bisher?

Nichts ist radikaler als die Liebe

Nehmen wir ein Paar, wie es viele gibt, zwei Menschen, die sich einst liebten. Sie haben eine gemeinsame Zeit miteinander verbracht, und eines Tages – wie aus heiterem Himmel, wird der Mann sagen –