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Inhalt

Widmung

Für meine Großmutter Rose Amelia Clapp,
meine geliebte Frau Melia
und meine Kinder Ruth, Julie, Ella und Sophie

Kindheit

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Schon als kleiner Junge von sechs oder sieben Jahren beschlich mich das Gefühl, dass an mir irgendwas anders war. Vielleicht lag es daran, wie die Leute über mich sprachen, als ob ich gar nicht dabei wäre. Meine Familie lebte in einem kleinen Haus in Ripley in Surrey direkt neben der Dorfwiese. Es gehörte zu einer Reihe ehemaliger Armenhäuser und hatte vier Zimmer: zwei winzige Schlafzimmer im ersten Stock sowie ein kleines Wohnzimmer und eine Küche im Erdgeschoss. Die Toilette befand sich in einem Wellblechschuppen im Garten, eine Badewanne gab es gar nicht, nur einen großen Zinkzuber, der an der Gartentür hing. Ich kann mich nicht daran erinnern, je darin gebadet zu haben.

Zweimal die Woche füllte meine Mum eine kleinere Blechwanne mit Wasser und schrubbte mich ab, und sonntagnachmittags badete ich immer bei Tante Audrey, der Schwester meines Vaters, die in einer der neuen Wohnungen an der Hauptstraße wohnte. Ich lebte zusammen mit Mum und Dad, die ein großes Schlafzimmer mit Blick auf die Dorfwiese hatten, sowie Mums Bruder Adrian, der in einem der Zimmer nach hinten hinaus wohnte. Ich schlief auf einem Feldbett, manchmal bei meinen Eltern, manchmal auch unten im Erdgeschoss, je nachdem, wer gerade bei uns übernachtete. Es gab keinen Strom, und die Gaslampen zischten unentwegt. Rückblickend finde ich es unglaublich, wie ganze Familien in diesen winzigen Häusern leben konnten.

Meine Mum hatte sechs Schwestern: Nell, Elsie, Renie, Flossie, Cath und Phyllis, sowie zwei Brüder, Joe und Jack. Sonntags war es nicht ungewöhnlich, dass zwei oder drei von ihnen samt Anhang zu uns kamen, tratschten und sich gegenseitig auf den neusten Stand der familiären Ereignisse brachten. Weil das Haus so klein war, wurden diese Gespräche immer in meiner Gegenwart geführt, und die Schwestern tuschelten miteinander, als wäre ich gar nicht da. Es war ein Haus voller Geheimnisse. Aber indem ich ihre Gespräche aufmerksam belauschte, reimte ich mir nach und nach zusammen, was eigentlich los war, und begriff, dass die Geheimnisse meistens mit mir zu tun hatten. Als ich eines Tages eine meiner Tanten fragen hörte: »Hast du etwas von seiner Mum gehört?«, dämmerte es mir, dass mein Onkel Adrian mich einmal nicht nur aus Spaß einen kleinen Bastard genannt hatte.

Das volle Ausmaß dieser Erkenntnis war ziemlich traumatisch für mich, denn zur Zeit meiner Geburt im März 1945 war eine uneheliche Herkunft noch ein gewaltiges gesellschaftliches Stigma – obwohl es, nachdem eine so große Zahl ausländischer Soldaten und Flieger durch England gekommen waren, viele uneheliche Kinder gab. Dies galt über alle Klassengrenzen hinweg, war jedoch bei Arbeiterfamilien wie unserer, die in kleinen Dorfgemeinschaften lebten und den Luxus von Privatsphäre kaum kannten, besonders ausgeprägt. Deswegen war ich, was meine Stellung in der Familie betraf, schwer verunsichert, und obwohl ich sie von Herzen liebte, hatte ich sie doch im Verdacht, dass ihnen meine Existenz in einem Dorf wie Ripley peinlich sein könnte und sie sich immer wieder erklären müssten.

Meine Mum und mein Dad, Rose und Jack Clapp, waren, wie ich schließlich herausfand, in Wahrheit meine Großeltern, Adrian war ihr Sohn und tatsächlich mein Onkel und Roses Tochter aus erster Ehe, Patricia, meine leibliche Mutter, die mir den Namen Clapton vererbt hatte. Mitte der 1920er Jahre hatte Rose Mitchell, wie sie mit Mädchennamen hieß, Reginald Cecil Clapton, genannt Rex, schneidig, fesch, Oxford-Absolvent und Sohn eines Offiziers der indischen Armee, kennen und lieben gelernt. Im Februar 1927 hatten die beiden gegen den ausdrücklichen Willen seiner Eltern geheiratet, die der Ansicht waren, dass Rex unterhalb seines Standes heiratete. Die Hochzeit wurde wenige Wochen nach der Geburt von Roses erstem Kind, meinem Onkel Adrian, gefeiert. Die Familie ließ sich in Woking nieder, doch die Ehe war leider nur von kurzer Dauer, weil Rex 1932 drei Jahre nach der Geburt ihres zweiten Kindes Patricia an Schwindsucht starb.

Sein Tod brach Rose das Herz. Sie kehrte nach Ripley zurück und heiratete erst zehn Jahre später ein zweites Mal, nachdem ihr Jack Clapp, ein Stuckateurmeister, lange den Hof gemacht hatte. Die Hochzeit fand 1942 statt, und Jack, der wegen einer schweren Beinverletzung in seiner Kindheit vom Militärdienst befreit war, fand sich fortan in der Rolle des Stiefvaters für Adrian und Patricia wieder. 1944 wurde Ripley wie viele andere Städte im Süden Englands von US-amerikanischen und kanadischen Truppen überschwemmt, und irgendwann hatte die damals fünfzehnjährige Pat eine kurze Affäre mit Edward Fryer, einem in der Nähe stationierten kanadischen Flieger. Die beiden hatten sich bei einer Tanzveranstaltung kennengelernt, er war der Klavierspieler der Band. Wie sich herausstellte, war er verheiratet, sodass Patricia alleine zurechtkommen musste, als sie ihre Schwangerschaft feststellte. Rose und Jack schützten sie, und so kam ich am 30. März 1945 im Schlafzimmer im ersten Stock ihres Hauses zur Welt. Sobald es machbar war, also in meinem zweiten Lebensjahr, verließ Pat Ripley, und meine Großeltern zogen mich als ihr eigenes Kind groß. Ich bekam den Namen Eric, aber alle riefen mich Ric.

Rose war eine zierliche Frau mit dunklen Haaren, feinen Zügen und einer charakteristischen spitzen Nase, der »Mitchell-Nase«, wie sie in der Verwandtschaft bezeichnet wurde und die sie von ihrem Vater Jack Mitchell geerbt hatte. Alte Fotos von ihr zeigen eine sehr hübsche Frau, unbedingt die Schönheit unter den Schwestern. Aber nach dem Ausbruch des Krieges kurz nach ihrem dreißigsten Geburtstag musste sie sich einer Operation am Gaumen unterziehen. Während der Operation gab es einen Stromausfall, der dazu führte, dass der OP geräumt werden musste. Dadurch blieb eine lange Narbe unterhalb ihres linken Wangenknochens zurück, die aussah, als wäre ein Stück ihrer Wange ausgehöhlt worden, was sie ihr weiteres Leben lang ein wenig unsicher und verlegen machte. In seinem Song »Not Dark Yet« singt Dylan: »Behind every beautiful face there’s been some kind of pain.« Durch ihr eigenes Leiden sensibilisiert war sie ein ungeheuer warmherziger Mensch, der sich die Probleme anderer sehr zu Herzen nahm. Den größten Teil meiner Kindheit und Jugend war sie der Mittelpunkt meines Lebens.

Jack, ihr zweiter Mann und ihre große Liebe, war vier Jahre jünger als Rose. Er war ein schüchterner, gut aussehender Mann, über 1,80 Meter groß mit markanten Gesichtszügen und einer guten Figur. Er hatte ein bisschen was von Lee Marvin und rauchte selbst gedrehte Zigaretten aus einem kräftigen, schwarzen Tabak namens Black Beauty. Er war autoritär wie die meisten Väter in jener Zeit, aber auf seine Art auch sehr gütig und liebevoll mir gegenüber, vor allem in meinen ersten Jahren. Wir hatten keine besonders zärtliche oder sonst irgendwie körperliche Beziehung, so wie es allen Männern in unserer Familie schwerfiel, menschliche Wärme und Zuneigung auszudrücken. Vielleicht galt es als Zeichen von Schwäche. Jack verdiente seinen Lebensunterhalt als Stuckateurmeister für lokale Bauunternehmer. Darüber hinaus war er auch noch Maurer- und Schreinermeister, sodass er allein ein ganzes Haus hätte bauen können.

Er war ein überaus gewissenhafter Mann mit einem ausgeprägten Arbeitsethos und brachte so ein stetes Einkommen nach Hause, das während meiner ganzen Kindheit und Jugend stabil blieb. Deshalb herrschte bei uns, auch wenn man uns als arm hätte ansehen können, nur ganz selten akuter Geldmangel. Wenn es irgendwann doch einmal eng wurde, arbeitete Rose als Putzfrau oder Teilzeit bei Stansfield’s, einer Abfüllfabrik am Rande des Dorfes, die kohlensäurehaltige Getränke wie Limonade, Orangeade und Vanillebrause produzierte. Als ich älter war, habe ich in den Ferien selbst öfter dort gearbeitet, um mir ein Taschengeld zu verdienen, Etiketten auf die Flaschen geklebt und bei der Auslieferung geholfen. Die Fabrik glich einem Armenhaus aus einem Dickens-Roman mit herumlaufenden Ratten und einem bissigen Bullterrier, der eingesperrt blieb, damit er die Besucher nicht attackierte.

Ripley, das heute eher eine Vorstadt ist, lag zur Zeit meiner Geburt weit draußen auf dem Land. Es war eine typische kleine ländliche Gemeinde, die Mehrzahl der Bewohner arbeitete in der Landwirtschaft, und wenn man nicht aufpasste, was man sagte, wusste jeder über einen Bescheid. Deshalb war es ungemein wichtig, höflich zu sein. Zum Einkaufen fuhr man meistens in das mit dem Bus erreichbare Guildford, aber auch in Ripley gab es einige Läden: zwei Metzger, Conisbee’s und Russ’s, die beiden Bäckereien Weller’s und Collin’s, den Lebensmittelladen von Jack Richardson, Green’s, den Zeitungsladen, das Haushaltswarengeschäft von Noakes, eine Imbissbude und fünf Pubs. Meine erste lange Hose bekam ich bei »King und Olliers«, dem Herrenausstatter, der gleichzeitig als Postamt fungierte. Außerdem gab es noch einen Hufschmied, bei dem alle Bauern aus der Gegend ihre Pferde beschlagen ließen.

Jedes Dorf hatte überdies einen Süßwarenladen; unserer wurde von zwei altmodischen Schwestern geführt, den Miss Farrs. Beim Betreten des Geschäfts läutete ein kleines Glöckchen, und es brauchte jedes Mal so lange, bis eine der beiden Schwestern aus einem Hinterzimmer in den Laden kam, dass wir uns die Taschen mit Süßigkeiten vollstopfen konnten, bevor eine Bewegung des Vorhangs ihr Erscheinen ankündigte. Ich kaufte mit dem Bezugscheinheft unserer Familie zwei Sherbert Dabs oder ein paar Flying Saucers und marschierte mit den Taschen voller Horlicks oder Ovaltine-Tabletten wieder heraus, die zu meiner ersten Sucht geworden waren.

Obwohl Ripley alles in allem ein Ort war, in dem man eine glückliche Kindheit verbringen konnte, wurde mein Leben von dem Wissen um meine Herkunft überschattet, und ich begann, mich immer mehr zurückzuziehen. Offenbar hatte es in meiner Familie ein paar endgültige Entscheidungen über den Umgang mit der Situation gegeben, in die ich nicht eingeweiht worden war. Ich hielt mich an den Geheimhaltungskodex – »Wir reden nicht darüber, was war« –, und der Geist Disziplin fordernder Autorität, der zu Hause herrschte, hielt mich davon ab, Fragen zu stellen. Rückblickend fällt mir auf, dass die Familie im Grunde keine Ahnung hatte, wie sie mir meine Existenz erklären sollte. Und sie war sich wegen der damit verbundenen Schuldgefühle der eigenen Unzulänglichkeiten nur zu bewusst, was die Wut und die Verlegenheit erklären könnte, die meine Gegenwart bei fast allen provozierte. Deshalb hielt ich mich meist an unseren Hund, einen schwarzen Labrador namens Prince, und erfand eine »Johnny Malingo« genannte Kunstfigur, in deren Identität ich schlüpfen konnte. Johnny war ein weltgewandter Draufgänger, der rücksichtslos jeden überrannte, der ihm in die Quere kam. Wenn mir alles zu viel wurde, flüchtete ich mich zu Johnny und blieb dort, bis der Sturm sich gelegt hatte. Ich erfand mir auch einen Fantasie-Freund namens »Bushbranch«, ein kleines Pferd, das mir überallhin folgte. Manchmal verwandelte Johnny sich auf wundersame Art und Weise in einen Cowboy, bestieg Bushbranch, und die beiden ritten zusammen in den Sonnenuntergang. Etwa zur gleichen Zeit fing ich an, geradezu zwanghaft zu malen. Meine erste Faszination galt Pasteten. Auf die Dorfwiese kam regelmäßig ein Mann mit einem Verkaufskarren für heiße Pasteten. Ich habe Pasteten immer geliebt – Rose war eine ausgezeichnete Köchin – und Hunderte von ihnen gemalt, neben Porträts des Pastetenverkäufers. Danach fing ich an, aus Comicheften abzumalen.

Weil ich ein uneheliches Kind war, neigten Rose und Jack dazu, mich zu verwöhnen. Jack machte mir mein eigenes Spielzeug. Ich kann mich an ein wunderschönes Schwert mit Schild erinnern, das er für mich geschnitzt hatte. Alle anderen Kinder haben mich darum beneidet. Rose kaufte mir sämtliche Comics, die ich haben wollte. Mir kam es vor, als bekäme ich jeden Tag einen anderen, jede Ausgabe von Topper, The Dandy, The Eagle und Beano. Die Bash Street Kids mochte ich ganz besonders, und mir fiel jedes Mal auf, wenn der Zeichner wechselte und Lord Snootys Zylinder irgendwie anders aussah. Aus diesen Comics kopierte ich im Laufe der Jahre zahllose Zeichnungen – Cowboys und Indianer, Römer, Gladiatoren, Ritter in Rüstung. Phasenweise beteiligte ich mich in der Schule überhaupt nicht mehr am Unterricht, und es war durchaus normal, dass alle meine Hefte ausschließlich voll mit Zeichnungen waren.

Eingeschult wurde ich mit fünf in die Ripley Church of England Primary School, die in einem grauschwarzen Gebäude neben der Dorfkirche untergebracht war. Gegenüber lag das Gemeindehaus, wohin ich sonntags zum Kindergottesdienst ging und wo ich viele der wunderschönen alten englischen Kirchenlieder zum ersten Mal hörte. Am liebsten mochte ich »Jesus Bids Us Shine«. Anfangs ging ich recht gerne zur Schule, zumal die meisten Nachbarskinder zur gleichen Zeit eingeschult worden waren. Aber als mir im Laufe der nächsten Monate klar wurde, dass das Leben auf längere Sicht so bleiben sollte, geriet ich in Panik. Die Unsicherheit, die ich zu Hause empfand, führte dazu, dass ich die Schule hasste. Ich wollte möglichst anonym bleiben, weshalb ich mich aus jeder Art Wettbewerb raushielt. Ich hasste alles, was mich aus der Masse heraushob und mir unerwünschte Aufmerksamkeit bescherte.

Außerdem hatte ich das Gefühl, dass sie mich bloß zur Schule schickten, um mich aus dem Haus zu haben, worauf ich sehr wütend reagierte. Ein noch recht junger Lehrer namens Mr. Porter schien ernsthaftes Interesse zu haben, die Talente und Fähigkeiten seiner Schüler zutage zu fördern und sie auch ganz persönlich kennenzulernen. Jedes Mal wenn er das bei mir versuchte, stellte ich mich extra stur. Ich starrte ihn möglichst hasserfüllt an, bis er mich irgendwann für meine, wie er es nannte, »tumbe Unverschämtheit« verprügelte. Das kann ich ihm heute nicht verdenken, aber damals behandelte ich jede Autoritätsperson auf diese Tour. Kunst war das einzige Fach, das ich wirklich mochte, obwohl ich auch einen Preis für mein Vorspiel von »Greensleeves« auf der Blockflöte gewann, dem ersten Instrument, das ich gelernt habe.

Der Direktor der Schule war Mr. Dickson, ein Schotte mit roten Haaren. Bis ich neun war, hatte ich kaum etwas mit ihm zu tun, dann jedoch wurde ich eines Tages zu ihm zitiert, weil ich einem Mädchen aus meiner Klasse eine anzügliche Frage gestellt hatte. Beim Spielen auf der Dorfwiese hatte ich ein selbst gemachtes Pornoheft im Gras gefunden: eine Ansammlung unbeholfen zusammengehefteter Blätter mit laienhaften Zeichnungen von Genitalien und einem getippten Text voller Wörter, die ich noch nie gehört hatte. Meine Neugier war geweckt, weil ich zu Hause nicht aufgeklärt worden war und ganz bestimmt noch nie weibliche Geschlechtsteile gesehen hatte. Ehrlich gesagt, war ich mir nicht einmal sicher gewesen, ob es überhaupt einen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen gab, bis ich mir dieses Heft anschaute.

Nachdem ich mich von dem Schock dieser Zeichnungen erholt hatte, war ich fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Leider war ich viel zu schüchtern, um eins der Mädchen zu fragen, die ich aus der Schule kannte, aber es gab eine Neue in unserer Klasse, die ich, weil sie neu war, für Freiwild hielt. Das Glück wollte es, dass sie im Klassenraum direkt vor mich gesetzt wurde, sodass ich eines Morgens all meinen Mut zusammennahm und sie ohne jede Ahnung von der Bedeutung des Wortes fragte: »Hast du Lust zu bumsen?« Sie sah mich verwirrt an, weil sie offensichtlich ebenfalls keinen Schimmer hatte, wovon ich redete. Aber in der Pause erzählte sie es einem anderen Mädchen und fragte sie, was es bedeutete. Nach dem Mittagessen wurde ich ins Büro des Direktors gerufen, wo man mich über meine genaue Wortwahl befragte und mir das Versprechen abnahm, mich zu entschuldigen, bevor ich mich vornüberbeugen musste, um mir eine saftige Tracht Prügel abzuholen. Ich verließ das Büro unter Tränen. Verheerender war jedoch, dass ich von diesem Tag an dazu neigte, Sex mit Bestrafung, Scham und Verlegenheit in Verbindung zu bringen, was mein Liebesleben jahrelang überschattet hat.

In einer Hinsicht war meine Kindheit jedoch auch eine sehr glückliche Zeit. Denn so verwirrend das Leben zu Hause oft war, mit seiner oft unverständlichen Dynamik, gab es draußen eine Welt der Fantasie und die Landschaft, in der ich mit meinen Kumpeln lebte. Meine besten Freunde waren Guy, Stuart und Gordon, wir wohnten alle in derselben Häuserzeile an der Dorfwiese. Ich weiß nicht, ob sie etwas über meine Herkunft wussten, und ich glaube, selbst wenn, wäre es auch egal gewesen. Für sie war ich »El Capitán«, manchmal abgekürzt auch nur »El« und meistens einfach »Ric«. Sobald die Schule aus war, waren wir die ganze Zeit mit unseren Rädern draußen unterwegs.

Mein erstes Fahrrad war ein James, das Jack mir geschenkt hatte, nachdem ich ihn endlos genervt hatte, dass ich ein Triumph Palm Beach haben wollte wie er: dunkelrot-beige-metallicfarben und meiner Ansicht nach das ultimative Fahrrad. Weil es jedoch ein reguläres Herrenrad war, gab es keine Kinderversion davon, und er schenkte mir stattdessen das James. Farblich sah es im Grunde genauso aus, aber es war nicht das Original, und sosehr ich mich auch bemühte, mich dankbar zu zeigen, war ich in Wahrheit doch enttäuscht, und das hat man mir wahrscheinlich angemerkt. Doch ich ließ mich nicht verdrießen und nahm das ganze Rad auseinander, montierte eine der Bremsen und die Schutzbleche ab und stattete es mit geländetauglichen Reifen aus, sodass es am Ende das war, was wir ein »Track-Bike« nannten.

Nach der Schule trafen wir uns auf der Dorfwiese und überlegten, wohin wir fahren sollten. Im Sommer ging es meist an die Ufer des Wey gleich außerhalb des Dorfes, wo sich alle, auch die Erwachsenen, tummelten. Besonders attraktiv war ein Wehr, auf dessen einer Seite das Wasser so tief war, dass wir dort nicht schwimmen durften, weil im Laufe der Jahre schon mehrere Kinder darin ertrunken waren. Aber auf der anderen Seite ergoss sich der Fluss in einer Art kleinem Wasserfall in einen seichteren Abschnitt mit schmalen Felsbänken und Becken zu beiden Seiten, in denen man ohne Gefahr schwimmen und im Schlamm spielen konnte. Jenseits davon wurde der Fluss wieder breiter und tiefer, ein gutes Angelgewässer, in dem ich Angeln lernte.

Rose kaufte mir eine Angelrute aus einem Katalog. Es war eine billige, ziemlich primitive, grün lackierte Bambusrute mit Korkgriff und einer festen Spule, aber ich liebte sie vom ersten Tag an. Es war der Beginn meines Lebens als Ausrüstungs-Junkie. Ich war schon begeistert, wenn ich das Ding bloß anguckte, und wahrscheinlich habe ich genauso viel damit herumgespielt, wie ich damit geangelt habe. Meistens benutzten wir Brot als Köder, und weil wir in der Nähe der richtigen Angler fischten, mussten wir peinlich darauf achten, ihnen nicht in die Quere zu kommen. Der beste Fang, auf den wir hoffen konnten, war normalerweise ein Gründling, aber eines denkwürdigen Tages fing ich eine ziemlich große Plötze, die bestimmt etliche Pfund gewogen hat. Ein Fischer, der am Ufer entlangkam, ein echter Angel-Crack, blieb stehen und meinte: »Das ist aber ein ordentlicher Brocken, den du da hast.« Ich schwebte auf Wolke sieben.

Wenn wir nicht am Fluss waren, fuhren wir zu den »Fuzzies«. So hieß das Wäldchen hinter der Dorfwiese, wo wir ausgiebig Cowboy und Indianer oder Deutsche und Engländer spielten. Wir stellten unsere eigene Version der Schlacht an der Somme nach und hoben Schützengräben aus, die tief genug waren, dass wir darin stehen und schießen konnten. Einige Teile des Waldes waren so mit Stechginster überwuchert, dass man sich leicht darin verirren konnte, und wir nannten dieses Gebiet »die verbotene Stadt« oder »die verlorene Welt«. Als ich noch kleiner war, traute ich mich nie ohne einen älteren Jungen oder eine Bande in die verlorene Welt, weil ich wirklich glaubte, nie wieder hinauszufinden. Dort bin ich auch zum ersten Mal einer Schlange begegnet. Ich war gerade in ein Spiel vertieft, als ich ein Zischen hörte. Ich stand mit leicht gespreizten Beinen da, blickte zu Boden und sah eine knapp ein Meter lange Natter zwischen meinen Füßen herumkriechen. Ich erstarrte. Ich hatte zwar noch nie eine Schlange gesehen, aber Rose hatte schreckliche Angst vor ihnen, die sie an mich weitergegeben hatte. Das Viech jagte mir jedenfalls einen Höllenschreck ein, und ich hatte noch eine Ewigkeit lang Albträume deswegen.

Als ich ungefähr zehn oder elf war, spielten wir in den Fuzzies manchmal »Kussjagd«, das einzige Spiel, bei dem Mädchen mitmachen durften. Sie versteckten sich, wir mussten sie suchen, und wenn wir sie fanden, gab es als Preis einen Kuss. Manchmal spielten wir auch eine verschärfte Version, bei der die entdeckten Mädchen sich die Unterhosen herunterziehen mussten. Aber alles in allem machten die Mädchen aus dem Dorf uns eher Angst. Sie wirkten distanziert und sehr mächtig und zeigten ohnehin wenig Interesse an uns, weil ihre Aufmerksamkeit den cooleren Typen wie Eric Beesley vorbehalten war, der immer für Aufsehen sorgte und als Erster in Ripley einen Bürstenschnitt trug. Nach meinen Erfahrungen mit dem Pornoheft war ich ohnehin davon überzeugt, dass jeder Annäherungsversuch an ein Mädchen irgendeine Strafe nach sich ziehen würde, und ich hatte keine Lust, dauernd verprügelt zu werden.

Samstagvormittags fuhren viele von uns nach Guildford zum ABC Minors Club im dortigen Kino, eine echte Attraktion. Wir sahen Serien wie Batman, Flash Gordon und Hopalong Cassidy, die immer an der spannendsten Stelle endeten, außerdem Komiker wie Die 3 Stooges und Charlie Chaplin. Es gab jedes Mal einen Conferencier und Wettbewerbe, bei denen wir auf die Bühne kommen, singen oder Leute imitieren sollten, was ich jedoch immer peinlich gemieden habe. Trotzdem waren wir keine Engel. Sobald das Licht ausging, packten wir unsere selbst gebastelten Schleudern aus und schossen mit Kastanien auf die Leinwand.

Die typische Abendunterhaltung für die Jugend von Ripley bestand Anfang der 1950er Jahre darin, an der Bushaltestelle herumzulungern, den Verkehr zu beobachten und zu hoffen, dass ein Sportwagen vorbeikam. Alle halbe Jahre sahen wir tatsächlich einen Aston Martin oder Ferrari, was jedes Mal ein echter Festtag war. Wir waren auf der Suche nach Abenteuer, und nichts war so spannend wie das Verbotene ... innerhalb vernünftiger Grenzen. So stahlen wir etwa auf dem Dunsborough-Anwesen Äpfel, was in puncto Nervenkitzel schon sehr aufregend war, weil das Anwesen dem Filmstar Florence Desmond gehörte. Manchmal sahen wir ihre berühmten Freunde über den Rasen schlendern. Ich habe dort sogar einmal ein Autogramm von Tyrone Power ergattert. Allerdings war die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, ebenfalls ziemlich hoch, weil normalerweise Wildhüter auf dem Gelände herumliefen.

Oder wir fuhren zum Klauen nach Cobham oder Woking, wobei wir meistens so alberne Sachen wie Krawatten oder Taschentücher mitgehen ließen. Manchmal ließen wir uns auch zu purem Vandalismus hinreißen. So stiegen wir zum Beispiel in einen Zug aus Guildford, der auch an den kleinen Bahnhöfen hielt, und suchten ein leeres Abteil – die Nahverkehrszüge hatten damals keine Großraumwagen –, das wir dann zwischen zwei Bahnhöfen völlig verwüsteten. Wir zertrümmerten sämtliche Spiegel, rissen die Karten von den Wänden, schnitten mit unseren Taschenmessern die Gepäcknetze ab, schlitzten die Polster auf und stiegen dann am nächsten Bahnhof johlend und lachend wieder aus. Wir wussten genau, dass es nicht richtig war, konnten es aber trotzdem tun und ungeschoren davonkommen, und das verschaffte uns einen riesigen Adrenalinkick. Wenn man uns erwischt hätte, wären wir natürlich nach Borstal geschickt worden, aber wie durch ein Wunder blieben wir immer unentdeckt.

Rauchen war in jenen Tagen ebenfalls ein wichtiges Initiationsritual, und manchmal schafften wir es irgendwie, Zigaretten zu besorgen. Ich weiß noch, dass ich mit zwölf einmal ein paar Du Mauriers ergattert hatte, deren Verpackung mich besonders faszinierte. Die dunkelrote aufklappbare Schachtel mit dem silbernen Zickzackmuster wirkte sehr elegant und erwachsen. Rose hatte mich entweder beim Rauchen gesehen oder die Schachtel in meiner Tasche entdeckt, jedenfalls nahm sie mich beiseite und sagte: »Okay, wenn du rauchen willst, dann lass uns zusammen eine Zigarette rauchen. Dann sehen wir, ob du wirklich rauchen kannst.« Sie zündete eine Du Maurier an, ich steckte sie in den Mund und paffte daran. »Nein, nein, nein!«, sagte sie. »Du musst inhalieren! Das ist doch kein Rauchen!« Ich wusste nicht, was sie meinte, bis sie sagte: »Du musst den Rauch einatmen! Atme tief ein.« Das versuchte ich, worauf mir natürlich speiübel wurde, und erst mit einundzwanzig habe ich wieder eine Zigarette geraucht.

Das Einzige, was ich nicht mochte, waren die Prügeleien, die ebenfalls eine beliebte Freizeitbeschäftigung vieler Jugendlicher waren. Die beiden Familien, denen man in Ripley tunlichst aus dem Weg ging, waren die Masters und die Hills, die beide extrem hart im Nehmen waren. Die Masters waren meine Cousins, die Kinder meiner Tante Nell, eine schon deshalb denkwürdige Frau, weil sie am Tourette-Syndrom litt, obwohl man sie damals schlicht für ein bisschen exzentrisch hielt. Beim Reden streute sie immer die Wörter »fuck« und »Eddie« ein. Wenn sie zu Besuch kam, sagte sie etwa: »Hallo, Ric, fuck Eddie. Ist deine Mum zu Hause, fuck Eddie?« Ich war absolut fasziniert von ihr. Ihr Mann Charlie war doppelt so groß wie sie und mit Tätowierungen übersät, und gemeinsam hatten sie vierzehn Söhne, die Masters-Brüder, die immer eine Gefahr darstellten und meistens irgendwelchen Ärger am Hals hatten. Die Hills waren ebenfalls nur Brüder, ungefähr zehn, und in meinen Augen die Dorfschurken schlechthin. Sie waren meine Nemesis. Ich lebte in ständiger Angst, von ihnen verprügelt zu werden, und jedes Mal, wenn sie mich aufs Korn nahmen, erzählte ich meinen Cousins davon, in der Hoffnung, ich würde einen Rachefeldzug der Masters gegen die Hills provozieren. In der Regel versuchte ich jedoch einfach, sie alle miteinander zu meiden.

Schon von Anfang an spielte Musik eine große Rolle in meinem Leben, weil sie in den Tagen, bevor es das Fernsehen gab, ein wichtiger Bestandteil des gemeinschaftlichen Lebens war. Samstagabends versammelten sich die meisten Erwachsenen im British Legion Club, tranken, rauchten und lauschten Alleinunterhaltern aus der Gegend wie Sid Perrin, einem großartigen Kneipensänger, der mit so kräftiger Stimme im Stil von Mario Lanza sang, dass wir ihn bis auf die Straße hören konnten, wo wir mit einer Limonade und einer Tüte Kartoffelchips saßen. Ein weiterer Musiker aus dem Dorf war Buller Collier, der im letzten Haus unserer Zeile wohnte und gerne mal vor seiner Haustür Akkordeon spielte. Ich fand es toll, ihm zuzusehen, nicht nur wegen der Klänge, die er der Quetschkommode entlockte, sondern auch wegen der beeindruckenden rot-schwarzen Glanzlackierung des Instruments.

Vertrauter war mir das Klavier, weil Rose liebend gern spielte. In meinen frühesten Erinnerungen sitzt sie an einem Harmonium im Wohnzimmer, später erwarb sie ein kleines Klavier. Sie sang auch, meistens Schlager wie »Now Is The Hour«, ein Hit von Gracie Fields, oder »I Walk Beside You« und »Bless This House« von Joseph Locke, der bei uns zu Hause sehr beliebt und der erste Sänger war, der mich mit dem Klang seiner Stimme in seinen Bann schlug. Meine ersten Gesangsversuche fanden auf der Treppe unseres Hauses stand, weil es dort an einer Stelle hallte. So hockte ich auf der entsprechenden Stufe und sang die Songs jener Zeit, meistens populäre Balladen, und für mich hörte es sich an, als ob ich auf Schallplatte singen würde.

Ein Gutteil jedweder musikalischen Gene, die ich möglicherweise geerbt habe, stammt von Roses Familie, den Mitchells. Ihr Vater, Granddad Mitchell, war ein großer stämmiger Mann, der gerne ein Gläschen trank und ein echter Schürzenjäger war. Er spielte nicht nur Akkordeon, sondern auch Geige und war befreundet mit einem gefeierten einheimischen Straßenmusiker namens Jack Townshend, der seinerseits Gitarre, Fidel und Löffel spielte. Gemeinsam machten sie traditionelle Folkmusik. Granddad wohnte gleich um die Ecke in der Newark Lane und war eine bedeutende Persönlichkeit im Dorf, vor allem in der Erntezeit, denn er besaß einen Traktor. Er war ein wenig sonderbar und nicht besonders freundlich, und wenn ich ihn mit meinem Onkel Adrian besuchte, saß er normalerweise in seinem Sessel und war meistens schon ziemlich betrunken.

Wie die Stansfield’s-Fabrik hatte die ganze Szenerie etwas von einem Dickens-Roman. Wir besuchten Granddad Mitchell ziemlich häufig, und als ich ihn Geige spielen sah, hatte ich zum ersten Mal den Wunsch, es selbst zu versuchen. Bei ihm wirkte es so leicht und natürlich. Meine Familie besorgte mir irgendwoher eine alte Geige, die zu spielen ich wohl alleine durch Zuschauen und Zuhören lernen sollte. Aber ich war damals erst zehn und hatte schlicht nicht die Geduld. Ich begriff die Physik des Instruments überhaupt nicht und konnte ihm nur ein Kratzen entlocken – bis dahin hatte ich nur Blockflöte gespielt –, so gab ich es schnell wieder auf.

Onkel Adrian, der Bruder meiner Mutter, der, als ich klein war, noch bei uns wohnte, war ein unglaublicher Typ, der mein Leben sehr beeinflusst hat. Weil ich ihn als Kind für meinen Bruder gehalten hatte, betrachtete ich ihn auch weiter so, selbst nachdem ich herausgefunden hatte, dass er in Wahrheit mein Onkel war. Er stand auf Mode und schnelle Autos und besaß eine ganze Folge von Ford Cortinas, meistens zweifarbig, pfirsich- und cremefarben oder etwas in der Richtung, die Sitze gepolstert mit Lamm- oder künstlichem Leopardenfell und mit allerlei Maskottchen verziert. Wenn er nicht an seinem Wagen herumschraubte, um ihn aufzumotzen, raste er damit durch die Gegend und fuhr ihn auch manchmal zu Schrott. Des Weiteren war er Atheist und leidenschaftlicher Science-Fiction-Fan mit einem ganzen Regal voller Isaac Asimov, Kurt Vonnegut und anderen wirklich guten Sachen.

Außerdem war Adrian ein Erfinder, obgleich sich die meisten seiner Erfindungen auf den häuslichen Bereich bezogen wie etwa sein einzigartiger »Essigspender«. Er liebte Essig und gab ihn über praktisch alles, sogar über Vanillesauce, was Rose zunächst naserümpfend beäugte und schließlich untersagte. Also baute er einen heimlichen Essigspender, der im Wesentlichen aus einer unter seinem Arm versteckten Spülmittelflasche und einem daran angeschlossenen Schlauch bestand, der durch seinen Ärmel geführt war. Er musste nur noch seine Hand über die jeweilige Speise führen und durch eine Armbewegung heimlich auf die Plastikflasche drücken, um Essig auf den Teller zu träufeln.

Er war auch sehr musikalisch. Er spielte die chromatische Mundharmonika und war ein großartiger Tänzer. Er liebte den Jitterbug und beherrschte ihn perfekt. Beim Tanzen bot er einen kuriosen Anblick, denn er hatte sehr lange Haare, die er mit Tonnen von Brylcreem-Gel nach hinten kämmte. Aber wenn er erst einmal loslegte, fielen ihm die Haare ins Gesicht, und er sah aus wie ein Unterwasserwesen. In seinem Zimmer stand ein Plattenspieler, auf dem er mir seine Lieblings-Jazz-Platten vorspielte, Nummern von Stan Kenton, den Dorsey Brothers und Benny Goodman. Mir kam es damals vor wie Outlaw-Musik, deren Botschaft ich deutlich vernahm.

Die Musik, die ich von frühester Kindheit an hörte, kam meistens aus dem Radio, das zu Hause den ganzen Tag lief. Ich empfinde es als Segen, in jener Ära geboren worden zu sein, weil sie musikalisch ungeheuer vielfältig war. Die mit Abstand populärste Sendung der Zeit hieß Two-Way Family Favourites, eine Liveshow mit Schaltungen von in Deutschland stationierten britischen Soldaten zu ihren Familien daheim. Sie kam sonntags um zwölf, wenn wir gerade um den Mittagstisch Platz nahmen. Rose kochte immer ein wirklich gutes Sonntagsessen mit Roast Beef, reichlich Soße, Yorkshire Pudding, Kartoffeln, Erbsen und Möhren, gefolgt von einem Pudding mit getrockneten Früchten und Vanillesauce. Mit dieser unglaublichen Musik aus dem Radio war es ein Fest für alle Sinne. Wir hörten das gesamte musikalische Spektrum – Oper, klassische Musik, Rock’n’Roll, Jazz und Schlager. In einer Sendung konnte etwa Guy Mitchell »She Wears Red Feathers« singen, dann kam eine Bigband-Nummer von Stan Kenton, eine Tanzmelodie von Victor Sylvester, vielleicht ein Schlager von David Whitfield, eine Arie aus einer Puccini-Oper wie La Bohème und, wenn ich Glück hatte, Händels »Wassermusik«, eines meiner Lieblingsstücke. Ich mochte jede Musik, in der machtvoll Gefühle ausgedrückt wurden.

Samstagmorgens hörte ich Children’s Favourites mit dem unglaublichen Uncle Mac. Punkt neun saß ich vor dem Radio, wartete auf das Piepen zur vollen Stunde und die Ansage: »Samstagmorgen neun Uhr, Zeit für Children’s Favourites.« Dann kam die Erkennungsmelodie, eine schrille Orchesternummer mit dem Titel »Puffing Billy«, bevor uns Uncle Mac persönlich mit einem »Hallo Kinder, hier ist Uncle Mac. Euch allen einen guten Morgen« begrüßte. Anschließend spielte er eine ziemlich außergewöhnliche Mischung, in der neben Kinderliedern wie »Teddy Bear’s Picnic« oder »Nellie the Elephant« aktuelle Songs wie »The Runaway Train«, Folknummern wie »The Big Rock Candy Mountain« und am äußersten Ende der Skala auch mal Chuck Berry mit »Memphis Tennessee« erklangen, das mich wie ein Blitzschlag traf, als ich es zum ersten Mal hörte.

An einem Samstag spielte er einen Song von Sonny Terry und Brownie McGhee mit dem Titel »Whooping and Hollering«. Darauf spielt Sonny Terry atemberaubend schnell und mit perfektem Timing abwechselnd entweder Mundharmonika oder johlt im Falsett, während Brownie ihn im selben Tempo auf der Gitarre begleitet. Ich nehme an, Uncle Mac hat die Nummer gespielt, weil sie so ungewöhnlich war, aber mich traf sie wie ein Stich ins Herz. Fortan verpasste ich keine Children’s Favourites – Sendung mehr für den Fall, dass er sie noch einmal spielen würde, was er tatsächlich immer wieder tat.

Musik wurde meine Heilerin, und ich lernte mit meinem ganzen Wesen zuzuhören. Ich entdeckte, dass ich dabei all meine Ängste und Unsicherheiten bezüglich meiner Familie vergessen konnte. Und die wurden 1954, als ich neun war, noch akuter, weil plötzlich meine Mutter in mein Leben trat. Sie war inzwischen mit einem kanadischen Soldaten namens Frank MacDonald verheiratet und brachte ihre beiden kleinen Kinder mit, meinen sechsjährigen Halbbruder Brian und meine einjährige Halbschwester Cheryl. Wir holten sie an der Fähre in Southampton ab, und die Gangway hinunter schritt eine schicke Frau mit modisch hochgesteckten rotbraunen Haaren und ungeheurer Ausstrahlung. Sie sah sehr gut aus, hatte jedoch etwas Kühles und Spitzes. Sie kam beladen mit teuren Geschenken, die ihr Mann Frank aus Korea geschickt hatte, wo er während des Krieges stationiert war. Wir bekamen alle mit Drachen bestickte Seidenjacken, glänzend lackierte Kästchen und dergleichen.

Obwohl ich mittlerweile die Wahrheit kannte, was Rose und Jack auch wussten, sagte bei uns zu Hause niemand etwas, bis ich, als wir eines Abends alle im Wohnzimmer unseres winzigen Hauses saßen, Pat gegenüber mit der Frage herausplatzte: »Darf ich dich jetzt Mummy nennen?« Einen schrecklich peinlichen Moment lang war die Spannung im Raum unerträglich. Die unausgesprochene Wahrheit war endlich heraus. Und sie erwiderte sehr freundlich: »Ich glaube, nach allem, was sie für dich getan haben, ist es das Beste, wenn du deine Großeltern weiter Mum und Dad nennst.« In diesem Augenblick fühlte ich mich komplett zurückgewiesen.

Obwohl ich versuchte, es zu verstehen und zu akzeptieren, war es mir unbegreiflich. Ich hatte erwartet, dass sie mich in die Arme schließen und dorthin mitnehmen würde, wo immer sie herkam. Die Enttäuschung war unerträglich und schlug beinahe unmittelbar in Hass und Wut um. Die Situation wurde für alle rasch schwierig. Ich gab mich mürrisch und verschlossen und wies jede Zuneigung zurück, so wie auch ich mich zurückgewiesen fühlte. Nur meine Tante Audrey, Jacks Schwester, konnte zu mir durchdringen. Ich war ihr Lieblingsneffe, und sie kam mich einmal die Woche besuchen, brachte mir Spielsachen und Süßigkeiten mit und versuchte ganz behutsam, mich zu erreichen. Häufig beschimpfte ich sie und war unverhohlen gemein zu ihr, aber tief drinnen war ich ihr sehr dankbar für ihre Liebe und Aufmerksamkeit.

Die Situation wurde auch nicht leichter dadurch, dass Pat, die zur Vermeidung komplizierter und peinlicher Erklärungen in der Öffentlichkeit weiter als meine »Schwester« firmierte, fast ein Jahr blieb. Weil sie aus Übersee stammten und einen kanadischen Akzent hatten, wurden ihre Kinder im Dorf wie Stars behandelt. Ich hatte das Gefühl, beiseitegeschoben zu werden. Ich hegte sogar einen Groll gegen meinen kleinen Halbbruder Brian, der zu mir aufblickte und immer mitkommen und mit meinen Freunden spielen wollte. Eines Tages bekam ich einen Wutanfall und stürmte aus dem Haus auf die Dorfwiese. Pat lief mir nach, aber ich drehte mich nur um und rief: »Ich wünschte, du wärst nie hierhergekommen! Ich wünschte, du würdest weggehen!« Und in diesem Moment fiel mir ein, wie idyllisch mein Leben bis zu diesem Tag tatsächlich gewesen war. Es war ganz einfach gewesen, nur ich und meine Eltern, und obwohl ich wusste, dass sie eigentlich meine Großeltern waren, bekam ich alle Aufmerksamkeit, und im Haus herrschte wenigstens Liebe und Harmonie. Aufgrund dieser neuen Komplikation wusste ich einfach nicht, wohin mit meinen Gefühlen.

Die Ereignisse zu Hause hatten auch drastische Auswirkungen auf meine schulische Laufbahn. Damals musste man mit elf Jahren eine Prüfung namens »Eleven plus« ablegen, mittels derer entschieden wurde, auf welche weiterführende Schule man gehen sollte, die Grammar School, eine Art Gymnasium für die Jahrgangsbesten, oder eine Secondary Modern School, eine Art Realschule für die Schüler mit den schlechteren Noten. Die Prüfung fand in einer fremden Schule statt, das heißt, wir wurden in Busse gestopft und an einen unbekannten Ort gefahren, wo wir einen ganzen Tag lang getestet wurden. Ich fiel in allen Fächern durch, weil ich in der unvertrauten Umgebung vor lauter Unsicherheit und Angst keine Antwort herausbrachte und miserabel abschnitt. Das war mir allerdings ziemlich egal, denn wenn ich in Guildford oder Woking auf die Grammar School gegangen wäre, wäre ich von meinen Freunden getrennt worden, die wohl alle keine akademische Laufbahn anstrebten. Sie waren eher an Sport interessiert und betrachteten Schulbildung mit einer gewissen Verachtung. Und falls Jack und Rose überhaupt enttäuscht gewesen sein sollten, haben sie es sich nicht anmerken lassen.

Also landete ich auf der St. Bede’s Secondary Modern School im Nachbardorf Send, wo ich tatsächlich begann, Neues zu entdecken. Es war der Sommer 1956, Elvis führte die Hitparaden an. In der Schule lernte ich einen Jungen kennen, der neu in Ripley war. Er hieß John Constantine und war der Sohn einer wohlhabenden Mittelschichtfamilie, die am Rand des Dorfes wohnte. Wir wurden Freunde, weil wir beide so anders waren als alle anderen. Während alle unsere Mitschüler Cricket- oder Fußballfans waren, standen wir mehr auf Kleidung und 78er-Schallplatten, wofür wir uns jede Menge Hohn und Spott anhören mussten. Wir waren als »die Spinner« bekannt. Ich besuchte ihn oft, und seine Eltern besaßen eine Kombination aus Radio und Grammophon, wie ich sie noch nie gesehen hatte. John hatte Elvis’ Nummer-Eins-Single »Hound Dog«, die wir ständig hörten. Irgendetwas an dieser Musik war einfach unwiderstehlich, und sie wurde von einem Musiker gemacht, der nicht viel älter und überhaupt so war wie wir selbst. Doch er schien sein Schicksal selbst zu bestimmen, was wir uns für unser eigenes Leben nicht einmal vorstellen konnten.

Im folgenden Jahr bekam ich meinen ersten Plattenspieler, einen Dansette, und die erste Single, die ich kaufte, war »When«, ein Nummer-Eins-Hit der Kalin Twins, den ich im Radio gehört hatte. Wenig später kaufte ich mir mein erstes Album, The »Chirping« Crickets von Buddy Holly and the Crickets, gefolgt von dem Soundtrack zu High Society. Die Constantines waren auch die einzigen Menschen mit einem Fernseher, die ich in Ripley kannte, und wir guckten dort immer Sunday Night at the London Palladium, die erste Fernsehshow mit amerikanischen Künstlern, die uns in jeder Beziehung weit voraus waren. In der Schule hatte ich kurz zuvor (ausgerechnet für Ordnung und Sauberkeit) einen Preis gewonnen, ein Buch über Amerika, und ich war völlig fasziniert von dem Land. An einem Sonntag trat Buddy Holly in der Show auf, und ich dachte, ich sei gestorben und gen Himmel gefahren. In der Sendung sah ich auch zum ersten Mal eine Fender-Gitarre. Jerry Lee Lewis sang »Great Balls of Fire«, und der Bassist spielte einen Fender Precision Bass. Mir kam es vor wie ein Instrument aus dem All, und ich sagte mir: »Das ist die Zukunft – das will ich auch.« Und genauso plötzlich wurde mir klar, dass ich in einem Dorf lebte, das sich nie ändern würde, während im Fernsehen die Zukunft gezeigt wurde. Und genau da wollte ich hin.

Ein Lehrer an St. Bede’s, Mr. Swan, der Kunstlehrer, hatte offenbar erkannt, dass in mir doch Rechtschaffenheit und künstlerisches Talent schlummerten, weshalb er sich alle Mühe gab, mir zu helfen. Eines der ersten Dinge, die ich lernte, war das Schreiben mit einer Kalligraphiefeder. Ich hatte ein bisschen Angst vor ihm, weil er als sehr streng und ernst galt, aber zu mir war er außerordentlich nett, was auf einer bestimmten Ebene zu mir vorgedrungen sein muss. Denn als die »Thirteen Plus«-Prüfung für die Schüler anstand, die das »Eleven plus« nicht bestanden hatten, nahm ich mir vor, mich wirklich anzustrengen, weil ich Mr. Swan etwas für seine Güte schuldete. Mit dem Ergebnis, dass ich die Prüfung bestand und mit dreizehn auf die Hollyfield Road School in Surbiton wechselte, mit sehr gemischten Gefühlen, weil ich alle meine Freunde zurücklassen musste.

Hollyfield bedeutete eine große Veränderung. Ich bekam eine Monatskarte und musste jeden Morgen alleine eine halbe Stunde lang mit dem Bus von Ripley nach Surbiton zur Schule fahren, wo ich Menschen begegnete, die ich nie zuvor getroffen hatte. Die ersten Tage waren sehr hart, wie auch die Frage, wie ich mir meine alten Freunde erhalten sollte, weil ich ahnte, dass einige der Freundschaften versanden würden. Gleichzeitig fand ich es ungemein aufregend, endlich in der großen weiten Welt angekommen zu sein. Denn Hollyfield war zwar eine reguläre weiterführende Schule, ihr angeschlossen war jedoch auch die Nachwuchsabteilung der Kingston Art School. Das heißt, dass wir neben den normalen Fächern wie Geschichte, Englisch und Mathe mehrere Tage pro Woche nur Kunst hatten: Aktzeichnen, Stillleben und Arbeiten mit Farbe und Ton. Zum ersten Mal in meinem Leben glänzte ich in etwas und hatte das Gefühl, in jeder Hinsicht in die Gänge zu kommen.

Aus der Sicht meiner alten Freunde war ich aufgestiegen, und obwohl sie eigentlich wussten, dass das okay war, konnten sie nicht anders, als mich deswegen aufzuziehen. Ich spürte, dass ich auf dem Weg war. Hollyfield veränderte meine Sicht auf das Leben. Es ging viel wilder zu, und die Leute waren aufregender. Surbiton lag am Stadtrand von London, sodass wir oft den Unterricht schwänzten, in Pubs gingen oder nach Kingston fuhren, um bei Bentalls Schallplatten zu kaufen. Ich hörte jede Menge neuer Sachen gleichzeitig – Folkmusik, New-Orleans-Jazz und Rock’n’Roll – und war absolut fasziniert davon.

Die Leute sagen immer, dass sie noch genau wüssten, wo sie am Tag von Kennedys Ermordung waren. Ich nicht, aber ich erinnere mich an den Tag, an dem Buddy Holly starb. Ich kann mich noch genau an die Stimmung auf dem Schulhof erinnern. Es war wie auf einem Friedhof, keiner brachte ein Wort heraus, alle standen unter Schock. Von allen Musikidolen jener Zeit war er der Zugänglichste, er war echt. Er war kein Glamourboy und bot auch keine Show im eigentlichen Sinne. Er spielte einfach nur Gitarre und trug dabei auch noch eine Brille. Er war einer von uns. Die Auswirkungen, die sein Tod auf uns hatte, waren gewaltig. Einige sagen, dass an diesem Tag die Musik gestorben sei. Aber für mich schien sie sich gerade erst zu entfalten.

Die Kunsträume der Hollyfield Road School waren in einem eigenen Trakt untergebracht, der ein paar Schritte die Surbiton Hill Road hinauf lag. An Tagen, an denen Malen, Bildhauerei oder Zeichnen auf dem Stundenplan stand, kamen wir angeführt von unserem Lehrer auf dem Weg dorthin immer an Bell’s Music Store vorbei, der sich mit dem Verkauf von Akkordeons einen Namen gemacht hatte, als das Instrument noch in Mode war. Als dann Mitte der Fünfziger Lonnie Donegan mit Titeln wie »Rock Island Line« und »The Grand Coulee Dam« den Skiffle-Boom auslöste, spezialisierte sich Bell’s auf Gitarren, und ich blieb jedes Mal stehen, um die Instrumente im Schaufenster zu betrachten. Da die Musik, die mir gefiel, meistens Gitarrenmusik war, wollte ich unbedingt Gitarre lernen und lag Jack und Rose damit in den Ohren. Vielleicht wollten sie nur ihre Ruhe haben, jedenfalls fuhren wir eines Tages mit dem Bus nach Surbiton, und sie zahlten das Instrument an, das ich als die Gitarre meiner Träume ausgeguckt hatte.

Es war eine in Deutschland gebaute Hoyer, die ungefähr zwei Pfund kostete. Es war ein seltsames Instrument, das aussah wie eine klassische Gitarre, jedoch keine Nylon-, sondern Stahlsaiten hatte, eine eigentümliche Kombination, die einem Anfänger das Spielen ziemlich schwer machte. Es war natürlich ein klassisches Das-Pferd-von-hinten-Aufzäumen, denn ich konnte die Gitarre nicht einmal stimmen, geschweige denn darauf spielen. Und ich hatte auch niemanden, der es mir zeigen konnte, also brachte ich es mir selbst bei, was nicht leicht war.

Zum einen hatte ich nicht erwartet, dass die Gitarre so groß sein würde, beinahe so groß wie ich. Wenn ich sie festhielt, schaffte ich es nur mit Mühe, meine Hand um den Hals zu legen. Außerdem war sie wegen ihrer hohen Saitenlage sehr schwer spielbar. Ich war überwältigt von der Erkenntnis, dass die Gitarre ein kaum zu bewältigendes Instrument war. Trotzdem war ich unglaublich aufgeregt. Die Gitarre glänzte und hatte irgendwie etwas Jungfräuliches. Sie war ein Instrument aus einem anderen Universum, unendlich glamourös, und wenn ich versuchte, darauf zu spielen, hatte ich das Gefühl, die Schwelle zur Welt der Erwachsenen zu überschreiten.