Über dieses Buch:

Deutschland, Ende des 19. Jahrhunderts: Die junge Caroline, Tochter des Straßenmeisters Caspari, kehrt nach einer ereignisreichen Zeit bei ihrer Tante in Cassel zurück zu ihren Eltern. Doch diese sind schwer enttäuscht von ihrer Tochter und verstoßen sie, als sie erfahren, dass sie ein Kind unter dem Herzen trägt. So ist Caroline allein auf die Hilfe ihrer Großmutter angewiesen, denn zu allem Überfluss weiß Caroline nicht, wo sich der Postillion Georg aufhält, ihre große Liebe und der Vater ihres Kindes. Hat er sie im Stich gelassen?

Über die Autorin:

Anna Valenti ist das Pseudonym einer erfolgreichen Autorin. Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft und Germanistik arbeitete sie in Forschung und Lehre. Heute lebt sie als Autorin und Produzentin mit ihrem Mann in Berlin.

Ihre bei dotbooks veröffentlichte »Sternentochter«-Saga war auf Anhieb ein Erfolg. Die sechsteilige Bestseller-Reihe erzählt die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte einer jungen Frau vor dem Hintergrund des ausgehenden 19. Jahrhunderts und umfasst die folgenden Romane:
»Sternentochter – Band 1«
»Die Liebe der Sternentochter – Band 2«
»Das Schicksal der Sternentochter – Band 3«
»Das Glück der Sternentochter – Band 4«
»Das Erbe der Sternentochter – Band 5«
»Der Mut der Sternentochter – Band 6«

Die ersten drei Romanen der »Sternentochter«-Saga sind auch als Sammelbände unter den Titeln »Wer für die Liebe kämpft« und »Die Sternentochter – Die Liebe der Sternentochter – Das Schicksal der Sternentochter« erhältlich.

Mehr über die »Sternentochter«-Saga erfahren Sie auf Anna Valentis Homepage: www.anna-valenti.de

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Originalausgabe November 2013

Copyright © 2013 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Anja Rüdiger

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Taras Atamaniv / Sayan Puangkham / dimities_k / elenamiv / Daniel Prudek / Tobias Arhelger

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95520-322-1

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Anna Valenti

Die Liebe der Sternentochter

Roman

dotbooks.

Für meine Mutter

Kapitel 1

Als die Tür geöffnet wurde, schwand Carolines Hoffnung auf einen freundlichen Empfang dahin wie die Sonne hinter einer schnell heranziehenden dunklen Gewitterwolke. Ihre Mutter stand vor ihr und war offenbar nicht überrascht. Sie hatte die Tür nur halb geöffnet. Hatte Vater sie also bewusst nicht abgeholt? Das konnte nicht sein! Aber das abweisende Gesicht der Mutter sprach eine andere Sprache. Sie schwieg und sah die Tochter eisig an. Caroline hatte die Tasche abgestellt und wollte auf Friederike zugehen und sie umarmen. Diese aber zog sich von ihr zurück und fragte kalt: »Was willst du hier?«

»Aber, Mutter, ich bin wieder da, wieder zu Hause!« Und sie versuchte erneut, ihre Arme um die Mutter zu legen. Die vorgeschobene Hand gebot ihr Einhalt. »Dies ist nicht dein Zuhause«, hörte sie Friederike sagen.

Das konnte nicht wahr sein! Sie hatte sich verhört. »Habt ihr denn meinen Brief nicht bekommen, Mutter? Ich will euch alles erzählen! Bei Tante Thea, das war schrecklich, sie ist eine Hure und ...«

»Schweig!«, herrschte Friederike sie an. »Sei still! Du hast es nötig, vom Huren zu sprechen! Geh, und komm nie mehr zurück!«

»Wie bitte?« Das war ein schlechter Traum, aus dem sie erwachen würde – und dann würde sich diese Tür für sie öffnen und sie würde mit den Eltern sprechen und sie würden verstehen, wer Thea wirklich war und ihre Tochter um Verzeihung bitten, dass sie sie in solch ein Haus gegeben hatten. »Mutter, bitte, lass mich doch erklären! Wo ist denn Vater?«

»Vater ist nicht da.«

»Bitte lass mich doch herein. Ich bin so durstig und hungrig und so müde!« Und als sie sah, dass das Gesicht der Mutter sich nicht veränderte, bat sie: »Nur einen Augenblick, dass ich mich stärken kann.«

»Das hast du verwirkt, Caroline. Jeder bettet sich und liegt dann so, wie er sich bettet.«

»Aber ihr habt mich doch zu Thea geschickt! Und sie ist es, die deinen Zorn verdient! Du musst wissen, was in diesem Haus vorgefallen ist. Lass es mich doch erklären. Bitte!«

Friederike schüttelte den Kopf. »Nein. Theas Brief ist eindeutig. Dein Vater hat sehr gelitten, als er lesen musste, was aus seiner Tochter geworden ist. Sein Herz ist schlechter denn je. Und wenn er dich jetzt sieht, dann wird er wieder krank, und das kann er sich nicht leisten. Wenn er seinen Dienst nicht mehr versehen kann, bist du schuld.«

»Vater? Oh nein, das ist nicht wahr! Ich muss ihn sprechen. Er ist so lieb und gut, er wird mich verstehen. Und dann wird er nicht krank, sondern gesund und wird nur bereuen, dass er mich zu seiner Cousine geschickt hat.«

»Wenn du versuchst, Vater zu belästigen, werde ich es zu verhindern wissen. Er verträgt keine Aufregung mehr. Er braucht seine Kraft für seine Arbeit, denn wenn er nicht mehr kann, bin ich verloren. Ich habe ja nicht mal eine Witwenrente.«

Mutter dachte an sich und nicht an Vater. Und sie gab ihr keine Chance, alles aufzuklären. Wie dumm war sie gewesen! Welche Illusionen hatte sie sich gemacht!

Friederike machte Anstalten, die Tür zu schließen. »Und wo soll ich hin?«, schrie Caroline. »Was soll ich jetzt tun?« Und als sie sah, dass ihre Mutter sich nicht rührte, schloss sie verbittert: »Ach ja, und was ist mit eurem August?«

»Du impertinente Person! Ich will dich hier nicht wieder sehen. Bringst uns alle ins Unglück und bist auch noch höhnisch. Möge Gott dir das vergelten, mit Zins und Zinseszins!«

Damit schlug sie die Tür zu.

Caroline stand einen Moment lang starr. Unschlüssig, was sie tun sollte, wandte sie sich um und schaute auf das Dorf und den Bärenwald, der in diesen Tagen bunt gefärbt war. Wo war Vater? Sollte sie hier warten, bis er kam – oder bis sich die Mutter doch noch erbarmte? Erst einmal weg, nur ein Stück, um sich zu sammeln und auszuruhen. Sie ging um das Haus herum auf den kleinen Weg zu, der in den Hirschwald führte, den Weg zu ihrem Treffpunkt mit Georg, mied den Blick auf Griegers Haus und ging in den Wald hinein. Nach fünf Minuten verließ sie die Kraft. Das Verhalten der Mutter war so abweisend und schroff gewesen. In ihren schlimmsten Träumen hatte sie sich ihre Heimkehr so nicht vorgestellt. Sie suchte nach einem Platz zum Ausruhen und setzte sich schließlich auf einen längs zum Weg liegenden Baumstamm. Da hockte sie und fühlte sich gänzlich leer. Sie vermisste Georg so sehr, dass ihr ganzer Körper sich nach Sehnsucht anfühlte, nach verzweifelter Sehnsucht, aber sie hatte keine Kraft mehr, sich vorzustellen, was vorgefallen sein könnte oder gar dass er sie im Stich gelassen hatte. Diese Möglichkeit schied einfach aus. Immer hatte er einen Weg zu ihr gefunden. Als er sie auf dem Frühlingsfest ansprach, als sie Hausarrest hatte, als sie bei Thea war.

Noch in diesen Gedanken gefangen, merkte sie nicht, wie etwas auf sie zuschoss, sie ansprang und ihr Gesicht und Hände leckte. Flic hatte ihre Witterung aufgenommen und umsprang sie nun wedelnd und jaulend. Sie schrie leise auf und drückte das treue Tier an sich, das sich vor Wiedersehensfreude gar nicht zu lassen wusste. Sie weinte und lachte und stand schließlich auf und ließ ihrer Freude freien Lauf. »Mein lieber, lieber Flic! Wie hab ich dich vermisst!« Inzwischen war auch sein Herr näher gekommen und blieb, als er seine Tochter sah, wie angewurzelt stehen. Er starrte auf die Szene, die sich ihm bot, und legte die rechte Hand auf sein Herz. Er schien zu schwanken und suchte nach einem Halt. Caroline lief auf ihn zu und stützte ihn.

»Komm, Vater, setz dich hier hin!« Sie führte ihn zum Baumstamm, und er setzte sich. Sie versuchte, seinen schweren Körper zu halten. Dann hockte sie sich vor ihn auf den Boden und sah ihn besorgt an. »Soll ich einen Arzt holen?« Er schüttelte den Kopf, sprechen konnte er offenbar nicht. Minuten vergingen. Dann fragte er: »Warum bist du zurückgekommen?«

»Aber, Vater, ich habe euch doch geschrieben! Ich habe doch geschrieben, dass ich bei Tante Thea nicht mehr bleiben konnte und dass ich mit dem Zug komme. Alles so, wie es mit euch abgemacht war. Aber es war niemand da, um mich abzuholen.«

Er atmete schwer, Jacke und Hemdkragen hatte er aufgeknöpft, die Hand lag noch immer auf dem Herzen. Flic hatte sich beruhigt und schnüffelte auf dem Waldboden herum. Für ihn hat sich nichts verändert, dachte sie, auch ich nicht. Und so ist es ja auch. Warum glauben die Eltern mir nicht?

»Thea hat geschrieben«, sagte Eduard tonlos. »Sie hat geschrieben, dass sie dich in einer Nacht überrascht hat – mit einem jungen Mann in deinem Zimmer. Und die Rechnung für ein Ballkleid soll ich bezahlen. Was soll das alles, Caroline?«

Carolines Schreck stand ihr ins Gesicht geschrieben. Je mehr sie erfuhr, desto blasser war sie geworden. Thea war noch viel schlimmer, als sie gedacht hatte.

»Vater, bitte beruhige dich. Du kennst doch dein Mädchen, deine Caroline! Glaubst du wirklich, dass ich fremde junge Männer nachts in mein Zimmer lasse?«

Caspari schwieg. Er wusste nicht, was er glauben sollte. Erst der Brief von Thea, ein vernichtender Brief nach vielen positiven Berichten über seine Tochter. Und dann war Caroline aus dem Odenbruckschen Haus geflohen und behauptete, Thea sei eine Hure. Es war zu viel für sein Herz. Es klopfte zum Zerspringen, unrhythmisch und schmerzhaft.

»Ich glaube, du musst mich nach Hause bringen«, sagte er mit schwacher Stimme. »Es war alles zu viel.«

Sie half ihm auf und führte ihn, langsam, Schritt für Schritt. Er stützte sich schwer auf sie und ging gebeugt. Als er den Schlüssel aus der Tasche zog, nahm sie ihn und schloss die Haustür auf. Mit schwacher Handbewegung dirigierte er sie zum Kontor und legte sich dort auf das kleine Sofa, das ihm in letzter Zeit so gute Dienste geleistet hatte. Oft konnte er nicht mehr am Schreibtisch sitzen und bearbeitete die Akten dort, halb im Liegen, auf Kissen gebettet. Niemand durfte merken, dass er angeschlagen war. Aber das Sich-Zusammennehmen kostete zusätzlich Kraft.

Seine Tochter schenkte ihm ein Glas Wasser aus der Karaffe ein. Als sie selbst auch endlich trinken konnte, fühlte sie sich belebt. Sie war so unglücklich, so leer, so schwach – aber ihr Vater war noch viel elender dran und brauchte ihre Hilfe. Es tat ihm gut, sich ganz seiner Schwäche hingeben zu können, sich einmal nicht verstellen zu müssen. Caroline saß ihm gegenüber auf dem Schreibtischstuhl und hielt ihr Glas umklammert. Wenn jetzt nur die Mutter nicht hereinkam. Wenn sie ihre Gewohnheiten nicht verändert hatte, hatte sie sich hingelegt und stand erst zum Kaffee wieder auf.

»Vater«, sagte sie leise, »Vater, ich bin keine Hure.«

Er machte eine schwache Bewegung mit der Hand, als wolle er sagen: »Ich weiß es nicht.«

»Bleib liegen und ruh dich aus. Aber ich muss dir erzählen, wie es wirklich war. Und dann wird es dir besser gehen, bestimmt, Vater. Bitte, erlaube, dass ich spreche.«

Caspari nickte und sah vor sich hin. Ab und zu trank er einen Schluck Wasser. Caroline fing an zu erzählen. Wie sie zu Thea gekommen und in der Dienstbotenkammer gewohnt hatte, dann im Gästezimmer, von ihrem Aufstieg vom Dienstmädchen über Theas Zofe bis zum gnädigen Fräulein, von Theas Lebenswandel, von Baron von Waitzhagen und Gut Windbachrodt, vom Ofterdingenschen Ball, von Theas Ansinnen, sie mit Ofterdingen zu verloben, von der geplanten Reise nach Wien und schließlich von der Nacht, in der der Bankierssohn mit Theas Erlaubnis in ihr Zimmer gekommen war, um sie zu verführen und mit dem Versprechen, sie zu heiraten. Sie zwang sich zu reden, ohne ihre Gefühle zu zeigen, um ihren Vater nicht aufzuregen. Er sollte nur die Wahrheit wissen. Wenn er sie liebte, würde er fühlen, wie sie all das empfunden hatte.

Caspari hatte stumm zugehört. Er zeigte keine Regung. Minutenlang war es ganz still im Zimmer, nur das Ticken der Uhr war zu hören.

»Mein Gott«, sagte er schließlich und noch einmal: »Mein Gott.« Dann schwieg er wieder. Thea hatte immer behauptet, ihren Mann zu lieben, auch noch nach seinem Tod. Ihr Beispiel seiner Tochter zu präsentieren, war ihm wie ein Wink des Himmels vorgekommen, als Friederike es vorgeschlagen hatte. Und nun sollte diese Frau, die ihre Liebe zu einem wohlhabenden Mann entdeckt und durch ihn zu Reichtum und Ansehen gekommen war, eine Lügnerin sein? Es war schwer, das zu glauben. Aber noch schwerer war es gewesen zu glauben, was Thea in ihrem Brief geschrieben hatte. Dass sie eine Schlange an ihrem Busen genährt hatte und dazu eine, die sich, über Wochen hin, vorzüglich verstellt habe. Sie habe ja nicht geahnt, wen sie da bei sich aufgenommen hatte. Und wie habe sie das auch ahnen können, einem lieben Verwandten vertrauend, der seine Tochter doch wohl kenne. Aber was sie dann in jener Nacht habe sehen müssen, sei zu schrecklich gewesen! Die Heirat mit dem ehrenwerten jungen Mann könne man nun wohl vergessen. Wer wolle schon eine Frau, die nicht mehr unberührt sei. Das war eindeutig. Als er dies gelesen hatte, war er zusammengebrochen und hatte einen ganzen Tag gebraucht, um einigermaßen wieder auf die Beine zu kommen. Der herbeigerufene Doktor Rieber hatte ein sorgenvolles Gesicht gemacht und gesagt: »Ich weiß nicht, was Sie so aufgeregt hat, lieber Freund. Aber eines weiß ich sicher: dass Sie sich derlei nicht mehr zumuten dürfen. Ruhe in ihr Leben zu bringen, ist ihre vörderste Pflicht.« Dabei hatte er Friederike angesehen, die es sich seit diesem Tag zur Aufgabe gemacht hatte, alles von ihm fern zu halten, was ihm eine neue Attacke hätte bescheren können. Er war ihr dankbar dafür und viel zu schwach gewesen, um sich gegen ihren Plan, die Tochter nicht nur nicht abzuholen, sondern sie auch nicht mehr aufzunehmen, zu stellen. Hatte er Thea geglaubt? Wenn er ehrlich war, nicht. Aber konnte man so etwas erfinden? Er war zu keinem Ende gekommen und hatte sich in die Pflege seiner Frau geschickt.

Nun war er tief betroffen. Caroline saß vor ihm und erzählte ihm ihre Version der Geschichte. So lange sie nicht da gewesen war, war alles einfach und klar erschienen und hatte sich verdrängen lassen. Schließlich hatte sie eine Affäre mit einem Postillion gehabt, ohne sein Wissen und ohne seine Zustimmung. Dabei hatte sie alle glauben gemacht, die Verlobung mit August wäre ausgemacht. Wie weit sie mit dem Postillion gegangen war, daran mochte er jetzt nicht denken. Gott sei Dank, hatte er das Ganze beendet, bevor es zu spät gewesen war. Wenn es aber nicht stimmte, was Thea schrieb, warum konnte nicht alles so weitergehen, wie geplant? Seine Tochter war aus Cassel zurückgekehrt, wie vorgesehen Ende Oktober. Niemand wusste von Theas Brief. Eigentlich konnte alles seinen Gang gehen. Bei diesen Gedanken ging es ihm besser. Friederike hatte Thea geglaubt und als Carolines Brief eintraf, diesen für eine Schutzbehauptung gehalten.

»Warum schreibt Thea so etwas? Kannst du mir das erklären?«, fragte er seine Tochter.

»Ihr habt Tante Thea die Verantwortung für mich übertragen. Als sie begriffen hat, dass Felix Ofterdingen sich für mich interessierte, hat sie die Verbindung mit August sofort in den Wind geschlagen. Sie hielt Ofterdingen für die weit bessere Partie. Als ich zögerte, brachte sie mich mit ihm zusammen. Ich habe mich so furchtbar erschreckt, Vater, als er plötzlich, nachts um elf, in meinem Zimmer stand. Ich hatte schon mein Kleid ausgezogen ... Als ich drohte, meine Tante zu rufen, wenn er nicht sofort gehe, sagte er: >Glaubst du wirklich, dass ich ohne ihr Einverständnis hier bin?< Dies oder so ähnlich. Er meinte, Tante Thea habe ihm eine willige Caroline versprochen. Dann bin ich geflohen, am nächsten Morgen schon. Ich habe Tante Thea einen Brief hinterlassen, in dem ich ihr schrieb, ich könne unter solchen Umständen nicht in ihrem Haus bleiben. Daraufhin hat sie wohl alles umgedreht und die Schuld auf mich geschoben, damit ihr sie nicht zur Verantwortung zieht.«

Caspari war erleichtert, obwohl seine Betroffenheit im Laufe ihres Monologes zugenommen hatte. Warum sollte seine Tochter ihn belügen? Sie war temperamentvoll und handelte oft unüberlegt, aber eine Lügnerin war sie nicht. Sie hatte das Verhältnis mit dem Postillion zugegeben, als er sie danach gefragt hatte, und nicht darum herum geredet oder gelogen. Vielleicht hatte sich Friederike in Thea getäuscht, und auch er war ihrer Geschichte von der über den Tod hinaus treuen Ehefrau aufgesessen. Thea kannte er nicht so genau wie seine Tochter.

»Komm her«, sagte er, »was hast du durchgemacht, mein Kind?« Er breitete seine Arme aus. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und schmiegte sich hinein. »Vater! Ich hab dich doch so lieb! Ich danke dir, dass du mir glaubst. Ich danke dir so sehr.«

Als Friederike eintrat, um nach ihrem Mann zu sehen und ihm den Kaffee zu bringen, sah sie die beiden in dieser Pose. »Nein«, brach es aus ihr heraus, »wie hast du ...« Das geschafft, hatte sie sagen wollen, aber sie sagte es nicht. Eduard lag auf dem Sofa, blass und schwach, so viel sah sie. Das war genug, um ihn zu schonen. Das Wichtigste war seine Gesundheit. Alles, was ihn angriff, musste vermieden werden. Also führte sie ihn in die Wohnstube und legte ein Gedeck für die Tochter auf. Caroline war dankbar für den Kuchen, den heißen Kaffee, die Ofenwärme. Langsam ging es auch ihr besser. Caspari wollte ansetzen, aber seine Frau winkte sanft ab. »Nein, mein Lieber, es regt dich zu sehr auf. Und Caroline wird auch müde sein. Du solltest früh zu Bett gehen. Wenn du mir morgen Abend nach der Arbeit alles erzählst, ist mir das genug. Und ich kann ja auch Caroline fragen.« Dazu nickte sie ihm freundlich zu, und er war auch ganz ruhig, trank eine halbe Tasse Kaffee und sagte dankbar: »Ich werde mich ins Bett legen, und du bringst mir später das Abendbrot. Du hast recht, es war alles zu viel für mich und morgen muss ich wieder ganz gesund sein.« Damit stand er auf und ging langsam hinaus. Er lächelte sogar ein wenig, was Caroline sehr froh machte und sie erleichterte. Vater hatte ihr zugehört und ihr geglaubt. Nun würde alles leichter werden. Die Sorge um Georgs Ausbleiben war für ein paar Stunden in den Hintergrund getreten.

»Darf ich meine Tasche holen, Mutter? Sie steht noch auf dem Waldweg.«

»Hast du Vater dort abgepasst? Ich hätte wissen müssen, dass du versuchst, ihn herumzukriegen. Wie hast du das geschafft?«

»Wir sind uns zufällig begegnet, Mutter. Ich wusste nicht wohin und bin den Hirschwaldweg hinaufgegangen. Flic hatte meine Witterung aufgenommen und stürmte auf mich zu. Dann musste ich Vater nach Hause begleiten. Es ging ihm schlecht.«

Friederike stand auf und begann, das Geschirr zusammen zu räumen. »Tja, dann hole deine Tasche. Und anschließend möchte ich dich sprechen.«

Caroline schwante nichts Gutes. Aber sie war ins Haus gekommen, durch eine Fügung des Schicksals. Sie hatte getrunken und gegessen, war für die Nacht aufgenommen und konnte Kräfte sammeln. Vater konnte sie überzeugen, es ging ihm besser. Das musste Mutter doch auch bemerkt haben. Jetzt musste sie geschickt vorgehen, um auch Friederike auf ihre Seite zu ziehen. Und dann, sagte sie sich, dann kümmere ich mich um Georg. Er fährt morgen wieder seine Tour, ich werde ihn sehen, und es wird sich alles klären. Und falls die Eltern partout nicht wollen, dann muss es so gehen, ohne sie.

Nachdem sie ihre Tasche ausgepackt und sich ein wenig hergerichtet hatte, fühlte sie sich in ihrem Zimmer wieder ganz heimelig. Sie heizte den kleinen Ofen auf und ging hinunter, um der Mutter bei der Zubereitung des Abendbrotes zu helfen. Es war beinahe wie in früheren Tagen. Als aber die Mutter ihrem Mann das Abendbrot ins Schlafzimmer gebracht und ihn mit allem versorgt hatte, setzte sie sich zu ihrer Tochter an den Tisch und aß stumm, ohne sie anzusehen. Nach dem Abräumen saßen sie sich in der Stube gegenüber. Caroline versuchte ein Lächeln, Friederike aber sah die Tochter ernst an und fragte: »Seit wann bist du schwanger?«

Das Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Gut, dass sie saß, jetzt hätte sie sich setzen müssen, Halt suchen. Sah man es ihr denn schon an? Hartwich hatte nichts gesagt, Vater offenbar nichts bemerkt, nur Frau Jeschke ...

»Mutter, ich ... Ja, du hast recht. Ich hätte es Vater gesagt, aber er war so schwach und so müde und da wollte ich ... bis morgen warten, bis es ihm besser geht.«

»Spar dir das. Thea hatte also recht. Ich habe nicht daran gezweifelt. Wer ist der Vater? Oder hast du gleich mehrere Männer beglückt, so dass du es nicht weißt?«

»Mutter, wie kannst du so etwas denken!«

»Ich sehe, was ich sehe, und das ist eindeutig. Vierter Monat würde ich sagen. Also gleich nach deiner Ankunft bei Thea – oder gar davor?« Und dann, nach einer Pause, brach es heftig aus ihr heraus: »Wie konntest du uns das antun! Und dann wickelst du Vater ein, passt ihn auf dem Spaziergang ab und erzählst ihm Lügen und sagst nichts von dem Bankert! Ich möchte dich rausschmeißen, auf der Stelle, aber Vater noch einmal aufzuregen, heute, nachdem du ihn beruhigt hattest, das wäre sein Tod gewesen. Also geh nach oben, aber morgen früh bist du weg, auf Nimmerwiedersehen. Was du uns angetan hast, nach allem, was wir dir gegeben haben – das ist zu schlimm, das können wir nicht ertragen.«

Friederike atmete hörbar, sie schluchzte verzweifelt auf, war aber bemüht, ihre Stimme zu dämpfen. »Du undankbare Person! August hättest du haben können! Und die Erziehung, die wir dir haben angedeihen lassen! Fräulein Kesselring! Und hier hast du’s so gut gehabt! Und Tante Thea hat dir alle Türen geöffnet! Du hast gesehen, was eine gute Heirat bedeutet! Vater ist zusammengebrochen. Ich kann nicht mehr, das ist zu viel, zu viel, zu viel!«

Caroline war auf sie zugeeilt und wollte sie beruhigen. Friederike aber rief: »Geh weg! Ich muss mich mäßigen, damit Vater mich nicht hört. Aber du musst gehen. Morgen früh will ich dich hier nicht mehr sehen!« Damit ging sie in die Küche, um beim Aufräumen und Abwaschen des Geschirrs auch ihre Echauffiertheit von sich abzuwaschen, anschließend zu ihrem Mann in die Stille des dunklen Zimmers zu gehen und sich endlich auszuruhen.

Caroline blieb allein zurück. Mutter hatte gemerkt, dass sie schwanger war. Immer wieder hatte sie sich in Cassel gesagt, dass es so kommen werde. Aber dann hatte niemand, außer natürlich Frau Jeschke, etwas geahnt und sie war leichtsinnig geworden, hatte geglaubt, in einer günstigen Stunde beichten zu können. Und das mit Georg! Nicht ohne seine Unterstützung. Und jetzt saß sie hier ganz allein und sollte gehen und wusste nicht wohin. Sie vergrub das Gesicht in den Händen und saß so eine Weile, stumm und ohne sich zu bewegen.

Erst einmal musste sie schlafen. Am Morgen war sie noch in Cassel aufgewacht, voller Sorge um Georg, dann der lange Fußweg, die schroffe Abweisung durch die Mutter, das anstrengende Gespräch mit Vater. Sie musste vernünftig sein, nach oben gehen und sich ausschlafen. Und dann wende ich mich an Großmutter, sagte sie sich, so wie Georg es vorgeschlagen hat, wenn die Eltern uns die Tür weisen würden. Morgen Mittag bin ich am Postamt und werde ihn sehen. Ich werde erfahren, was ihn daran gehindert hat, mich zu treffen. Und dann wird alles gut.

Sie war am Abend sofort eingeschlafen. Doch das Erlebte arbeitete weiter in ihrem Unterbewusstsein, und so war sie am anderen Morgen früh wach und wusste gleich, warum: Sie musste Vater schreiben, wenn sie ihn schon nicht mehr sprechen konnte. In dem Punkt hatte Mutter recht, er vertrug offenbar keine Aufregungen mehr, und jede neue Hiobsbotschaft konnte eine Krise auslösen. Sie musste ihm begreiflich machen, dass alles, was sie ihm erzählt hatte, der Wahrheit entsprach, obwohl sie schwanger geworden war. Wie soll ich das machen?, überlegte sie. Er wird glauben, ich wäre die Hure, als die Thea mich geschildert hat. Sie wusch sich, zog sich an, band ihr schwarzes Haar in einen lockeren Knoten und setzte sich an ihren kleinen Schreibsekretär. Papier und Tinte lagen noch am gleichen Ort. Sie hatte Angst, Sorge um ihren Vater, aber er musste es wissen. Sie konnte nicht gehen, ohne ihm alles so mitgeteilt zu haben, wie es wirklich war, schon um Mutters Version nicht zur einzigen werden zu lassen.

Sie schrieb: Mein lieber Vater! Als ich dir gestern erzählt habe, was sich zugetragen hat, habe ich nicht gelogen. Jedes Wort ist wahr. Aber ich habe dir, aus Rücksicht auf deine angegriffene Gesundheit, verschwiegen, dass ich ein Kind erwarte. Es ist Georgs Kind. Er war und ist der Einzige, und er ist der, den ich liebe.

Wir werden kommen und dich um deinen Segen für unsere Heirat bitten. Ich möchte mein Leben in keines anderen Mannes Hände legen als in seine, so wie ich es früher in deine legen konnte. Du bist und bleibst mein geliebter Vater, wie auch immer du dich entscheiden wirst, für oder gegen uns. Das sollst du wissen, und so kann ich beruhigt gehen.

Ich werde Großmutter bitten, mich aufzunehmen, bis Georg das Aufgebot bestellt hat und wir heiraten können. Ich wünsche mir, dass du dein Enkelkind so lieben wirst, wie du mich liebst. Glaube mir, Georg und ich gehören zusammen. Mein Leben ist nicht lebenswert ohne ihn, mit ihm aber bin ich zufrieden mit allem, was es für mich bereithält.

Deine dich immer liebende Tochter Caroline.

P.S.: Das Ballkleid musst du nicht bezahlen. Herr Ofterdingen hielt es für angebracht, mir einen teuren Pelzmantel zu schenken. Ich habe ihn bei Tante Thea gelassen. Er ist sicher mehr wert als die Balltoilette.

Als sie sich alles vom Herzen geschrieben hatte, war ihr leichter. Sie steckte den Brief in ein Kuvert, verschloss es und schrieb Vater darauf und als Absender Caroline. Mutter durfte den Brief nicht finden. Also ins Kontor, sagte sie sich, nahm Tasche und Mantel und schlich leise die Treppe hinunter. Im Flur hob Flic den Kopf von seiner Matte, aber sie bedeutete ihm, ruhig zu bleiben. Sie legte den Brief auf Vaters Schreibtisch, auf den Stoß Akten, der dort bereitlag, schloss leise die Tür und streichelte Flics Kopf. »Schlaf weiter!«, raunte sie leise, ging hinaus und zog die schwere Haustür sacht hinter sich zu. Niemand hatte sie gehört. Es war sechs Uhr morgens, als sie in den Hirschwald hineinging, es war kühl. Sie zog den Mantel, der nun schon in der Taille spannte, fester um sich und nahm den Weg in Richtung Schmiede. Wie oft war sie hierher gekommen, in der Erwartung, Georg zu treffen. Es schien ihr, als könnte sie ihn auf ihrer kleinen Lichtung am Holzstoß stehen sehen, so unmittelbar war die Vorstellung. Aber als sie den schmalen Weg bis zur Lichtung gegangen war, war das Holz weg, jemand hatte es abtransportiert, die Lichtung lag für jeden einsichtig da, und sie war leer. Nichts zeugte mehr von ihren Sonntagnachmittagen, an denen sie vollständig zufrieden gewesen war, angekommen bei ihm und so fasziniert von seinem Körper. Sie blieb für einen Moment stehen und schloss die Augen. Die schwere Tasche fiel zu Boden. Sie lehnte sich an einen Baumstamm und dachte an ihn. Damals, an diesem Sonntag im Juni, als er auf dem Holzstoß saß und auf sie wartete ... Sie hatte ihn unbedingt treffen wollen, bevor August Grieger um sie warb. Flics Jaulen und sein Freudentanz, als er Georg entdeckte ... Und dann sah sie sich selbst, wie sie auf ihn zulief und sich an ihn schmiegte, anders als sonst. Sie spürte wieder das Verlangen von damals; das Verlangen, sich mit ihm zu vereinigen, seine Frau zu werden, bevor sie August abweisen konnte. Und Georg verstand sie und kam zu ihr, wurde eins mit ihr und stillte ihre Sehnsucht nach ihm – nur um sie erneut anzufachen, wieder und wieder. Die unwiderstehliche Anziehungskraft, die er auf sie ausübte und der sie sich weder entziehen konnte noch wollte. Georgs Augen, seine Hände auf ihrem Körper, wie er in sie drang, sein Samen in sie strömte und die Zufriedenheit, die darauf folgte. Das Gefühl, angekommen zu sein, nichts zu entbehren. Und das Bewusstsein, etwas von ihm mitzunehmen und daraus die Kraft zu schöpfen. »Du bist meine Frau. Denk immer daran.« Damals hatten sie den Pakt geschlossen, und er würde ihn halten, genau wie sie ... 

Als sie die Augen öffnete, kam der Schmerz des Alleinseins jäh und heftig zurück. Sie senkte den Kopf und wischte sich die Augen, so als müsse sie erst in die Realität finden, in der er nicht bei ihr war und in der sie keine Nachricht von ihm hatte. Rasch nahm sie die Tasche auf und lief weiter, zurück auf den breiter werdenden Hirschwaldweg, der sich rechts zu den Wiesen und links zum Schmiedehof hin öffnete. Aus der Schmiede hörte sie Geräusche, Onkel Heinrich fing früh an, heizte das Feuer auf, sah den Plan für den Tag durch und hatte auch die Haustür schon aufgeschlossen. Sie schlüpfte hinein, ging in die Küche der Großmutter und fachte das Feuer an. Schnell kochte das Teewasser in dem alten Kessel; sie holte zwei Tassen aus dem Schrank und goss Tee auf. So saß sie und trank den starken heißen Tee und spürte, wie das Leben in sie zurückkehrte. In Cassel hatte sie oft so gesessen, genau so, bis auf die Zeit, in der sie das gnädige Fräulein gespielt hatte und erst durch Felix Ofterdingen in die Wirklichkeit zurückgeholt worden war. Und dieser Wirklichkeit musste sie sich nun stellen. Wie Vater auf ihren Brief reagieren würde, wusste sie nicht, wohl aber, dass Mutter ihn unter allen Umständen schonen würde, und das hieß, ihre Tochter verstoßen, totschweigen. Keine Aufregung für ihren Mann, also keine Tochter, denn die regte ihn auf. Es war einfach, sie durfte sich keine Illusionen mehr machen. Georg hatte von Anfang an recht gehabt, und sie war so dumm gewesen, so naiv, so unerfahren. Georg! Sie musste ihn heute sehen, sie würde zum Postamt gehen. Niemand würde unter dem Mantel ihre Schwangerschaft bemerken ... Aber war das nicht auch egal? Georg lebte in Cassel, dort würde sie mit ihm wohnen und vielleicht, wenn sie genug gespart hatten, weg gehen mit ihm, weit weg in die Neue Welt. Oder er würde ein Postamt übernehmen, irgendwo, nur nicht hier im Dorf. Er würde fest eingestellt werden, in einem der großen Hauptpostämter arbeiten, in irgendeiner Großstadt. Die Welt steht uns offen!, dachte sie. Was auch immer wir tun.

Um halb acht kam die Großmutter herein, schon fertig angezogen und gewaschen. Als sie das Mädchen sah, fuhr ihre Hand an den Mund. Sie lachte und rief: »Ja, Linchen! Das is eine Überraschung! Seit wann bist du denn wieder da?«

Caroline lief ihr entgegen und zog sie an sich. Ein Gefühl der Wärme und Nähe durchflutete sie, und sie merkte erst jetzt, wie sehr sie die Zuneigung und die Güte der alten Frau vermisst hatte. »Großmutter! Meine liebe Großmutter!«, schluchzte sie und wollte sich gar nicht aus ihrer Umarmung lösen.

Dann tischte sie Brot, Butter und die selbst gemachte Marmelade auf und erzählte, was sie in Cassel erlebt und warum sie eine Woche in Georgs Wohnung gewohnt hatte. Dass ihre Eltern sie, weil Thea Lügen über sie geschrieben hatte, nicht abgeholt und nicht aufgenommen hatten. Es zeigte sich, dass Sophie nichts von ihrer Tochter erfahren hatte als das, was sie Georg mitteilen konnte. Friederike hatte sie nicht ein einziges Mal besucht, nur manchmal Minna mit Kuchen oder einem Stück Braten geschickt. Dass Georg für acht Wochen nicht die Postroute fahre, hatte ihr ihre Tochter Renate berichtet, genauso wie von der Militärübung, und dass man für diese Zeit einen Vertreter eingestellt habe. Der sei übrigens nicht so begabt wie Georg und blase das Posthorn mal eben so.

»Er hat dich also gefunden!«, freute sich Sophie. »Dann habt ihr euch ja noch gesehen, bevor er weg musste.«

»Ja, Großmutter, und auch das verdanken wir dir. Du hast immer zu uns gehalten. Und deshalb möchte ich dir auch ganz ehrlich etwas sagen. Georg und ich, wir erwarten ein Kind. Erschrick nicht, bitte. Wir haben, schon bevor er ins Manöver ging, beschlossen zu heiraten. Da wusste er noch gar nichts von dem Kind. Ich freue mich so darauf, und ich bin sicher, er auch.«

Sophie hatte Caroline nachdenklich angeschaut und sagte langsam: »Ja, so ist das, wenn man sich lieb hat. Man muss zueinander, und es treibt einen voran, und dann ist es gut, wenn man zusammen ist.«

Das Mädchen nickte heftig. Genau so war es.

»Aber weiß er’s denn jetzt?«

»Ich hab ihm geschrieben, bevor ich aus Cassel abgefahren bin. Aber ich habe keine Antwort bekommen. Am Bahnhof haben wir uns nicht getroffen und hier auch nicht. Ich versteh’s nicht, Großmutter! Er hat mich immer gefunden, immer!«

In ihrer Angst war sie lauter und heftiger geworden. Sophie stand auf und legte der Enkeltochter ihre Hand auf die Schulter. »Es is ja, wie du sagst. Er hat dich immer gefunden. Also gibt’s auch eine Erklärung für das alles.«

Caroline legte dankbar den Kopf zur Seite, so dass er den Arm der Großmutter berührte. »Ich bin so froh, dass ich zu dir kommen kann, Großmutter. Wenn ich dich nicht gehabt hätte, ich wäre verzweifelt. Und in Cassel, da war es schlimm, und wenn Frau Jeschke nicht gewesen wäre, dann hätt ich’s wohl gar nicht ausgehalten.«

»Jetzt ruhst du dich erst mal aus. Hier, leg dich auf’s Sofa und deck dich zu. Wann ist es denn so weit mit dem Kind?«

»Ich weiß nicht so genau. Ich hab ja keine Ahnung davon. Aber ich hatte seit Mitte Juni kein Blut mehr. Nur im September so ganz wenig und schwarzes.«

»Das war wohl altes Blut. Juli ... Dann im April, denke ich.«

Caroline schaute sie groß an. Im April wird mein Kind geboren, dachte sie, unser Kind! Dann haben wir noch gut Zeit zu heiraten. »Und du musst meine Trauzeugin sein, Großmutter!«, spann sie ihre Gedanken laut fort. »Und Frau Jeschke. Und vielleicht Herr Hartwich. Das ist nämlich Georgs Hauswirt. Oder Georgs Schwester und seine Mutter kommen ... Oh, Großmutter, ich freue mich so!«

Die alte Frau lachte und drückte der Enkelin einen Kuss auf das dunkle Haar. »Und heute Mittag, da gehst du zur Post, und dann klärt sich alles auf«, sagte sie tröstend.

»Großmutter, ich würde so gern bei dir bleiben, bis wir verheiratet sind. Ich denke, nächsten Monat schon, dann bist du mich wieder los.«

»Das wird auch Zeit!«, entgegnete Sophie lachend.

Kapitel 2

Caroline schlief nicht ein, aber sie dämmerte doch im Halbschlaf dahin. Die Großmutter strickte. Als es auf elf Uhr zuging, wurde   Caroline nervöser und schaute jede Minute auf die Küchenuhr, die so gleichmäßig wie unerbittlich langsam tickte. Bis es Zeit war, die Suppe vom Sonntag zu wärmen. Sie aß wenig und war in Gedanken schon im Aufbruch.

»Nimm das Tuch noch um die Schultern«, riet ihr Sophie. »Es ist kalt und ...«

»Und es muss nicht jeder gleich sehen, wie es um mich steht«, ergänzte Caroline. »Du hast recht.«

In ihren Mantel und das große gestrickte Schultertuch gehüllt, machte sie sich auf den Weg von der Schmiede zum Postamt. Unterwegs grüßten ein paar Leute und fragten freundlich: »Wieder da aus Cassel? War’s denn schön?« oder ähnlich. Sie antwortete jedes Mal ebenso freundlich. Vor dem Postamt stand kein Fahrgast. Gott sei Dank, dachte sie. Ich bin so unruhig, so schrecklich nervös, ich wüsste nicht, worüber ich reden sollte. Ich stehe hier und warte auf ihn, auf meinen Georg, auf dieses Wunder, das mir begegnet ist!

Gegen halb eins war von der Postkutsche immer noch nichts zu hören. Vielleicht bläst er jetzt nur hier das Horn, dachte sie, und nicht mehr schon vor dem Dorf. Aber dann müsste ich ihn ja bald sehen! Und sie lief ein paar Schritte die Hauptstraße hinauf, um ruhiger zu werden. Dann kehrte sie wieder um. Wo blieb Georg? Er war für seine Pünktlichkeit bekannt. Als sie Pferde im Trab herankommen hörte, drehte sie sich um. Ihr Herz blieb stehen. Zwei Monate – und davon einer auch ohne Briefe. Und jetzt war er da! Die Braunen kamen näher. So war er herangekommen, als sie nichts ahnend auf dem Weg zur Großmutter gewesen war, das Posthorn hörte, virtuos gespielt, und mit den anderen Schaulustigen das rasante Manöver verfolgte, mit dem er in die Einfahrt eingebogen war. Georg Lindström, der neue Postillion, groß, stark und schön, und ihr Leben hatte sich in diesen Sekunden verändert, ohne dass sie auch nur eine Chance gehabt hätte, es zu verhindern.

Die Postkutsche kam jetzt langsamer heran. Die Pferde gingen im Schritt. Ein Postillion in Uniform saß auf dem Kutschbock – aber es war nicht Georg Lindström. Caroline starrte ihn an. Das konnte nicht sein! Das war Georgs Tour, wieso fuhr sie ein anderer? Heute war Montag, der 28. Oktober, sein erster Arbeitstag nach der Militärübung. So hatte er es gesagt – und er war nicht da. Sie brauchte Minuten, um es zu begreifen. Bin ich in der richtigen Welt?, fragte sie sich, und kurz darauf: Bin ich verrückt geworden? Sie war vollkommen verwirrt, in ihrem Kopf drehte sich alles.

Der Postillion, ein kleiner kräftiger Bursche mit Oberlippenbart und Stoppelhaar, setzte das Posthorn ab, dem er ein paar Töne abgetrotzt hatte, die der vorgeschriebenen Tonfolge zumindest ähnlich waren. Caroline hörte es nicht. Onkel Walter kam aus dem Haus und nahm den Postsack entgegen. Sie sah es nicht. Alles drang zu ihr wie durch eine gläserne Wand, so als wäre sie in einer anderen Wirklichkeit und schaute hinüber in die der anderen. Der Postillion stieg auf den Kutschbock. »Wolln Se mit, Fräulein?«, fragte er. Sie starrte ihn noch immer an. Was hatte er gesagt?

»Geht’s Ihnen nich gut?« Er zuckte mit den Schultern und hob die Peitsche. Nein, er durfte nicht fahren, er konnte doch nicht einfach wegfahren!

»Georg! Wo ist Georg?«, rief sie. Die Angst in ihrer Stimme ließ ihn innehalten. »Georg?«, fragte er. Mein Gott, es war, wie sie gedacht hatte! Sie war in einer anderen Wirklichkeit, in der es Georg nicht gab.

»Caroline!«, hörte sie eine Stimme neben sich rufen. Es war nicht Georgs Stimme. »Renate, komm doch mal!«

»Will se nu mit oder nich?«, fragte der Postillion.

»Nein. Fahren Sie!«, sagte Onkel Walters Stimme.

Das Posthorn ertönte wieder: die Abschiedsmelodie.

»Nein!«, schrie Caroline. »Wo ist Georg?«

»Komm mit rein, Caroline, komm! Renate!«, rief Onkel Walter. Er hakte seine Nichte unter und versuchte, sie ins Haus zu bringen.

»Nein! Nicht fahren!«, schrie sie. »Warum ist das nicht Georg?«

Der Postillion sah sie an, dann den Postverwalter und machte ein Zeichen, das wohl bedeuten sollte: Die ist komplett verrückt!, und knallte mit der Peitsche. Die Braunen zogen an, Caroline riss sich von Walters Arm los und warf sich in die Zügel. Die Tiere scheuten, erkannten sie dann und streckten die Köpfe vor, um sich den Zucker zu holen, den sie immer für sie mitgebracht hatte, wenn sie sich mit Georg traf.

»Kind, was ist denn los?« Tante Renates ruhige Stimme erreichte sie. »Halten Sie die Pferde zurück, Herr Füllbohle.«

»Was will die denn von mir?«, fragte der Postillion.

»Einen Moment. Was möchtest du denn von dem Postillion wissen, Caroline?« Renate bemühte sich, ruhig zu bleiben. Nur kein Aufsehen hier vor der Post. Sie war froh, dass keine Fahrgäste da waren.

»Tante Renate«, flüsterte Caroline. Ihre Stimme versagte. »Georg – wo ist er?«

»Georg Lindström?«, fragte Renate. Caroline lehnte bleich und kraftlos an einem der Pferde.

»Georgs Pferde«, flüsterte sie. »Ich bin hier. Es ist alles wahr.«

»Bring sie ins Haus«, schlug der Postverwalter vor.

»Also ich muss weiter«, drängte der Postillion und machte Anstalten, loszufahren.

»Fahren Sie«, sagte Renate. »Ich erkläre ihr alles.«

Sie führte Caroline, die bei den Worten »Ich erkläre ihr alles« jeden Widerstand aufgegeben hatte, auf das Postamt zu. Ihr Mann gab dem Postillion ein Zeichen, der knallte mit der Peitsche und ließ die Pferde galoppieren, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

Renate setzte ihre Nichte in den Ohrensessel in der sogenannten Poststube, die direkt hinter dem Schalterraum lag. Die Poststube war eine praktische Angelegenheit, denn hier konnte sie alle anfallenden Arbeiten wie das Plätten, das Falten der Wäsche, sogar Kochvorbereitungen erledigen, das Strickzeug lag hier, und immer wenn ein Kunde nebenan in den Schalterraum kam, hörte sie das und war schnell zur Stelle. Sie gab ihrer Nichte ein Glas Wasser und sagte freundlich: »Georg Lindström ist im Manöver. Was willst du denn von ihm?«

Caroline trank, ihre Hände zitterten. Heftig schüttelte sie den Kopf. Renate sah sie besorgt an. Sie wusste von ihrer Mutter, dass man das Mädchen nach Cassel geschickt hatte, um bei einer Cousine Eduards den letzten Schliff in den Benimmregeln der gehobenen Gesellschaft zu bekommen. Und nun war sie plötzlich wieder da, benahm sich so merkwürdig und fragte nach dem Postillion.

»Er sollte heute wieder da sein!«, sagte Caroline.

»Heute?«, überlegte Renate laut. »Ja, richtig, am 28. Na ja, wer weiß, was dazwischengekommen ist. Vielleicht ist er krank geworden. Ist das denn für dich so wichtig?«

Da legte Caroline den Kopf in die Sesselecke, Renate fing das Glas auf, das ihren Händen zu entgleiten drohte. Sie atmete schwer, totenbleich saß sie da. Die Hände hingen einfach herunter, als könnte sie sie zu nichts mehr gebrauchen. Sie schloss die Augen. Als sie wieder sprechen konnte, sagte sie: »Er ist mein Leben.«

»Mein Gott!«, entfuhr es der Postverwalterin. Ihr Mann steckte den Kopf zur Tür herein und verabschiedete sich. »Ich geh jetzt los. Sind nicht viele Briefe heute. Dauert nicht lange. Wie geht’s ihr denn?«

Seine Frau nickte, sagte aber nichts. Georg Lindström und Caroline – aber die sollte doch diesen August heiraten. Deshalb war ihr die Abreise nach Cassel auch komisch vorgekommen. Sie fuhr weg zu einer Tante, obwohl sie sich verloben wollte. Renate sagte nichts. Das Mädchen war am Ende seiner Kraft, so viel sah sie. War sie am Ende weggeschickt worden, um von Lindström loszukommen? Aber das würde bedeuten, dass sie mit ihm ... ein Verhältnis gehabt haben musste. »Er ist mein Leben.« Dieser einfache Satz sagte alles.

Caroline öffnete die Augen. Der Schmerz darin war unbeschreiblich. Spontan nahm Renate ihre Hand.

»Ich werde mich erkundigen«, versprach sie. »Walter kann in Cassel nachfragen, wann Herr Lindström wieder die Tour fährt. Und vielleicht auch, warum er heute nicht da war. Bleib noch eine Weile hier sitzen, bis es dir besser geht. Ich muss rüber, da ist jemand gekommen.«

Sie hörte Renate mit einem Kunden sprechen. Wieder nahm sie alles wahr wie durch eine gläserne Wand. Sie war aus ihrer Welt gerissen und in eine andere geworfen worden, in die sie nicht hineinpasste. Ich kann nicht aufstehen, dachte sie. Ich bleibe hier sitzen, bis er kommt, irgendwann.

Eine halbe Stunde später führte Renate sie zum Privatausgang des Posthauses. »Ich sage dir morgen Bescheid.«

»Bei der Großmutter«. entgegnete das Mädchen, »ich bin bei der Großmutter.«

»Bei Mutter? Warum denn?« Es kam keine Antwort. Das war eine ernste Sache, das fühlte Renate deutlich. Aber wie hing alles zusammen? Sie hatte mit ihren drei Kindern, die nun allesamt verheiratet waren, nichts dergleichen erlebt. In diesem Moment war sie zum ersten Mal wirklich froh darüber.

»Georg und ich«, hörte sie das Mädchen sagen, »wir haben uns so lieb.« Sie war jetzt ruhig, beinahe ergeben. »Die Mutter will es nicht. Ich habe nur noch die Großmutter.«

Renate versuchte nicht, ihr Mitgefühl zu verbergen. Es war Friederikes Wunsch gewesen, ihre Tochter mit August Grieger zu verheiraten. Und weil Caroline sich in Georg Lindström verliebt hatte und diese Liebe offenbar auch erwidert wurde, hatte sie das Mädchen einfach weggeschickt. Sah sie nicht, wie ihre Tochter litt? Oder war ihr der Aufstieg wichtiger als das eigene Kind?

»Kannst du gehen?«, fragte die Postverwalterin. Als keine Antwort kam, schob sie Caroline sanft durch das Gartentor und drückte ihre Hand. »Ich komme morgen zur Mutter. Dann klärt sich alles auf. Bestimmt ist er morgen schon wieder auf dem Kutschbock. Der Kerl ist doch nie krank und immer guter Laune!«, versuchte sie zu scherzen. Sie sah ihrer Nichte nach, die mechanisch vorwärtsging. Es schien, als nehme sie nichts um sich herum wahr. Zwei Kunden kamen auf das Postamt zu. Renate winkte Caroline nach und ging durch die Poststube in den Schalterraum. Nur nichts anmerken lassen. Wenn zu allem Unglück auch noch das Gerede der Leute kam, war das nicht hilfreich.

Als ihr Mann mit der leeren Posttasche nach Hause zurückkehrte, fing sie ihn ab und bat, er möge in der Oberpostdirektion nach Georg Lindström fragen. »Was für eine Geschichte!«, sagte er dazu. »Ich weiß nicht, wie es dir ging, aber ich habe nichts gemerkt. Und ich weiß wirklich nicht, was deine Schwester gegen den Lindström hat. So einen Kerl findet man nicht alle Tage. Sie sollte sich freuen.«

Sophie sah Caroline kommen. Mühsam, als wäre sie dreißig Jahre älter, bewegte sie sich auf die Haustür zu. Sie ging ihr entgegen und sagte nur: »Er war nich da.« Das Mädchen zog Tuch und Mantel aus und setzte sich.

»Großmutter, wo ist er? Was ist da passiert?« Die Angst in der Stimme war so heftig geworden, dass Sophie sich ernsthaft Sorgen machte. Es kann nicht sein, dass er sie im Stich gelassen hat, dachte sie. Ich müsste mich so sehr in einem Menschen täuschen, wie ich es vorher nie getan habe. Also muss etwas passiert sein. Aber was?

»Willst du morgen wieder hingehen, Linchen?«

»Tante Renate hilft mir. Onkel Walter fragt in Cassel nach.«

Sophie zuckte zusammen. »Wissen sie denn Bescheid?« Sie selbst hatte nichts gesagt.

»Als der fremde Postillion auf dem Kutschbock saß, da konnte ich nicht mehr, Großmutter. Ich hab Tante Renate gesagt, dass wir uns lieb haben.«

»Und dann?«

»Dann hat sie mir geholfen. Sie war sehr nett. Alles ist so unwirklich. Ich glaube, ich bin verrückt geworden.« Sie starrte in die Küche, als sähe sie sie zum ersten Mal.

Walter fragt nach, sagte sich Sophie, also müssen wir die Zeit bis morgen überbrücken. Das Mädchen darf nicht schlapp machen. Es wird sich alles klären.

»Ach was, Line, was du nur denkst! Du bist unruhig, weil er sich nich meldet. Na, das wär ich auch. Aber wir stehn das durch, wir zwei. Der Georg lässt dich nich im Stich. Der hat dich so lieb wie mein Heinrich mich hatte.«

Caroline schaute sie an, halb erschrocken, halb erleichtert. »Nein, im Stich nicht, das doch nicht. Aber ich hab Angst, dass ihm was passiert ist.«

»Morgen wirst du das alles wissen, und dann kannst du tun, was getan werden muss. Das is immer so, Schritt für Schritt, Linchen. Und der nächste Schritt is, dass wir zu Heinrich gehn und sagen, dass er uns das Bett von seinem Vater aufstellt. Das passt noch in meine Schlafstube rein. Komm!«

»Soll ich denn Onkel Heinrich ... alles sagen?«

»Das müssen wir wohl jetzt. Wenn du bei mir bleiben willst, dann muss der Heinrich das wissen.«

Ihr war wohler, jetzt, da sie eine praktische Lösung für den verbleibenden Tag gefunden hatte. Das Mädchen durfte nicht die ganze Zeit darüber grübeln. Caroline fasste sie unter und führte sie durch den großen Flur hinüber in die Wohnung des Schmieds. Seine Frau Magdalene war allein in der Küche und machte sich sogleich daran, Kaffee zu kochen. Dabei fragte sie ihre Nichte nach den Casseler Tagen. Sophie aber unterbrach sie: »Magdalene, wo is denn der Heinrich?«

»Na, in der Schmiede. Der wird vor sechs nicht kommen.«

»Und der Ferdinand?«

Heinrichs Sohn Ferdinand war Geselle und arbeitete mit seinem Vater zusammen. Er war das einzige der Schmidtschen Kinder, das noch zu Hause lebte. Von den sechs Geschwistern waren zwei schon im Kindesalter gestorben, die drei Töchter alle verheiratet. Nur Ferdinand, der mit seinen 24 Jahren Jüngste, war noch unverheiratet. Er hatte das Handwerk von seinem Vater gelernt und stellte sich gut an. Das Einzige, was seiner Mutter Sorge bereitete, war seine Trägheit in Bezug auf eine Verlobung oder gar Verheiratung.

»Der Junge wird auch so lange brauchen mit den Legerschen Pferden«, antwortete Magdalene. »Aber um sechs gibt's Abendbrot. Da wird er schon kommen.«

Emma!, dachte Caroline. Ihre Pferde werden hier beschlagen, ob sie …?

»Ist Emma auch hier?«