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Alles und Nichts

 

Fröhliche Wissenschaft 069

Martin Burckhardt, Dirk Höfer

ALLES UND NICHTS

Ein Pandämonium der digitalen Weltvernichtung

 

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Inhalt

I – Offenbarung

Boole und die Formel

Im Dark Room der Geschichte

God is a DJ

Alles wird Schrift

Unendliche Potenz

II – Apokalypse der Zeichen

Hydra

Draculas Vermächtnis

Kernspaltung

Pandemie

Im Arbeitsspeicher

III – Im Maschinenraum des Digitalen

Schneewittchensarg

Reichsparteitag

Nullachtfuffzehn

Organisierte Verantwortungslosigkeit

Marktpenetration

Gesellschaftskörper

Ausstattungsidentität

IV – Digitale Plagen

Logik der Zersetzung

Die große Flut

Totalliquidation

Aufmerksamkeitsökonomie

Scheinproduktion

Patentiertes Leben

Der überholte Mensch

V – Das neue Jerusalem

Ein Dokument des Universums

Der Himmel ist blau

Die beste aller Welten

Auf Wolke Nr. 7

Geisterbeschwörung

Kunststoff

Das lebende Archiv

VI – Genesis 2.0

Die Abschaffung der Wölfe

Ausgeburten des Sozialen

Gebrannte Kinder

In der Datenhülle

Mana

Alles spricht

VII – Vertreibung ins Paradies

Die Entfernung der Welt

Die Außenwelt der Innenwelt

Adam und Eva

Streicheleinheit

Borderliner

Tod durch Selfie

VIII – Die Welt der Engel

Digitaler Animismus

Psychopompos

Ubiquitätsmärchen

Drohnenfantasie

Infinite Gegenwart

IX – Welt ohne Jenseits

I

Offenbarung

Boole und die Formel

Am Anfang war die Null und die Null war bei Gott und Gott war die Eins. Die Null und die Eins waren im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dieselben gemacht und ohne dieselben ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihnen war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat’s nicht begriffen.

1854 schrieb der irische Mathematiker George Boole ein Buch mit dem Titel The Investigations of the Laws of Thought. Boole, der als junger Mann ein Erleuchtungserlebnis hatte, das sein weiteres Denken bestimmte, formulierte darin die Idee eines logischen Universums, dessen Elemente sich durch die Logik von Anwesenheit/Abwesenheit, 0 oder 1 darstellen lassen. In der Booleschen Algebra löst sich die Welt der Zahlen, und mit ihr die Welt, im binären Code* auf. Zahlen, wie wir sie kennen, sind demnach Erscheinungsformen dieser Codierung. Sie sind keine Repräsentanten mehr. Die Booleschen Ziffern 1 und 0 bezeichnen keine Quantität, sondern sind Marker für Anwesenheit und Abwesenheit. Dabei steht die 1 für das Universum, die 0 für das Nichts. Doch stehen diese beiden Terme nicht in einem ausschließenden, sondern in einem ergänzenden Verhältnis zueinander: Beide folgen derselben Logik. So wie 1 mal 1 mal 1 immer 1 ergibt, 0 mal 0 mal 0 immer 0, ergibt in der Booleschen Welt auch x mal x mal x immer x. Und genau deshalb treffen sich Alles und Nichts in der Formel x = xn. Weil das x in der Formel für alles, ja sogar für die Welt als Ganzes stehen kann, ist es nicht übertrieben, hier von einer digitalen Weltformel zu sprechen.

Fassen wir die Welt als großen Magneten auf, der zwischen einem positiven und einem negativen Pol oszilliert, also in einer dyadischen Logik, ist ein solcher Weltblick durchaus sinnvoll. Denn alles, was elektrifizierbar ist, ist auch digitalisierbar. So mag x für ein alphanumerisches Zeichen stehen, eine Audiodatei oder ein Bild, aber ebenso gut könnte es den von einem Sensor erfassten Hämoglobinwert im Blut oder die Positionsdaten eines Wals repräsentieren. Oder auch das, was wir vielleicht erst in Zukunft werden digitalisieren können, unsere Sprechakte, Emotionen, Träume. Digitalisiert jedoch kommt jedwedes x nicht mehr als Singularität oder Einzelobjekt vor, sondern lässt sich gemäß der Formel beliebig vervielfältigen, es vervielfältigt sich quasi von selbst, es wird zur Population.

In der Gleichung x = xn steckt demnach eine Proliferationsverheißung, ein Schlaraffenland, in dem alles jederzeit und unbegrenzt vorhanden ist. Die Verheißung totaler Zugänglichkeit birgt freilich auch eine Drohung. Denn hier steht dem digitalen Universum ein klaffendes Nichts gegenüber, eine Weltvernichtungsfantasie, die alle erdenklichen Dämonen mobilisiert. Die analoge Wirklichkeit wird ihre Digitalisierung zwar überleben, aber wir spüren, sie verkommt zur Schwundform, zum Potemkischen Dorf, zur Schlacke ihrer selbst. Denn in ihrer digitalen Erscheinungsform ist sie weit wirkmächtiger. Immer, allerorts, unbegrenzt.

Die Boolesche Formel kommt aber nicht nur in der Virtualität zum Tragen. Sie wirkt auf die Phantasmen zurück, die unsere Wirklichkeit strukturieren. Sie erfasst die »Realwirtschaft«, sie transformiert unsere Körper, unsere Auffassung von Identität und Freiheit, sie imprägniert die Politik, sie verändert die Wahrnehmung von Zeit und Raum, sie wirkt auf das Humanum als solches. In diesem Sinn ist die uns umgebende Welt längst zum Mantra der Booleschen Formel geworden: Alle Dinge sind durch dieselben gemacht und ohne dieselben ist nichts gemacht, was gemacht ist.

Im Dark Room der Geschichte

Bekanntlich versteckt man ein Geheimnis am besten, indem man es vor aller Augen platziert. So bleibt unsere Informationsgesellschaft, die alles in Bits und Bytes bemisst, blind, was die Bedeutung und Herkunft ihres Informationsbegriffs anbelangt. Wie im Falle des Geldes, das man als gegeben voraussetzt, rechnet man damit, fragt aber nicht, wie jener geistige Kontinent, auf dem sich unsere Informationsgesellschaft hat ansiedeln können, in die Welt geraten ist. Als Claude Shannon, der »Vater der Informationstheorie«, 1948 seine Mathematische Theorie der Kommunikation vorlegte, wandte er die Theorie an, die der irische Autodidakt und Mathematiker George Boole ein Jahrhundert zuvor in seinen Laws of Thought veröffentlicht hatte. Dabei – und das ist das Erstaunliche – erschöpfte sich Shannons Beitrag in einer ingenieursmäßigen Anwendung, einem technischen Fertilisationsakt, bei dem die Gedanken, die Boole zu seinem Gedankengebäude gebracht hatten, unberührt und deswegen folgenlos blieben. Dieses Schweigen im Augenblick des Erfolgs ist umso sonderbarer, als Booles Theorie auch an anderer Stelle eine große Erschütterung hervorgerufen hatte. Als Gottlob Frege im Jahr 1879 seine Begriffsschrift veröffentlichte, das Werk, das bis heute als Grundlagenwerk der Analytischen Philosophie gilt, beschrieb der Mathematiker Ernst Schröder, einer der ersten Rezensenten, diesen Text bestenfalls als eine »Umschrift« der Booleschen Ideen. In Anbetracht der Peinlichkeit, dieses Gedankengebäude nicht selber entwickelt, sondern übernommen zu haben, tat Frege alles dafür, den Booleschen Anteil an der Fregeschen Revolution herunterzuspielen.

Claude Shannon selbst, der sich beständigen Anfragen ausgesetzt sah, was denn das Heureka-Moment seiner Entdeckung gewesen sei, wiegelte ab und sagte, wenn es denn einen solchen Augenblick gegeben hätte, hätte er nicht einmal gewusst, wie er Heureka hätte buchstabieren sollen. Und da auch der materielle Computer in unserer kollektiven Imagination ein Produkt des 20. und nicht des 19. Jahrhunderts ist, gehört Boole zu den großen Vergessenen der Computerkultur, und dies, obwohl ihm jeder Programmierer in Gestalt der Booleans, der Booleschen Operatoren, wieder und wieder begegnet.

Dass Techniker, selbst auf der Höhe ihrer Kunst, von der Vorgeschichte ihrer Disziplin nichts wissen, mag noch angehen. Sehr viel sonderbarer ist, dass auch die Theoretiker Booles grundstürzenden Beitrag ignorieren, dass man die simple Frage, wie es überhaupt zur Binärlogik hat kommen können, nicht stellt. Diese Lücke ist umso merkwürdiger, als der Impuls, der den irischen Mathematiker dazu brachte, die Null und die Eins zur Initiale der binären Logik zu machen, darin bestand, den Repräsentanten aus der Mathematik zu entfernen – eine Operation, so radikal wie die Enthauptung des französischen Königs. Ihm schwebte eine Mathematik vor, die es erlauben würde, mit Äpfeln und Birnen zu rechnen, oder mathematisch gesehen: von einem Zahlensystem zum anderen zu springen. Dieser Sprung wird möglich dadurch, dass Boole die Null und die Eins (diese beiden »Königszahlen der Mathematik«) jeder Bezeichnungslogik, ja der Mathematik selbst entzieht. Die Eins steht demnach nicht mehr für eine Quantität, sondern für eine Anwesenheit, die Null für eine Abwesenheit (von etwas, was immer es sei). Hier liegt die eigentliche Revolution: Booles binäre Logik löst sich von der Mathematik, ja, von der materiellen Qualität dessen, was sie abbildet. Weil sie zwischen dem Universum und dem Nichts oszilliert, kann sie alles abbilden. So besehen ist das Boolesche Denken weniger eine Algebra als vielmehr eine allgemeine Zeichentheorie – eine Besonderheit, die der amerikanische Philosoph und Mathematiker Charles Sanders Peirce erfasst hat, als er die Booleschen Gedankengesetze an die Seite des Kantischen Apriori stellte. Tatsächlich ist es genau diese Abstraktheit, die die Leser von Shannons Mathematischer Theorie der Kommunikation ein gutes Jahrhundert später fasziniert, ja, die uns heute erlaubt, nicht nur Texte, Bilder oder Töne, sondern auch Erdbeben, Gehirnaktivitäten oder extraterrestrische Phänomene zu digitalisieren.

An dieser Stelle kommt eine geistige Erschütterung ins Spiel, die bereits im 18. Jahrhundert das Denken mächtig durcheinander gebracht hatte, nämlich jener Blitz, der den neuen Prometheus, den Doktor Frankenstein dazu befähigt, sein Monster zum Leben zu erwecken: die Elektrizität. Die Beherrschung der Elektrizität führte Wissenschaftler wie Galvani nicht nur dazu, sich Gedanken über die Lebenskraft zu machen, sie führte über die neuen Kommunikationstechnologien zu einer Explosion des Schriftbegriffs. Denn alles, was sich elektrifizieren lässt, konnte Schrift werden. In diesem Sinn geht das kollektive Bild, das wir der Formel x = xn unterlegen können, auf das Jahr 1746 zurück, da sich sechshundert Mönche auf einem Feld im Norden Frankreichs zu einem großen Kreis formierten, einander verkabelten und auf eine Berührung mit der Batterie, oder genauer: der just entdeckten Leydener Flasche, in kollektive Zuckungen gerieten. In dem Versuch lässt sich das Urbild dessen erblicken, was Claude Shannon, ausgerüstet mit der Booleschen Logik, zur Theorie der elektrischen Regelkreisläufe führte – nur dass es sich dabei nicht um einen mathematischen Calculus handelte, sondern um die kreisförmige Formation, in der sich die Mönche miteinander verdrahteten.

God is a DJ

Wenn Menschen, wie Feuerbach gelehrt hat, sich ihre Götter erfinden, ist das Gewerk, das sie ihnen zusprechen, das vorzügliche Charakteristikum des jeweiligen Gottes. Weil hier, an der Schnittstelle von Rationalität und Theologie, uns jener Techno-Enthusiasmus begegnet (von dessen Selbstverzauberungspotenzial wir uns noch heute täglich überzeugen können), drängt sich die Schlussfolgerung auf, die Menschheit habe Gott erfunden, um ihre jeweilige Technik zu vergöttlichen und ihren Wissensstand zu einer Metaphysik zu veredeln. Haben die Griechen, mit dem Alphabet ausgerüstet, die Logostheologie vorbereitet, so hat das mittelalterliche Europa den christlichen Gott zum Uhrmacher umgeschult. Da der Computer, wie zuvor Alphabet und Räderwerktechnik, eine universale Maschine darstellt, nimmt es nicht wunder, dass sich auch der Computerpionier Charles Babbage (1797–1871) zuallererst an einem Gottesbeweis versucht, der die Vorstellung des mechanischen Demiurgen ablöst. Wenn Gott, so Babbage, auf eine regelhafte Weise eine Zahl hochzählt (1, 2, 3 … 1000), dann aber fähig ist, zu einer anderen Zählweise überzugehen (1000 ⅓, 1000 ⅔ usf.), so besteht das besondere Vermögen, das den Gott der Programmierer über den Uhrmachergott erhebt, in dieser Fähigkeit zum Programmwechsel. Mit anderen Worten: God is a DJ. Tatsächlich war Babbages Analytische Maschine, die die schon in den Jacquardschen Webstühlen entwickelten Lochkartentechnik nutzte, zu einem solchen Programmwechsel imstande. Was die innewohnende Logik anbelangte, hing sie jedoch noch einer alten Zahlenvorstellung an (dem Dezimalsystem, das den Erfinder vor ungeheure mechanische Schwierigkeiten stellte und letztlich dazu führte, dass der Computer des 19. Jahrhunderts unvollendet geblieben ist). Wäre Babbage dem Denken seines Zeitgenossen Boole begegnet, so wäre schon mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts ein Lochkartencomputer denkbar gewesen.

Trotzdem ist Babbages Gottesbeweis eine Antizipation dessen, was die Boolesche Logik charakterisiert. Vergleichen wir den göttlichen DJ mit seinem mittelalterlichen Vorläufer, dem Uhrmacher, so springt ins Auge, dass die Welt nicht mehr als mechanische Fortschreibung ein- und desselben Gesetzes, sondern als eine Form der Veränderung aufgefasst wird: als genetischer Algorithmus. Weil sich mit dem xn die Idee der infinitesimalen Optimierung aufdrängt, enthält diese Logik ein sowohl evolutionäres als auch geschichtsphilosophisches Moment. Hat sich dies im 19. Jahrhundert als Hegelscher Weltgeist oder als Darwinsche Evolutionstheorie artikuliert, äußert sich solche Zukunftsgewissheit heute in dem Credo, das die Taufe eines Startups begleitet: To make the world a better place!

Alles wird Schrift

Was ist x? Ganz offenkundig: Ein Schriftzeichen. Unserer herkömmlichen Denkweise folgend soll die Schrift die Realität beschreiben. Gelingt ihr dies, gilt der jeweilige Schriftkorpus als adäquate Repräsentation eines Sachverhalts, einer Gesellschaft, der Welt. Diese Art der Buchführung aber, bei der die Welt und das Bild einander gegenüberstehen wie der Maler und sein Modell, wird mit der Formel obsolet. Denn der Programmierer schildert die Welt nicht mehr, sondern er greift in sie ein. Das x ist kein vom Bezeichneten abgespaltenes Schriftzeichen mehr, sondern ein elektronisches Gebilde, das sich mit dem, was es bezeichnet, merkwürdig verschwistert hat.

Bereits mit der Mitte des 18. Jahrhunderts wird das alte Primat der Alphabetschrift fragwürdig, There’s plenty of room at the bottom