STERBEN FÜR FORTGESCHRITTENE

- UND ANDERE LEIDENSCHAFTEN

 

 

Erzählungen

 

 

 

 

 

von


Kerstin Kuschik 


 Text Copyright © 2007 Kerstin Kuschik

 

Lektorat KonText, Ingrid Walther

www.kontext-walther.de

Gemälde auf der Umschlagseite:

Tina Humburg, Titel: Feuer

mail@humburg-interiors.de

Illustration Bettina Hackenspiel

bettin@hackenspiel

 

Alle Rechte vorbehalten


 


Für Norbert


Danke

 

Kirsten und Detlef fürs Mut machen und das erste wertschätzende Korrigieren

Tina fürs Malen

Bettina fürs Cover

Ingrid fürs Schlusskorrektorat

allen Freundinnen und Freunden für das wertvolle Feedback 


Vorwort

 

All die Geschichten dieses Bandes handeln von kleinen und großen, von sekundenkurzen und ausdauernden Leidenschaften. Von Leidenschaften, die Leiden schaffen und solchen, die durch Leiden führen. Und von den glücklichen, intensiven Momenten, die wir nie loslassen mögen. Es wird also geliebt, gelacht und gekocht. Es wird gemordet und gestorben. Oft. Aber oft wird auch gut gespeist.

 

Die Anlässe zu den Geschichten waren so verschieden, wie ihr Ton es dann wurde. Aber sie sind alle aus leidenschaftlichen Momenten und Betrachtungen zwischen 2005 und 2007 entstanden, die nur den Bruchteil einer Sekunde dauerten. Der Anblick des gemalten Portraits eines Hahnes etwa (Barbarossa), eine Begegnung (Die Küsse des Küsters), ein Geschmack (Kalte Genüsse), ein Museumsbesuch (Abendschatten) oder eine Beerdigung (Grabgedanken).

 

Es gibt im Leben Momente, die sind ganz dicht. Das sind diejenigen, in denen Geschichten verborgen sind. Ein paar konnte ich einfangen oder – da bin ich mir nicht ganz sicher – vielleicht haben auch sie mich eingefangen. Die Entscheidung, mit dem Schreiben zu beginnen, ist dann schnell getroffen. Nur das Niederschreiben dauert verblüffend unterschiedlich lange. Geschichten hören eben einfach auf, wenn sie wollen.

 

Kerstin Kuschik, 2013 

Augenblick

Sie steigt in das Auto ein, ohne zu überlegen. Sie kennt den Fahrer nicht. Eben noch zog sie die schwere Tasche hinter sich her, war sie auf dem Weg zu ihrer Freundin. Jetzt liegt die Tasche auf dem Rücksitz, der Abdruck des Griffs brennt noch ein bisschen in ihrer Hand.

„Ich hol mir noch schnell ’ne Flasche Wasser“, sagt der Fahrer und springt über die Straße zum Kiosk. Das Geräusch der zugeschlagenen Tür wirkt in ihr nach, ein dumpfer Ton, schweres Blech. Ein bekanntes Gefühl taucht auf: Sie ist eingekapselt, hermetisch. Tür zu, andere Welt. Ein Privatraum mit Sicht auf das Außen. Es riecht anders – dieses Auto riecht neu – die Temperatur, die Geräusche wechseln. Alles von draußen wird Hintergrund. Die Zeit fließt zäh und gedämpft. Im Auto ist es warm, Sitzheizung. Die zugeschlagene Tür hat die Luft im Innern zusammengepresst. Sie spürt den leichten Druck auf ihrem Trommelfell und schluckt ihn weg. Ihr Ohr ist wieder frei. Trotzdem schluckt sie noch einmal. Für Frank. Obwohl er es nie bemerken würde, selbst wenn er hier wäre. Sie hört, wie er allen erzählt, dass sie weg ist, einfach so, ohne mit der Wimper zu zucken. Er, der Augenmensch. Ihre vielen Worte und Erklärungen drangen nicht zu ihm. Als hätte sie nie etwas gesagt. Sie denkt, ein Augenmensch kann eben nur in eine Richtung sehen. Sie ist eine, die auf ihre Ohren hört, immer auf alle Richtungen gefasst. Schall breitet sich kugelförmig aus, denkt sie und: Was anfangs nach Ergänzung aussah, ist auf einmal nur noch unvereinbar.

Sie seufzt, wieder für Frank. Das Letzte, was sie für ihn tut. Mit dem Seufzer lässt sie die letzten fünf Jahre ziehen.

„Wohin genau soll’s denn gehen?“ Der Fahrer reicht ihr die Flasche und Schokolade und zeigt auf das Ablagefach vor ihr. Zwei Brauen wie englische Hecken fallen ihr auf.

Sie grinst: „Erst mal geradeaus.“

„Klingt nicht sehr zielgerichtet.“

„Warum? Ziele liegen doch immer vor einem.“

„So gesehen.“

Sie schnallt sich an, während er startet. Sie überlegt, ob sie ihre Freundin anrufen soll. Ihr erklären, dass sie das Gästezimmer nicht braucht. Dass sie sich hingegeben hat. Einem Impuls, zeitgleich in ihrem Kopf, ihrem Herz und ihrem Daumen. Etwas, das sie auf eine andere Spur gebracht hat. So schnell, dass sie es nicht mit ihren gewohnten Sinnen wahrnehmen konnte. Trotzdem war Zeit für eine Entscheidung und eine Handlung gewesen. Wie schnell doch Entscheidungen getroffen werden können! Obwohl sie von sich solche spontanen Aktionen kennt, wundert sie sich darüber. Weil es auch die quälenden Phasen gibt. Probleme in Endlosschleifen. Sie versucht dann, wenn ihr dies auffällt, eine Situation für den Ausstieg zu suchen. Nur gelingt es ihr meistens nicht. Es wird am Suchen liegen, denkt sie, am verzweifelten Suchen. Sie hat einmal gelesen, dass man, wenn man etwas finden möchte, nicht suchen soll, sondern Vertrauen ins Finden bräuchte. Sie überlegt, ob so etwas eben gerade stattgefunden hat. War sie unbewusst aufs Finden eingestellt? Geht so etwas unbewusst? Sie hat einen Impuls gespürt und ihn sofort als wahrhaftig erkannt, ihm augenblicklich vertraut. Intuition? Augenblicklich … Sie denkt bei diesem Wort an Frank und muss wieder grinsen. Ich könnte diesen Augenblick Frank widmen, überlegt sie, doch da schaltet sich schon eine andere Stimme ein  ... Mädel pass auf, sagt die, dass du nicht wieder auf die alte Spur gerätst. Dieser Augenblick soll dir gehören. Und deiner Zukunft.

Sie wählt die Nummer ihrer Freundin. „Ja, ich bin’s. Ich komm nicht, Tine, sei nicht böse, ich erklär dir alles später ... mir geht’s gut … Nein, da bin ich nicht … Hör zu: Ich bin unterwegs in einem dunklen Audi, Kennzeichen M-TH 356. Hast du’s? Und zwar Richtung …“ – ihr Blick richtet sich zum Fahrer – „München. Ja, München. Ich ruf dich heute Abend an, spätestens gegen zehn, ja? Bussi … Ja … Tschüss.“

„Sie haben sich die Autonummer gemerkt?“

„Ist schon ein Reflex geworden, anders trampe ich nie, die Nummer merken und jemandem Bescheid sagen, nehmen Sie’s nicht persönlich… Ich will heute neu anfangen und nicht hinter einem Busch enden.“

„Sie klingen sehr sicher … für einen Neubeginn ins … Ungewisse?“, die Hecken heben sich und sehen fragend aus.

„Schon das zweite Mal …“

„Was?“

„Das zweite Mal, dass Sie ‚klingen’ sagen.“

„Ich bin Musiker, Geiger.“

„Ein Ohrenmensch! Wenn das kein Zeichen ist … Wissen Sie, so ungewiss fühl ich mich gar nicht. Oder fühlen Sie sich unsicher, wenn Sie sich ergeben?“

„Ergeben …“, wieder fragende Hecken.

„Besser hingeben …“ Sie lacht. „Ein interessantes Gespräch für zwei, die sich nicht kennen, oder? Aber was ist mit meiner Frage?“

„Welcher? Warten Sie, ich such mir eine aus: interessantes Gespräch? Ja. Aber auch heikel, Sie fragen gleich nach Hingabe … Wie wär’s mal mit Antworten. Unsere Namen. Meiner ist Bela Grünwald.“

„Klingt nach Musikerfamilie. Ich heiße Claudia, für den Moment noch ohne Nachnamen.“

„Hm, mal was anderes, nur der Vorname … wäre aber logisch, wenn Sie Schiffer hießen und die Reaktion darauf leid wären. Übrigens: keine Musikerfamilie, aber Musikinteressierte.“

Sie betrachtet ihn so unauffällig wie möglich. Er gefällt ihr. Dunkle Haare, schwungvolles Kinn, schöne Hände, mit Fingernägeln, die bis zur Kuppe reichen, ohne Weiß zu zeigen, ein schmaler Ring am kleinen Finger. Ob er ihn beim Spielen auszieht? Wo er ihn hinlegt?

„Und? Gehe ich durch?“ Er schaut kurz zu ihr.

„Sie hören wohl auch Pausen.“

„Ja und ob, die Pausen sind das Wichtigste …“

„Dann üben Sie also, um den Pausen einen gebührenden Rahmen zu geben?“ Sie fragt ein wenig spöttisch …

„Machen Sie sich nur lustig … aber es ist ein nettes Bild, der ‚gebührende Rahmen’ … es passt, ich finde tatsächlich, dass die Kunst eher der Rahmen ist.“

„Für?“

„Kommen Sie, das wissen Sie …“, jetzt grinst er spöttisch.

„Für ein bisschen Wahrheit.“

„Ja, auch ein gutes Wort dafür. Man muss nur einen Augenblick hinhören.“ 

Die Farbe des Himmels

 Blau. Das Kleid, das sie anhatte, als er sie das erste Mal traf, war blau. Sie trug es, wie reiche Inderinnen ihre Saris: Sich ihrer Position, ihrer edlen Gestalt und Schönheit bewusst. Das Kleid umschmeichelte sie, sie muss es genossen haben, so, wie sie sich bewegte. Darauf bedacht, jede Drehung auszukosten, damit der Stoff ihre Beine umspült wie flüssige Seide. Es war ein Kleid, wie es viele Frauen damals trugen, weiter Rock, bis zu den Waden, eng an der Brust, weiter Ausschnitt. Es gab die Figur nicht sofort preis. Nur in der Bewegung trat plötzlich eine Rundung hervor, formte sich die sonst gerade Linie der Silhouette aus, wurde zum Po, zur Hüfte. Das Kleid war für die Beobachtung geschaffen, die lauernde Pirsch. Man brauchte Fotografengeduld. Er hatte sie. Sie wusste das zu nutzen und machte aus jedem gewöhnlichen Gang einen Tanz.

Er war zu früh da, damals, und fühlte sich dafür belohnt. Das wurde ihm zur Gewohnheit. Diese Minuten des Wartens auf sie, nur, um sie auf sich zukommen zu sehen.

„Ich kann machen, was ich will, du bist immer schon da“, hat sie ihm einmal zugeflüstert.

„Dieses Talent habe ich erst mit dir entdeckt.“

Liebesgeflüster. So waren ihre Begrüßungen. Botschaften, vor den anderen geheim gehalten und umso kostbarer. Zwei, drei Sätze direkt ins Ohr. Nichts konnte sich auf dem Weg dorthin verflüchtigen, niemand konnte etwas davon ergattern.

„Was tuschelt ihr nur immer …“, hörten sie oft. Später, als sie schon lange ein Paar waren, haben sich diese Zeremonien des Anfangs gelegt. Es gab einfach weniger Anfänge. Es war die Zeit der Fortsetzungen. Und der Wiederholungen.

„Wie war dein Tag, Schatz?“

„Ganz gut. Und Du? Hast du heute wieder einen Bären erlegt?“

Bei besonderen Anlässen oder nach gefühlstauben Phasen beschwören manche Paare bewusst Erlebnisse des Beginns ihrer Liebe. Als Kick für die Gegenwart. Bei ihnen hat das nicht funktioniert. Sie kamen zu dem Schluss, dass man Anfänge nicht wiederholen kann. Man müsse mit ‚Vergangenheitsaugen’ auf die Anfänge schauen, behaupten sie, und immer den zurückgelegten Weg mit betrachten. Und sie haben über die Jahrzehnte gelernt, sich mit der Langeweile anzufreunden. Sie haben zwei Worte daraus gemacht. Eine lange Weile, die man mit sich selbst ausfüllt und zur Ruhe kommt. Das ist etwas, worauf sie stolz waren, nun, er noch ist.

Ich muss los, denkt er, obwohl er weiß, dass sie nicht wartet. Er nimmt den grauen Mantel. Sie mochte ihn nie, weil er auch ihn selbst grau aussehen lässt. Früher hättest du das tragen können, heute brauchst du ein frisches beige, sagte sie jedes Mal. Er wird sich heute auf dem Rückweg einen neuen Mantel kaufen. Vielleicht bittet er Paul, seinen Neffen, mitzukommen, der hat einen guten Geschmack.

Sie haben keine Kinder. Sie haben nach ihrer Heirat nicht mehr verhütet, aber es kamen keine. Sie sind dem nie auf den Grund gegangen. Sie hatten mit den Kindern ihres Bruders auch schöne Zeiten. Haben sich gegenseitig ‚verliehen’, spielten Leihkinder oder Leiheltern. Jetzt ist er manchmal sogar Leihopa.

Die Sonntage waren ihre wichtigsten Zeiten. Heute ist das anders, es ist fast jeder Tag ein Sonntag, aber damals waren es nur die Sonntage, die sie allein verbrachten. Sie sind hinausgefahren, Spessart, Odenwald, Taunus. Im Wald waren sie am liebsten, sie ist immer aus dem Auto gestiegen und hat erst einmal wie ein Tier gewittert. Deshalb war auch Regen nie ein Grund, zu Hause zu bleiben.

„Regen riecht am besten, riech doch!“ Am liebsten hätte sie an jedem Blatt einzeln geschnuppert und wäre mit der Nase dicht an der feuchten Erde entlanggelaufen.

Im Herbst oder Winter dann die Kaminsonntage mit Büchern und Symphonien. Sie haben nie viel gesprochen an diesen Tagen, es waren Spürtage, wie sie es nannte.

Heute haben sie sehr viele Spürtage. Weil sie sich nicht erinnert. Weil sie ihn seit ein paar Wochen fragen muss, wer er ist. Er begrüßt sie mit den Worten:

„Hallo meine Schöne, dein Mann ist wieder da, ich heiße Richard.“

Es quält ihn, weil ihm nicht mehr einfällt, wann sie ihn das letzte Mal erkannt hat! Er verzweifelt daran, diese vielen kleinen, letzten Male nicht würdigen zu können. Auf einmal ist etwas verschwunden. Es hört einfach auf. Ohne Vorwarnung, ohne Feier, ohne bewussten Abschied. Der kommt immer erst im Nachhinein. Sie fragt, warum er käme.

Manchmal regt sie sich auf und schickt ihn weg. Er geht dann und wartet ein bisschen. Dann kommt er wieder, sagt er sei der Arzt und fragt, wie sie sich fühle. Oft bittet sie ihn, ihr den Spiegel zu reichen, damit sie sich ansehen kann, eine halbe Stunde lang, weit weg ist sie, versunken in die Frau auf der anderen Seite. Er liest ihr vor, aus ihrem Tagebuch, sie schauen sich Fotos an. Er hilft beim Anziehen. Sie gehen spazieren. Nur noch langsam, an der Hand. Er weiß, bald wird es auch damit vorbei sein, und genießt jeden Gang nach draußen, versucht das letzte Mal zu erahnen. Wie wäre es, ein letztes Mal zu inszenieren? Er würde einfach einen schönen Sonnentag abwarten und danach nie mehr einen Spaziergang anbieten. Aber er kam sich betrügerisch vor und hat es gelassen. Er hat sich lange nicht daran gewöhnen können, dass sie die Luft nicht mehr schnuppert. Das war ihm als Erstes aufgefallen, vor zehn Jahren, kurz nach ihrem einundsechzigsten Geburtstag. Sie hatte lange nicht auf seine Fragen reagiert. „Schatz, riech doch!“, hatte er sie geneckt, bis sie eines Tages während eines Spaziergangs in Tränen ausgebrochen war. Sie röche nichts mehr, gar nichts, gar nichts, nicht mal den Pfefferminztee! Sie hing an ihm wie ein gebrochener Zweig. Der Arzt wies sie darauf hin, dass dies erste Anzeichen von Alzheimer sein könnten. Ob sie in letzter Zeit Schwierigkeiten mit der Orientierung oder mit gedanklichen Leistungen gehabt hätte? Die Reihe von Tests verheimlichte sie ihm. Er bekam aber doch genug mit. Die Sorgen, die Anspannung. Wochenlang hielt er die Luft an. An einem Abend fand er sie schließlich starr auf der Terrasse sitzen. Er dachte, sie teile ihm gleich mit, dass ein Gehirntumor entdeckt worden wäre. Sie reagierte wütend auf seine Erleichterung. „Ich hätte lieber einen Tumor“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „dann wär’ nächstes Jahr Schluss!“

 

Nun sind zehn Jahre vergangen. Er schaut an dem Haus hoch, das er gleich betreten wird, hoch zu ihrem Fenster. Das macht er immer, es ist wie eine Vergewisserung. Da wird er gleich sein. Er weiß, er wird auch in Zukunft dort hochschauen, wann immer er hier vorbeikommt und wenn es in zwanzig Jahren ist. Er wird denken, da war sie.

An einem Kaminsonntag haben sie gespürt, dass Sie die Verzweiflung bewältigen können und das Gefühl, es ist zu früh, viel zu früh. Das geht. Sie mussten sich auf die Zeit des Abschieds einrichten. Stückchenweise. Noch ging das, noch war ihr bewusst, welche Krankheit sie hat. Einer von beiden war immer gerade stark genug. Am Anfang war er es, war er voller Hoffnung. Die Medikamente, sein Wille und seine Ausdauer. Eine Überschätzung, wie sich herausstellte. Als er aufgeben wollte, ein gemeinsames Ende wollte, hat sie durchgehalten. „Bist du wahnsinnig? Was sollen die Tabletten und das Gefasel vom schnellen Tod? Meinst du, ich will zerquetscht in einem Schrotthaufen an einem Baum enden? Meinst du, ich will deinen Tod?“ Sie hat die Tabletten ins Klo geschüttet und ihm die Autoschlüssel versteckt. Sie mussten Bahn fahren! Erst Wochen später bekam er sie per Post zurück. Sie hatte sie einer Freundin nach Wien geschickt und darum gebeten, das Päckchen drei Wochen später an ihn zurückzuschicken. Zur Sicherheit. Hätte sie die Schlüssel zu Hause versteckt, hätte sie sie nicht mehr gefunden. Als das Päckchen mit dem Brief kam, verlor er die Fassung, schlug sich dumpf mit der Hand immer wieder an die Stirn und heulte zwei Stunden lang. Er hat sie bewundert für ihre Organisation und Sicherheit und sich für seine Schwäche geschämt. Und dafür, dass ihn die gelben, mit Datum versehenen Erinnerungszettel, die überall klebten oder herumlagen, in die Verzweiflung getrieben hatten. Wo sie doch Beweise ihres Mutes waren, Anker für Zeitpunkte, Wegweiser durch den Alltag, Haltegriffe für ihre Selbständigkeit.

Auch diese Zeit ist vorbei. Nur er verabschiedet sich von ihr. Seit sie in einem Heim ist, hat er begonnen, das Haus aufzugeben, und sich einer Selbsthilfegruppe angeschlossen. Auch das hatte sie noch in die Wege geleitet. Sie hatten gemeinsam das Heim ausgesucht. Schon Kontakt zu anderen Betroffenen geknüpft. Sie ginge nicht freiwillig in dieses Haus, wenn er sich nicht um sich kümmere! Sie hatte betont, dass ihr sehr wohl klar sei, dass das mit dem freien Willen bald vorbei wäre und er letztlich machen könne, was er wolle, aber sein schlechtes Gewissen solle ihn dann täglich so zerfressen wie das Eiweiß ihr Gehirn! In den ersten zwei Jahren der Krankheit hatte sie das Fluchen und Verfluchen gelernt! Die Wut war neu in ihrer beider Beziehung. Planungswut. Auflehnung. Ungeduld. Tränen der Wut. Wenn er abwägen oder abwarten wollte, bemerkte sie bissig: Er habe ja Zeit! Noch hatten sie die Verwandten nicht einbezogen. Erst als bei ihr die Zeit der häufigeren Verstörungen und Missstimmungen anbrach, mussten sie, musste er, den nahestehenden Freunden und Verwandten Bescheid sagen. Wenn sie unruhig umherlief, nach etwas suchend, von dem nur sie wusste, was es war und wobei er ihr nicht helfen konnte, oder wenn sie inmitten von begonnenen Handlungen nicht mehr weiterwusste, war er oft genauso hilflos, wie er sie empfand. Dann hangelte er sich mit ihr durch die Situationen. Manchmal stellte er sich vor, dass sie den Eindruck haben musste, als richte die Welt sich gegen sie, ohne ihr die Spielregeln mitzuteilen. Und als wäre das noch nicht genug, würde diese Welt, würde auch er, ständig Reaktionen von ihr erwarten.

Auch das ist jetzt vorbei. Sie ist fast friedlich. Es kommt ihm so vor, als habe sie meist einen inneren Ort, an dem sie sein konnte. Nur manchmal findet sie ihn nicht. Dann ist sie verwirrt. Und wenn sie sich an einem Ort wähnt, an dem sie nicht sein möchte, ist sie traurig. Nur noch zeitweise kann sie vollständige Sätze bilden. Sie betrachtet jeden Tag einen Gegenstand, den er ihr von zu Hause mitbringt und den er dann abends Herrn Walther übergibt, der Haushaltsauflösungen erledigt. Herr Walther hat eine Kiste für ihn aufgestellt und er kann einfach alles hineinlegen. Herr Walther flieht fast, wenn er kommt. Er ist es gewohnt, den Tod zu verwalten aber dem Sterben täglich zu begegnen, geht ihm zu nah.

Gestern war es ihr Fön. Er hatte ihr vorher die Haare gewaschen und dann ihren früheren Fön zum Trocknen benutzt. Sie sah sehr glücklich dabei aus, genoss die warme Luft. Er lässt sich gern anstecken von ihrem Glück, aber spätestens vor der Kiste durchfährt ihn fast jedes Mal ein Schmerzriss. Manchmal denkt er, er würde an dieser Stelle im Inneren wirklich einmal zerreißen, sie müsse schon ganz dünn sein.

Wenn sie weint, wie bei dem kleinen Steintopf, der auf ihrem Schreibtisch stand und die Stifte hielt, muss er mitweinen. Er kann nichts dagegensetzen, obwohl er in den ganzen Jahren vor ihrer Krankheit kein einziges Mal hat weinen müssen. Einmal hielt er sie im Arm, und sie fragte: „Warum weinen wir?“ Ihm fiel nichts anderes ein, als zu sagen: „Weil Tränen salzig sind!“ Da schmeckte sie ihren Tränen nach, und fing an zu lächeln.

Dafür liebt er sie. Er liebt in ihr das, was sie war, und er liebt das, was noch ist. Sie wird immer reduzierter, sie staunt, sie freut sich, sie ist traurig. Und er lernt, sich auch zurückzunehmen. Staunen reicht. Es zu spüren reicht. Mitzustaunen. Er weiß, er macht aus der Not eine Tugend, aber die Tugend ist ihm wichtig, egal, warum sie existiert. Anders könnte er die Zeiten nicht überstehen.

Er hat Angst vor dem letzten Stadium. Wenn sie ihre Sprache ganz verliert, wenn sie nicht mehr sitzen kann. Er wünscht sich, dass diese Zeit kurz werden wird. Er sinnt darüber nach, wie es ihm mit einem Baby gehen würde. Er würde sich vielleicht wünschen, dass es lange so herzig und abhängig bliebe. Was soll er aber an ihr lieben, wenn sie zum Baby wird?

Heute hat er eine Armbanduhr mitgebracht. Ihre Freundinnen haben schon vieles geschenkt bekommen, teilweise noch von ihr oder sie haben sich auf seinen Wunsch etwas ausgesucht. Diese Uhr ist übrig geblieben. Sie mochte sie nicht besonders, Gold trug sie fast nie, doch einmal musste es eine goldene Uhr sein, weil sonst nichts passte. Sie war sich nicht sicher, ob sie gleich etwas Anständiges nehmen sollte, für alle Fälle und für die Ewigkeit, oder etwas Günstiges für diesen einen Abend. Nun tastet sie über die Gliederkette und freut sich über deren fließende Gelenkigkeit.

„Was ist das? Es ist ... schilflich.“

„Deine Uhr. Man kann die Zeit ablesen. Wenn man will. Es ist gleich zwölf. Dann hole ich das Mittagessen.“

Sie spielt weiter mit der Uhr, streicht das Uhrenglas über die Lippen. Nach einer Weile nimmt sie seine Hand und sagt: „Mein Freund ...“ Er antwortet nicht und betrachtet beider Hände. Sie fragt überraschend klar: „Welche Farben haben deine Augen?“

„Blau. Wie deine“, er gibt ihr den Spiegel, „die Farbe des Himmels.“ Sie schauen beide hinein. 

Grabgedanken

Hans Petters, nun bald fünfzig Jahre alt, steht da und gräbt. Das Loch ist schon recht tief, zwei zur Hälfe mit Erde gefüllte gelbe Säcke stehen daneben. Würmer zucken und schlängeln sich, manche durchtrennt, manche im Ganzen. Käfer und Asseln suchen überrascht und verschreckt über die plötzliche Helligkeit nach gewohnten Gängen und Unterschlupf. Diese Steine! Immer wieder wird der Spaten jäh abgebremst. Das geht auf die Schultern. Als hätte jemand die Erde mit Bauschutt versetzt. Außerdem hat es zwei Tage geregnet. Schwerer kann graben nicht sein. Hans ist noch gut in Form, er spielt Fußball seit eh und je und arbeitet in seiner Freizeit oft im Garten und am Haus. Letzten Winterurlaub hatte er doch tatsächlich mit Skifahren begonnen, obwohl die Vereinskameraden gefleht hatten, er möge es nicht tun, seine Knie wären ohnehin schon angeschlagen, und was sollten sie ohne ihn machen. In dieser Altersgruppe steige keiner mehr in eine Mannschaft ein, das wüsste er, und sie wollten auch gar keinen Neuen.

Aber sie kannten seinen Sohn nicht. Seit der eine Skifreizeit mit seiner Klasse gemacht hatte, war er nicht mehr zu halten. Snowboarden ist seither ‚megakrass’ und muss geübt werden. Im Sommer skaten und surfen, das liegt Gott sei Dank nahe, den See haben sie vor der Haustüre. Und im Winter müssen sie eben in die Berge, solange sie mit ihrem Sohn zusammen Urlaub machen wollen.

Hans lässt sich oft überreden. Er weiß eigentlich, was er will, windet sich aber, und ein Nein gegenüber anderen oder eine klare Position für sich selbst hält er selten durch. Wenn zwei in verschiedenen Richtungen an ihm zerren, ist es besonders schlimm, dann ist es programmiert, dass ein Nein ausgesprochen und vollzogen werden muss. In diesem Fall war er dem Insistieren des Sohnes öfter ausgesetzt, das überwog die Vielzahl der Mannschafts-Stimmen. Er teilte ihnen seine Entscheidung zunächst auch gar nicht mit. Er schwieg früh genug, ließ sie in dem Glauben, ihre Argumente hätten gesiegt, indem er das eine oder andere Mal zustimmend nickte. Erst kurz vor Heilig Abend sickerte etwas durch. Seine Frau hatte mit einer anderen Fußballerfrau gesprochen ... Na ja, dann waren ein paar Anrufe fällig. Es ging. Lieber ein paar einzelne, ferne Gespräche, als dem Druck der kompletten Mannschaft standhalten müssen. Er hatte seine Kumpels beruhigt, gesagt, er fahre gar nicht Alpin, nur ein bisschen Langlauf mit seiner Frau. In Urlaubsstimmung, war ihm Langlauf dann doch zu langweilig. Er hatte sich zu einem Abfahrtskurs angemeldet. Wenn schon, denn schon. Einmal vor das Unausweichliche gestellt, funktioniert Hans wie ein Schweizer Uhrwerk. Als er zurückgekommen war, ohne Knieverletzung, mit den Fotos vom Abschluss-Slalom, hatte ja keiner mehr etwas sagen können.

Der Schweiß hat ein Dreieck auf seinen Rücken geklatscht. Sein Hemd hängt schon über der Hose und lässt etwas Luft an die Haut. Zum Ausziehen ist es noch zu kühl. Das Loch muss länger werden. Er gräbt an einer anderen Stelle weiter. Seine Form nutzt ihm nichts, es bleibt erschöpfende Schwerstarbeit. Muffiger, mineralischer Erdgeruch steigt ihm in die Nase. Er muss an seinen Bruder denken. Siegfried. Er war immer der Beste. Oh, der tolle Siegfried. Mit dem Heldennamen. Er selbst war eher der deutsche Hans. Oder der deutsche Depp. Hans bohrt sich weiter verbittert in seine Sicht der Dinge. Letztlich hat sie ihn hierher geführt, derentwegen muss er graben.

Held Siegfried hatte schon drei Jahre vor Hansens Ankunft in diese Welt alle Herzen in Beschlag genommen. Wie seine Eltern, nein die ganze Sippschaft bereits sieben Jahre auf Nachwuchs gewartet hatten, bis der Bruder sich ankündigte. Hans hört ihre Stimmen, wie sie verträumt, noch bis in beider Erwachsenenalter hinein sagen ‚sieben magere Jahre’, wenn sie Siegfrieds ansichtig wurden. Siegfried verkörperte hingegen die sieben fetten. In jungen Jahren noch, ohne es allzu wörtlich zu nehmen, aber später wurde der geflügelte Spruch für ihn Programm. Es war wohl unausweichlich, Siegfried wog in seinen Glanzzeiten sicher fast drei Zentner. Hans grinst hämisch. Darauf kann er fast als Einziges verzichten.

Siegfried selbst stört sein Gewicht hingegen nicht. Nichts konnte und kann seiner Vorherrschaft etwas anhaben, das bemerkt Hans immer wieder. Die drei Jahre als Einzelprinz – wie Hans ihn im Stillen noch immer nennt – mussten sein Selbstverständnis geprägt haben, Hans fühlte sich stets vom Älteren regiert, mit einem sicheren Gespür für eventuelle Risiken in Bezug auf seine höhere Stellung. Er allein weiß, wie trickreich sein Bruder den netten, großzügigen Kerl mimte. Nie wäre Siegfried offen fies gewesen, man konnte ihm nichts nachsagen, er hatte die Situation immer voll im Griff. Er witterte Besonderheiten wie Vampire den Knoblauch. Sobald er, Hans, im Begriff war, etwas Besonderes hervorzubringen, tat Siegfried es ihm nach, überholte ihn oft genug, zog mit ihm gleich und selbst wenn er erst kurze Zeit später eine ähnliche Leistung vorweisen konnte: Er schmälerte Hansens Triumph erheblich. Hans versuchte, besonders herablassend mit seinen Vorhaben umzugehen. Versuchte ganz locker zu bleiben, so dass man ihm die Anspannung keinesfalls anmerken konnte. Aber sein Bruder muss in seismographischer Beziehung zu ihm gestanden haben. Hans war sich sicher, dass jedes auch noch so kleine Beben seines Herzens, wenn er in Gedanken an ein Lob etwa Vorfreude empfand, von Siegfried registriert und auf seine Ursache abgeprüft wurde und er sofort Gegenmaßnahmen eingeleitet hatte. Tief ins Fleisch eingebrannt ist Hans die Geschichte mit dem Fahrrad. Leider kommt sie immer wieder hoch. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und sticht den Spaten wütend in den Boden. So würde er wenigstens gut vorankommen. Er war immer ganz gut im Schrauben und Werkeln, eigentlich war es sogar seine Domäne, seine einzige gegenüber Siegfried, dem Älteren. Er sieht sich als 12-Jährigen beim Fahrradgeschäft haltmachen, um in der Werkstatt zuzusehen. Der Fahrradhändler veranstaltete jedes Frühjahr Schraubkurse für Jugendliche ab 14, und Hans konnte es nicht abwarten, bis er alt genug sein würde, daran teilzunehmen. Er erinnert sich an Mutters Rad, sieht, wie es nach dem Winter zur Überholung schon einige Wochen im Weg herumstand, aber Vater sich bisher nicht aufraffen konnte, etwas daran zu machen. Er fühlte die Idee in sich anschwellen, die Eltern am Freitag mit einem reparierten Rad zu überraschen. Vater hätte weniger Arbeit und Mutter würde endlich nicht mehr die schweren Einkaufstaschen schleppen müssen. Siegfried musste seine Aufregung bemerkt und den Grund ausgemacht haben. Beim Abendessen schlug er den Eltern beiläufig vor, dass er Mutters Rad in Ordnung bringen könne. Hans könne natürlich mitmachen, wenn er wolle, er sei zwar jünger, aber darin sei er ja gut. Hans bleibt noch heute vor Zorn jedes Mal die Luft weg, wenn er daran denkt. Sein innerer Film spult sich weiter ab: Der kleine Hans schreit, das ist meine Idee gewesen. Sein Vater hebt besänftigend die Hände und sagt, dass es ihm egal sei, wessen Idee es gewesen ist, es wäre ein guter Vorschlag und er würde sich darüber freuen. Der kleine Hans kocht. Der große Hans kocht mit. Beide sind sich damals und heute einig: Siegfried würde nie mit dem Rad anfangen, er könnte es gar nicht! Also war es klug, erst einmal Zeit vergehen zu lassen. Hans findet, es wäre noch etwas zu retten, wenn die Eltern das Rad vergessen würden, und er es dann überholt und frisch poliert präsentieren könnte.

Fast zwei Wochen später ergab sich eine Gelegenheit. Siegfried, der Ältere, hatte einen langen Schultag und anschließend gleich Training, der kleine Hans dagegen früher Schluss. Er log Mutter an, er wäre bei seinem Freund, stürzte in den Keller und reparierte mit Inbrunst. Bevor Siegfried und auch Vater heimkamen, hatte er es geschafft. Doch entweder fand in ihm ein Herzbeben der Stärke sieben statt oder seine Zufriedenheit strahlte aus ihm heraus wie eine Tonne Plutonium. Siegfried merkte es irgendwie. Und noch bevor Vater in der Türe stand, hatte ihm Siegfried entgegen gerufen, er solle gleich in den Keller gehen, dort warte eine Überraschung auf ihn. Mutter schob er hinterher, er lässt ihr nicht einmal mehr Zeit, sich die vom Salatwaschen nassen Hände abzutrocknen.

Der große Hans starrt auf seine innere Leinwand. Er sieht die erfreuten Eltern in die Wohnung zurückkehren, er sieht den kleinen, heulenden Hans, einen fluchenden, sich das Schienbein reibenden Siegfried und, sobald sie die Eltern wahrgenommen hatten, hört er beide Jungs durcheinander schreien: Das hab ich gemacht ... nein, glaub ihm nicht, ich ganz allein.

Am nächsten Tag hatten die Eltern pädagogische Bilanz gezogen und Maßnahmen ergriffen: Hans sieht seinen Vater dicht bei ihm stehen, den Arm um ihn gelegt, er lobt sein Talent. Sagt dann: Siegfried, du meldest dich morgen beim Fahrrad-Franz an, hast ja offensichtlich technischen Nachholbedarf. Hans sieht Siegfrieds Strahlen.

Wenn Hans nur daran denkt, rinnt ihm außer dem kalten Schweiß auch kalte Wut den Rücken herunter. Kalt wie der Stahl der Grabschippe und ebenso hart. Wenn er doch nur zuerst geboren worden wäre! Es einmal erlebt hätte, dass er derjenige gewesen wäre, der ein Leuchten in den elterlichen Augen ausgelöst hätte. Selbst bei ganz normalen Lern- und Entwicklungsschritten wie dem Einmaleins bis zehn oder einem gelungenen Fallrückzieher oder dem Stimmbruch wurden bei Siegfried kleine Ereignisse gefeiert! Und bei ihm? Hat Mutter ein Foto von seinen ersten Schritten ins Album geklebt? Hat Vater überhaupt eines gemacht? Jaa, da gab es zwar erfreute, aber doch recht nüchterne Hinweise von Mutter an Hans, wie: Siehst du, jetzt kannst du es auch! Oder Vater: Siehst du, Hans, es ist doch gar nicht soo schwer ... Die haben es nie kapiert! Nicht er wollte sehen, dass er es kann! Dieses besserwisserische Gehabe! Darauf konnte er verzichten! Er wollte, dass die Eltern es sahen! Es war doch schließlich auch bei ihm ein erstes Mal. Er wollte, dass sie überrascht sind! Wie bei Siegfried: Guck mal, Schatz, hast du den Jungen gesehen, Teufel noch mal, was für ein Tor!

Mist, verdammter. Hans flucht vor sich hin. Dieses Scheißloch, wird nicht schnell genug größer. Siegfrieds Mieter aus dem Erdgeschoss, wie heißen die noch gleich, Siegfried hat sie immer nur seine Untermieter genannt, ganz sachlich, dabei wohnen die beiden schon länger bei ihm, na, die jedenfalls kommen bestimmt bald zurück. Freitags nachmittags fahren sie zu seiner kranken Mutter in die Heide, lösen seine Schwester ab, die sich die Woche über kümmert, und sonntags kommen sie wieder. Mehr weiß Hans eigentlich nicht. Hört sich ganz nett an. Welcher Mann kümmert sich um seine gebrechliche Mutter, wenn er eine Schwester hat, die die Pflege übernimmt. Aber Siegfried hatte dafür nur mitleidiges Achselzucken übrig. Ich würde es nicht machen, sollte das heißen, wozu gibt es Heime. Zum Glück würde Hans nun nicht mehr in Verlegenheit kommen, solche Dinge mit seinem Bruder besprechen zu müssen.

Es ist tatsächlich Bauschutt, der hier aufgefüllt wurde, da ist sich Hans inzwischen sicher. Er hatte zwar dem Bruder damals mehr als genug bei dessen Bau geholfen, aber daran kann er sich nicht erinnern. Das kompliziert die Sache, damit hat er nicht gerechnet. Warum gräbt er auch so nah am Haus. Muss er überhaupt graben? Er überdenkt noch einmal seine Entscheidung. Wäre das Beste. Kann man umgegrabene Erde nicht noch wochenlang nachher ausmachen? Sind Gärten nicht das übliche Versteck? Sie würden irgendwann hier suchen und das sollen sie schließlich. Nein, er muss sich beeilen. Wozu hat er schließlich seine Muskeln, irgendwann muss sich ja mal rechnen, dass er die bessere Form hat. Und überhaupt scheint der Tag sich ja – von dieser Graberei und dem Gallegeschmack abgesehen - heute in einen Glückstag verwandelt zu haben. Da wird es nicht an so einem blöden Loch scheitern. Beflügelt von dem Plan, der ihn hierher geführt hat, und dem zur rechten Zeit richtig entschlüsselten Wink des Schicksals schaufelt er weiter.