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jour fixe initiative berlin (Hg.)
Theorie des Faschismus –
Kritik der Gesellschaft

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Die jour fixe initiative berlin sind:
Isabell Armbrust, Jochen Baumann, Elfriede Müller, Alexander Ruoff,
Gerhard Spaney, Stefan Vogt und Udo Wolter.

jour fixe initiative berlin (Hg.)

Theorie des Faschismus –
Kritik der Gesellschaft

U N R A S T

© UNRAST Verlag, Münster 2000
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Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Umschlag: unart, Veit Schiele, Berlin
Satz: Jörn Essig-Gutschmidt, Münster

Inhalt

jour fixe initiative berlin
Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft

Stefan Vogt
Gibt es einen kritischen Totalitarismusbegriff?

Enzo Traverso
Die Intellektuellen und der Antifaschismus.
Für eine kritische Geschichtsschreibung

Jan Weyand
Zur Aktualität der Theorie des autoritären Charakters

Moshe Zuckermann
Faschismus, autoritärer Charakter und Kulturindustrie

Udo Wolter
Postkolonialismus.
Ein neues Paradigma kritischer Gesellschaftstheorie?

Ulrich Bröckling
Totalitätslehren der Zwischenkriegszeit
Die Doktrin des »totalen Krieges« zwischen
1918 und 1945

Jochen Baumann
Produktivität und Vernichtung

Elfriede Müller
Republikanischer Nationalismus und Faschismus
in Frankreich

Klaus Holz
Die Verknüpfung von Rassismus, Nationalismus
und Antisemitismus in der Dritten Republik.
Am Beispiel von Édouard Drumont

Alexander Ruoff
Science Fiction und bürgerliche Utopie –
Zukunftsvorstellungen nach Auschwitz

Die AutorInnen

jour fixe initiative berlin

Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft

Alle hier versammelten Aufsätze gehen der Frage nach, welchen Beitrag eine Theorie des Faschismus zur Kritik der heutigen Gesellschaft leisten kann. Sie stellen sich die Aufgabe, ein theoretisches und praktisch-politisches Problem anzugehen: Wenn die Faschismen eine Transformation der bürgerlichen Gesellschaft darstellen, die im Nationalsozialismus so weitgehend war, dass von einem Bruch mit der bisherigen Geschichte gesprochen werden kann, dann muss eine aktuelle Kritik der Gesellschaft sich genau mit dieser Dialektik von Kontinuität und Bruch, die der Nationalsozialismus bewirkt hat, auseinander setzen. Eine derartige Theorie des Faschismus ist eine Voraussetzung für die Kritik der Gesellschaft. Sie muss, will sie eine wirksame Kritik heutiger Vergesellschaftung leisten, Kontinuität und Differenz der bürgerlichen Gesellschaft zum Faschismus und zu seinen Nachfolgern analysieren können, ohne mit Begriffen zu hantieren, die wie »Faschisierung«, »Postfaschismus« oder »autoritärer Staat« bereits von vornherein die Logik des Verhältnisses von Geschichte und Gegenwart festlegen. Die hier veröffentlichten Beiträge stellen sich dieser Aufgabe. Sie wurden zum größten Teil im Rahmen der gleichnamigen Veranstaltungsreihe der jour fixe initiative berlin zwischen November 1998 und Mai 1999 als Vorträge gehalten.

Faschismustheorien scheinen seit einiger Zeit ziemlich aus der Mode gekommen zu sein. Sie gelten allgemein als Marotte der siebziger Jahre, der untergegangenen Arbeiterbewegung und der Epoche des Kalten Krieges zugehörig. Die seinerzeit dominanten Ansätze, die sich an der Faschismustheorie der III. Internationalen orientierten, waren in ihrer Erklärungskraft allerdings ziemlich begrenzt. In aller Regel subsumierten sie die einzelnen faschistischen Regime unter einem allgemeinen Faschismusbegriff und ignorierten damit den besonderen Charakter des Nationalsozialismus, den Hannah Arendt als Herrschaftsform sui generis bezeichnete. Die Faschismen und der Nationalsozialismus wurden von ihnen nur funktional als Werkzeug der kapitalistischen Herrschaft analysiert.

Mit diesen Ansätzen sind jedoch auch die wenigen kritischen Faschismustheorien verschwunden. Gerade aber die heutige Zeit, die diese Theorien überwunden zu haben glaubt, steht für ihre ungebrochene Aktualität. Die Elemente faschistischer Ideologie sind nach wie vor virulent. Dies zeigt nicht nur die Renaissance rechtsextremer Bewegungen in ganz Europa, sondern auch die zunehmende Verbreitung von Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus und Autoritarismus in weiten Teilen der Bevölkerungen. Insbesondere in Deutschland wird außerdem durch den diskursiven Bezug auf Auschwitz eine neue nationale Formierung betrieben, sei es in der Art Martin Walsers als Forderung nach einem Schlussstrich, sei es in der Art Joschka Fischers und Rudolf Scharpings als Legitimation für eine offensive und inzwischen auch wieder kriegerische deutsche Außenpolitik.

Die Aufsätze in diesem Band »Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft« analysieren diese Entwicklungen mit dem Instrumentarium der Kritischen Theorie und neuerer poststrukturalistischer Theorien. Ohne eine Theorie des Faschismus, so unsere der Veranstaltungsreihe zugrunde liegende These, kann es auch heute keine Kritik der Gesellschaft geben. Der historische Faschismus zwingt eine kritische Gesellschaftstheorie dazu, ihre Bedingungen zu reflektieren, und er zwingt ihr zugleich ihren zentralen Gegenstand auf: die Möglichkeit eines Umschlags der Zivilisation in die Barbarei. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Band eine doppelte Frage diskutiert: Welche Konsequenzen haben kritische Gesellschaftstheorien aus dem Faschismus für das Schicksal der bürgerlichen Gesellschaft und für die heutige postfaschistische Epoche gezogen? Und: wie sehen die Bedingungen der Möglichkeit kritischer Philosophie und Gesellschaftstheorie nach Auschwitz aus?

Die AutorInnen untersuchen unterschiedliche theoretische Ansätze nach ihren kritischen Potenzialen. Der Band versammelt deshalb Aufsätze, die sowohl die Aktualität kritischer Faschismustheorien beleuchten, als auch auf dieser Grundlage gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen untersuchen. Im Mittelpunkt stehen dabei Interpretationen, die sich auf die Kritische Theorie der »Frankfurter Schule« einerseits, auf die Theorien des Poststrukturalismus andererseits beziehen. In dieser Hinsicht knüpft der Band an die vorhergehende Reihe über »Kritische Theorie und Poststrukturalismus« an.1

Für die Kritische Theorie ist der Nationalsozialismus nicht allein ein fundamentaler Einschnitt in die Geschichte der Zivilisation, sondern auch in diejenige der Philosophie. Adorno zufolge stellt Auschwitz die Möglichkeit von Philosophie grundsätzlich in Frage und begründet gleichzeitig ihre ungebrochene Notwendigkeit. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Theorie des Geschichtsprozesses. Auch wenn man davon ausgeht, dass sich die bürgerliche Gesellschaft nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus weitgehend restauriert hat, so können die gesellschaftlichen Grundlagen nach 1945 nicht mehr dieselben sein wie davor. Tatsächlich hat der Nationalsozialismus eine autoritäre Modernisierung der deutschen Gesellschaft geleistet. Zwar wurde die kapitalistische Vergesellschaftung im Nationalsozialismus keineswegs außer Kraft gesetzt, doch schlug, der Kritischen Theorie zufolge, in der Vernichtung der Juden die ökonomische Rationalität in Irrationalität um. Damit stehen allerdings nicht allein die traditionellen Begriffe von Ökonomie, Politik oder Gesellschaft zur Disposition. Nach Auschwitz stellt sich die Frage, ob nicht die Kategorie der Totalität selbst totalitär ist. Denn wenn die bürgerliche gesellschaftliche Synthesis in reine Herrschaft aufgelöst ist, dann wäre auch die Totalität keine kritische, sondern nurmehr eine affirmative Kategorie. Die Kritische Theorie fordert deshalb dazu auf, die Begriffe der theoretischen Kritik auch gegen diese Begriffe selbst zu wenden.

Die TheoretikerInnen des Strukturalismus und des Poststrukturalismus ziehen aus dem Faschismus die Konsequenz, dass eine Geschichtsphilosophie nur noch affirmativ möglich sei und geben deshalb den Begriff der Totalität ganz auf: Gesellschaftskritik muss ohne sie auskommen. Stattdessen werden die konkreten Herrschaftstechniken analysiert, die dem Faschismus zugrunde liegen. Der Schwerpunkt verlagert sich dabei von der Ebene der Makromächte auf diejenige der Mikromächte. Im Zentrum stehen die Techniken der Disziplinierung und die diskursiven Praktiken der Herrschaft und deren Dekonstruktion. Gerade hier ergeben sich Möglichkeiten, mit einer diskursanalytischen Faschismustheorie zur Kritik gegenwärtiger Gesellschaft beizutragen.

Im vorliegenden Band wird diese Problematik von der Perspektive beider Theorietraditionen aus beleuchtet.

Stefan Vogt stellt die Frage, ob es einen kritischen Begriff des Totalitären gibt und untersucht dafür die Theorien von Max Horkheimer, Franz Neumann und Hannah Arendt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass alle drei das Totalitäre des Nationalsozialismus darin erkennen, dass er die Möglichkeiten seiner Überwindung tendenziell vernichtet.

Enzo Traverso zieht in »Die Intellektuellen und der Antifaschismus. Für eine kritische Geschichtsschreibung« eine kritische Bilanz des antifaschistischen Engagements der Intellektuellen während der dreißiger und vierziger Jahre. Er verteidigt den intellektuellen Antifaschismus gegen neuere Angriffe als die Voraussetzung für Demokratie in Europa.

Jan Weyand stellt in seinem Beitrag Überlegungen zur Aktualität der Theorie des autoritären Charakters an und betont, dass trotz einiger Veränderungen die Grundelemente dieser Charakterstruktur weiterhin dieselben sind wie zur Zeit der Abfassung der Studie.

Auch Moshe Zuckermann beschäftigt sich mit Adornos Konzept des autoritären Charakters. Er stellt in »Faschismus, autoritärer Charakter und Kulturindustrie« heraus, dass dieses Konzept sowie die Theorie der Kulturindustrie wesentlich zur Erfassung des Gesamtmodus kapitalistischer Gesellschaft heute beitragen können.

Udo Wolter stellt in »Postkolonialismus. Ein neues Paradigma kritischer Gesellschaftstheorie?« die zentralen Begriffe und Kategorien des Postkolonialismus dar und untersucht, ob diese ihrem eigenen Anspruch genügen, den postfaschistischen Identitätsdiskurs aufzubrechen.

Ulrich Bröckling betrachtet den Nationalsozialismus im Anschluss an Foucault als Disziplinargesellschaft und zeigt, wie sehr die militärische Zuverlässigkeitsproduktion Teil der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik war.

Jochen Baumann analysiert die Transformation der deutschen Sozialpolitik durch den Nationalsozialismus und kritisiert gleichermaßen Modernisierungstheorie wie Kontinuitätsthese.

Elfriede Müller geht in ihrem Beitrag den Wurzeln des Faschismus in Frankreich nach. Sie untersucht die gegenwärtige Bedeutung rechtsextremer Ideologie und Praxis in Frankreich aus der Kontinuität des französischen Nationalismus heraus und dementiert den Mythos eines progressiven französischen Nationskonzeptes.

Klaus Holz analysiert in »Die Verknüpfung von Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus in der Dritten Republik. Zum Beispiel Édouard Drumont« die antisemitische Konstruktion von »Rasse« und »Nation« anhand des einflussreichen antisemitischen Klassikers und zeigt die Systematik der Verknüpfung von Rassismus und Nationalismus, die für den modernen Antisemitismus typisch ist, auf.

Alexander Ruoff fahndet in den trivialen Vorstellungen der Zukunft nach Spuren des Ereignisses Auschwitz.

Nach Auschwitz, so der gemeinsame Ausgangspunkt der Aufsätze des Bandes, kann es keine kritische Theorie der Gesellschaft geben, die nicht den Faschismus zum zentralen Moment ihres Denkens hat. Alle kritische Philosophie nach Auschwitz hat diesem Umstand Rechnung getragen. Eine solche ist deshalb implizit immer auch Faschismustheorie, oder umgekehrt: Die theoretische Reflexion des Faschismus ist die Grundlage für alle Philosophie in kritischer Absicht.

jour fixe initiative berlin

Stefan Vogt

Gibt es einen kritischen Totalitarismusbegriff?

Einleitung

Den Überlegungen dieses Aufsatzes liegt die Behauptung zugrunde, dass eine kritische Theorie des Faschismus – oder des Nationalsozialismus – auch ein Instrument zur Kritik heutiger Gesellschaft ist. Wenn dem so sein soll, dann darf diese Theorie das Verhältnis von Faschismus und bürgerlicher Gesellschaft nicht in den Kategorien von Identität oder Antinomie festschreiben oder voraussetzen, sondern sie muss sich der Analyse dieses Verhältnisses widmen. Eine solche kritische Theorie des Faschismus muss in der Lage sein, Konvergenzen und Divergenzen, vielleicht sogar Differenzen des historischen Faschismus zur Nachkriegsdemokratie zu erfassen.

Die Totalitarismustheorie scheint diesem Anspruch nun in keiner Weise zu genügen. Ihre Entwicklung und Popularisierung nach dem Zweiten Weltkrieg stand unter der Prämisse, den angeblich unüberwindlichen Gegensatz zwischen Totalitarismus und bürgerlicher Demokratie zu beweisen. Insofern steht die Totalitarismustheorie im Kontext der westlichen Politikwissenschaft und nicht in dem einer kritischen Philosophie. Wenn es in diesem Beitrag dennoch um den Totalitarismus geht, dann wird damit unterstellt, dass sich hinter diesem Begriff mehr als nur ein politikwissenschaftliches, sondern ein gesellschaftstheoretisches und philosophisches Problem verbirgt.

Einen ersten Hinweis darauf bietet der Umstand, dass der Begriff des Totalitarismus keineswegs allein der westlichen Politikwissenschaft der Nachkriegszeit zuzuordnen ist. Geprägt wurde er in der italienischen antifaschistischen Publizistik der zwanziger Jahre. In den dreißiger Jahren tauchte er dann in den Schriften des Instituts für Sozialforschung auf. Unter anderem Max Horkheimer und später Franz Neumann scheinen ihm einige Erklärungskraft zugesprochen zu haben.

Während jedoch niemand ernsthaft der Idee verfiele, Horkheimer und Neumann als »Totalitarismustheoretiker« zu definieren, so ist dies für Hannah Arendt in Bezug auf ihr Werk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« durchaus gängig. Dennoch hat sie mit den Kritischen Theoretikern mindestens eines gemeinsam. Anstatt von »Totalitarismus« ist in ihrem Buch, abgesehen vom Titel der amerikanischen Originalausgabe, eigentlich immer die Rede von »totalitär« – totalitärer Herrschaft, totalitärer Bewegung, totalitärer Sprache usw. Und dies unterscheidet sie, ebenso wie Horkheimer, fundamental von der Politikwissenschaft.

Anhand dieser drei Theoretiker soll nun also der Frage nach dem kritischen Potenzial weniger des Totalitarismusbegriffs als des Begriffs des Totalitären nachgegangen werden. Der Unterschied ist entscheidend, denn er stellt klar, dass es sich in diesem Falle nicht um einen Typusbegriff handelt, sondern um die Bezeichnung einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungstendenz. Sie besteht darin, dass die Möglichkeiten einer Veränderung der Gesellschaft zum Besseren abgeschnitten werden. Dies ist, trotz unterschiedlichster philosophischer Ausgangspositionen, der maßgebliche Inhalt dieses Begriffs bei der Kritischen Theorie wie auch bei Hannah Arendt. Sowohl die bürgerliche Aufklärung, als auch der Sozialismus aller Schattierungen basierte demgegenüber auf der Annahme, dass die Gesellschaft die Bedingungen für ihren Fortschritt selbst bereitstelle. Andererseits lassen sich durch die Verschiedenheit der drei Ansätze auch diejenigen Aspekte deutlicher herausarbeiten, die die Beschäftigung mit den Theorien von Horkheimer, Neumann und Arendt über das Totalitäre zu einer Sache der kritischen Revision machen.

Max Horkheimer

Zunächst einmal jedoch zu Max Horkheimer. Bei Horkheimer ist wie im gesamten Institut für Sozialforschung die für den Faschismus verwendete Terminologie nicht gerade eindeutig. Nebeneinander ist hier von autoritärem Staat, totalitärem Staat und Faschismus, später von Staatskapitalismus und integralem Etatismus die Rede. Mit dem Begriff des Totalitären partizipierte Horkheimer an einem in den dreißiger Jahren durchaus üblichen Sprachgebrauch im linken antifaschistischen Diskurs. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wenn man die Sache darauf beruhen ließe. Denn schließlich re-etablierte sich die Kategorie der Totalität seit Anfang des 20. Jahrhunderts wieder als die zentrale Kategorie der marxistischen Dialektik. Es war vor allem Georg Lukács, der, wie er selbst später sagte, dieser Kategorie »wieder jene Zentralstelle zuwies, die sie in den Werken von Marx immer hatte.«2

Allgemein ist unter dem marxistischen Begriff der Totalität die Vorstellung eines objektiven Geschichtsprozesses zu verstehen, in dem die Gegenwart mit der Vergangenheit und mit der Zukunft in einem nicht kontingenten Verhältnis steht. In den Schriften Max Horkheimers der dreißiger Jahre vollzieht sich nun aber, im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, ein merklicher Bedeutungswandel dieses Begriffes. Seine Aussagen über den totalitären Staat und über die totalitäre Staatsauffassung stehen im direkten Kontext des sich wandelnden Totalitätsgedankens, und sie sind nur in diesem Zusammenhang zu verstehen.

Die Ausgangsposition für diese Entwicklung findet sich paradigmatisch in Horkheimers Rede zur Übernahme der Institutsleitung im Jahre 1931.3 Horkheimer argumentierte in seiner Kritik der bürgerlichen Wissenschaftskonzeption gegen eine Trennung von Philosophie und Einzelwissenschaften und beschrieb damit seine Vorstellung von »Totalität«. Diese Trennung, so Horkheimer, werde »gegenwärtig durch den Gedanken einer fortwährenden dialektischen Durchdringung und Entwicklung von philosophischer Theorie und einzelwissenschaftlicher Praxis überwunden.« Dies geschehe, »indem die Philosophie als aufs Allgemeine, ›Wesentliche‹ gerichtete theoretische Intention den besonderen Forschungen beseelende Impulse zu geben vermag und zugleich weltoffen genug ist, um sich selbst von dem Fortgang der konkreten Studien beeindrucken und verändern zu lassen.«4

Michael Koltan hat bereits darauf hingewiesen, dass diese Konzeption mit dem Begriff der Totalität bei Hegel oder Lukács herzlich wenig, mit bürgerlichen Wissenschaftsvorstellungen aber sehr viel zu tun hatte.5 Wichtiger im vorliegenden Zusammenhang ist der Umstand, dass Horkheimer darin noch weitgehend einem ungebrochen aufklärerischen Verständnis von Philosophie und einem positiven Begriff von Totalität anhing. Dieses Verständnis ging davon aus, dass es nur darauf ankomme, den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu erkennen, um ihn dann bewusst gestalten zu können. Die gesellschaftliche Totalität kam demnach durch die begreifende und verändernde Tätigkeit der Individuen zustande.

In den frühen dreißiger Jahren richtete sich die Kritik Horkheimers zunächst gegen die Metaphysik und damit gegen die idealistische Philosophie, die besonders in Deutschland seit der Französischen Revolution den philosophischen Rationalismus bekämpfte. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gebe es eine neue Welle dieses Antirationalismus, der unter Preisgabe aller kritischer Momente sich zum Irrationalismus gewandelt habe. Dieser Irrationalismus sei, so Horkheimer, »mit einer totalitären Staatsauffassung eng verbündet (…)«.6 Er warf der Metaphysik eine pessimistische Haltung und ihre Tendenz vor, die realen Verhältnisse zu verschleiern. Indem sie die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung und gesellschaftlichen Fortschritts leugne, spiegle sie verkehrterweise »die Verlegenheit einer die Kräfte hemmenden Gesellschaftsform als Ohnmacht der Menschheit wider«7 und helfe so mit, diese Veränderungen zu verhindern.

Dieser Pessimismus schöpfte sich nach Horkheimer aus der idealistischen Vorstellung, dass die gesellschaftliche Totalität schon fix und fertig vorhanden sei und deswegen als solche auch erkannt werden könne. Dem stellte Horkheimer sein Konzept des Materialismus als eines offenen Forschungsprogramms entgegen. Die Totalität, als die Überwindung der Differenz von Begriff und Gegenstand der Gesellschaft, liege nicht bereits vor, sondern müsse durch die gesellschaftliche Praxis, deren Teil die Philosophie sei, erarbeitet werden. »Die Wissenschaft ist ein Inbegriff von Versuchen«, so Horkheimer, »die Spannung zwischen Begriff und Gegenstand »auf die verschiedenste Weise zu überwinden.«8

Horkheimers Kritik am Idealismus hatte gute Gründe. Nicht allein, dass die irrationalistischen Philosophien sich als Vorläufer und Bundesgenossen des mittlerweile an die Macht gelangten Nationalsozialismus entpuppten. Er kritisierte zu Recht die idealistische Vorstellung einer tatsächlichen Identität von Begriff und Gegenstand, die die Grundlage aller objektivistischen Ideologien bis hin zum Rassismus der Nazis abgab. Horkheimer wurde jedoch bald klar, dass er damit noch nicht den Kern der »totalitären Staatsauffassung« erfasst hatte. Insbesondere aber wurde seine rationalistische, beinahe positivistische Gegenposition zur Metaphysik mehr und mehr problematisch, damit jedoch auch sein bisheriges Verständnis von »Totalität«. Hintergrund dafür war die Entwicklung des Nationalsozialismus zu einem stabilen Herrschaftssystem, die Horkheimer vom Exil aus verfolgen musste. Denn diese Entwicklung dementierte ganz offensichtlich den geschichtsphilosophischen Optimismus, den Horkheimer bis dahin an den Tag gelegt hatte.

Bereits in seinem Aufsatz »Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie« von 1934 richtete sich die Kritik Horkheimers nicht mehr allein gegen den Irrationalismus, sondern auch gegen den Rationalismus. Beide philosophischen Strömungen seien Spielarten des Idealismus, weil sie die Existenz ewiger und letzter Wahrheiten behaupteten, die durch geistige Abstraktion oder seelische Intuition in Erfahrung zu bringen seien. »Solche endgültigen Bestimmungen des Denkens und seines Gegenstandes«, urteilte Horkheimer, »die von der geschichtlichen Situation und den in ihr gestellten theoretischen Aufgaben absehen, liegen der gesamten idealistischen Philosophie zugrunde. Sie enthalten alle einen dogmatischen Begriff von Totalität.«9

Wenn der philosophische Rationalismus einem dogmatischen Begriff von Totalität huldigte, so galt dies ebenso für Horkheimers bisheriges, sehr positives Wissenschaftsverständnis. Seit der Mitte der dreißiger Jahre wandte sich Horkheimer dann auch immer vehementer gegen den Positivismus.10 Horkheimers philosophische Umorientierung mündete schließlich in seiner 1947 gehaltenen Vorlesung »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft«. Darin warf er dem Positivismus einen radikalen Konformismus gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit vor, der demjenigen des Idealismus in nichts nachstehe.11 Beide Philosophien, so gegensätzlich sie schienen, hätten einen gemeinsamen Kern, der in der spezifischen gesellschaftlichen Situation zu suchen sei. Sie ließen sich nicht gegeneinander ins Feld führen und gehörten beide zur ideologischen Konstellation, die in den Faschismus führte.

Hinter dieser Entwicklung machte Horkheimer einen fundamentalen Wandel der Vernunft aus. Sie sei von einer objektiven zu einer subjektiven und schließlich zu einer rein instrumentellen Kategorie geworden. Als solche wende sie sich gegen die Subjekte und schlage schließlich in Unvernunft um, und dies war offensichtlich im Nationalsozialismus der Fall. Horkheimer versuchte in der »Kritik der instrumentellen Vernunft« herauszuarbeiten, dass der Rationalismus nicht vom Irrationalismus verdrängt, sondern dass er selbst zu Irrationalismus geworden war. Kritische Philosophie konnte sich demnach nicht mehr ungebrochen auf die Vernunft beziehen, denn diese hielt nicht nur die Befreiung der Menschen bereit, sondern auch ihren eigenen Umschlag in Irrationalität. Die gesellschaftliche Totalität bot damit aber keine Ansatzpunkte mehr dafür, sich aus ihrer eigenen dialektischen Widersprüchlichkeit heraus zum Besseren zu entwickeln. In der Konsequenz nahm die Philosophie ein negatives Verhältnis zur gesellschaftlichen Totalität ein: »Theorie erklärt wesentlich den Gang des Verhängnisses.« 12

Dieser negative Begriff der Totalität schlug sich auch in Horkheimers Analysen der politischen Ökonomie nieder. In diesem Sinne bekam die beinahe parteikommunistisch anmutende These von der Kontinuität der bürgerlichen Gesellschaft im Nationalsozialismus eine neue Bedeutung. Wenn Horkheimer erklärte: »Der Faschismus ist nicht wider die bürgerliche Gesellschaft, sondern unter bestimmten historischen Bedingungen ihre konsequente Form«13, dann war dies auch gegen die Behauptung gerichtet, der Kapitalismus bringe die Mittel seiner Überwindung schon selbst hervor, und der Nationalsozialismus sei womöglich noch ein Teil davon. Im Gegensatz zur Faschismustheorie der III. Internationale war von Horkheimer damit eine paradoxe Erkenntnis formuliert, denn im selben Text stellte er das »Ende der bürgerlichen Gesellschaft«14 fest. Angesichts einer fundamentalen Krise werde die Zirkulationssphäre liquidiert und damit diejenige Instanz vernichtet, die die Trennung von Staat und Gesellschaft und damit die Existenz einer bürgerlichen Demokratie und eines liberalen Kapitalismus ermöglichte. Die immanenten Mechanismen gesellschaftlicher Veränderung waren damit ausgeschaltet.

Das Ende der bürgerlichen Gesellschaft wurde von Horkheimer nicht mehr als Zusammenbruch im marxistischen Sinne gefasst, sondern nur noch als Umschlag. Der Begriff des Totalitären zielte auf diesen gesellschaftlichen Zustand, der aus einem Umschlag ohne Zusammenbruch hervorging. Die bürgerliche Gesellschaft wird totalitär in dem Moment, in dem sie sich vollständig durchgesetzt hat, und sie ist dann keine bürgerliche Gesellschaft mehr. Mit der Etablierung einer totalitären Ordnung durch den Nationalsozialismus war sie in dem Sinne an ihr Ende gekommen, dass sie keine fortschrittliche Entwicklung mehr ermöglichte. Sie hatte ihre eigenen emanzipatorischen Potenziale eliminiert. Horkheimers Begriff des Totalitären könnte dementsprechend zugespitzt werden. Weil im Nationalsozialismus Rationalität zu Irrationalität geworden war, war hier die Dialektik des historischen Prozesses stillgestellt.

In der bürgerlichen Gesellschaft hatte sich diese Dialektik wesentlich im Widerspruch von aufklärerischer Philosophie einerseits und kapitalistischer Ökonomie andererseits gezeigt. Während die Aufklärung die Freiheit und Gleichheit der Individuen postulierte, dementierte die Ökonomie dieses Postulat beständig. Im Faschismus war dieser Widerspruch nun außer Kurs gesetzt. »Der Faschismus«, schrieb Horkheimer in »Die Juden und Europa«, »ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft, die von der Theorie von Anfang an getroffen war. Er fixiert die extremen Unterschiede, die das Wertgesetz am Ende produzierte. (…) Der gleiche und gerechte Tausch hat sich selbst ad absurdum geführt, und die totalitäre Ordnung ist dies Absurdum.«15 An dieser Stelle knüpfte die Theorie des Antisemitismus an. Der Antisemitismus ist diejenige Ideologie, in der die emanzipatorischen Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft denunziert und in Gestalt der Juden buchstäblich vernichtet werden sollen. Der Antisemitismus war die genuine Ideologie des totalitären Staates, und er wurde deshalb für die Kritische Theorie zu einem zentralen Ansatzpunkt ihrer Analyse des Nationalsozialismus.

In den Versuchen Horkheimers, die politische Ökonomie des Faschismus in Begriffe zu fassen, verschwammen die Erkenntnisse über das totalitäre Wesen des Nationalsozialismus allerdings wieder. Diese Versuche basierten auf Rudolf Hilferdings Schriften über den »Organisierten Kapitalismus«, jener Theorie, die den Monopolkapitalismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als krisenhafte und finale Phase des kapitalistischen Weltsystems interpretierte. Vor diesem Hintergrund erschien der Faschismus bei Horkheimer nurmehr als Variante einer weltweiten Entwicklungstendenz hin zum autoritären Staat oder, in den Begriffen Friedrich Pollocks, zum Staatskapitalismus. Darin übernahm der autoritäre Staat die Funktion des ausgeschalteten Marktes und »hypnotisiert die Krise für die Dauer des ewigen Deutschland.«16 Die von Pollock und Horkheimer vertretene These eines Primats der Politik analysierte den Nationalsozialismus in den traditionellen Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft und vermochte das Neue gerade nicht zu fassen, das in der Auflösung von Politik und Ökonomie bestand. In Horkheimers Schrift »Autoritärer Staat« firmierte der Faschismus dann auch lediglich als eine »Mischform« zwischen Privat- und Staatskapitalismus, und es wurde eine Tendenz hin zum »integralen Etatismus« konstatiert, als den Horkheimer die Sowjetunion bezeichnete. Dies bedeutete eine Zurücknahme der geschichtsphilosophischen Thesen und der gesellschaftstheoretischen Sonderstellung, die Horkheimer dem Nationalsozialismus im Begriff des Totalitären zugewiesen hatte. Anstatt einer neuen Gesellschaftsform stellte er nurmehr wieder eine Etappe im kapitalistischen Krisenprozess dar, der nun freilich nicht mehr zur gesellschaftlichen Emanzipation tendierte.

Franz Neumann

An genau dieser Stelle griff nun Franz Neumann in die Diskussion ein. Während Max Horkheimer, von philosophischen und philosophiegeschichtlichen Fragestellungen her kommend, seinen Blick erst nach und nach auf die politische Ökonomie des Nationalsozialismus richtete, bildete für Franz Neumann gerade dies den Ausgangspunkt. In seiner Studie »Behemoth«17 verwendete auch er den Begriff des Totalitären – er sprach vom totalitären Staat und von der totalitären Monopolwirtschaft. Gerade was die Wirtschaftsstruktur des Nationalsozialismus angeht, bestanden dabei durchaus erhebliche Differenzen zwischen Neumann und Horkheimer. Es soll hier jedoch gezeigt werden, dass Neumann, der vor der Veröffentlichung des »Behemoth« jahrelang am Institut für Sozialforschung gearbeitet hatte, trotzdem zu einem sehr ähnlichen Begriff des Totalitären gelangte.

Neumann wandte sich ausdrücklich gegen den von Horkheimer im Anschluss an Friedrich Pollock für den Nationalsozialismus verwendeten Begriff des »Staatskapitalismus«. In einem Brief an Horkheimer schrieb er im Juli 1941: »Ich tue seit einem Jahr nichts anderes als die ökonomischen Prozesse in Deutschland zu studieren und ich habe bisher nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür gefunden, daß sich Deutschland auch nur annähernd in einem staatskapitalistischen Zustand befindet.«18 Statt dessen bezeichnete Neumann die nationalsozialistische Ökonomie als »totalitäre Monopolwirtschaft«. Dies beinhaltete nach seinen Worten folgendes: »Sie ist eine Monopolwirtschaft – und eine Befehlswirtschaft. Sie ist eine privatkapitalistische Ökonomie, die durch einen totalitären Staat reglementiert wird.«19

Neumann brachte mit diesem Begriff den eigentlich kritischen Gehalt der Faschismusanalysen des Instituts für Sozialforschung wieder zum Vorschein, der durch Pollocks Formel vom »Staatskapitalismus« verschüttet worden war. Es war sicher nicht eine veränderte Eigentumsordnung, die das Wesen des Nationalsozialismus ausmachte. In Neumanns Begriff der »totalitären Monopolwirtschaft« kam zum Ausdruck, dass hier nicht eine Übernahme der Ökonomie durch den Staat stattgefunden hatte, sondern dass die Grenzen zwischen Ökonomie und Staat aufgehoben wurden. Staatliche und wirtschaftliche Eliten, die Neumann in die vier Machtblöcke der Partei, der Wehrmacht, des Großkapitals und der Bürokratie unterteilte, waren immer weniger zu unterscheiden.20 Staat und Wirtschaft durchdrangen sich gegenseitig und orientierten sich auf ein gemeinsames Ziel: die Vorbereitung des »totalitären Krieges«21, wie Neumann formulierte. Dadurch wurden die inneren Widersprüche stillgestellt, die der Kapitalismus ansonsten aus sich selbst heraus produzierte.

Während die Rede vom »Staatskapitalismus« den Eindruck erweckte, dass der Nationalsozialismus lediglich die Stufe eines allgemeinen Prozesses sei, gab ihm Neumanns Analyse seine spezifische geschichtsphilosophische Bedeutung zurück. Er bestritt die fundamentale Zusammengehörigkeit von totalitärer Herrschaft und bürgerlicher Gesellschaft keineswegs, vielmehr war sein ganzes Werk darauf ausgerichtet, den kapitalistischen Charakter des Nationalsozialismus zu beweisen. Gerade aber indem er darauf beharrte, betonte er weit konsequenter als Horkheimer die Neuartigkeit und die Singularität des Nationalsozialismus. Denn eine Ordnung, die die Grundlagen des Kapitalismus zerstörte und die zugleich kapitalistisch blieb, konnte nicht nur eine bloße Weiterentwicklung der bürgerlichen Gesellschaft sein.

Neumann brachte durch seine Analyse der nationalsozialistischen Wirtschaft die Belege für Horkheimers These bei, dass der Nationalsozialismus die Dialektik des historischen Prozesses stillgestellt habe. Gerade diese These wollte Neumann nun aber um keinen Preis akzeptieren. »Diese zutiefst pessimistische Ansicht«, so erklärte Neumann, »wird vom Autor nicht geteilt. Er glaubt, dass die Widersprüche des Kapitalismus in Deutschland auf einem höheren und deshalb auch gefährlicheren Niveau wirksam sind, auch wenn diese Widersprüche durch einen bürokratischen Apparat und durch die Ideologie der Volksgemeinschaft verdeckt werden.«22 Hier sprach der marxistische Sozialdemokrat Neumann, der die Hoffnung auf einen sozialistischen Umsturz auch im Nationalsozialismus nicht aufgeben wollte. Der »Behemoth« bestätigte nun aber gleichzeitig eindrucksvoll die Stabilität des Nationalsozialismus und seine Fähigkeit, die Arbeiterklasse dauerhaft in sein System zu integrieren. Für diesen stabilen Zustand, der wesentlich auf der Verschränkung von monopolkapitalistischer Wirtschaft und totalitärem Staat beruhte, hatte Neumann selbst den durchaus angemessenen Begriff der totalitären Monopolwirtschaft gefunden.

Neumann bestätigte die These von der Stabilität des Nationalsozialismus noch in einem weiteren Punkt. Auch im Bereich des Politischen hatte der totalitäre Staat alles beseitigt, wodurch in einer bürgerlichen Gesellschaft soziale Konflikte zum Ausdruck gelangen konnten. Ein »Reich von Recht und Gesetz«, so Neumann, gebe es im Nationalsozialismus nicht.23 Deshalb existiere auch ein Staat im klassischen Sinne nicht mehr, als Monopolist der öffentlichen Gewalt und als Garant irgendeiner Form von Recht. »Unter dem Nationalsozialismus hingegen«, schrieb Neumann, »ist die gesamte Gesellschaft in vier festgefügten zentralisierten Gruppen organisiert, von denen jede nach dem Führerprinzip operiert und ihre eigene legislative, administrative und judikative Gewalt besitzt. Weder ein allgemeines Gesetz noch eine rationale Bürokratie sind zur Integration erforderlich. Kompromisse zwischen den vier autoritären Organen brauchen weder in einem Gesetzestext niedergelegt noch institutionalisiert zu werden (…). Es reicht völlig aus, wenn die Führung der vier Flügel sich informell auf eine bestimmte Politik einigt. Sodann bringen die vier totalitären Organisationen diese Politik mit den ihnen zur Verfügung stehenden Apparaten zur Durchführung.«24

Neumanns Modell beinhaltet zunächst die Erkenntnis, dass die Aufspaltung der Macht in die vier totalitären Organisationen, in Partei, Wehrmacht, Großkapital und Bürokratie, keineswegs zu einer Destabilisierung des Nationalsozialismus geführt, sondern entscheidend zur Festigung des Systems beigetragen hatte. Alle vier waren sie demselben Ziel verpflichtet, der Vorbereitung und der Durchführung des totalitären Krieges. Hinzuzufügen wäre, dass in diesem Ziel die Vernichtung der Juden einen zentralen Platz einnahm. Das Modell beinhaltete außerdem die Einsicht, dass der Nationalsozialismus in dem Sinne totalitär war, dass aus seiner politischen und rechtlichen Struktur heraus kein Zerfall zu erwarten war. Neumanns Schlussfolgerung, dass der Nationalsozialismus deshalb kein Staat sei, erscheint hingegen etwas voreilig. Zwar waren Recht, Gesetz und einheitlicher Zwangsapparat nicht mehr vorhanden, doch haben die traditionellen Herrschaftsinstanzen des Staates sogar eine immense Ausdehnung erfahren. Der Staat war nicht verschwunden, sondern er hatte sich über seine bürgerlichen Grenzen hinaus ausgedehnt und verschmolz mit der Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Widersprüche wurden durch die totalitären Organisationen und ihre antisemitische Zielsetzung nicht nur verdeckt, sondern außer Kurs gesetzt. Neumanns eigene Erkenntnisse ließen also den Schluss zu, dass es sich beim Nationalsozialismus durchaus um einen totalitären Staat handelte.

Entgegen seiner eigenen Intention hatte Neumann im Behemoth gezeigt, dass die Strukturen, die der Nationalsozialismus ausbildete, keinerlei Handhabe zu seiner Überwindung boten. Im Gegenteil. Neumann bestätigte die pessimistischen Annahmen, zu denen Horkheimer in seinen philosophischen Überlegungen gekommen war. Neumanns Begriff des Totalitären bezeichnete so denselben Tatbestand wie derjenige Horkheimers. Die gesellschaftliche Totalität war im Nationalsozialismus in einen Zustand eingetreten, der aus sich heraus keine Veränderung zum besseren mehr ermöglichte. Im Nationalsozialismus war die gesellschaftliche Totalität zum Programm und zur Praxis der Vernichtung geworden.

Hannah Arendt

Wenn sich diese Ausführungen nach Horkheimer und Neumann nun noch Hannah Arendt zuwenden, so soll sie damit nicht in die Kritische Theorie der »Frankfurter Schule« eingemeindet werden. Bei allen durchaus vorhandenen Gemeinsamkeiten liegen die theoretischen Grundpositionen zu weit auseinander. Dennoch muss man zugeben, dass auch Hannah Arendt eine kritische Theorie des Nationalsozialismus vorgelegt hat. Denn auch sie schlug sich mit dem wenig eindeutigen Verhältnis von Nationalsozialismus und bürgerlicher Gesellschaft herum. Und auch für sie stand der Holocaust im Zentrum dieser Auseinandersetzung sowie der Versuch, die geschichtsphilosophische Bedeutung dieses Ereignisses zu bestimmen.

Im folgenden soll dargelegt werden, dass Hannah Arendt ebenfalls zu einem kritischen Begriff des Totalitären gelangte, und dass die entscheidenden Aspekte dieses Begriffs auf denselben Beobachtungen beruhen, wie sie auch Horkheimer und die Kritische Theorie machten, wenngleich von einer anderen Perspektive. Davon, dass Arendt mit dem Begriff des Totalitären auch den Stalinismus meinte, soll deshalb erst einmal abgesehen werden. Zu prüfen wäre außerdem, ob durch ihre Analyse die Aussagen der Kritischen Theorie ergänzt und präzisiert werden können. Den größten Teil von Hannah Arendts Buch über »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«25 macht die Darstellung der Genese totaler Herrschaft aus. In zwei umfangreichen Kapiteln beschäftigte sie sich zuerst mit dem Antisemitismus, dann mit dem Imperialismus. Indem Arendt in vielen Strängen und in großer Genauigkeit die Vorgeschichte der totalen Herrschaft verfolgte, betonte sie deutlich das Moment der Kontinuität zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Nationalsozialismus. Vor allem verortete sie die Dynamik dieser Entwicklung im Zwang des Kapitals zur Expansion. Dieser Zwang drückte sich im überseeischen wie im kontinentalen Imperialismus aus und wurde, Hannah Arendt zufolge, zu einer Ideologie der Expansion um der Expansion willen verdichtet. Der Zwang des Kapitals zur Expansion und der daraus resultierende Imperialismus bildeten noch in einem viel grundsätzlicheren Sinne die Grundlage für totale Herrschaft. Er zerstörte nämlich die bisherigen sozialen und geistigen Bindungen der Menschen und verwandelte die Gesellschaft in eine Massengesellschaft. Er verabsolutierte damit die bereits in der Klassengesellschaft vorhandene Vereinzelung zu einer radikalen Entwurzelung und Verlassenheit. Totale Herrschaft war nach Arendt die dieser Massengesellschaft adäquate politische Form. Sehr deutlich wird hier, wie sehr Arendt die totale Herrschaft aus der bürgerlichen Gesellschaftsform und der Entwicklungsdynamik des Kapitalismus erwachsen sah. Gleichzeitig stellte sie jedoch einen klaren Bruch fest. »Insofern die totalitären Bewegungen«, so Arendt, »ungeachtet der Herkunft ihrer Führer, den Individualismus sowohl der Bourgeoisie wie des von ihr erzeugten Mobs liquidieren, können sie mit Recht behaupten, daß sie die ersten wirklich antibürgerlichen Parteien in Europa darstellen.«26

Diese Widersprüchlichkeit analysierte Hannah Arendt nun in bezug auf das Verhältnis von Rationalität und Irrationalität in den politischen Strukturen des Nationalsozialismus. Die totalitäre Organisationsform der Bewegung war demnach nicht allein gegen die bürgerliche Institution der Partei gerichtet, deren Orientierung an rationalen Interessenkonstellationen und deren rationale parteiinterne Strukturen sie durch eine irrationale Bindung an den Führer ersetzte. Sie richtete sich vor allem gegen den Staat, der auch in Form einer Diktatur noch Rudimente rationaler politischer Praxis, Rudimente von Recht enthielt.27 Dennoch herrschte, Arendt zufolge, im Nationalsozialismus nicht Gesetzlosigkeit und Willkür. Vielmehr etablierte die totale Herrschaft eine neue Art von Gesetz. Die totalitären Machthaber behaupteten, damit zu den Quellen der Autorität zurückzukehren, von der sich das positive Recht erst ableiten musste. Hannah Arendt nannte dies die Gesetze von Natur und Geschichte, für die ein viel höheres Maß an Rationalität beansprucht wurde als für das positive Recht. Die totalitären Machthaber behaupteten nämlich, »eine Welt herstellen zu können, die von sich aus, unabhängig vom Handeln der Menschen in ihr, gesetzmäßig ist, in Übereinstimmung mit den die Welt eigentlich durchwaltenden Gesetzen funktioniert«.28

Hannah Arendt beschrieb hier die totalitäre Identität von Rationalismus und Irrationalismus, die auch in Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft zum Vorschein kam. Wie sehr das nationalsozialistische »Gesetz der Natur« aus der bürgerlichen Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts, aus Darwinismus und Idealismus sich speiste, wird aus ihrer Darstellung der Ursprünge totaler Herrschaft mehr als deutlich. Dennoch hatte die Herrschaft, die auf dieses Gesetz sich berief, »die Kontinuität abendländischer Geschichte unterbrochen«29, wie Arendt selbst es formulierte. Sie sah mit dem Nationalsozialismus das »Ende des bürgerlichen Zeitalters«30 erreicht. Viel stärker noch als die Kritische Theorie betonte Arendt diesen Bruch. An die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft trat für Arendt eine neue Staatsform, die die Grundlagen aller bisherigen gesellschaftlichen Verhältnisse systematisch zerstörte. »Das eigentliche Ziel der totalitären Ideologie«, schrieb Arendt, »ist nicht die Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz und nicht die revolutionäre Neuordnung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern die Transformation der menschlichen Natur selbst, die, so wie sie ist, sich dauernd dem totalitären Prozeß entgegenstellt.«31

Die entscheidende Veränderung, die von der totalen Herrschaft erzwungen wurde, war die Zerstörung der menschlichen Spontaneität. Dies ist eine zentrale Kategorie im Denken Hannah Arendts, die sie als die Fähigkeit beschrieb, »eine Reihe von vorne anfangen zu können«.32 Sie meinte damit allerdings nicht die Idee des bürgerlichen Individualismus, die ja gerade zum Kristallisationspunkt der instrumentellen Vernunft geworden war. Diese Form des Individualismus sah Arendt viel eher im irrationalen Rationalismus des Nationalsozialismus am Werk. Mit der Spontaneität wollte Hannah Arendt hingegen die Möglichkeit verteidigen, Fehler zu machen, in Widersprüchen zu denken, sich der »Tyrannei des zwangsläufigen Schlußfolgerns«33 zu entziehen. Mit der Spontaneität war nicht nur die Grundlage jeglicher Freiheit dahin, sondern auch die Möglichkeit, die Gesellschaft von innen heraus zu verändern.

Arendt beschrieb ausführlich die Mechanismen, mit denen der Nationalsozialismus die Spontaneität zerstörte. Zunächst waren dies die totalitären gesellschaftlichen Organisationsformen und die totalitäre Propaganda. Der wichtigste Mechanismus aber war der Terror, den sie als das »Wesen der totalitären Herrschaft«34 bezeichnete. Der Ort, an dem die Zerstörung der menschlichen Spontaneität tatsächlich gelang, war das Konzentrationslager. »Die Lager«, schrieb Arendt, »dienen nicht nur der Ausrottung von Menschen und der Erniedrigung von Individuen, sondern auch dem ungeheuerlichen Experiment, unter wissenschaftlich exakten Bedingungen Spontaneität als menschliche Verhaltensweise abzuschaffen und Menschen in ein Ding zu verwandeln, das unter gleichen Bedingungen sich immer gleich verhalten wird, also etwas, was selbst Tiere nicht sind«.35 Die Konzentrationslager waren das Modell und das Ideal der totalitären Herrschaft. In ihnen waren die Menschen allesamt überflüssig, zu »Exemplaren der tierischen Spezies Mensch«36 gemacht worden.

Unter solchen Bedingungen wird Handeln unmöglich. Hannah Arendt formulierte hier von ihrem existentialontologischen Standpunkt aus eine ganz ähnliche Einsicht wie die Kritische Theorie. Im Nationalsozialismus, und zwar genau genommen im nationalsozialistischen Konzentrationslager, in dem das totalitäre Ideal an den Opfern erprobt wurde, wurde die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung vernichtet. Arendt reflektierte dies auf der Ebene des Bewusstseins dieser Opfer, und sie nannte diesen Zustand »Verlassenheit«. Totalitär war auch für sie der Zustand einer Gesellschaft, in der sich keine Hoffnung auf Besseres mehr auffinden ließ, weil die Wege, die zum Besseren hätten führen können, abgebrochen waren.

Weit klarer als Horkheimer stellte Hannah Arendt den Bruch heraus, den der Nationalsozialismus mit der bürgerlichen Gesellschaft und innerhalb der gesamten Menschheitsgeschichte markierte. Gleichzeitig zeigte sie deutlich auf, dass die totalitäre Herrschaft in der europäischen Geschichte wurzelte, in der antisemitischen Ideologie und in der imperialistischen Ökonomie. Weil sie aber die Vorstellung eines historischen Prozesses, einer Totalität der Geschichte ablehnte, nahm diese Vorgeschichte keinen systematischen Platz in ihrer Geschichtsphilosophie ein. Der grundsätzlichen Bedeutung, die dem Totalitären für die Geschichte ohne Zweifel zukam, konnte Hannah Arendt nur Rechnung tragen, indem sie den Nationalsozialismus schließlich doch zu einem Typus von Herrschaft gerinnen ließ. Dadurch war später die Möglichkeit eröffnet, auch den Stalinismus unter den Begriff des Totalitären zu fassen. Dennoch scheint gerade Arendts Begriff des Totalitären der Gefahr einer Verflachung zur allgemeinen Zustandsbeschreibung moderner Gesellschaften mehr entgegenzusetzen zu haben als derjenige etwa Max Horkheimers, und zwar deshalb, weil sie den Ballast einer deterministischen Theorie der politischen Ökonomie nicht mit sich schleppte. Vielleicht war dies auch dem Umstand geschuldet, dass ihr philosophischer Ansatz die Kategorie der Totalität nicht kannte. In Hannah Arendts Theorie des Totalitären zeigt sich jedenfalls noch einmal die ganze Ambivalenz des Totalitätsbegriffs. Er ist zugleich Voraussetzung und Hindernis einer solchen Theorie des Totalitären.

Schluss

Wenn hier noch einige abschließende Überlegungen über diese Theorie des Totalitären angestellt werden sollen, so müssen diese von der Beobachtung ausgehen, dass bei allen drei behandelten Theoretikerinnen und Theoretikern eine gemeinsame Erkenntnis über das Wesen des Nationalsozialismus vorliegt, und zwar unabhängig von ihren teilweise erheblich unterschiedlichen philosophischen Perspektiven. Es ist dies die Erkenntnis, dass der Nationalsozialismus die Möglichkeiten für seine Überwindung, für eine gesellschaftliche Veränderung zum Besseren, abschneidet. Deshalb stellt er einen Bruch in der Kontinuität des historischen Prozesses dar. Gleichzeitig ist die Ordnung, die sich auf diese Weise etabliert, ohne jeden Zweifel aus der bürgerlichen Gesellschaft erwachsen. Es ist diese Dialektik von Kontinuität und Bruch, die den Kern des Totalitären für Horkheimer, für Neumann und für Arendt bildet.

Worin liegt aber nun der hier behauptete kritische Gehalt dieses Begriffes für die heutige Gesellschaft? Dies soll an drei Punkten erläutert werden. Erstens an den Konsequenzen, die aus dem Begriff des Totalitären für die Vorstellungen des Geschichtsprozesses und der Totalität erwachsen. Zweitens an der Frage, wie seit Auschwitz, seit die totalitären Tendenzen zu einem realen Herrschaftssystem geworden sind, ein Entrinnen überhaupt noch zu denken ist. Und drittens schließlich daran, ob auch nach dem Ende des Nationalsozialismus vom Totalitären noch die Rede sein kann.

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