Mirjam Mous

Virus

Wer aufgibt, hat verloren

Aus dem Niederländischen
von Verena Kiefer

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Mirjam Mous,
geboren 1963 in Made in den Niederlanden, arbeitete als Sonderschullehrerin, bevor sie hauptberuflich Schriftstellerin wurde. Sie schreibt Bücher für Kinder und Jugendliche und ist besonders bekannt für ihre mitreißenden Thriller. Ihr erster Jugendroman »Boy 7« wurde verfilmt und lief 2015 in den deutschen Kinos.

Weitere Bücher von Mirjam Mous im Arena Verlag:
Boy 7 – Vertraue niemandem. Nicht einmal dir selbst
Room 27 – Zur falschen Zeit am falschen Ort
Password – Zugriff für immer verweigert
Crazy Games – Der perfekte Tag, der in der Hölle endet

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1. Auflage 2016
© für die deutschsprachige Ausgabe 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Virus«
bei Van Holkema & Warendorf, Bouten.
© 2015 Van Holkema & Warendorf/Unieboek The Netherlands
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
Covergestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80578-8

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Teil 1

FLÜCHTEN

Wer vor dem Feuer wegläuft, fällt ins Wasser.

(Jüdisches Sprichwort)

1

Du kommst mir vor wie Opa.« Hopper grinst und schaut kurz zur Seite. »Der kann auch nicht ohne Nickerchen.«

Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und knurre wie ein Hund.

Wie lange habe ich gepennt? Lange genug, um in einer komplett anderen Umgebung aufzuwachen. Den Asphalt mit den gelben Streifen haben wir hinter uns gelassen und fahren nun auf einer schmalen, gewundenen Bergstraße unter tiefschwarzem Himmel.

»Sind wir hier auch richtig?«, frage ich und rieche an meiner Hand.

»Der Karte nach ist das die kürzeste Strecke.«

»Auch die schnellste?«

Meine Worte gehen im Lärm eines plötzlich einsetzenden Platzregens unter. Hopper schaltet die Scheibenwischer ein. Obwohl sie auf höchster Stufe stehen, können sie die Wassermassen kaum bewältigen. Es ist fast wie in einer Waschstraße – nur steht der Wagen nicht still. Er fährt, und das nicht gerade langsam. Am liebsten würde ich Hopper bitten, das Tempo zu drosseln – nasser Asphalt ist glatt und hinter jeder Kurve kann uns einer entgegenkommen. Aber wenn man meinen Cousin um etwas bittet, macht er meistens das Gegenteil, also halte ich wohlweislich den Mund.

Seinen linken kleinen Finger hat er im Lenkrad eingehakt, die restlichen Finger benutzt er, um sein Tabakpäckchen festzuhalten und sich eine Kippe zu drehen. Dass man in einem Mietwagen nicht rauchen darf, ist ihm egal. Wenn es nach Hopper geht, sind Regeln nur dazu da, sie zu brechen.

Ich liebe Regeln. Sie sorgen für Klarheit und geben mir Ruhe und Halt. In einer übersichtlichen, vorhersehbaren Situation leide ich weniger unter meinen Tics.

Bei diesem Unwetter mit Hopper im Auto zu sitzen, ist ganz sicher keine beruhigende Situation. Die Scheiben sind in null Komma nichts beschlagen und trübe. Ich öffne mein Fenster einen Spalt und lasse die Klimaanlage blasen, was zwar hilft, aber letztlich auch keinen großen Unterschied macht, denn selbst mit freien Scheiben sehen wir kaum mehr als ein paar Meter vor uns.

Die aufregende Fahrt ist ein gefundenes Fressen für meinen Tourette. Ich knurre nicht nur, sondern zucke auch noch mit beiden Augen. Früher wurde das belächelt, aber damals dachten sie noch, ich wäre ein normales Kind, das bloß noch nicht richtig zwinkern kann. Heute bezeichnen sie mich als Freak und lachen mich aus. Manchmal mitten ins Gesicht. Aber meistens hinter meinem Rücken, angeblich, weil sie mich nicht verletzen wollen – als wäre jemand mit Tourette taub und blind. Im Gegenteil, ich höre und sehe gerade alles. Flüstern oder Brüllen, prasselnder Regen oder das Knistern eines Tabakpäckchens – bei mir kommt alles überlaut an.

Hopper leckt am Blättchen, zupft den Tabak ab, der an den Enden übersteht, und steckt sich die Kippe zwischen die Lippen. Dann fischt er sein Feuerzeug aus dem Päckchen.

»Fuck.«

Das Zippo ist ihm aus den Fingern gerutscht. Er tastet mit der Hand unter seinen Oberschenkeln.

»Da, bei deinen Füßen«, sage ich.

Er schaut nach unten und streckt den Arm aus. Ich setze mich wieder aufrecht hin, lehne den Kopf an und … kriege einen wahnsinnigen Schrecken. Da ist ein Mann auf der Straße!

»Stopp!«, höre ich mich schreien.

Hopper kommt hoch. Er flucht und steigt in die Eisen, die Reifen quietschen, die Luft wird aus meinen Lungen gepresst und ich denke, anhalten, anhalten, jetzt halt doch an, aber das Auto schlittert einfach weiter, geradewegs auf den Mann zu.

Ich stemme mich in den Sitz, eine Hand am Armaturenbrett. Mit der anderen umklammere ich den Griff über meiner Tür. Dann kommt der Aufprall. Es fühlt sich an, als käme der Schlag direkt aus meinem eigenen Herzen. Der Mann rutscht über die Motorhaube auf uns zu, dann wieder von uns weg und landet mit einem Rums auf der Straße. Ich habe eine Höllenangst davor, dass wir ihn auch noch überrollen, aber das Auto bleibt rechtzeitig stehen. Nur die Scheibenwischer schwenken weiter hin und her und fegen die Tropfen zur Seite, immer wieder, und nach jedem Wischen sehe ich den Mann auf der glänzenden Straße liegen. Vor lauter Angst, Tourette könnte mich zwingen, ihn anzufassen, traue ich mich nicht auszusteigen. Meine Augen zucken, ich recke den Nacken und knurre.

Hopper flucht. Das Tabakpäckchen ist auf seinen Schoß gefallen. Wütend schlägt er es von sich.

»Was sollen wir machen?« Die Panik gellt in meiner Stimme. »Wir müssen was machen. Nasse Sachen. Wasserdrachen.«

Hopper rüttelt an der Tür. Er scheint nicht mehr zu wissen, wo was ist, denn erst geht das Fenster auf, dann die Tür. Er steigt aus. Im gebündelten Scheinwerferlicht geht er zu dem Mann.

Ich kann immer noch nicht normal atmen. Vor meinen Augen tanzen schwarze Flecken und ich verliere fast das Bewusstsein. Zuck, zuck, zuck. Tür auf! Ich steige aus und sauge die frische Luft tief ein. Regen trommelt auf meine Schultern und schmale Wasserbäche rinnen mir in den Kragen. Mein Körper kommt wieder zu sich. Gänsehaut.

Hopper stupst den Mann mit der Schuhspitze in die Seite. Er trägt einen roten Trainingsanzug und giftgrüne Sportschuhe. Der Mann, meine ich – Hopper trägt Jeans und Cowboystiefel aus nachgemachtem Krokodilleder. Ich tippe darauf, dass der Mann ein Jogger ist, aber im Moment bewegt er sich nicht gerade viel.

»Lebt er noch?«, frage ich angespannt, während ich in sicherer Entfernung bleibe.

Hopper geht in die Hocke und legt dem Mann die Fingerspitzen an den Hals. Ein paar Augenblicke, dann stößt er einen unterdrückten Schrei aus und fasst sich an den Kopf.

Da ist was im Busch, registriert mein Gehirn. Sei still, kusch!

»Was für ein Idiot«, sagt Hopper aufgebracht. »Wer geht denn auch bei dem Sauwetter joggen?!«

Als wäre der Mann selbst schuld, dass er tot hier liegt.

Jetzt erst dringt es ganz zu mir durch: Ich schaue also gerade auf eine Leiche. Blitzartig sehe ich auch mich selbst tot auf dem Boden liegen. Ich denke an Leichen im Film und in Fernsehserien, die aufstehen, sobald der Regisseur »Cut« ruft. Hopper liebt Filmleichen.

Eine Leiche ist kein Mensch, sondern ein Ding. Ich brauche es nicht anzufassen, nicht einmal, wenn es noch keine Armlänge von mir entfernt liegt. Eigentlich will ich auch gar nicht hinschauen, aber es geht nicht anders: Ich kann meinen Blick einfach nicht davon losreißen. Die Leiche liegt ein paar Meter vor dem Auto, die Beine seltsam angewinkelt. Das Gesicht ist bleich und die blonden Haare kleben am Schädel. An einer Seite sind sie nass und dunkel, als würde etwas auf sie tropfen. Regenwasser und Blut, versuche ich, mich selbst zu beruhigen – aber dann muss ich an dieses dämliche Spiel denken, das wir früher im Gruselzeltlager spielten, und sofort bekomme ich diesen anderen Gedanken nicht mehr aus dem Kopf, den Gedanken an tropfende Hirnmasse.

Ich beuge mich vor und übergebe mich in die Böschung.

Hopper steht plötzlich neben mir und klopft mir auf den Rücken. Ich wische mir den Mund mit meinem klatschnassen Ärmel – eins – ab und reibe mir – zwei, drei – über die Augen. Dann sehe ich die Bewegung am Berghang. Erst glaube ich noch an eine Kuh oder eine Gämse, aber die laufen nicht auf zwei Beinen. Ein Mann oder eine Frau, jedenfalls steigt die Gestalt ziemlich schnell zur Straße hinunter.

»Da hat jemand den Aufprall gehört«, sage ich.

Hopper zögert keine Sekunde. »Weg hier.«

Die Türen stehen noch offen. Vor lauter Nervosität gehe ich zur Fahrerseite. Ich könnte mir selbst vor den Kopf schlagen und will kehrtmachen.

»Egal. Gib Gummi.« Hopper sitzt schon auf meinem Platz.

Laut muhend steige ich ein. Meine Muskeln zittern. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt fahren kann …«

»Nöl nicht rum«, schnauzt Hopper. »Gas!«

Aber ich habe alles vergessen, was ich während Hoppers Fahrstunden gelernt habe, schalte gleich hoch in den Zweiten und würge den Motor fast ab.

»Schalten, du Depp!« Aufgebracht zerrt Hopper an seiner Lederjacke.

Hastig schalte ich zurück. Ich gebe jetzt so viel Gas, dass das Auto einen Satz nach vorn macht und ich den Mann fast noch einmal anfahre.

»Rückwärts!«, schreit Hopper.

Keine Ahnung, wie, aber es klappt. Ich lenke den Wagen um die Leiche herum und rausche wie ein Kamikazefahrer im Affenzahn über die Bergstraße, während ich bete, nur keinen weiteren Joggern zu begegnen. Mein Mund murmelt unablässig und über meine Wangen rollen Tränen. Ich weiß schon jetzt, dass ich morgen noch mehr Nackenschmerzen haben werde als sonst, denn ich kann nicht aufhören, meinen Hals zu recken.

Hopper stellt das Radio an, wahrscheinlich, damit er mein Gejammer nicht mehr anhören muss. Er selbst ist ganz anders veranlagt, er schimpft lieber.

Die Musik wirkt aufputschend, ich drücke das Gaspedal tiefer durch. Die feuchte Kühle, die durch das geöffnete Fenster hereinweht, strafft die Haut in meinem Gesicht. Hopper hämmert weiter auf den Lautstärkeregler ein, bis sich der Ton verformt und die Boxen fast durchknallen. Ich kann mich kaum noch denken hören und starre auf die Lichtbündel der Scheinwerfer. Wo sie enden, verschwindet die Straße hinter den Felsen. Wenn ich nicht schnell genug am Steuer reiße, stürzen wir in den Abgrund.

Ich schaffe es – dankedankedanke – gerade noch schnell genug.

Aus meiner Nase läuft Rotz. Ich ziehe ihn wieder hoch. Meine Knochen sind durchgefroren, trotzdem schwitze ich wie ein Otter. Fahren, Kris, Katzenschiss, Ärgernis, schneller und schneller. Weg von diesem elenden Ort! Ich knurre und zucke. Wir fahren, ich weiß nicht, wie lange. Ich nehme unzählige Kurven und besiege sie alle.

Aber dann kommt plötzlich eine, die ich unterschätzt habe.

2

Ich reiße am Steuer. Augenblicklich verlieren die Reifen die Bodenhaftung und der Wagen gerät ins Kreiseln. Wir drehen uns und drehen immer weiter, es scheint kein Ende zu nehmen. Wir streifen ein Verkehrsschild – ich höre Metall an Metall schrappen –, dann schlittert der Wagen mit dem Heck zur Böschung und wir rutschen rücklings den Berg hinab. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich umklammere das Lenkrad, boingboingboing machen die Räder, wo geht die Reise hin, tingeling?

»Mach was, du Stümper!«, ruft Hopper. Dann sacken die Hinterräder in irgendeine Kuhle. Der Wagen neigt sich nach hinten und bleibt abrupt stehen.

Bäng!

Wir werden in die Sitze gedrückt und federn wie Dummies beim Crashtest wieder nach vorn. Der Motor setzt aus, aber das Radio dudelt weiter. Als Hopper es ausschaltet, wird es ohrenbetäubend still. Sogar Tourette hält mal kurz die Schnauze.

Benommen taste ich nach meiner pochenden Stirn. An meiner Augenbraue sickert etwas. Blut? Tutnichtgut. Ich glaube, ich bin mit dem Kopf auf das Lenkrad gedonnert. Warum ist dieser blöde Airbag nicht aufgegangen? Ich bin todmüde und alles tut weh.

Hopper hat noch genug Energie, um auf das Armaturenbrett einzutreten und mich zu verfluchen.

»Fahrlehrer, kein Verehrer!«, ruft Tourette.

»Tut mir leid«, sage ich heiser.

Hopper versetzt der Tür noch einen Stoß mit dem Ellenbogen. Dann hat er sich endlich ausgetobt.

Der grüne Aufkleber auf der Frontscheibe taucht wie ein Pop-up in meinem Augenwinkel auf. Ich schaue auf die Telefonnummer, die darauf steht – 24 STUNDEN ERREICHBAR IN NOTFÄLLEN.

»Was machen wir?«, frage ich. »Europcar anrufen und sagen, dass wir einen Unfall hatten?«

»Wo hast du denn deinen Verstand gelassen?«, schnauzt Hopper und fährt dann ruhiger fort: »Erst mal aussteigen und schauen, wo wir sind.«

Ich bin fix und fertig. Ich will sitzen bleiben, wieder einschlafen und morgen erst wach werden, und will, dass dann nichts passiert ist.

Hopper versucht, seine Autotür zu öffnen. Als er es nach mehreren Flüchen und daran hämmern noch nicht geschafft hat, wagt er einen Fluchtversuch durchs Fenster. Er kauert auf dem Sitz und zwängt sich rückwärts durch die schmale Öffnung. Ich höre zwei dumpfe Schläge seiner Hände auf dem Dach. Bummbumm – schönes Geräusch ist das.

Dann hockt er im Fenster – halb drinnen, halb draußen – und ich sehe nur noch seinen Bauch und die Beine. Sein Kopf scheint SleepyHollowHopper verschwunden, aber er ist noch da, denn er sagt etwas Unverständliches.

»Was?«, frage ich.

Er beugt sich zur Seite, damit er besser zu hören ist.

»Du bist in einen Entwässerungskanal gefahren, Trottel.«

»Es tut mir leid«, sage ich noch einmal.

Hopper hört es schon nicht mehr. Er vollführt akrobatische Kunststücke – Oleg Popow lässt grüßen – und er schafft es oben auf das Auto.

Dann benutzt er das Dach als Sprungbrett und landet mit einem Satz auf dem höher gelegenen Stück über dem Wassergraben.

Ich suche etwas, womit ich mir das Blut abwischen kann. Auf dem Armaturenbrett liegt die Quittung der letzten Tankstelle. Während ich sie an meine Augenbraue klebe, finde ich auch noch einen kleinen Schwamm in der Türablage. Ich rieche daran und stecke ihn in meine Hosentasche.

Die Tür auf meiner Seite geht gerade weit genug auf. Ich lasse mich aus dem gekenterten Wagen fallen. Kaum haben meine Füße den Grund des Entwässerungskanals erreicht, steht mir das Wasser bis zum Rand in den Schuhen.

Die Autonase zeigt nach oben. Dort ist die Bergstraße, auf der Hopper im strömenden Regen an seinem Smartphone fummelt. Mein Blick folgt der Strecke, die wir zurückgelegt haben. Und danach der Strecke, die uns gedroht hätte, wenn wir nicht mit den Hinterrädern im Entwässerungskanal gelandet wären. Sobald ich nach unten schaue, spüre ich, wie die unergründliche Tiefe an mir zerrt.

In Gedanken sehe ich den Wagen auf den Abgrund zufahren und auf den Felsen zerschellen – cut, cut, cut.

Hopper hat sein Smartphone eingesteckt und geht zum Verkehrsschild, das ich geschrammt habe. Die linke Seite ist verzogen. Seiner rechteckigen Form nach ist es ein Ortsschild. Ich knurre, klettere aus dem Graben und steige zur Straße hoch.

»Farbe!«, ruft Hopper. »Irgendein Witzbold hat das ganze Schild schwarz gesprüht.«

Und als Schießscheibe benutzt. Meine Finger fahren an den Einschusslöchern entlang. »Ich glaube nicht, dass die Leute hier sehr gastfreundlich sind.«

»Hauptsache, sie haben eine Autowerkstatt«, sagt Hopper.

Unter dem Ortsschild hängt ein kleineres, das ebenfalls beschmiert ist. Hopper nimmt sein Schweizer Messer und sucht nach dem geeigneten Werkzeug. Er entscheidet sich für den Dosenöffner – der hat eine flache Seite – und schabt damit über das kleine Schild wie mit einer Münze über ein Rubbellos.

Wir haben gewonnen. Unter der schwarzen Farbschicht kommt ein Ortsname zum Vorschein: Odrín. Daneben ist ein Wanderer abgebildet und ein Pfeil, der zur Bergwand auf der anderen Straßenseite weist.

Der läuft wenigstens noch.

Hopper klappt sein Taschenmesser zu und lässt es in die Hosentasche gleiten.

»Und, hast du jemanden erreicht?«, frage ich.

Er schüttelt den Kopf. Aus seinen nassen Haaren fliegen die Tropfen. »Ich habe keinen Empfang. Aber vielleicht da oben.«

Bevor ich protestieren kann, überquert er die Straße und verschwindet im Gebüsch. Plötzlich habe ich Angst, allein zurückzubleiben, und folge ihm schnell.

Der Berghang ist nicht so uneinnehmbar, wie ich zuerst dachte. Ein Weg schlängelt sich nach oben.

»Sollen wir nicht lieber unsere Rucksäcke mitnehmen?«, frage ich.

Hopper dreht sich kurz um. »Und wie sollten wir das machen, du Schlaukopf?«

Hätten wir sie doch bloß einfach auf die Rückbank gelegt statt in den Kofferraum.

»Ich weiß, dass die Heckklappe nicht aufgeht, aber ich dachte …«

»Überlass das Denken ruhig mir«, sagt Hopper. »Und beeil dich mal ein bisschen.«

Die Quittung ist von meiner Augenbraue gerutscht, aber die Wunde blutet immer noch. Ich friemele das Schwämmchen aus meiner Hosentasche und halte es dagegen.

»Wir brauchen aber Geld!«, rufe ich.

»Hab ich bei mir. Und die Pässe auch.« Er klopft auf seine Lederjacke.

Meine Prepaid-Kreditkarte wird wohl auch dabei sein. Die habe ich speziell für diesen Urlaub von meinem Vater bekommen. Das heißt, ich durfte sie zwei Minuten festhalten und musste sie dann Hopper geben, denn so jemand wie ich kann nicht für sich selbst sorgen, glaubt Pa. »Du kannst ja nicht mal auf deine Worte achten, geschweige denn auf deine Sachen.«

Ich betrachte das Blut auf dem Schwämmchen. Farbe und Geruch erinnern mich wieder an die Leiche. Daran, dass sich dieser Mann durch unsere Schuld von einem Menschen in ein Ding verändert hat und jetzt wie eine abgerissene Autotür oder ein umgefallener Stuhl auf der Straße liegt. Leichenstuhl, Sündenpfuhl. Daran, dass er durch unsere Schuld nichts mehr fühlt oder denkt und dass seine Erinnerungen jetzt auch alle tot sind.

Ich drehe den Schwamm um, presse ihn wieder an meine Augenbraue und belle.

Hopper tut so, als wäre mein Bellen genauso normal wie bei einem Hund. Meine Mutter ging manchmal noch einen Schritt weiter. Wenn mich die Leute allzu befremdet anschauten, machte sie mit und dann standen wir plötzlich im Laden an der Kasse und kläfften. Jedenfalls waren wir immer schnell an der Reihe.

Wuff!

Es regnet immer noch, aber hier unter den Bäumen stört es uns weniger. Allerdings bekomme ich immer schlimmere Schmerzen im Nacken. Tourette will, dass ich ihn recke, aber der Schmerz ist unerträglich. Und dann windet sich dieser blöde Pfad auch noch immer steiler nach oben. Vor Anstrengung jagt der Atem durch unsere Kehlen, wir sind so bergiges Gelände nicht gewohnt. Unterdessen folgt Tourette seiner eigenen Spur und dröhnt mir Leichenwagen, Niederlagen, Jammerklagen ins Gehirn, bis ich es nicht mehr anhören kann.

»Wir hätten nicht wegfahren dürfen!«, rufe ich Hoppers Rücken zu.

Er antwortet nicht und läuft stur weiter.

Ich hole ihn ein und tippe mit meiner freien Hand dreimal auf seinen Arm. »Warum haben wir keinen tatütatü Krankenwagen gerufen?«

Jetzt kann er nicht mehr so tun, als sei ich nur Luft. »Ein Krankenwagen ist für Kranke. Dieser Mann war mausetot.«

»Dann die Polizei.«

»Wahrscheinlich hätten wir nicht einmal anrufen können.« Er holt sein Smartphone wieder raus und schaut auf das Display. »Siehst du? Scheißberge. Noch immer kein Empfang.«

»Wir hätten es wenigstens versuchen können.«

»Das hätten wir machen können, ja.« Er steckt das Gerät wieder weg. »Und dann säßen wir jetzt in einer Gefängniszelle.«

»Wir hätten es doch erklären können?«, sage ich. »Die Polizei versteht bestimmt, dass wir nichts dafürkonnten.«

»Als würde sie das einen feuchten Dreck interessieren.« Hopper schaut mich mitleidig an, sodass ich mir wie ein Kleinkind vorkomme, das noch alles lernen muss. »Spanier haben recht und Ausländer bekommen die Schuld. So funktioniert das hier. Zur Not hilft so ein Polizist der Wahrheit ein bisschen nach. Das habe ich vor Kurzem noch im Fernsehen gesehen. Polizist hält Touristin an und tritt den Seitenspiegel von ihrem Wagen. Touristin bekommt einen Strafzettel. ›Weil Sie ohne Seitenspiegel fahren, gute Frau.‹«

Es klingt wie eine Szene aus einer Sendung, in der angeblich wahre Geschichten von Schauspielern nachgestellt werden.

»Ja, klar«, sage ich.

Aber Hopper glaubt alles, was sie im Fernsehen behaupten. »Ganz sicher. Sie war damit vor Gericht gezogen, aber die Geldbuße musste sie trotzdem bezahlen.«

Der Pfad wird zu schmal für uns beide. Ich muss langsamer werden und wieder hinter Hopper laufen, wenn ich nicht vom Berg abrutschen will. Buße bezahlen, Füße gemahlen, Grüße strahlen … Die unsinnigen Worte fließen wie ein Bach durch mein Gehirn, während ich durch den Schlamm stapfe. Ich kann es nicht lassen, immer wieder einen Blick über die Schulter zu werfen, aber keiner ist uns auf den Fersen. Die einzigen Geräusche sind mein endloses Gemurmel und der Regen, der auf die Blätter der Bäume neben dem Weg tropft. Der Berg riecht nach Erde und fauligen Pflanzen.

Faulende Leichen.

Meine Augen füllen sich und mein Mund klappt auf.

»Macht es dir denn wirklich nichts aus, dass wir den Mann haben liegen lassen?«

Hopper bleibt so abrupt stehen, dass ich fast auf ihn pralle. »Natürlich tut’s das. Wofür hältst du mich?«

Mordchauffeur, Deserteur, Polizeiverhör.

»Meinst du, ich würde die Zeit nicht zurückdrehen wollen?«, sagt er empört. »Aber das geht nun einmal nicht. Und dann kann ich mich zwar wie du hinstellen und ’ne Runde heulen, aber das bringt keinen auch nur ein Stück weiter. Wir werden damit klarkommen müssen. Was passiert ist, ist passiert.«

»Nicht kassiert.«

»Wenn auch nur noch ein Funken Leben in dem Kerl gesteckt hätte, wäre ich wirklich bei ihm geblieben.« Hoppers Mund kommt näher, als hätte er Angst, dass seine Worte sonst nicht zu mir durchdringen könnten. »Aber er war tot. Wir konnten nichts mehr für ihn tun! Und das kann mir zwar ganz schön was ausmachen, aber den Typen schert das nicht mehr die Bohne. Er hätte es nicht einmal gemerkt, wenn wir ihm die Hand gehalten hätten. Er fühlt oder findet gar nichts mehr. Nie mehr. Was wir auch tun oder nicht tun, für ihn macht es keinen Unterschied. Aber für uns schon. Wir haben noch unser ganzes Leben vor uns.«

Es klingt logisch, aber so fühlt es sich nicht an.

Hopper legt die Hand auf meine Schulter. »Willst du dir deine Zukunft durch so einen blöden Unfall versauen?«

Mein Körper zuckt. Seine Hand rutscht von mir ab wie von einem Felsen.

»Gut«, sagt er dann. »Wenn du willst, rufen wir nachher die Polizei. Aber davon wird der Kerl echt nicht mehr lebendig.«

Ich höre den Ärger in seiner Stimme und weiß schon jetzt, dass wir nachher nicht anrufen. Dann klettert er weiter, ohne auch nur eine Sekunde daran zu zweifeln, dass ich ihm folge. Und er hat natürlich recht.

Während ich tropfnass und blinzelnd hinter ihm hertrabe, erlebe ich unsere beängstigende Fahrt aufs Neue. Vier Minuten dauerte es. Zumindest, wenn die Uhr auf meinem Handy richtig geht, denn es kam mir eher vor wie ein halbes Jahrhundert, und ich glaube, während der ganzen Zeit sind wir an keinem einzigen Haus vorbeigekommen. Seit ich wach wurde, habe ich sowieso kein einziges Haus oder einen Hof gesehen. Plötzlich überkommt mich das Gefühl, auf dem Weg zum Ende der Welt zu sein, und ich knurre.

Ein Stück weiter oben wird der Pfad wieder breiter, sodass ich neben Hopper laufen kann. Er sagt nichts, schaut mich auch nicht an, und das passiert wirklich häufiger, aber dennoch werde ich den Gedanken nicht los, dass er mich totschweigt.

Wäre meine Augenbraue doch auch bloß so still. Ich fühle an der Wunde, die noch immer klopft, als säße drinnen ein hämmerndes Männchen. Aber immerhin blutet sie kaum noch. Ich rieche an dem Schwamm und werfe ihn dann im hohen Bogen ins Gebüsch.

Wir arbeiten uns ohne Pause voran und Hopper hält weiterhin den Mund. Die Stille wiegt immer schwerer und dann sage ich doch, was ich schon die ganze Zeit denke: »Hast du keine Angst, dass die Polizei unser Auto findet? Wenn sie hören, dass ein Stück vorher ein Mann totgefahren wurde, könnten sie auf die Idee kommen, dass wir … Du … Ein Anruf bei Europcutcar und sie wissen alles von dir. Wie du heißt, wo du wohnst.«

»Was du nicht sagst!« Hopper schlägt gegen einen Zweig. Er macht ein grimmiges Gesicht, aber ich bin heilfroh, dass er mit mir spricht. »Darum muss dieser Wagen so schnell wie möglich da weg.«

»Und du meinst, auf dem Berg gibt es eine Werkstatt?« Ich schlage auch wie ein Verrückter gegen Zweige – ein-, zwei-, dreimal –, drei ist gut. Unsichtbare Zweige, denn Tourette ist wie ein Choreograf; es geht ihm um die Bewegung.

»Was sollen wir denn sonst machen?«

»Ins nächste Dorf gehen.«

»Odrín ist das nächste Dorf«, sagt Hopper müde. »Noch mehr so großartige Ideen?«

»Wenn du vom Berg fällst, bist du bald unten.«

»Und bald tot«, sagt Hopper trocken.

Da ist die Leiche wieder. Und da die Tränen.

»Lass los, Kris.« Hopper gibt mir einen Stoß. »Du musst dir das aus dem Kopf schlagen. Der Typ stand plötzlich vor dem Auto. Es war nicht unsere Schuld.«

»Jaja.« Aber der Unfall wiederholt sich wieder und wieder in meinem Kopf. Ich stecke meine Hand in die Hosentasche, damit ich die glatte Rückseite meines Telefons streicheln kann. Das hilft gegen Stress.

Mit einem Schleier vor den Augen gehe ich weiter. Auf einmal scheint es mir sehr verführerisch, blind den Berg hinabzulaufen. Wenn ich mich nach unten stürzen lasse, bin ich von allem Elend erlöst. Ich muss an das Zeltlager am Ende der Grundschule denken. Damals fühlte ich mich ganz genauso.

Es war ein Horrorzeltlager, und nicht nur, weil Kuppers, der Betreuer, Gruseln als Thema gewählt hatte. Ich sehe Jasper und Lars vor mir mit ihren höhnenden Mäulern und ihren Bemerkungen über das Irrenhaus, in das ich ihrer Meinung nach gehörte. Ich weiß, dass es nur eine Erinnerung ist, aber sie scheint so echt, dass ich die Quälerei aufs Neue erlebe. Kuppers hatte nichts gemerkt, und wenn doch, konnte er sehr gut so tun, als ob. Während ich am liebsten tot sein wollte, dachte er sich Spielchen aus. Ich bekam eine Augenbinde und musste meine Hände in eine Schüssel mit Kleister stecken. Kuppers sagte, es sei Gehirn.

Gehirn …

Ich denke an den leckenden Schädel der Leiche und mir wird schlecht.

»Es regnet nicht mehr«, sagt Hopper nach einer Weile.

Das ist aber auch das einzig Positive, würde ich sagen. Der Himmel bleibt grau, der Wald dämmrig und die Fernsicht ist nahe null. Meine Kleidung ist schwer vor Nässe und meine Socken quatschen in den Schuhen. An meinen Fersen spüre ich Blasen, so groß wie Poffertjes.

Wir kommen zu einer Weggabelung. Dort steht wieder ein Schild mit ODRÍN. Dieses Mal haben sie nur den Pfeil übersprüht. Es sieht aus, als würde er nach rechts weisen, aber nach ein wenig Rubbeln ist es genau umgekehrt.

»Graffitikünstler mit Humor«, sage ich. »Glauben die im Ernst, wir fallen darauf rein?«

»Es muss schon ein größeres Dorf sein.« Hopper klappt sein Messer zu. »Sonst gäbe es keine Schilder. Und große Dörfer haben Werkstätten.«

Ich hoffe, dass er recht hat, und vor allem, dass es nicht mehr weit ist. Das Pochen in meiner Augenbraue hat sich bis ganz hinten in meinen Kopf ausgedehnt. Vielleicht habe ich mir doch eine Gehirnerschütterung Birnverfütterung zugezogen, als ich mit dem Kopf auf das Lenkrad knallte.

Wir biegen rechts ab und erreichen eine einfache Treppe. Jemand hat sich die Mühe gemacht, Stufen mithilfe von Pflastersteinen anzulegen, damit sich der Pfad während eines heftigen Regenschauers nicht in eine Rutschbahn verwandelt. Im Übrigen ist es mir ein Rätsel, weshalb die Bewohner von Odrín ausgerechnet hier hinuntergehen sollten. Unten ist nichts, nur der Weg. Ich habe zumindest keine Bushaltestelle oder einen Parkplatz gesehen.

Hopper und ich schweigen erneut. Wir brauchen all unseren Atem zum Klettern. Unterdessen denke ich an meine Mutter. In ihren letzten Lebenswochen war sie so krank, dass sie nur noch mit einem Rollator ein winziges Stück gehen konnte.

»Wer hätte das je gedacht?«, hatte sie spottend gesagt. »Dass ich einmal froh bin, in einem Land ohne Berge zu wohnen!«

Die Liebe zu meinem Vater hatte sie siebzehn Jahre zuvor nach Holland gebracht, aber ein Teil ihres Herzens war in Argentinien geblieben.

Der Wald lichtet sich immer mehr und die Sonne dringt hindurch. Da steht wieder ein Schild, komplett schwarz beschmiert. Als ich nach unten schaue, sehe ich ockerfarbene Dachpfannen durch die Blätter schimmern.

»Das muss Odrín sein«, sage ich.

Hopper schaut auf sein Telefon. »Noch immer kein Empfang.«

3

Die Häuser liegen viel weniger nah, als wir denken. Erst nach einer Viertelstunde Abstieg erreichen wir den ersten Bauernhof. Die Poffertjesblasen an meinen Fersen haben mittlerweile Pfannkuchengröße erreicht. Ich stolpere Hopper hinterher auf den Hof. Weil es keine Klingel gibt, klopft er fest an die Tür. Das ist ein schönes Geräusch, das ich nachmachen möchte, aber auch nach meinem Klopfen öffnet niemand. Die einzige Antwort kommt von einer muhenden Kuh im Stall.

Wir steigen weiter runter. Odrín liegt in einer schmalen, tiefen Schlucht zwischen den Felsen, sicher und geschützt wie ein Innenhof zwischen Schlossmauern. Die hohen Bergwände werfen Riesenschatten über die Häuser, wodurch es sogar mitten am Tag schon wie Abend scheint. Und dazu ist das Dorf auch noch gruselig ausgestorben. Nur ein Hund streunt durch die Straßen.

»Was ist das für ein Ort?«, flüstere ich mit einem Knurren.

»Einfach nur ein verschlafenes Nest«, sagt Hopper.

»Aber wo sind die denn alle?«

»Woher soll ich das wissen?«

Der Weg macht eine Biegung und verschwindet wieder zwischen den Bäumen. Wir schlittern nach unten, während die Sonne durch die Baumkronen blinzelt, und ich frage mich, weshalb die Leute sich in der düsteren Schlucht angesiedelt haben statt hier am Hang.

Offenbar bin ich nicht der Einzige, der so denkt. Einige Meter vom Weg entfernt steht ein alter Wohnwagen mit einem Einstiegstritt vor der Tür.

»Vielleicht ist da jemand«, sagt Hopper.

Wir können nicht hineinschauen. Die schmuddeligen Vorhänge an den Fenstern sind alle zugezogen. Ein paar magere Hühner scharren im Sand. Ansonsten gibt es noch einen Hackklotz und daneben einen Berg Holz sowie eine bis zum Rand gefüllte blaue Regentonne.

»Wie trostlos«, sagt Hopper. Er legt die Hand an den Mund und ruft: »Hallo, ist da jemand?«

Die Tür bleibt zu. Wir wollen uns schon umdrehen, als die Hühner plötzlich aufflattern und ein Mann mit wildem Bart hinter dem Wohnwagen zum Vorschein kommt. Er trägt eine speckige Jeans und ein Holzfällerhemd mit aufgerollten Ärmeln. Seine Unterarme sind mit blauer Tattoo-Tinte bedeckt. Den Bildern und Texten nach zu schließen, liebt er nackte Frauen, seine Mutter und Carmen.

Aber keine Fremden.

»Was macht ihr hier?«, fragt er. Es ist keine ernst gemeinte Frage, denn er wartet unsere Antwort nicht ab. »Verschwindet. Ihr habt hier nichts zu suchen. Wir brauchen keine Schnüffler in unserem Dorf.«

Aus lauter Nervosität beginne ich zu muhen.

»Das geht nicht«, sagt Hopper. »Unser Auto …«

»Hast du keine Ohren am Schädel?«, brüllt der Mann. »Macht, dass ihr wegkommt!«

Ich weiß nicht, ob es an den Hühnern liegt, aber ich verwandele mich in eine Art lebendigen Bauernhof. Ich muhe, belle, gackere und meckere und kann nicht aufhören.

Der Mann greift nach der Spaltaxt auf dem Hackklotz. »Und nimm den Verrückten mit!«

Ich nehme an, er meint mich. Muss er gerade sagen – der Typ ist noch viel gestörter als ich. Der Axtkopf ruht in seiner Linken, seine Rechte umklammert den Stiel. Es wirkt total bedrohlich, aber offenbar noch nicht bedrohlich genug, denn er hält es für nötig, den Axtkopf leicht anzuheben und dann wieder in seine Handfläche federn zu lassen – und das macht er nicht nur einmal, sondern die ganze Zeit.

Die Hühner halten sich ein gutes Stück von ihm entfernt, und das wahrscheinlich nicht ohne Grund. Ich bekomme Visionen von abgehackten Hühnerköpfen und einer Axt, von der das Blut tropft. Mein ganzer Körper schreit: Flüchten! Aber dann muss ich dem Mann den Rücken zukehren, und das traue ich mich nicht.

»Wir gehen ja schon!«, übertönt Hopper mein Geschrei. Er streckt die Hände abwehrend vor sich. »Tun Sie das Ding weg.«

»Määäh! Weg«, sage ich.

Nicht, dass es was helfen würde. Der Mann will uns einfach nicht verstehen. Hopper und ich brauchen dazu keine Worte – wir strecken beide einen Arm aus und finden uns blind. Ich hänge muhend und gackernd an Hoppers Ärmel und er hält mein Handgelenk fest. Ohne den Axtmörder aus den Augen zu lassen, treten wir vorsichtig den Rückzug an, halb stolpernd, und entfernen uns immer weiter von ihm. Erst als er ganz hinter den Bäumen verschwunden ist, lassen wir uns los und rennen raus aus dem Wald.

Ein paar Minuten später bleiben wir keuchend stehen. Ich belle noch einmal und dann halten alle Tiere vorläufig die Schnauze.

»Du hast dir ja echt fast in die Hosen gemacht«, sagt Hopper.

»Du vielleicht nicht?«

»Ich hatte bloß Schiss vor dir.« Hopper grinst. »Wie der dich angeschaut hat, Mann. Als wollte er dir mit der Axt den Schädel spalten.«

»Hoffentlich wohnen dahinten wenigstens normale Leute.« Ich mache eine Kopfbewegung zu der Häusergruppe vor uns. Auf den Dächern stehen zierliche Türmchen mit spitzen Hüten. Solche merkwürdigen Schornsteine habe ich noch nie gesehen. Manche haben sogar Gesichter und sind fast abschreckend.

Hopper geht auf das erste Haus zu. Das hat auch keine Klingel, aber wenigstens hängt ein Klopfer an der Tür. Er knallt ihn gegen das Holz. Kein Schwein daheim.

»Die Nachbarn?«, schlage ich vor.

Auch dort bleibt die Tür zu.

Hopper späht durch ein Fenster, die Hände um die Augen gelegt. »Es ist jedenfalls bewohnt. Da stehen Möbel.«

Ich reiße – aua! – meinen Kopf zurück; er fühlt sich noch immer an, als würde er sich langsam mit Blei füllen. Meine Bewegungstics sorgen häufiger für Schmerzen, aber so wie jetzt habe ich es noch nie erlebt. Es fühlt sich an, als hätte sich mein Nacken in ein Streichholz verwandelt und dieses Gefühl ist so stark, dass ich mit eigenen Augen sehen muss, ob es stimmt. Weil ich keinen Spiegel habe, stelle ich mich vor ein Fenster. »Mistkopf. Mistnacken.«

»Tut dir was weh?«, fragt Hopper.

»Mistweh. Seit wir im Kanal gelandet sind.«

»Vielleicht hast du ja ein Schleudertrauma.«

»Traumatisch, dramatisch, quadratisch oder eine Gehirnerschütterung.«