HANNE K. GÖTZE

Kinder brauchen Mütter

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Hanne K. GÖtze

Kinder
brauchen
Mütter

Die Risiken der Krippenbetreuung – Was Kinder wirklich stark macht

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Inhalt

Vorwort von Wolfgang Bergmann

Vorwort der Autorin

1. Wenn der Staat nach den Kindern greift: Die „Klimaabkühlung“ für Mutter und Kind

Den Anfang macht das erste Kind: Ein Wunder und viele Fragen

„Wenn ich ein Vöglein wär …“: Erinnerungen an meine eigene Krippenzeit

Kinderkrippen: Alte Argumente „neu aufgegossen“

2. Wonach sich kleine Kinder sehnen oder: Was ist eigentlich Mütterlichkeit?

Gestillt zu werden

Getragen zu werden

Liebevoll angeschaut zu werden

Gut angesprochen zu werden

Zärtlich berührt zu werden

Bei Mama schlafen zu dürfen

Vertrauen in eine verlässliche Liebe zu bekommen

3. Warum Muttersein keine Rolle, sondern eine Notwendigkeit ist

Warum die Mutter normalerweise die „erste Wahl“ für die Betreuung ihres Kindes ist

Was die Mama hat und der Papa nicht – und umgekehrt

4. Warum Fremdbetreuung die Sehnsucht kleiner Kinder nicht stillen kann

Die notwendige Perspektive: Was bedeutet die Fremdbetreuung in Krippen für ein kleines Kind?

Die verdrängte Erinnerung: Die Situation kleiner Kinder und ihrer Mütter in der DDR

Einige wissenschaftliche Erkenntnisse der Bindungsforschung und anderer Fachgebiete

5. Die Folgen der Krippenbetreuung

Unsere Kinder „hängen durch“

Jugendliche außer „Rand und Band“

Wenn Krippenkinder selber Eltern werden

6. „Und was habe ich davon?“ – Über Lebensglück und Muttersein

7. Mütter unter Druck oder die „gefesselte“ Mütterlichkeit

„Hauptsache Arbeit“: Der hohe Stellenwert der Berufstätigkeit

Das „liebe Geld“: Die finanzielle Situation

Das „gebrochene Herz“: Die instabilen und zerbrochenen Beziehungen

Der „schwere Rucksack“: Seelische Defizite und Verletzungen in der Vorgeschichte der Mutter

Die „Götter in Weiß“: Die Rolle der medizinischen Fachleute

„Guter Rat ist teuer“ – Unwissenheit und Desinformation

„Wie zwei Königskinder“: Die fehlende Nähe zwischen Mutter und Kind

„Mutterseelenallein“: Die fehlende Kultur des Bemutterns der Mutter

„Du bist nichts wert“: Die mangelnde Anerkennung des Mutterseins

8. Was wir glauben sollen

„Du verwöhnst dein Kind“

„Du versauerst am Herd“

„Selbstverwirklichung ist Sinnerfüllung“

„Gleichberechtigung heißt gleiche Würde“

„Die Vereinbarkeit von Beruf und Kindern“

„Alles ist nur eine Frage der Organisation“

„Der Mythos Mutter“

„Qualitätszeiten reichen“

„Nur die zufriedene Mutter ist eine gute Mutter“

„Krippen steigern die Geburtenrate“

„Krippen sind gut für sozial benachteiligte Kinder“ – „Krippen sind Bildungseinrichtungen“

„Erzieherinnen mit Ausbildung sind besser als Mütter“

„Im Ausland gibt es längst Krippen – Deutschland muss diesbezüglich aufholen“

9. Wie sollten die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aussehen?

Steuergerechtigkeit und Erziehungsgehalt

Die Verantwortung der Medien: Information und Aufklärung in der Öffentlichkeit

Die Förderung des Stillens

Auf Liebe und Erziehung einstimmen: Die Verbesserung der Elternkompetenz

Seelische Wunden heilen – Verletzungen vorbeugen: Beratende und therapeutische Begleitung und Hilfe für Eltern

Die praktische Familienhilfe

Die Erleichterung des beruflichen Wiedereinstiegs von Müttern

Schlusswort

Anhang

Anmerkungen

Weiterführende Literatur zum Thema Stillen

Abbildungen

Umschlaggestaltung: DSR – Digitalstudio Rypka/Thomas Hofer, Dobl
Umschlagabb. Vorderseite: APA-PictureDesk

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Auf Wunsch senden wir Ihnen gerne kostenlos unser Verlagsverzeichnis zu:

ISBN 978-3-902475-94-7

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright by Ares Verlag, Graz 2011

„Mit einer Kindheit voll Liebe kann
man ein halbes Leben hindurch
die kalte Welt aushalten.“

(Jean Paul)

Ich danke allen, die mir geholfen und mich ermutigt haben,
dieses Buch zu schreiben.
Meiner Familie danke ich vor allem für ihre Geduld.

Vorwort von Wolfgang Bergmann

In der Familien- und Sozialpolitik erleben wir zur Zeit einen dramatischen Wandel. Ganz offensichtlich zielen die entscheidenden Institutionen in unserem Land darauf ab, dass Kinder möglichst früh aus der Familie raus und in den Einfluss staatlicher Institutionen geschickt werden. Politik lässt sich dabei von wissenschaftlichen Gesellschaften und akademischen Einrichtungen unterstützen und legitimieren, die ihre wissenschaftlich-empirischen Ergebnisse entweder auf diese politische Intention hin ausrichten oder ihnen bedingungslos zustimmen. Damit treten weite Bereiche der Sozial- und Familienpolitik ebenso wie die der Forschung in einen klaren Widerspruch zur Bedürftigkeit kleiner Kinder.

Es ist einfach nicht wahr, wie immer wieder behauptet wird, dass Kinder im ersten Lebensjahr solidarisch und sozial lernen. Sie sind in dieser Lebensspanne noch gar nicht in der Lage, zwischen sich und anderen zu unterscheiden, und erst recht nicht dazu, ein bewusstes soziales Leben zu führen. Das liegt für jedermann klar auf der Hand. Was Kinder in den frühesten Lebensjahren benötigen, ist nach Auskunft der aufklärerischen Philosophie, der Tiefenpsychologie, der Verhaltens- und Bindungsforschung und seit einigen Jahren zunehmend auch der Gehirnforschung vielmehr Folgendes: Kinder brauchen eine unbestreitbare Gefühlsgewissheit, die sich auf ihre Familien richtet, um sich in einer für sie befremdlichen und sie oft ängstigenden Welt zurechtzufinden.

Nur auf der Grundlage des tiefen urvertrauten Verhältnisses, zu Mama, Papa und der Welt insgesamt, können Kinder die ausreichende emotionale und kreative Kraft entfalten, um sich mit der natürlichen Lebensfreude und Abenteuerlust von Kindern auf die Erkundung der Welt einzulassen. Nur so können sie zu starken selbstständigen Personen, zu einem sozialmoralischen Verhalten und zu einer tiefen, emotional empfundenen Erkenntnis der Welt durchdringen. Wissenschaft in allen relevanten analytischen Disziplinen weiß dies, gleichwohl wird es von den oben genannten politischen Einrichtungen und akademischen Institutionen geleugnet, oft unter Verkehrung der bereits gefundenen empirischen Einsichten.

Frau Götze hält diesen manipulativen Versuchen ein fundiertes Wissen der frühkindlichen Bindung und die Notwendigkeit einer ursprünglichen Liebe entgegen. Sie tut dies detailreich und in genauer Kenntnis neuerer wissenschaftlicher und pädagogisch-praktischer Erfahrungen. Sie folgt den natürlichen Entwicklungsschritten, die ein Kind hin zum selbst bestimmten „Ich“ in den ersten fünf Lebensjahren durchläuft. Auf Grundlage dieser präzisen Erkenntnisse erweist sich ein umlaufender Mainstream in der politischen Diskussion, der die Bedeutung von Familie zurückdrängt und die Macht staatlicher Einflüsse vermehren will, als eine Beschädigung der kindlichen Entwicklung. Dies alles wird mit großer Sorgfalt und detailreich vorgetragen. Zugleich verbindet die Autorin die objektiven Einsichten mit subjektiven, ganz persönlichen Erfahrungen. Das intensive Wechselspiel zwischen objektiver Erkenntnis und subjektivem Erleben macht die Wahrhaftigkeit dieses Buches aus.

Wolfgang Bergmann
im Februar 2011

Vorwort der Autorin

Seit vielen Jahren, eigentlich, seitdem ich Mutter bin, liegt mir das Wohl und Wehe kleiner Kinder, aber auch ihrer Mütter am Herzen. Durch mein Erinnerungsvermögen an meine eigene Kleinkindzeit, durch die Beobachtung meiner eigenen vier Kinder, durch meine Stillgruppentätigkeit, aber auch durch viele Gespräche mit Erwachsenen erkannte ich, dass der Mensch mit einer Grundsehnsucht zur Welt kommt.

So bewegten mich immer wieder die Fragen: Wie können wir diese Sehnsucht der kleinen Kinder erfüllen? Was steht uns dabei im Weg? Was bringt es, diese Sehnsucht zu erfüllen? Und was hängt von ihrer Erfüllung ab?

Dieses Buch handelt von den Erfahrungen, Erlebnissen und Erkenntnissen, die ich diesbezüglich sammeln konnte. Da ich in der DDR groß geworden bin, meine ersten eigenen Erfahrungen als Mutter noch in dieser Zeit machen konnte und nach wie vor im Osten der Bundesrepublik lebe, basieren meine Ausführungen besonders auf der ostdeutsch geprägten Situation von kleinen Kindern und ihren Müttern.

Neben meinen eigenen Erlebnissen sind viele persönliche Erfahrungen anderer Menschen mit eingeflossen; selbstverständlich habe ich die Identität aller Personen anonymisiert. Dabei treffen „Geschichten, die das Leben geschrieben hat“, auf die Erkenntnisse der entsprechenden Wissenschaftsgebiete, die mir meine Beobachtungen und Vorahnungen zu verschiedenen Aspekten immer wieder bestätigten und vertieften.

Ich versuche in diesem Buch, sowohl meinem Bedauern über jene Menschen, die durch die Bedingungen ihrer Kleinkindheit oft lebenslang beeinträchtigt sind, Ausdruck zu verleihen, als auch meiner Sorge darüber, wie wenig das Kindeswohl familienpolitisch in Deutschland derzeit Beachtung findet. Gleichzeitig handelt es von unseren natürlichen Möglichkeiten, die Grundsehnsucht unserer kleinen Kinder zu stillen.

Meine Ausführungen wollen keine wissenschaftliche Abhandlung sein, obwohl wissenschaftliche Erkenntnisse zur Sprache kommen. Sie wollen auch kein Ratgeber zur Kleinkindbetreuung im klassischen Sinne sein. Sie wollen aber einen geeigneten Blickwinkel für das schenken, was wesentlich und tragfähig ist, damit unsere Kinder gedeihen und glücklich werden können. Damit wird die elterliche Erziehung insgesamt erleichtert. Von dieser Warte aus versteht sich dieses Buch auch als ein Diskussionsbeitrag zu einer zukunftsfähigen Kinderbetreuung.*

Hanne-K. Götze
im Januar 2011

* Hinweis: Das Symbol ➤ im Text verweist auf entsprechende Ausführungen in anderen Kapiteln.

1. Wenn der Staat nach den Kindern greift: Die „Klimaabkühlung“ für Mutter und Kind

Eine Mutter und ihr Kind – ein Urbild für Liebe, Glück und Wärme. Auch heute noch. Wie die Mutter-Kind-Beziehung in der Menschheitsgeschichte gelebt wurde, unterlag im Detail verschiedenen kulturellen Einflüssen und Veränderungen. Über die Bedeutung dieses elementaren Lebenszusammenhanges für den Fortbestand und die Zukunft eines Volkes war man sich, seitdem die Menschheit besteht, offensichtlich einig. Erstmals ab dem 20. Jahrhundert trat hier in unserem Kulturkreis ein Wandel ein: Zwei schwere Kriege bedeuteten unter dem Strich Arbeitskräftemangel in der Industrie, und das Fehlen der Männer als Ernährer der Familien erforderte das Nachrücken der Frauen in die Berufstätigkeit. Außerdem waren totalitäre Regime entstanden, die ein Interesse an der massenhaften Manipulation der Menschen hatten, unter anderem aus Gründen des Machterhalts. Man wusste, dass die Kinder immer am leichtesten zu beeinflussen sind. So begann „Vater Staat“ nach den Kindern zu greifen: Er übernahm selbst die Erziehung, indem er finanziellen Druck und ideologische Kunstgriffe einzusetzen wusste, um die Mütter früh von ihren Kindern zu trennen. So kam die Mutter-Kind-Beziehung immer mehr ins Abseits. Der Staat selbst hatte ein Interesse daran, diese Beziehung zu stören, um seine eigenen Interessen an den Kindern durchzusetzen und sie „nach seinem Bilde“ zu formen. Unter diesen Umständen wird es für Mutter und Kind immer schwerer, zueinander zu finden und sich aneinander zu binden, weil es unweigerlich zu einer gesamtgesellschaftlichen „Klimaabkühlung“ für die Mutter-Kind-Beziehung kommt. Es wird hart für beide. Sowohl als Mutter als auch kleines Kind habe ich damit persönliche Schlüsselerfahrungen gemacht. Diese haben nicht nur mein weiteres Leben nachhaltig beeinflusst, sondern sind auch die Ausgangspunkte dieses Buches.

Den Anfang macht das erste Kind:
Ein Wunder und viele Fragen

Mutter wird man mit dem ersten Kind, und das ist wohl eine der nachhaltigsten Umstellungen im Leben einer Frau. Schon in der Schwangerschaft habe ich es so empfunden: Neues Leben in mir! Ich begann in einer völlig anderen Dimension zu denken und zu handeln, nämlich immer für zwei: Ich liebte dieses Kind und wünschte ihm nur das Allerbeste. Jeder hat schließlich seine Kindheit nur einmal. Ich spürte, dass meine Verantwortung und die meines Mannes größer sein würden, als uns lieb sein konnte. Viele Fragen beschäftigten mich: Wie würde wohl die Geburt werden, würde ich stillen können, kann ich überhaupt mit Kindern umgehen – ich hatte da so meine Zweifel, weil es in meinem unmittelbaren Umfeld kaum Babys gab – bzw. kann bzw. sollte man Babys schon erziehen?

So wie es meine Art ist, mich auf wichtige Dinge gut vorzubereiten, ging ich auch in diesem Fall vor: Ich suchte Bücher zur Geburtsvorbereitung und Babypflege. Mitte der 1980er Jahre, als noch „tiefste DDR“ war, war zu diesen Themen nicht viel zu finden; nur ein Buch schien mir überhaupt brauchbar zu sein, weil es wenigstens einen kleinen Abschnitt zum Thema Stillen enthielt. Trotz intensiver Lektüre und Austausch mit meiner Mutter kam ich mir vor, als sollte ich zu einer Prüfung gehen, für die ich nicht nur nicht vorbereitet war, sondern für die ich nicht einmal den Prüfungsstoff kannte.

Heute, unter bundesdeutschen Verhältnissen, hat sich die Lage vollkommen geändert. Man kann sich vor Ratgebern zwar kaum mehr retten, verwirrend sind aber die Fülle und die verschiedenen Meinungen. Viele Mütter stehen heute noch fast genauso ratlos da, wie ich in DDR-Zeiten. Da ihnen gute Vorbilder häufig fehlen und sie dadurch meist keinen Maßstab zur Beurteilung dessen haben, was sie über Kinder und das Muttersein lesen oder hören, fällt es ihnen schwer, zu erkennen, was denn wirklich wesentlich und tragfähig ist. Ich habe im Laufe der Jahre feststellen dürfen, dass wir als Mütter keine Übermenschen sein müssen, sondern dass wir eigentlich nur „das Normale“ tun müssen. Was „das Normale“ ist und warum es uns oft so schwer fällt, es zu tun, darauf werde ich noch ausführlich eingehen.

Damals wusste ich nur zwei Dinge genau: Erstens wollte ich mein Kind stillen und zweitens wollte ich es nicht in die Krippe bringen. Bereits das erste Anliegen stellte sich als schwierig heraus. Heute weiß ich, dass nicht nur die schwere Geburt an sich, sondern die Tatsache, dass ich mein Kind erst ca. zwölf Stunden später das erste Mal im Arm halten und stillen durfte sowie der straffe Vier-Stunden-Stillrhythmus im Krankenhaus – wobei man die Kinder für zwanzig Minuten zum Stillen bei sich hatte –, die Milchbildung nicht recht in Gang kommen ließen. Abnabeln auf dem Bauch der Mutter, warten, bis das Baby von selbst an die Brust robbt, ständiges Rooming-in (Praxis in Krankenhäusern, mit der es Eltern ermöglicht wird, mit ihrem Kind im selben Zimmer aufgenommen zu werden und dadurch durchgehend anwesend zu sein), Stillen nach Bedarf oder Schlafen bei der Mama im Bett – kurz, alles was die so unendlich wichtige „erste Bindung“ zwischen Mutter und Kind erzeugt – gab es meines Wissens nach nirgends in der DDR.

Aber von all dem wusste ich damals noch nichts. Ich war unglücklich, weil ich zu wenig Milch hatte; ich kam mir regelrecht fehlkonstruiert vor. Bei der Entlassung aus der Klinik hatte ich das Gefühl, mit einem fremden Kind entlassen zu werden. Ich wollte mir das aber nicht eingestehen; ja, ich schämte mich für solche Gefühle. Schließlich darf einem doch das eigene Kind nicht fremd sein? Heute weiß ich, dass es vielen Müttern so erging und oft immer noch so ergeht, wenn das Krankenhausregime so ist, dass Mutter und Kind es schwer haben, sich aufeinander einzustellen.

Erst zu Hause, als ich endlich mehr mit meinem Kind zusammen sein konnte, kam in mir ein tiefes Glücksgefühl auf: Dieses kleine Kind, mein Kind, unser Kind … alles so fein gebildet … aus nur zwei Zellen entfaltet – ein Wunder! Der Reichtum der ganzen Welt schien sich in diesem kleinen Bündel zu vereinigen. Die Stillschwierigkeiten aber blieben. Alles was ich wusste, war, dass ich stillen wollte und dass man nach Bedarf stillen sollte. Der Kleine schien aber keinen Bedarf zu haben; er schlief fast nur, und ich war ratlos. Da er nicht zunahm, wurde er mit vier Wochen in die Kinderklinik eingewiesen. An eine Einweisung auch für mich war unter den damaligen Verhältnissen nicht zu denken. Unter Aufbietung meiner ganzen (geringen) Kraft als Wöchnerin setzte ich durch, dass ich wenigstens dreimal am Tag zum Stillen kommen durfte. Eine Schwester warf mir die Bemerkung zu: „Mit den 50 g (Muttermilch) können Sie keinen Blumentopp gewinnen. Es gibt eben welche, die wollen unbedingt stillen … Manche sind sogar so verrückt, die wollen auch noch drei Jahre zu Hause bleiben.“ Bei diesen Worten verlor ich fast die Fassung. Ich wurde hier für „verrückt“ erklärt, weil ich einfach für mein Kind da sein wollte. Die Tränen liefen. Es tobte in mir eine Mischung aus Angst, dass meine Milch noch mehr zurückgehen könnte, und ohnmächtiger Wut. Wut auf ein Regime, eine Ideologie, deren Ziel es war, Müttern ihre Kinder quasi aus der Hand zu nehmen, um selbst gleich die Hand darauf zu haben. Wut auf ein Regime, das Menschen wie diese Schwester so geprägt hat, dass sie auch noch von der Richtigkeit ihrer Ansichten überzeugt waren.

Meinem Kind wurde dann Zwiemilchernährung verordnet. Ich fügte mich, weil ich nichts anderes kannte. Es war einfach keiner da, der es besser wusste oder den man hätte fragen können. Erst in der zweiten Schwangerschaft – etwa zur Wende – fiel mir ein Stillbuch in die Hände, das kurz zuvor noch in der DDR erschienen war. Hier fand ich diejenigen Informationen, die ich gebraucht hätte, um voll stillen zu können. Hochmotiviert begann ich meine neugeborene kleine Tochter zu stillen. Mit den entsprechenden Informationen ausgerüstet, klappte es diesmal wunderbar, und ich erlebte mit meinem Kind eine lange, wunderbare Stillzeit. Bereits auf der Entbindungsstation gab ich mein Wissen an andere Mütter weiter. Weil ich es selbst erlebt hatte, wie deprimierend es ist, wenn man niemanden fragen kann, wurde ich später ehrenamtliche Stillberaterin.

Das Nächste, was mir dann bei meinem ersten Kind arg zusetzte, war die im fünften Monat fällige Krippenanmeldung. Mein Kind in die Krippe bringen, das wollte ich auf keinen Fall. Jede Faser sträubte sich mir dagegen. Ich schickte Stoßgebete zum Himmel, denn mir war völlig unklar, wie ich mich beim Rat der Stadt (Stadtverwaltung) verhalten sollte. Immerhin trat man ja, wenn man sein Kind nicht in eine Krippe bringen wollte, letztlich offen gegen die herrschende Ideologie und den sozialistischen Staat an, und das konnte, je nachdem, wie „linientreu“ diese Amtsperson sein würde, sehr unangenehm werden. Aber ich wurde angenehm überrascht: Die Sachbearbeiterin sah meine zögerliche Haltung und meinte: „Wissen Sie, ich habe ohnehin zu wenig Krippenplätze“ – das war in kleineren Orten häufig der Fall –, „da drehe ich das so, wie jeder möchte. Ich war übrigens auch bei jedem Kind drei Jahre zu Hause, und ich würde es wieder tun. Das haben Sie später wieder.“

So stellte sie mir eine Bescheinigung für meine Arbeitsstelle aus, dass sie im nächsten halben Jahr keinen Krippenplatz für mein Kind zur Verfügung stellen könne. Diese Bescheinigung erhielt ich von ihr jedes halbe Jahr. Das war (fast) die einzige „moralisch“ unangreifbare Möglichkeit, als Mutter mit dem kleinen Kind drei Jahre zu Hause zu bleiben und es selbst zu betreuen. Gleichzeitig blieb der Arbeitsplatz für diese Zeit gesichert.

Überglücklich und dankbar verließ ich das Amt, denn so würde ich unbehelligt meinen Weg gehen können. Da auch mein Mann in diesem Punkt voll hinter mir stand, mich in den alltäglichen Dingen unterstützte und ich außerdem Freude an meinem Kind hatte, hätte es eigentlich keine Probleme mehr geben dürfen. Und doch gab es phasenweise auch solche Gefühle: Einkaufen, Kochen, Saubermachen, Waschen, Öfen heizen usw. Alles so ungeistige Hausarbeit, die man nur sieht, wenn sie nicht gemacht ist, und von der man so schnell nichts mehr sieht, wenn sie gemacht ist! Wozu hatte ich eigentlich studiert? Liegen meine Begabungen bis auf Weiteres brach? Gibt es vielleicht doch ein „Versauern am Herd“? Wie ertrage ich die gewisse Einsamkeit, weil andere junge Mütter mit kleinen Kindern zum Kennenlernen und Unterhalten im Straßenbild völlig fehlten? Sie waren ja schließlich alle berufstätig. (Außerdem hatten wir, wie viele in der DDR, kein Telefon, und Handys gab es ja auch noch nicht.)

Mit Beginn der Trotzphase suchte ich auch nach tragfähigen Erziehungskonzepten. Da wir einen sehr lebhaften kleinen Jungen hatten, fragte ich mich oft: Was kann ich erlauben, was muss ich verbieten, wo und wie sollten Grenzen gesetzt werden? Was kann ich überhaupt in welchem Alter erwarten? Oder braucht man etwa doch die Fachleute aus der Krippe? Wie oft habe ich mit all diesen Dingen gerungen!

Ich kam trotzdem immer wieder zum Schluss: Arbeiten gehen und mein Kind weggeben ist keine Alternative für mich! Ich wollte die Herausforderung annehmen und das Beste daraus machen. Unterstützend wirkte, dass mein Mann von vornherein größeres Vertrauen in mich und auch zu sich hatte, dass wir das schon schaffen könnten. Wie ich diese Fragen schließlich zu beantworten gelernt habe, und dass ich hier in mancherlei Hinsicht ganz andere Blickwinkel finden durfte, auch davon handelt dieses Buch.

„Wenn ich ein Vöglein wär …“:
Erinnerungen an meine eigene Krippenzeit

Mein kleines Kind in eine Krippe bringen – das war für mich ein Unding. Alles in mir legte sich quer, wenn ich nur daran dachte. Dazu hätte man mich wohl abführen müssen. Ich hätte wirklich jedes erdenkliche Opfer dafür gebracht, es nicht tun zu müssen. Ich bin heute noch dankbar, dass mein Mann ebenso dazu bereit war, auf mein Gehalt zu verzichten, selbst wenn wir den sprichwörtlichen Gürtel hätten enger schnallen müssen.

Wenn ich nach dem Warum gefragt wurde, war ich mir meiner Antworten eher unsicher: dass die Kinder in der Krippe so viel krank seien, dass es mir so leid täte, wenn sie weinen, und dass ich die Entwicklungsschrittchen meines Kindes gerne selbst erleben würde. Das entsprach ja auch den Tatsachen. Den tieferliegenden Grund allerdings traute ich mir nicht zu erwähnen, nämlich die Erinnerungen an meinen eigenen Krippenbesuch. Meine Krippenzeit begann, als ich 2 ¼ Jahre alt war. Das war ein so drastischer Einschnitt für mich, dass mein bewusstes Erinnerungsvermögen bereits zu diesem frühen Zeitpunkt begonnen hat. Ursprünglich hatte ich meine Erinnerungen nur deshalb aufgeschrieben, weil ich sie aufarbeiten wollte. Ich veröffentliche sie hiermit, weil ich, da ich auch einmal ein kleines Kind war, meine Stimme für die heutigen kleinen Kinder erheben möchte, deren Grundbedürfnisse wenig wahrgenommen werden.

Erste Erinnerung

Es scheint mitten in der Nacht zu sein. Draußen ist es noch dunkel. Aber ich stehe bereits angezogen mit meinem grünen Lodenmäntelchen im Treppenhaus unseres Wohnhauses. Meine Mutti nimmt mich an der Hand, und wir gehen los. Kalt pfeift der Wind zwischen den Neubaublocks hindurch. Wir gehen über einen freien Platz. Da weht der kalte Wind bis tief in mich hinein und Verzweiflung würgt im Hals: Dort ist das Haus, in dem ich schon einmal war, und wohin ich jetzt wieder gebracht werde. Aber warum? Da sind wir auch schon an der Eingangstür. Ein Summer ertönt. Die Tür geht auf und gibt den Blick auf eine weiße Schürze frei. Ich klammere mich an meiner Mutti fest und schreie …, bestehe nur noch aus panischer Angst! Ein fester Griff umfängt mich. Die Tür geht zu. Die Mutti ist fort! … Warum? Warum gibt sie mich hier ab und geht fort? Ohne mich?

Zweite Erinnerung

Ich schreie, schreie, schreie …, schlage um mich. Vor lauter Tränen kann ich nichts sehen. Ich weiß nicht, wie ich in das Zimmer gekommen bin, in dem mich jetzt eine Frau mit freundlicher Stimme anspricht. Ich schreie weiter. Sie öffnet die Glastür eines weiß angestrichenen Schrankes und holt ein Taschentuch heraus. „Guck mal, das schenke ich dir“, will sie mich ablenken und trösten. Das Taschentuch ist wunderschön: Rot, Grün und Gelb – ganz bunt. Wegen der Tränen sehe ich nicht deutlicher. Eigentlich finde ich Taschentücher toll. Aber ich will es nicht! Nicht von dieser unbekannten Frau und nicht in diesem Haus! Ich will mich nicht beruhigen! Ich schreie, bis ich nur noch erschöpft schluchze.

Dritte Erinnerung

Zusammen mit vielen anderen Kindern sitze ich an einem großen runden Tisch. Eine Erzieherin deckt ihn mit einem ebenso großen, rotkarierten Wachstuch. Jedes Kind bekommt einen farbigen Plastebecher mit Milch und ein Stück Rührkuchen dazu. Der Kuchen wird unmittelbar auf das Wachstuch gelegt und nicht auf einen Teller wie zu Hause. Ich finde das sehr eigenartig und völlig falsch. Der Kuchen schmeckt gut, aber die Milch ist viel zu kalt. Weil ich sie nicht trinken kann, bin ich „Bummelletzte“. Ich soll die Milch endlich austrinken! Aber es geht einfach nicht. Man bringt mich in ein dunkles Zimmer; hier muss ich so lange bleiben, bis der Becher leer ist! Ich bin ganz allein … Ich fürchte mich.

Vierte Erinnerung

Ich befinde mich in einem Spielzimmer: An den Wänden stehen Regale mit Spielzeug und in der Mitte befindet sich eine Holzrutsche. Alle Kinder sollen sich hintereinander anstellen, die Holzleiter hinaufklettern und herunterrutschen. Auch ich klettere hinauf. Als ich aber oben bin, traue ich mich nicht zu rutschen. Nein, es ist mir zu gefährlich. So drehe ich einfach um und klettere gegen den „Strom“ der anderen wieder hinab. Dafür ernte ich einen missbilligenden Blick.

Fünfte Erinnerung

In demselben Raum: Wir rutschen nicht mehr. Die anderen Kinder toben laut um mich herum. Puppen liegen in einer Kiste. Sie sind nur halb angezogen und wirken schmuddelig. Sie gucken mich mit ihren fremden Gesichtern an. Ich fühle mich verloren.

Eine Erzieherin sitzt auf einer mit rotem Kunstleder bezogenen Bank am Fenster und strickt. Ab und zu wandert ihr prüfender Blick durch den Raum. Ich setze mich vor sie hin und sehe ihr eine ganze Weile zu: Sie strickt etwas aus hellblauer Wolle, die Stricknadeln klappern, die Finger bewegen sich flink und emsig. So kommt Maschenreihe zu Maschenreihe.

Dann sehe ich einen schönen Handwagen aus Holz mit roten Rädern. Da hinein setze ich mich; ich passe genau hinein, allerdings kneifen die Seitenwände in die Beine. Ein anderes Kind fängt an, den Wagen zu ziehen: immer rundherum um die Holzrutsche. Ich gucke nur auf die Räder, wie sie sich drehen. An einer Stelle wird es interessant: Dort läuft die Rutsche aus und der Wagen muss über das auf dem Fußboden liegende Brett hinüberrollen. Und weiter geht es rundherum, … wieder und wieder. Da wo die Seitenwände in die Beine drücken, tut es nun richtig weh, und ich rücke mich ein wenig zurecht. Ich bleibe trotzdem in dem Wagen hocken, denn die enge Begrenzung tut mir gut. Und es geht weiter rundherum … immer und immer wieder … ewig lange.

Sechste Erinnerung

Wir sind draußen zum Spazierengehen bzw. -fahren. Ich sitze mit fünf anderen Kindern in einem der typischen Krippenwagen; jeweils drei Kinder sitzen einander gegenüber, in der Mitte befindet sich ein Brett wie eine Art Tischplatte. Ich sehe Bäume, deren Blätter zu Boden fallen, Vögel und eine Straßenbahn. Ich genieße die frische Luft, aber gleichzeitig fröstele ich. Ich bin nur mit Strumpfhose und Strickjacke bekleidet, während ich morgens Hose und Mantel anhatte.

Siebente Erinnerung

Alle Kinder sitzen an einer langen Tafel (mehrere Tische mit rosaroter Tischplatte sind aneinandergestellt). Wir warten auf irgendetwas. Ich weiß nicht worauf, aber es dauert wieder sehr lange. Genau mir gegenüber sitzt ein Junge mit strohblonden Haaren und stumpfem Gesichtsausdruck. Die einzige Bewegung in seinem Gesicht ist das „Hochziehen“ der Nase, in der dicker gelber Schnupfen hängt. Ich beobachte ihn und lauere schon auf das nächste Hochziehen. Plötzlich greift eine Hand von hinten in die blonden Haare des Jungen, dreht ihm den Kopf ruckartig zur Seite und die andere Hand putzt ihm grob und hastig die Nase. Kurzes Erschrecken blitzt in den Augen des Jungen auf, um danach sofort wieder in diesen stumpfen Gesichtsausdruck zu verfallen. Dieser Junge ist das einzige Kind, an dessen Gesicht ich mich erinnern kann.

Achte Erinnerung

Es gibt Mittagessen. Ich habe keinen Appetit; mein Hals ist wie zugeschnürt. Der Spinat und das Ei sind so salzig, dass ich nichts essen kann. Da werde ich von hinten her hart am Kopf gepackt und ein voller Löffel wird mir in den Mund gestopft. Ich schreie – der Griff wird fester –, der volle Löffel kommt erneut, wieder und wieder in meinen Mund hinein. Ich kann nicht mehr! Ich schreie, huste, ringe nach Luft – blaue und grüne Kreise tanzen vor meinen Augen … Hilfe …!

Neunte Erinnerung

Es werden kleine Pritschen aus Holz aufgestellt, denn jetzt sollen wir schlafen. Wir müssen uns darauflegen, und es hat absolute Ruhe zu herrschen. Keiner darf sich bewegen, zum Beispiel sich etwas bequemer hinlegen oder auch nur an der Nase krabbeln. Die Liegefläche ist ein Holzbrett, worüber eine einfache Decke gelegt wurde. Also liegt man sehr hart.

Meine Haarspange hat keiner aus den Haaren gelöst und ich kann es noch nicht alleine. Also muss ich auf ihr liegen. Sie drückt und tut sehr weh. Ich versuche, mich langsam und vorsichtig anders hinzulegen, sodass es nicht bemerkt wird. Schon ist ein erbostes Gesicht über mir und weist mich zurecht. Aber es tut so weh – ich kann so nicht liegen –, langsam drehe ich wenigstens den Kopf. Schlafen kann ich auf keinen Fall.

Zehnte Erinnerung

Es kommt die Zeit des Abholens – die Kinder werden angezogen. Ich ebenfalls. Ich sitze in einem Vorraum an einem Tisch. Ich weiß nicht, wie lange ich so sitze. Ich spiele mit einem Kleiderbügel und schiebe ihn über die Tischplatte: hin und her und her und hin. Aber eigentlich warte ich – so, wie ich die ganze Zeit hier nur gewartet habe –, dass endlich die Tür aufgeht und meine Mutti wieder da ist. Ein paar Mal geht die Tür auf, ohne dass es mir gilt: zuerst Freude, dann Enttäuschung! Da ich bereits meinen Wintermantel, die Stiefel, Mütze, Schal und Handschuhe anhabe, schwitze ich in dem ohnehin überheizten Raum furchtbar. Schweiß steht mir auf der Stirn; ich bin schon ganz nassgeschwitzt. Ich warte … und schwitze … ewig lange …

Da, endlich, die Mutti ist da. Ich bin zu erschöpft, um glücklich zu sein. Aber unendlich erleichtert kann ich auf ihre Arme und durch die Tür, die mich hier unerbittlich festgehalten hat, ins Freie. Eisig schlägt mir die kalte Winterluft entgegen und geht durch bis auf die Haut. Je näher wir unserem Zuhause kommen, desto mehr löst sich der Kloß in meinem Hals. Mein erstes Wort soll immer „Mimi“ (Milch) gewesen sein, sobald ich unser Wohnhaus erblickte. (So erinnert sich meine Mutter.) Ich war körperlich und seelisch wie verdurstet.

Elfte Erinnerung

Ich liege zu Hause in meinem weißen Kinderbett. Ich bin krank. Hohes Fieber, schmerzende Glieder und starker Husten quälen mich. Mir tut alles weh. Aber ich bin unendlich glücklich, denn ich bin krank und kann nicht gehen. Nirgends hin! Vor allem nicht in die Krippe! Die Mutti ist da! Sie bringt Tee, macht Wadenwickel und streichelt mich. Alles ist gut!

Meine Krippenzeit dauerte offiziell nur etwa vier Monate. Tatsächlich aber war ich immer eine Woche dort und vier Wochen krank. Vor dem Krippeneintritt war ich nie krank. Vom Erwachsenenstandpunkt aus sind die wenigen Tage, die ich wirklich – und dann nur für sechs Stunden – dort war, geradezu lächerlich und völlig zu vernachlässigen. Meinem Empfinden nach aber hat diese Zeit ewig gedauert.

Kleine Kinder sind schließlich auch Menschen. Sie haben auch schon Gefühle. Aber noch mehr: Das kleine „Herz“ ist noch besonders zart und verletzlich. Sie können ihre Gefühle nur noch nicht in Worte fassen; sie können nur schreien. Für mich war das Ganze wie die Vertreibung aus dem Paradies. Es war ein Gefühl großer Verlorenheit und Einsamkeit. Ich hatte keinen festen Boden mehr unter den Füßen und kam mir vor, als hinge ich über einem Abgrund und würde jeden Augenblick losgelassen. Das Schlimmste war nicht das teilweise Fehlverhalten der am Anfang der 60er Jahre noch ungelernten Erzieherinnen, sondern das Verlassensein von der Mutter; ein Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein. Meine Welt stimmte nicht mehr! Ich fühlte mich bestraft für etwas, was ich nicht wusste. Meine Mutter sagt heute noch, dass es ihr fast das Herz zerrissen hat, wenn ich morgens beim Hinbringen sagte: „Bin doch lieb.“

Man könnte mir entgegenhalten, wohl besonders sensibel zu sein. Aber keine Schwangere weiß im Voraus, wie ihr Kind sein wird und was es unbeschadet verkraftet. Obwohl ich in meiner weiteren Kindheit und Jugend äußerlich sehr stabil, motiviert und leistungsfähig war, dauerte es trotzdem Jahre, bis ich den Krippenbesuch in der Tiefe und im Detail verkraftet hatte. Im Vorschulalter zum Beispiel sang meine Mutter mit mir häufig Kinderlieder; es machte uns beiden viel Freude. Zwei Lieder vertrug ich allerdings überhaupt nicht, und zwar: „Wenn ich ein Vöglein wär’ …“ und „Kommt ein Vogel geflogen …“.

Beim ersten Lied heißt es in der ersten Strophe: „Wenn ich ein Vöglein wär’ und auch zwei Flügel hätt’, flög ich zu dir. Weil’s aber nicht kann sein, weil’s aber nicht kann sein, bleib ich allhier.“ Sofort fand ich mich in heftigem Schluchzen wieder und war untröstlich. Genauso beim zweiten Lied: „Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein’ Fuß, hat ein’ Zettel im Schnabel, von der Mutter einen Gruß. Lieber Vogel, fliege weiter, nimm ein’ Gruß mit und ein’ Kuß, denn ich kann dich nicht begleiten, weil ich hier bleiben muß.“

Diese Worte lösten einen furchtbaren und tiefen Schmerz aus. Mein ganzes Ich war Schmerz! Alles war wieder da! Dieser ganze wahnsinnige Trennungsschmerz, wenn meine Mutter gegangen war und ich in der Krippe zurückblieb. Wenn ich aber ein Vöglein gewesen wäre, dann wäre ich fort aus diesem verschlossenen Haus und durch irgendein offenes Fenster zu meiner Mutti geflogen. Aber ich war dort eingesperrt und musste dort eben bleiben. Wie ein Vöglein im Käfig! Natürlich sang meine Mutter diese Lieder dann nie mehr mit mir. Selbst heute noch wird mir mulmig, wenn ich sie höre.

Bis weit in das Jugendalter hinein plagten mich immer wieder Albträume des gleichen Musters: Ich war in mir unbekannten Häusern gefangen und wurde von unsichtbaren Verfolgern über Treppen und Flure gejagt. Es gab kein Entrinnen, bis ich schließlich, in Schweiß gebadet, laut schreiend, erwachte. Weiter hatte ich extreme Probleme mit dem Essen. Bis etwa zum zehnten Lebensjahr fürchtete ich mich buchstäblich vor jeder Mahlzeit. Nicht, dass ich keinen Hunger bzw. Appetit gehabt hätte. Ich saß vor dem Essen wie mit zugeschnürter Kehle. Die Bissen blieben mir regelrecht im Halse stecken, und das Schlucken war wie blockiert. Das brachte natürlich mit sich, dass ich sehr zart und anfällig wurde bzw. blieb. Mit viel Liebe und Geduld versuchte meine Mutter mit allen erdenklichen kräftigenden und appetitanregenden Mitteln meine Abwehrkräfte zu stärken. Trotzdem war ich sehr viel krank; immer wieder Bronchitis. Diesen Schwachpunkt habe ich ins Leben mitgenommen; ich brauche heute täglich Medikamente gegen Asthma.

Seelische Narbenschmerzen spüre ich auch heute noch, und zwar sobald mir zum Beispiel eine Frau erzählt, dass ihr Kind jetzt auch in die „Einrichtung“ oder Krippe geht, oder wenn Politiker davon schwärmen, dass sie auch im Westen flächendeckend Krippen schaffen wollen, oder dann, wenn ich die Situation des „Abgebens“ und das Schreien des Kindes miterleben muss. Dann spüre ich, wie das an meinem Innersten zerrt.

Das erste Mal, als mir das bewusst wurde, war ich noch Studentin: In dem damaligen Ost-Berliner Neubaugebiet Berlin-Marzahn hatte ich eine Studienaufgabe zu erfüllen. Da es zu diesem Zeitpunkt in diesem noch im Bau befindlichen Stadtteil weder befestigte Straßen noch Straßenbezeichnungen gegeben hat, verirrte ich mich völlig. Einige Schulen waren schon in Betrieb, und da es schließlich noch keine Handys gab, entschloss ich mich, einfach in der nächstliegenden Schule nach dem Weg zu fragen. Im Eingangsbereich dieser Schule spielte sich Folgendes ab: Da es in diesem Stadtteil noch keine Kindereinrichtungen gab, hatte man eine solche vorläufig im Erdgeschoss untergebracht. Ein Vater wollte sein etwa dreijähriges Kind in der Einrichtung abgeben. Aber das Kind wollte nicht hineingehen; es sträubte sich und wimmerte. Vater und Kind rangelten an der Glastür hin und her. Der Vater schrie das Kind an, es solle endlich gehen, endlich „abhauen“. Unter Schluchzen bat das Kind den Vater, er möge es doch wenigstens hineinbringen. Aber es half ihm nichts: Der Vater riss mit einem Ruck die Tür auf und schubste das verzweifelt schluchzende Kind in den Raum. Die Tür knallte zu, und er ging mit kalter Miene weg. Ich weiß nicht, was an diesem Tag sonst noch vorfiel. Ich hörte ständig dieses furchtbare Schreien. Es verfolgte mich tagelang. Ich war auf das Tiefste erschüttert. Ich war aufgewühlt und gleichzeitig wie gelähmt. Das Schreien dieses Kindes hatte in mir einen wunden Punkt getroffen: mein eigenes Schreien beim Abgeben in der Krippe, meine eigene Verzweiflung als kleines zweijähriges Mädchen. Alles war wieder da, und alles schrie in mir. Spätestens in diesem Augenblick habe ich mir geschworen, dass ich keines meiner Kinder einmal in eine Krippe bringen würde, koste es, was es wolle. Das wollte ich ihnen ersparen.

Wie schon erwähnt, beendete meine Mutter ihre Erwerbstätigkeit nach etwa vier Monaten wieder, als ich wieder einmal so krank war, dass es bereits lebensbedrohlich wurde. Sie hat unter der Situation, mich abgeben zu müssen, ebenso gelitten wie ich. Auch heute noch empfindet sie diese Zeit als eine der schwärzesten ihres Lebens. Sie erzählt immer davon, dass ihr morgens die Tränen übers Gesicht liefen, bis sie an ihrem Arbeitsplatz angekommen war. Dort arbeitete sie ohne Frühstücks- und Mittagspause durch, um mich so schnell wie möglich wieder abholen zu können. Auch kam ihr das, was sie dort zu tun hatte, belanglos vor, obwohl es objektiv eine interessante und erfüllende Arbeit war. Sie fühlte sich einfach zur falschen Zeit am falschen Platz. Bei ihren Kolleginnen fand sie keinerlei Verständnis. Wenn meine Mutter auch nur andeutete, dass ich unter der Situation litte, und dass sie sich nicht vorstellen könne, dass das gut sei, ging es auf sie nieder: „Da muss man hart bleiben … Wenn Sie so weitermachen, da kriegen Sie die [damit war ich gemeint] nie los. Die wird Ihnen ewig am Rockzipfel hängen!“

Um wieder „aussteigen“ zu können, kam der traurige Umstand des Todes meines Großvaters zu Hilfe. Meine Großmutter erkrankte schwer und bedurfte der Pflege. Merkwürdigerweise hatte man dafür Verständnis; die Not eines kleinen Mädchens zählte nicht. Im wahrsten Sinne des Wortes aufatmend genossen meine Mutter und ich, dass wir wieder beieinanderbleiben konnten. Ich danke meinen Eltern sehr herzlich dafür, dass sie die Liebe und Kraft hatten, auf ihrem eingeschlagenen Weg umzukehren und mich wieder zu Hause zu behalten. Ich glaube kaum, dass ich heute so gefestigt wäre, wenn sie weiter DDR-typisch gelebt hätten. Das hätte für mich bedeutet: weiter Krippe, dann Kindergarten – beides möglichst ganztägig – und schließlich Schulhort.

Trotz des geringen Einkommens meines Vaters, trotz des allgegenwärtigen Drucks, der Schikanen und Nachteile, die er als Lehrer einer EOS (Erweiterte Oberschule = Abiturstufe, sog. „sozialistische Kaderschmiede“) wegen seines „bürgerlichen“ Lebensstils hinnehmen musste, und trotz der Bemerkungen, die sie aus ihrem Umfeld zu hören bekamen, haben sich meine Eltern von ihrer Entscheidung durch nichts mehr abbringen lassen. Was das im Einzelnen bedeutet, kann nur jemand nachvollziehen, der in einer Diktatur gelebt hat, und zwar nicht angepasst. Meine Eltern haben mir und meiner Schwester eine glückliche Kindheit mit einer liebevollen Familienatmosphäre – ein warmes „Nest“ in einer kalten Zeit – geschenkt.

Kinderkrippen: Alte Argumente „neu aufgegossen“

Nach der Wende hatte ich die große Hoffnung, dass mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes alles Systemimmanente mit verschwinden würde. Und die Krippen zählte ich unbedingt dazu. Auch wenn es anfangs danach aussah, regte sich zu meinem allergrößten Erstaunen bald zäher Widerstand, wenn es um das Antasten oder Infragestellen des Krippensystems ging. Ich konnte mir das lange nicht erklären, zumal ich mich erinnern konnte, dass in der DDR-Zeit in Gesprächen durchaus Kritik an den Krippen geäußert wurde. Noch mehr indes befremdeten mich die „Töne“, die sich zunehmend aus dem Westen vernehmen ließen: „Die Krippen seien unter anderem doch das Beste an der DDR gewesen. Die müsse man doch erhalten. Davon könne man doch lernen.“ Ich traute meinen Ohren nicht. Ich schrieb Briefe an Zeitungen, Sender und Ministerien. Sie mussten doch erfahren, was die Trennung für ein kleines Kind bedeutet. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Gesellschaft, die Recht, Freiheit und Humanität in ihrer Verfassung verankert hat – alles, wovon ich immer geträumt hatte –, so etwas wie Krippen auch nur ansatzweise befürworten konnte.

Dass man das Krippensystem nicht nur im Osten unreflektiert weitergeführt hat, sondern dass man es als neuesten „Schrei“ moderner Familienpolitik auch im Westen einführt, ist für mich die bitterste „Pille“ der Entwicklung nach der Wende. Das CDU-geführte Familienministerium hat sich zum Ziel gesetzt, 500.000 neue Krippenplätze bis 2013 zu schaffen.1 Jedes dritte Kind unter drei Jahren soll in einer Kindereinrichtung (bzw. bei einer Tagesmutter) betreut werden. Ab 2013 soll es ferner einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz vom vollendeten ersten bis zum dritten Lebensjahr geben.

Über alle Parteigrenzen hinweg hört man unisono die gleichen Argumente: Im Westen Deutschlands müsse man in der Betreuungsfrage endlich aufholen und die Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen ausbauen, damit sich die Entwicklungschancen der Frauen in Beruf und Karriere denen der Männer anglichen. Außerdem müsse die Vereinbarkeit von Beruf und Familie deutlich verbessert werden. Das sei insbesondere für hochqualifizierte Frauen von Bedeutung. Schließlich könne in Deutschland nur so die Geburtenrate gesteigert werden, was ja dringend nötig sei, da aufgrund der Überalterung der Bevölkerung sämtliche Sozialsysteme zu kippen drohen. Ferner gäbe es immer mehr Alleinerziehende und Familien, die aus finanziellen Gründen berufstätig sein müssten. Außerdem hätten die Kleinen nur in den Kindereinrichtungen die gleichen Chancen auf Bildung, frühe Förderung bzw., durch den Kontakt mit anderen Kindern, die Chance auf die Entwicklung von Sozialkompetenz, und zwar unabhängig vom familiären Hintergrund.

Alles schöne Worte. Der kleinste Zweifel scheint hier völlig inakzeptabel. Die Einigkeit ist fast unheimlich. In mir steigt jedes Mal das blanke Grauen hoch. Zum einen, weil ich mich erinnern kann. Zum anderen, weil mir das alles so bekannt vorkommt:

Für die volle Durchsetzung der Gleichberechtigung der Frau haben unsere Kindereinrichtungen einen wesentlichen Beitrag zu liefern, weil sie der Mutter weitgehend die Ausübung ihres Berufes, ihre berufliche und kulturelle Qualifizierung und ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Die Tages- und Wochenkrippen für Kinder der ersten drei Lebensjahre dienen nicht allein der Entlastung unserer Mütter, sondern stellen eine wertvolle und wirksame Ergänzung der Familienerziehung dar.2

So steht es in einer 1972 in der DDR publizierten Säuglingsfibel. Man kann sicher sein, dass das die offizielle „Lesart“ war, denn sonst hätte dieses Buch nie erscheinen dürfen. Und heute? Folgendes steht in einem an mich gerichteten Antwortschreiben aus dem deutschen Familienministerium im Jahre 2007:

… Gerade junge Frauen wollen heute ganz selbstverständlich, was für Männer schon immer möglich war, nämlich ihre berufliche Qualifikation nutzen, finanziell unabhängig bleiben und trotzdem nicht auf Familie verzichten … Kindertagesstätten bieten ein komplementäres – und bei problembelasteten Familien ein kompensatorisches – Angebot zur Erziehung und Bildung in der Familie.

Wie abgeschrieben! Es drängt sich der Eindruck auf, dass man in der bundesdeutschen Familienpolitik manche geistige Tradition der DDR offenbar weiterzuführen beabsichtigt. Während es nicht einmal in der totalitären DDR ein Gesetz gegeben hat, das eine Krippen- oder Kindergartenpflicht festlegte, gibt es heute unter freiheitlich-rechtlichen Verhältnissen einflussreiche Kräfte in der Politik, die laut über die Einführung einer derartigen Pflicht nachdenken. So forderte zum Beispiel die Bürgermeisterin einer norddeutschen Stadt kürzlich eine Krippenpflicht bei gleichzeitiger Streichung des Kindergeldes. Gleichfalls forderte die Vizevorsitzende des DGB, Ingrid Sehrbrock (CDU), eine Krippenpflicht (sowie eine Kindergarten- und Ganztagsschulpflicht), was die Grünen begrüßten.3alle!