Meinen lieben Enkelkindern

Yahel und David Appenzeller

Verena Appenzeller

Der Diskos von Phaistos – Kretas erster Krimi?

Books on Demand

Inhaltsverzeichnis

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

© 2005 Verena Appenzeller

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7322-0138-9

Was man unbedingt wissen sollte:

Es gibt manches Rätsel, das die Menschheit noch nicht gelöst hat. Solch ungelöste Rätsel sind etwa der Untergang des Platonstaates Atlantis, oder der Mensch Jesus, oder die dunklen Jahre Shakespeares – jedes Rätsel ein Ärgernis für Wissenschaftler und Gelehrte; doch gleichzeitig ein Glücksfall für Bildungsbürger, denn ungestraft darf jedermann forschen und mit todernster Miene originelle und ausgefallene Lösungen präsentieren. Wer kann ihn widerlegen? Ein herrliches Tummelfeld für Pseudowissenschaftler, Möchtegern-Gelehrte, Romantiker, Dichter!

Eines der spannendsten und zugleich aussichtslosesten Rätsel ist der Diskos von Phaistos, eine kleine Tonscheibe, 16 cm im Durchmesser, 2 cm dick, hübsch braunrot gebrannt. 242 Zeichen sind klar und gut lesbar auf beiden Seiten eingestempelt, säuberlich in einer Spirale angeordnet.

Da steht er unschuldig in Vitrine 41 des Saales III im Erdgeschoss des Archäologischen Museums von Iraklion, der Diskos von Phaistos, und Horden von neugierigen Touristen glotzen ihn plichtschuldigst an; der Reiseführer, der lebendige oder der gedruckte, will es so.

Schon an die hundert Jahre, genau seit dem 3. Juli 1908, ist er ein Ärgernis, ja ein Schandfleck auf der weissen Weste der Altertums-Wissenschaftler. Zwar können sie stolz auf sagenhafte Leistungen bei unglaublichen Problemen hinweisen – schlimm verstümmelte Striche und Haken, Punkte und Bogen auf elenden Scherben vermögen sie in klingende und verständliche Silben umzusetzen, ausgefranste Manuskripte mit verblichenen Zeichen können sie mühelos entziffern. Doch beim Diskos von Phaistos will es nicht klappen. Dabei gibt es keine Ausrede, etwa die Scheibe sei ein Fragment, die Zeichen seien verwischt, die Ränder seien abgebrochen. Der Diskos ist perfekt erhalten, klar, deutlich steht jedes Zeichen da, so frisch, wie wenn es gestern eingestempelt worden wäre.

Doch was wollen die Zeichen sagen?

Unser Diskos schweigt verschmitzt, er führt die gelehrtesten Gelehrten und die phantasievollsten Phantasten an der Nase herum.

Man vermutet und hat sich im Wesentlichen darauf geeinigt, dass er aus dem 2. Jahrtausend v.Chr. stammt und aus kretischem Material hergestellt wurde. Doch schon beim Bestimmen der Sprache hapert es empfindlich – spricht der Diskos urgriechisch, luwisch, semitisch, kyprisch, slawisch? All das und vieles mehr wurde schon vorgeschlagen. Aber wie soll man sich je auf eine Sprache festlegen, wenn man sich noch nicht einmal darauf geeinigt hat, ob die Spirale von aussen nach innen oder von innen nach aussen gelesen werden soll, und welche Seite die Vorderseite ist?

Unzählige Übersetzungsversuche werden geboten – jeder Versuch wird als der ultimativ richtige angepriesen – doch kann mehr als einer richtig sein?

Hier einige Muster:

Ist es ein Aufruf zum Kampf?

Hear ye, Cretans and Greeks: my great, my quick! Hear ye, Danaidans, the great, the worthy! Hear ye, all blacks, and hear ye, Pudaan and Libyan immigrants! Hear ye, waters, ye earth: Hellas faces battle with the Carians. Hear ye all! Hear ye, Gods of the Fleet, aye hear ye all: faces battle wih the Carians … To Naxos! 1

Eine Botschaft an die Kreter nach einem Erdbeben?

Talaio, König der Pyliägäätier. Talaio, dieses zum Heilruf der Götter, segnet den Boden der gemeinsamen Ursprünge der Abstammung der Kreter, der Überlebenden des Erdbebens, der Wesensart der Pyliägäätier, der Kreter vor dem Erdbebenverderben. Soviele Danaer sandten Nachgebete nach Kreta. In der Freuenden eigenen Händen der dem Toben entronnen (ist) Gnosos.2

Ist es eine Erzählung von einer Landnahme?

We are on an island. We take the boat and go downstream. The water hammers at the boat. We call upon the god of the starry sky and are guided by the constellation Canis. We reach a piece of land. The water hammers at the land. There is fire thanks to the woman and she pushes the priest aside.

There is land with timber due to the god of the weather. The god of the vegetation is operating here, the land is very fertile …3

Oder gar ein Sex-Ratgeber?

Sei tief hineindringend, Lüsterner!

Bewege dich tief hinein, Fisch, (in) deinen Mund!

Mein Gewandter sehnt sich heftig,
der Tüchtige (ist) für mich glühend.

Bei mir, (o) der träufeln lässt, blase!

(O) von einer glühenden Leidenschaft Erfasster,

Lüsterner, mein heisses Verlangen (ist da)!

Der Tüchtige (ist) für mich glühend.

Bewässere das, was verschlossen (ist)!

Der Tüchtige (ist) glühend. 4

Es könnte auch ein Jahrtausend-Kalender sein

... dass der Diskos in vier Hauptmodule unterteilt ist und hiebei aus dem Aufgabenbereich der Priesterschaft das Schema eines Kalendariums entschlüsselt werden muss um dann aus den erkannten Ideogrammen die weiterführenden Botschaften entkrypten zu können. Es wurde offensichtlich, dass;

1. die Anzahl der 30 Felder mit den 12 Aussenfeldern zu multiplizieren und durch die Anzahl der Korrekturpunkte im jeweils letzten Feld zu ergänzen ist ... man erhält dann für die Seite B die Summe 12*30+5 = 365. Diese Zahl entspricht der Einteilung der Monate und der Anzahl der Zusatztage (Epagomenen) eines Gemeinjahres ... 5

Ist es gar eine Botschaft von Ausserirdischen?

it clearly contains links to space, planets and those who come from outward... The planet Earth has number seven on this disk – as counted from outward towards the sun … 6

Anmerkungen

1 Steven Roger Fischer: «The Glyphbreaker» New York 1997, S.115

2 Dettmer Otto: «Das Rätsel des Diskos von Phaistos. Das schwerste Kreuzworträtsel der Welt». Berlin 1989 S.108

3 Hedwig Roolvink, http://members.tripod.com/hedrool/#deel%202

4 Kjell Aartun, «Die Minoische Schrift – Sprache und Texte», Band I, Wiesbaden 1992, S.198f

5 Bernd Schomburg: «Der Jahrtausend-Kalender der Minoer, Kap. II, Der kryptologische Schlüssel des Diskos.» http://home.t-online.de/home/bernd.schomburg/

6 Joachim Koch über Fritz Kuroso, «UFO UpDates» http://www.virtuallystrange.net/ufo/updates/1997/apr/m30-008.shtml

(Weitere Angaben zum Diskos und Zeichentabelle im Anhang)

1

Manis liess sich auf den Boden fallen, schlapp, platt auf den Rücken. Da wäre er nun in Sicherheit. Hier im Olivenhain, hinter der Mauer, konnte er endlich wieder atmen.

Das Erdbeben war dramatischer ausgefallen, als man es in Kreta sonst gewohnt war.

Für die Strecke von Anemospili, oben am Abhang des Juchtas, bis nach Knossos hinunter hatte er diesmal seine persönliche Bestzeit übertroffen, das spürte er in allen Gliedern. So schnell war er noch nie den Berg hinunter in die Stadt gerannt, und erst noch barfuss. Schade nur, dass seine Brüder nicht Zeugen seiner Spitzenleistung geworden waren.

Er stutzte. Seine Brüder? Wo waren sie wohl? Lebten sie noch?

Die Priester hatten also recht behalten. Mit herablassendem Lächeln hatten sie den Kretern schon seit Wochen drohendes Unheil angesagt. Und sie hatten sich erst noch sichtlich geweidet am Entsetzen der Zuhörer. Woher die Priester nur gewusst hatten, dass ein Erdbeben von besonderer Stärke im Anzug war? Ihr Gespür war trotz allem recht präzis, das musste Manis ihnen zugestehen. Er hatte sich zwar immer lustig gemacht über die Wichtigtuerei der Wahrsager oben im Tempel von Anemospili – nicht laut und vor Publikum, versteht sich, sondern nur seinen Brüdern und Spielkameraden gegenüber – doch diesmal hatten die Weissager tatsächlich recht behalten. War doch etwas dran an den Formen der Wolken, am Verhalten der Stiere, an der Anzahl der Geburten bei den Schlangen?

Dieses letzte Erdbeben war massiver gewesen als die der vergangenen Wochen, das hatte wohl jedermann gespürt. Dass es allerdings genau das Erdbeben war, über welches graue Köpfe im Norden Europas noch in drei- bis viertausend Jahren reden und gelehrte Arbeiten schreiben würden, das hatte niemand gemerkt. Jede Wette hätte man da von vornherein verloren.

Im Vorhersagen eines besonderen Bebens hatten die Priester also recht behalten, aber war das so rühmlich? Viel nützlicher wäre eine andere Kunst gewesen: das Verhindern des Unheils, das Abwenden des Zornes, das Umstimmen der Götter. Diese Kunst schien völlig versagt zu haben. Es war mit allen Ritualen und Opfern nicht gelungen zu verhüten, dass der Boden sich immer kräftiger hob und senkte, dass ein Unwetter tobte und dass sich die Wellen am Ufer närrisch gebärdeten, und dass schliesslich die Wände des Tempels bedrohlich schwankten und das Dach des Geräteschuppens schon einstürzte, als er sich davonmachte. Dagegen hatten sie anscheinend im Tempelgarten kein Kraut finden können.

Manis hustete, räusperte sich und spuckte. Woher kam denn der unangenehme Aschenstaub, der sich nicht in reine Luft auflösen wollte? Er stand auf und schaute gegen Norden.

Mit einem Blick wurde ihm alles klar – er hatte nicht nur ein etwas stärkeres Beben heil durchgestanden, sondern eine echte Katastrophe.

Eine Katastrophe nicht so sehr für Kreta, wohl aber für Kalliste.

Kalliste, das winzige Inselreich im Norden, konnte man an gewöhnlichen Tagen nicht von blossem Auge sehen, immerhin lag ein gehöriges Stück Wasser zwischen Kreta und der Insel. Sie ragte nicht sonderlich hoch in den Himmel mit ihrem dürftigen Pelias. Zum Lachen für einen Kreter, dass die Leute dort diesen drolligen Pelias «Berg» nannten. Unter Berg verstand man in Kreta wahrhaftig etwas Markanteres.

Doch jetzt sah Manis deutlicher als ihm lieb war, wo Kalliste lag. Dort nämlich, wo eine kolossale Feuersäule in den Himmel hineinwuchs und wo sich oben der Rauch zu einem riesigen Schirm ausbreitete.

Das kleine Kalliste, das war von blossem Auge zu erkennen, brannte, war geborsten, war dahin.

Die Kreter hatten seit längerer Zeit ein gespaltenes Verhältnis zu jenem Völkchen der Kallister, das ihnen kühn Konkurrenz zu machen versuchte in Schiffahrt, in technischem Fortschritt, in Kunst und Bildung. Keine der anderen Inseln nah und fern war so verwegen, an der Überlegenheit Kretas rütteln zu wollen. Dass die stolzen, überheblichen Leute auf Kalliste daher eine Strafe von den Göttern verdient hatten, das war jedermanns Meinung auf Kreta. Aber musste die Strafe wirklich so drastisch und unumkehrbar ausfallen? Jemand am Hebel der Welt war unzufrieden mit Kalliste, sehr unzufrieden, wahrscheinlich Zeus höchst persönlich. Er hatte Kalliste unwiderruflich ausgelöscht.

Manis wandte sich ab, weg vom Aschenstaub, der ihm ins Gesicht blies. Den riesigen Feuerpilz im Norden vor Augen zu haben, war nicht besonders beruhigend. Er kroch vorsichtig aus seinem Versteck hervor und drehte sich in die andere Richtung.

Er zuckte zusammen. Was er sah, war beinah noch schlimmer. Feuer auch im Süden! Ein grelles Licht blendete ihn. Was war denn das?

Von dort drüben, vom Hang des Juchtas kam es her, genau von der Stelle, wo bis anhin der Tempel selbstherrlich ins Unterland geblickt hatte. Genau von der Stelle, an der er selber noch vor nicht allzu langer Zeit gestanden war. Die Hochburg der Orakel, die Schule der Zeichendeutung, der Tempel der Prophezeiung, Anemospili stand in Flammen.

Nicht nur der Tempel. Mit zusammengekniffenen Augen sah Manis, wie die Feuersäule wuchs und greller wurde. Die Flammen schienen sich auf die Gebäude ringsum auszubreiten. Der Tempel mitsamt allem, was dazugehörte, die Hütten und Ställe und Schuppen für die Diener und Gärtner und Tierpfleger, und die vielen Tiere für die Opfer, alles brannte. Alles stand in hochauflodernden, gelben und roten Flammen, die immer mehr durchsetzt wurden von einem giftigen Blaugrün. Und mitten im Feuer drin, gleich neben dem Tempel, stand ja das Haus, das sein Heim war, das Haus mit seiner Mutter und seinen Geschwistern!

Wo waren sie wohl?

Er hoffte mit aller Kraft, dass auch sie davongelaufen waren.

Seine Mutter jedenfalls, wenn er es sich recht überlegte, hatte er in den letzten Stunden, als das Erdbeben sich erst zaghaft, dann immer deutlicher ankündete, nicht mehr gesehen. Die Mutter, das hatten alle gespürt, war nie recht heimisch geworden im Zentrum von Kreta, in Knossos und Anemospili. Der Vater hatte sie aus einem abgelegenen Dorf weit weg in den Bergen im Osten geholt. Nur wenige kannten diese Gegend. Dort lebten die Leute noch ursprünglicher, dort wurde der Opferkult nicht mit solchen Exzessen wie hier zelebriert. Im Dorfe der Mutter fand man die Rituale von Knossos und Anemospili schwulstig und übertrieben, in ihrem Dorf dienten die Menschen den Göttern auf ihre eigene, einfache Weise, sagte sie. So hatte die Mutter sich in Anemospili stets als Fremde gefühlt. Oft hatte sie ihren Kindern von ihrer Heimat und den besonderen Bräuchen in den Bergen erzählt. Ihrem Gatten gegenüber, dem Oberpriester von Anemospili, hätte sie allerdings nie gewagt, missbilligende oder kritische Worte zu brauchen.

War sie wohl rechtzeitig davongelaufen? Manis hoffte es für sie. So wäre sie gerettet, und wohl auch wieder aufzufinden.

Und was war mit seinen Brüdern geschehen? Er wagte nicht daran zu denken.

Und mit den Dienern und Gärtnern und Hilfspriestern?

Rasch duckte sich Manis hinter den Olivenbaum, als sich Stimmen näherten. Man konnte nicht vorsichtig genug sein. Er war ein Priestersohn, und die Stimmung im Volk den Priestern gegenüber war, milde ausgedrückt, getrübt. Besonders in letzter Zeit, als einiges schief ging, war die Hochachtung vor dem Tempel beträchtlich gesunken. Die Priester hatten dem Volk immer wieder seine Sünden vorgehalten, so wie es Priester seit Urzeiten gern taten und es immer wieder tun, in herablassender oder penetranter Weise. Damit sind sie fein raus, wenn etwas schief geht, alle Schuld kann bequem auf das dümmliche Volk abgeschoben werden. Die Aufgabe der Priester wäre es ja eigentlich, den heissen Draht zu den Göttern heiss oder wenigstens lauwarm zu halten. Doch ist es einfacher, Sündenböcke zu finden, die man für das Unheil verantwortlich machen kann.

Allen voran der Priester von Anemospili, sein Vater, war in diesen Zeiten Zielscheibe eines ungeschminkten Grolls in der Bevölkerung. Musste er denn immer Zetermordio schreien, herumtoben und alle des Ungehorsams den Göttern gegenüber anklagen, bloss weil ihm selber die Ideen ausgingen, welches Opfer zu welcher Stunde in welcher Weise er noch darbringen könnte, um die Götter zu beschwichtigen?

Die Stimmen waren recht nahe, fünf Schritte von seinem Versteck weg.

«Die alte Mauer da hat’s kräftig erwischt.»

«Glück gehabt – hoch genug ist sie immer noch, dass die Ziegen nicht drüber hinweg klettern können, denk ich mir.»

«Ja, dafür haben wir jetzt Ausblick auf den Juchtas. Schau mal, wie das dort brennt! Vom Tempel von Anemospili wird nicht mehr viel übrig sein.»

«Recht geschieht’s denen dort oben, den Wichtigtuern und Sprüchemachern. Als ob sie die ganze Weisheit gefressen hätten! Die Ziege, die alte mit dem weissen Ohr, hat das Beben genau so gut vorausgespürt wie die hochnäsigen Priester dort. Die hat sich seit Tagen so närrisch aufgeführt, dass ich wusste, es würde etwas geschehen.»

«Und dafür, dass die Priester solche Selbstverständlichkeiten verkünden, lassen die sich noch bezahlen, und üppig! Was die alles an Gold und Perlen und Schätzen angehäuft haben, soll ja beinahe so viel sein wie der Palast von Knossos besitzt. Ist doch recht billig, von Bittstellern und Hilfesuchenden Bezahlung anzunehmen. Nimmt mich nur wunder, wo die den Schatz versteckt haben.»

So war das. Manis hatte selber nie so klar gewusst, was «der Tempelschatz» eigentlich war. Er als vierter Sohn war noch nicht alt genug, um in die Geheimnisse und das ganze Drum und Dran des Tempellebens eingeweiht zu werden. So viel hatte er immerhin mitbekommen, dass dankbare Pilger sich gern erkenntlich zeigten und irgendeinen wertvollen Gegenstand, ein Gefäss aus Ton, ein Schmuckstück aus Kupfer, Bronze oder Gold, eine Figur aus Holz oder Marmor in den Tempel brachten. Warum auch nicht? Waren sie denn nicht dankbar dafür, dass sie vor irgendeiner Gefahr oder Krankheit, sei sie reell oder eingebildet oder erst prophezeit, beschützt, gerettet oder verschont worden waren, indem der Tempel sich ausdrücklich für sie eingesetzt hatte beim zuständigen Gott? Wer konnte denn wissen, was geschehen wäre, wenn die Priester sich nicht für sie verwendet hätten?

Was mit all den mehr oder weniger freiwilligen Gaben geschah, wusste Manis nicht, es hatte ihn auch nie sonderlich interessiert. Und wenn seine ältere Schwester wieder einmal eine neue, besonders fein gearbeitete Goldkette trug, war er meist so beleidigend gleichgültig gewesen, es nicht einmal zu bemerken.

«Man sollte möglichst rasch hinaufsteigen zum Tempel und nachschauen, ob man etwas von den Schätzen findet, bevor herumstreunendes Gesindel sich bedient,» hörte er die tiefere Stimme weiter reden. «Aber wir werden wohl nicht die einzigen sein, die etwas brauchen könnten. Wollen wir’s diese Nacht gleich wagen?»

Die Stimmen entfernten sich, Manis hörte die Antwort und die anschliessende Diskussion nicht mehr. Bestimmt ersann die Frau in Gedanken schon Verwendungszwecke für das Gold, das sie in den Trümmern finden würde.

Wieder schaute Manis in die Höhe. War alles verbrannt, zerstört, verloren? War wirklich alles vorbei?

Und jetzt, was sollte aus ihm werden?

Er schämte sich sogleich, dass er nicht an seine Verwandten und Freunde im Tempel dachte, sondern an sich selbst. Doch er konnte sich wenden und drehen, wie er wollte, dieser Gedanke stand im Vordergrund und verdrängte alle anderen.

Was sollte aus ihm werden?

In wenigen Wochen würde er doch erwachsen sein. Er würde an den Palast hinunter nach Knossos zur Schule geschickt, genau wie sein ältester Bruder vor einigen Jahren, der dort Malerei gelernt hatte. Er konnte es kaum erwarten. Er, Manis, der vierte Sohn, hatte sich schon lange entschieden, was er lernen wollte. Er wollte sich der Schreibkunst widmen. Das Schreiben war seine Leidenschaft. In der Tempelschule von Anemospili hatte er im Fach Schreiben stets geglänzt und seine älteren Brüder und die anderen Kindern schon früh in den Schatten gestellt.

Schrift – schon der Gedanke daran machte ihn glücklich. Einige Striche in ein Tontäfelchen ritzen, Kerben in richtiger Anzahl, richtiger Länge, richtiger Neigung – und schon stand da etwas Sinnvolles, ein Wort, ein Satz, eine Botschaft. Es war etwas da, das ein anderer, auch wenn er weit weg wohnte, lesen und verstehen konnte – eine zauberhafte, eine beseligende Kunst, ein Wunder. Vieles schon hatte er oben in Anemospili gelernt, und in Knossos, an der berühmten Schreibschule, wollte er viel, viel mehr dazu lernen.

Doch jetzt? Sollte alles zu Ende sein? War er wirklich allein übriggeblieben, war er der letzte der Priestersöhne, ohne Heim, ohne Familie, ohne Zukunft? Waren all seine Träume und Pläne in den letzten Stunden ausgelöscht worden?

Wie rasch doch alles abgelaufen war! Der Vater hatte die Katastrophe eindeutig und dringlichst vorausgesagt: Sturm – Blitze – Dunkel – Beben – Feuer von oben – Untergang. Es war genau so eingetroffen, doch Manis hatte nicht die ganze Liste abgewartet. Er war ausgerissen, feige davongelaufen.

Als sich die Unheilszeichen häuften, als sein Vater in Raserei verfiel, wild herumtobte und irr nach seinem zweiten Sohn schrie – der erste war schon vor einigen Jahren aus Kreta weggezogen – wusste Manis genau, was es geschlagen hatte. Flüsternd war es von Zeit zu Zeit hinter vorgehaltener Hand gesagt worden, doch hatte niemand es für möglich gehalten: Wenn alle Opfer nichts nützten, musste der Oberpriester seinen eigenen Sohn dem Zeus darbringen und ihn als Schlachtopfer auf den Altar legen. Nur so war der Grosse Gott zu besänftigen.

Was mit dem Bruder geschehen war, wusste Manis nicht. Doch als der Vater noch gellender nach dem dritten Sohn schrie, hatte er nicht mehr zugewartet, hatte nicht mehr zurückgeschaut, war ohne Sandalen, in dem Hemd, das er gerade trug, ohne einen Bissen Essen einzustecken, den Hang hinuntergeprescht, geradeaus, durch die Büsche hindurch, und hatte nicht mehr zurückgeblickt. Nur weg vom Grauenvollen, so rasch er konnte.

Er war schon ein schönes Stück den Abhang hinunter gelaufen, als er durch das Toben und Schnauben hindurch seinen eigenen Namen zu hören vermeinte, seinen Namen in einem markerschütternden Schrei. Wahrscheinlich hatte er sich das eingebildet. Er hatte sich die Hände über die Ohren gehalten und war noch schneller davongestürzt. Allzu viel Opfersinn war ihm nicht in die Wiege gelegt worden. Wie ein Pfeil war er weggerannt vom Tempel, hatte sich aus dem Inferno gerettet, knapp, aber immerhin. Er hatte das Krachen und Brechen, das Schreien und Stöhnen von immer weiter weg, immer schwächer vernommen und nicht mehr zurückgeschaut.

Und nun sass er also unter einem Olivenbaum und dachte an sein Schicksal als Schreiber.

Es war wohl feige gewesen von ihm davonzurennen, doch es gelang ihm nicht, sich zu schämen. Wenn er ganz ehrlich sein wollte, war er froh, dass er geflohen war. Er wollte doch noch lange leben und viel, viel lernen, viel erleben. War das so verwerflich?

Nicht allzu lange hielt er es hinter der zerborstenen Mauer aus. Er musste zurück nach Anemospili und nachsehen, was dort oben geschehen war.

2

Als er den Hügel hinauf keuchte, wurde das Kratzen im Hals immer lästiger. Jetzt einen Schluck Wasser, um den Staub in der Kehle hinunterzuspülen! Die steile Abkürzung den Hügel hinauf würde ihn an der verborgenen Quelle vorbeiführen, einem seiner geheimen Lieblingsplätze. Dort würde er etwas trinken. Die Luft war wirklich ekelhaft staubig, unangenehm, hinderlich. Winzige Aschenfetzchen wirbelten umher, das Himmelsgewölbe war tonlos grau. Ausgerechnet in Kreta, das doch berühmt war für sein ständig strahlendes, beinah übertriebenes Himmelsblau. Zum Kratzen im Hals kam zu allem Überfluss noch Augenbrennen hinzu. Er würde die Augen mit kühlem Wasser auswaschen.

Von Wasser war keine Spur, der Pfad hatte sich um einige Handbreiten verschoben, die Quelle war verschüttet. Ausser Atem setzte er sich hin.

Warum beeilte er sich eigentlich so unsinnig, auf den Berg zu kommen? Was würde ihn erwarten?

Er malte sich aus, wie es oben am Tempel wohl aussah. Was er wirklich sah, übertraf alles.

Das Erdbeben war nicht wählerisch gewesen. Anemospili, der berühmte Wallfahrtsort oberhalb von Knossos, der Tempel und die Priester mit den einmaligen Kenntnissen im Zeichenlesen, die Gärtnereien mit den wertvollen Kräutern, die Ställe mit den Opfertieren, die Geräteschuppen, das Wohnhaus – all das war nicht mehr, war vermutlich in wenigen Minuten verschlungen worden, verbrannt, dahin.

Schwelende Balken, zusammengestürzte Mauern, verkohlte Reste von Hausrat, geknickte Bäume, Trümmer und Brocken auf dem Boden der Aussichtsterrasse. Und unter all diesen bizarren Resten lag wohl sein Vater, der Ober-Priester, der noch das letzte hatte versuchen wollen, um Zeus zu versöhnen. Und bestimmt lagen da auch die zwei Tempeldiener. Vielleicht auch seine Brüder?

Wie viele andere der Tempeldiener und Gärtner und Tierpfleger unter dem Schutt begraben lagen, das wussten wahrlich nur die Götter.

Wohl waren es nicht allzu viele, denn kurz vor dem grossen Beben war alles drunter und drüber gegangen. Ein hastiges, sich überstürzendes Kommen und Gehen von Sendboten aus Knossos, vom Juchtas-Heiligtum, aus Phaistos, ein Hin und Her von Opfertieren und Priestern, von Gold und Kostbarkeiten, ein Laufen und Schreien und Beten und Schlachten, dass niemand mehr darauf achtete, wer wann wohin sich davonmachte.

Was er jetzt sah, das Nichts, vor dem er stand – irgendwie war das alles so ungeheuerlich, so weit entfernt von dem, was man fassen konnte, dass er erst überhaupt nichts fühlte. Innerlich leer und ausgebrannt wie der Tempel kroch er in den Trümmern herum, wie wenn er nicht Manis wäre, sondern ein verirrtes Schaf. Er stocherte in den Steinen herum, kratzte etwas Erde weg, stiess mit dem Fuss an verkohlte Zweige, versuchte, einen Brocken wegzuschieben, einen Ast hervorzuziehen. Doch das war alles sinnlos. Eine Stunde, zwei Stunden irrte er umher und hoffte sich zurechtzufinden, suchte halbherzig, ob noch irgendwo etwas Lebendiges zu finden war.

Hoffnungslos, nichts regte sich, alles war tot, erschlagen, verbrannt.

Er war erschöpft, er war hungrig und durstig, er war allein. Er setzte sich auf einen Stein, senkte den Kopf und heulte los wie ein kleines Kind. So elend, so erbärmlich, so einsam hatte er sich im ganzen Leben noch nie gefühlt.

«Komm, Altchen, komm. Hier vorne findest du bestimmt etwas Gutes.»

Hatte er eine Stimme gehört? Waren nicht alle tot? Er erschrak. Die heisere Stimme musste er doch kennen.

«So mach doch vorwärts, komm, da vorne gibt’s bestimmt noch Wasser.»

Eine wunderliche Gestalt kam über Steine und Trümmer gestolpert und redete einer Ziege gut zu. Es war kein Geist, obwohl der baumlange hagere Greis einem durchsichtigen Gespenst ähnlicher sah als einem Menschen.

«Gurios!»

«Himmel, hier lebt noch etwas. Wer ist denn da noch?»

Langsam näherte sich der Alte und schaute um sich, wer ihn denn rufe.

«Herrje! Ein Junge,» stiess er erfreut hervor, als er nahe genug gekommen war, «da war Zeus doch noch gnädig. Halt mir mal die Ziege, damit ich sie endlich melken kann. Sie benimmt sich so, wie wenn sie erst gerade auf die Welt gekommen wäre und noch keinen Anstand kennte.»

Der Alte hob seinen Mantel hoch, und mit einigen Verrenkungen fischte er einen Lederbeutel hervor. Mit der Hilfe von Manis gelang es schliesslich, die widerspenstige Ziege zu bändigen. Stumm sassen sie nebeneinander und tranken abwechslungsweise Milch aus dem Behältnis.

«Na, Kleiner, wie hast denn du diesen Kahlschlag überlebt?» fragte der Alte nach einer längeren Stille. Der Junge kam ihm bekannt vor – wohl eines der vielen Kinder, die sich jeweils auf dem Tempelplatz von Anemospili lästig bemerkbar gemacht hatten.

Manis wurde feuerrot.

«Ich bin ausgerissen, weggerannt, als es losging,» stotterte er. Besser gleich die Wahrheit sagen als später damit herausrücken zu müssen.

«Bravo, das hast du gut gemacht,» lachte Gurios, «hast dem Zeus ein Schnippchen geschlagen, er hat nicht alle gekriegt. Ich war ja auch nicht dabei. Ich war drüben in Tylissos, da hat man nur wenig mitbekommen, ein kleines Wackeln, ein bisschen Kreischen der Weiber und etwas staubige Luft zum Atmen.»

Gurios, der Gärtner, war eine bekannte Figur am Tempel, ein Unikum. Seit Manis gehen konnte, kannte er den schrulligen Alten, der sich täglich und auch oft in der Nacht in den Gärten hinter dem Tempel zu schaffen machte. Was genau die Aufgabe war, die er zu erfüllen hatte, war Manis nie klar geworden. Er war eine Mischung zwischen einem Pensionär, der im hohen Alter gnädig für den Lebensabend im Kloster behalten wird, und einem aufsässigen Lehrer, der den jüngeren unerfahrenen Gärtnern auf die Finger schaut und ihnen ungebetene Ratschläge erteilt. Oft war er ohne ersichtlichen Grund für einige Tage verschwunden, um dann wieder aufzutauchen mit irgendeinem Gewächs, einem Tier, einem Stein, oder auch einfach so.

Die Kinder am Tempel versuchten manchmal, den Alten aus seiner Gleichgültigkeit allen Tempelbewohnern und Tempelregeln gegenüber herauszurütteln, was er einfach ignorierte. Wenn ihm die Plaggeister allzu lästig wurden, quittierte er ihre Neckereien mit einigen ziellosen Stockschlägen. Die ärgerlichen Biester musste man sich vom Hals halten.