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Titel

Kerstin Gier

Saphirblau. Liebe geht
durch alle Zeiten

Arenaneu.tif

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2013
© 2010 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Einbandillustration: Eva Schöffmann-Davidov
ISBN 978-3-401-80000-4

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Widmung

Frank,
ohne dich hätte ich das
niemals geschafft.

Prolog

London, 14. Mai 1602

Es war dunkel in den Gassen von Southwark, dunkel und einsam. Gerüche von Algen, Kloake und totem Fisch lagen in der Luft. Er drückte ihre Hand unwillkürlich fester und zog sie weiter. »Wir wären besser wieder direkt am Fluss entlanggegangen. In diesem Gassengewirr kann man sich ja nur verlaufen«, flüsterte er.

»Ja und in jedem Winkel lauert ein Dieb und ein Mörder.« Ihre Stimme klang vergnügt. »Herrlich, oder? Das ist tausendmal besser, als in diesem stickigen Gemäuer herumzusitzen und Hausaufgaben zu machen!« Sie raffte ihr schweres Kleid und eilte weiter.

Unwillkürlich musste er grinsen. Lucys Talent, in jeder Lage und zu jeder Zeit der Sache etwas Positives abzugewinnen, war einzigartig. Selbst das sogenannte goldene Zeitalter Englands, das seinen Namen im Moment Lügen strafte und ziemlich finster daherkam, konnte sie nicht schrecken, eher im Gegenteil.

»Schade, dass wir nie mehr als drei Stunden Zeit haben«, sagte sie, als er zu ihr aufschloss. »Hamlet hätte mir noch besser gefallen, wenn ich ihn nicht in Fortsetzungen hätte anschauen müssen.« Geschickt wich sie einer ekligen Schlammpfütze aus, zumindest hoffte er inständig, dass es Schlamm war. Dann machte sie ein paar ausgelassene Tanzschritte und drehte sich einmal um die eigene Achse. »So macht Bewusstsein Feige aus uns allen… war das nicht großartig?«

Er nickte und musste sich zusammenreißen, um nicht schon wieder zu grinsen. In Lucys Gegenwart tat er das zu oft. Wenn er nicht aufpasste, wirkte er noch wie der letzte Idiot!

Sie waren auf dem Weg zur London Bridge – die Southwark Bridge, die eigentlich günstiger gelegen gewesen wäre, war dummerweise zu diesem Zeitpunkt noch nicht gebaut worden. Aber sie mussten sich beeilen, wenn sie nicht wollten, dass ihr heimlicher Abstecher ins 17. Jahrhundert auffiel.

Gott, was würde er dafür geben, wenn er endlich diesen steifen weißen Kragen ablegen könnte! Er fühlte sich an wie eines dieser Plastikteile, die Hunde nach Operationen tragen mussten.

Lucy bog um die Ecke Richtung Fluss. Sie schien in Gedanken noch immer bei Shakespeare zu sein. »Wie viel hast du dem Mann überhaupt gegeben, dass er uns ins Globe-Theater lässt, Paul?«

»Vier von diesen schweren Münzen, keine Ahnung, was die wert sind.« Er lachte. »Vermutlich war das ein Jahreslohn oder so.«

»Auf jeden Fall hat’s geholfen. Die Plätze waren super.«

Laufend erreichten sie die London Bridge. Wie schon auf dem Hinweg blieb Lucy stehen und wollte die Häuser kommentieren, mit denen die Brücke überbaut war. Aber er zog sie weiter. »Du weißt doch, was Mr George gesagt hat: Wenn man zu lange unter einem Fenster stehen bleibt, bekommt man einen Nachttopf auf den Kopf geleert«, erinnerte er sie. »Außerdem fällst du auf!«

»Man merkt gar nicht, dass man auf einer Brücke steht, es sieht aus wie eine ganz normale Straße. Oh, schau mal, ein Stau! Es wird allmählich Zeit, dass sie noch ein paar andere Brücken bauen.«

Die Brücke war – im Gegensatz zu den Nebengassen – noch recht belebt, aber die Fuhrwerke, Sänften und Kutschen, die zum anderen Themseufer hinüberwollten, bewegten sich keinen Yard vorwärts. Weiter vorne hörte man Stimmen, Fluchen und Pferde wiehern, aber die Ursache des Stillstands konnte man nicht erkennen. Aus dem Fenster einer Kutsche direkt neben ihnen beugte sich ein Mann mit schwarzem Hut. Sein steifer weißer Spitzenkragen bog sich bis zu seinen Ohren hinauf.

»Gibt es nicht noch einen anderen Weg über diesen stinkenden Fluss?«, rief er auf Französisch seinem Kutscher zu.

Der Kutscher verneinte. »Und selbst wenn, wir können nicht umdrehen, wir stecken fest! Ich werde nach vorne gehen und sehen, was passiert ist. Sicher geht es bald weiter, Sire.«

Mit einem Grummeln zog der Mann seinen Kopf samt Hut und Kragen zurück in die Kutsche, während der Kutscher abstieg und sich einen Weg durch das Gedränge bahnte.

»Hast du das gehört, Paul? Das sind Franzosen«, flüsterte Lucy begeistert. »Touristen!«

»Ja. Ganz toll. Aber wir müssen weiter, wir haben nicht mehr viel Zeit.« Er erinnerte sich dunkel, gelesen zu haben, dass man diese Brücke irgendwann zerstört und später fünfzehn Meter weiter wieder aufgebaut hatte. Kein guter Platz für einen Zeitsprung also.

Sie folgten dem französischen Kutscher, aber ein Stück weiter vorn standen die Menschen und Fahrzeuge so dicht, dass kein Durchkommen war.

»Ich habe gehört, da hat ein Fuhrwerk mit Ölfässern Feuer gefangen«, sagte die Frau vor ihnen zu niemandem Bestimmten. »Wenn sie nicht aufpassen, fackeln sie noch mal die ganze Brücke ab.«

»Aber nicht heute, so viel ich weiß«, murmelte Paul und griff nach Lucys Arm. »Komm, wir gehen zurück und warten auf der anderen Seite auf unseren Sprung.«

»Erinnerst du dich noch an die Parole? Nur für den Fall, dass wir es nicht rechtzeitig schaffen.«

»Irgendwas mit Kutte und Lava.«

»Gutta cavat lapidem, du Dummkopf.« Sie sah kichernd zu ihm hoch. Ihre blauen Augen blitzten vor Vergnügen und plötzlich schoss ihm durch den Kopf, was sein Bruder Falk gesagt hatte, als er ihn nach dem perfekten Zeitpunkt gefragt hatte. »Ich würde mich nicht lange mit Reden aufhalten. Ich würde es einfach tun. Dann kann sie dir eine runterhauen und du weißt Bescheid.«

Falk hatte natürlich wissen wollen, von wem die Rede war, aber Paul hatte keine Lust auf Diskussionen gehabt, die mit »Du weißt doch, die Verbindungen zwischen den de Villiers und den Montroses sollten rein geschäftlicher Natur sein!« begannen und mit »Außerdem sind die Montrose-Mädchen alle Zicken und werden später mal Drachen wie Lady Arista« endeten.

Von wegen Zicke! Möglicherweise traf das auf die anderen Montrose-Mädchen zu – auf Lucy aber mit Sicherheit nicht.

Lucy – über die er jeden Tag aufs Neue staunen konnte, der er Sachen anvertraut hatte, die er noch niemandem erzählt hatte. Lucy, mit der man buchstäblich –

Er holte tief Luft.

»Warum bleibst du stehen?«, fragte Lucy, aber da hatte er sich auch schon zu ihr hinuntergebeugt und seine Lippen auf ihren Mund gepresst. Drei Sekunden lang fürchtete er, sie würde ihn wegschubsen, aber dann schien sie ihre Überraschung überwunden zu haben und erwiderte seinen Kuss, zuerst ganz vorsichtig, dann nachdrücklicher.

Eigentlich war das hier alles andere als der perfekte Moment und eigentlich hatten sie es auch furchtbar eilig, denn sie konnten jeden Moment in der Zeit springen, und eigentlich…

Paul vergaß, was das dritte Eigentlich war. Alles, was jetzt zählte, war sie.

Doch dann fiel sein Blick auf eine Gestalt mit einer dunklen Kapuze und er sprang erschrocken zurück.

Lucy sah ihn einen Moment irritiert an, bevor sie rot wurde und auf ihre Füße schaute. »Tut mir leid«, murmelte sie verlegen. »Larry Coleman hat auch gesagt, wenn ich küsse, fühlt sich das so an, als würde einem jemand eine Handvoll unreifer Stachelbeeren ins Gesicht drücken.«

»Stachelbeeren?« Er schüttelte den Kopf. »Und wer zum Teufel ist überhaupt Larry Coleman?«

Jetzt schien sie vollends verwirrt und er konnte es ihr noch nicht einmal übel nehmen. Irgendwie musste er versuchen, das Chaos, das in seinem Kopf herrschte, in die richtige Reihenfolge zu bringen. Er zog Lucy aus dem Licht der Fackeln, packte sie an den Schultern und sah ihr tief in die Augen. »Okay, Lucy. Erstens: Du küsst ungefähr so, wie… wie Erdbeeren schmecken. Zweitens: Wenn ich diesen Larry Coleman finde, haue ich ihm eins auf die Nase. Drittens: Merk dir dringend, wo wir aufgehört haben. Aber im Moment haben wir ein klitzekleines Problem.«

Wortlos deutete er auf den hochgewachsenen Mann, der nun lässig aus dem Schatten eines Fuhrwerkes herausschlenderte und sich zum Kutschenfester des Franzosen hinunterbeugte.

Lucys Augen weiteten sich vor Schreck.

»Guten Abend, Baron«, sagte der Mann. Er sprach ebenfalls Französisch und beim Klang seiner Stimme krallte sich Lucys Hand in Pauls Arm. »Wie schön, Euch zu sehen. Ein weiter Weg aus Flandern hierher.« Er streifte seine Kapuze ab.

Aus dem Inneren der Kutsche erklang ein überraschter Ausruf. »Der falsche Marquis! Was macht Ihr denn hier? Wie passt das zusammen?«

»Das wüsste ich auch gern«, flüsterte Lucy.

»Begrüßt man so seinen eigenen Nachkommen?«, erwiderte der Hochgewachsene gut gelaunt. »Immerhin bin ich der Enkelsohn des Enkelsohnes Eures Enkelsohnes, und auch wenn man mich gern den Mann ohne Vornamen nennt, darf ich Euch versichern, dass ich einen habe. Sogar mehrere, um genau zu sein. Darf ich Euch in der Kutsche Gesellschaft leisten? Es steht sich nicht besonders bequem hier und diese Brücke wird noch eine gute Weile verstopft sein.« Ohne die Antwort abzuwarten oder sich noch einmal umzusehen, öffnete er die Tür und stieg in die Kutsche.

Lucy hatte Paul zwei Schritte zur Seite gezogen, noch weiter aus dem Lichtkreis der Fackeln. »Er ist es wirklich! Nur viel jünger. Was sollen wir denn jetzt tun?«

»Gar nichts«, flüsterte Paul zurück. »Wir können ja schlecht hingehen und Hallo sagen! Wir dürften gar nicht hier sein.«

»Aber wieso ist er hier?«

»Ein dummer Zufall. Er darf uns auf keinen Fall sehen. Komm, wir müssen ans Ufer.«

Aber keiner von ihnen rührte sich von der Stelle. Beide starrten sie wie gebannt auf das dunkle Fenster der Kutsche, noch faszinierter als vorhin auf die Bühne des Globe-Theaters.

»Ich habe Euch bei unserem letzten Treffen doch deutlich zu verstehen gegeben, was ich von Euch halte«, drang jetzt die Stimme des französischen Barons aus der Kutsche.

»Oh ja, das habt Ihr!« Das leise Lachen des Besuchers trieb Paul eine Gänsehaut auf die Arme, ohne dass er sagen konnte, warum.

»Mein Entschluss steht fest!« Die Stimme des Barons wackelte ein wenig. »Ich werde dieses Teufelsgerät der Allianz übergeben, ganz egal, welch perfide Methoden Ihr auch anwenden mögt, um mich davon abzubringen. Ich weiß, dass Ihr mit dem Teufel im Bunde steht.«

»Was meint er denn?«, flüsterte Lucy.

Paul schüttelte nur den Kopf.

Wieder ertönte ein leises Lachen. »Mein engstirniger, verblendeter Vorfahre! Wie viel leichter hätte Euer Leben – und auch meins! – sein können, wenn Ihr auf mich gehört hättet und nicht auf Euren Bischof oder diese bedauernswerten Fanatiker der Allianz. Wenn Ihr Euren Verstand benutzt hättet anstelle Eures Rosenkranzes. Wenn Ihr erkannt hättet, dass Ihr Teil von etwas Größerem seid als dem, was Euer Priester Euch predigt.«

Die Antwort des Barons schien aus einem Vaterunser zu bestehen, Lucy und Paul hörten ihn nur leise murmeln.

»Amen!«, sagte der Besucher mit einem Seufzer. »Das ist also Euer letztes Wort in dieser Sache?«

»Ihr seid der Teufel persönlich!«, sagte der Baron. »Verlasst meinen Wagen und kommt mir niemals wieder vor die Augen.«

»Ganz wie Ihr wünscht. Da wäre nur noch eine Kleinigkeit. Ich habe es Euch bisher nicht gesagt, um Euch nicht unnötig aufzuregen, aber auf Eurem Grabstein, den ich mit eigenen Augen gesehen habe, steht der 14. Mai 1602 als Euer Todestag verzeichnet.«

»Aber das ist doch…«, sagte der Baron.

»…heute, richtig. Und es fehlt nicht mehr viel bis Mitternacht.«

Vom Baron war ein Keuchen zu hören.

»Was tut er denn da?«, flüsterte Lucy.

»Er bricht seine eigenen Gesetze.« Pauls Gänsehaut war hinauf bis zu seinem Nacken gewandert. »Er spricht über…« Er unterbrach sich, denn in seinem Magen breitete sich ein wohlbekanntes, mulmiges Gefühl aus.

»Mein Kutscher wird gleich zurück sein«, sagte der Baron und jetzt klang seine Stimme eindeutig ängstlich.

»Ja, da bin ich sicher«, erwiderte der Besucher fast ein bisschen gelangweilt. »Deshalb beeile mich ja auch.«

Lucy hatte die Hand auf ihre Magengegend gelegt. »Paul!«

»Ich weiß, ich spüre es auch. Verfluchter Mist… Wir müssen laufen, wenn wir nicht elend tief in den Fluss stürzen wollen.« Er packte ihren Arm und zog sie vorwärts, sorgfältig darauf bedacht, sein Gesicht nicht dem Fenster zuzuwenden.

»Wohl seid Ihr eigentlich in Eurer Heimat verstorben, an den Folgen einer unangenehmen Influenza«, hörten sie die Stimme des Besuchers, während sie an der Kutsche vorbeischlichen. »Aber da meine Besuche bei Euch in letzter Konsequenz dazu geführt haben, dass Ihr heute hier in London seid und Euch bester Gesundheit erfreut, ist hier etwas empfindlich aus dem Gleichgewicht gebracht worden. Korrekt wie ich nun einmal bin, fühle ich mich daher verpflichtet, dem Tod ein wenig auf die Sprünge zu helfen.«

Paul war mehr mit dem Gefühl in seinem Magen beschäftigt und damit auszurechnen, wie viele Meter es noch bis zum Ufer waren, dennoch sickerte die Bedeutung der Worte in sein Bewusstsein und er blieb wieder stehen.

Lucy knuffte ihn in die Seite. »Lauf!«, zischte sie, während sie selber zu rennen begann. »Wir haben nur noch ein paar Sekunden!«

Mit weichen Knien setzte er sich ebenfalls in Bewegung, und während er rannte und das nahe Ufer vor seinen Augen zu verschwimmen begann, hörte er aus dem Inneren der Kutsche einen grauenhaften, wenn auch gedämpften Schrei, dem ein geröcheltes »Teufel!« folgte – dann herrschte tödliche Stille.

Aus den Annalen der Wächter
18. Dezember 1992

Lucy und Paul wurden heute um 15 Uhr zum Elapsieren ins Jahr 1948 geschickt. Als sie um neunzehn Uhr zurückkehrten, landeten sie im Rosenbeet vor dem Fenster des Drachensaals, in vollkommen durchnässten Kostümen des 17. Jahrhunderts.
Sie machten einen recht verstörten Eindruck auf mich und redeten wirres Zeug, daher verständigte ich gegen ihren Willen Lord Montrose und Falk de Villiers.
Die Geschichte ließ sich aber ganz einfach aufklären. Lord Montrose erinnerte sich noch genau an das Kostümfest, das man im Jahr 1948 im Garten feierte und in dessen Verlauf einige Gäste, darunter auch Lucy und Paul, nach dem Genuss von zu viel Alkohol im Goldfischbecken landeten.
Lord Lucas übernahm die Verantwortung für diesen Vorfall und versprach, die beiden ruinierten Exemplare der Rosen »Ferdinand Picard« und »Mrs John Laing« zu ersetzen.
Lucy und Paul wurden strengstens ermahnt, sich künftig, egal in welcher Zeit, von Alkohol fernzuhalten.

Bericht, J. Mountjoy, Adept 2. Grades

1.

»Herrschaften, das ist eine Kirche! Hier küsst man sich nicht!«

Erschrocken riss ich meine Augen auf und fuhr hastig zurück, in Erwartung, einen altmodischen Pfarrer mit wehender Soutane und empörter Miene auf mich zueilen zu sehen, bereit, eine Strafpredigt auf uns niederdonnern zu lassen. Aber es war nicht der Pfarrer, der unseren Kuss gestört hatte. Es war überhaupt kein Mensch. Es war ein kleiner Wasserspeier, der auf der Kirchenbank direkt neben dem Beichtstuhl hockte und mich genauso verblüfft anschaute wie ich ihn.

Wobei das eigentlich schwer möglich war. Denn meinen Zustand konnte man im Grund genommen nicht mehr mit Verblüffung umschreiben. Um ehrlich zu sein, hatte ich eher so etwas wie gewaltige denktechnische Aussetzer.

Angefangen hatte alles mit diesem Kuss.

Gideon de Villiers hatte mich – Gwendolyn Shepherd – geküsst.

Natürlich hätte ich mich fragen müssen, warum er so plötzlich auf die Idee gekommen war – in einem Beichtstuhl in einer Kirche irgendwo in Belgravia im Jahr 1912 – kurz nachdem wir eine atemberaubende Flucht mit allen Schikanen hingelegt hatten, bei der nicht nur mein knöchellanges, enges Kleid mit dem lächerlichen Matrosenkragen hinderlich gewesen war.

Ich hätte analytische Vergleiche anstellen können zu den Küssen, die ich von anderen Jungs bekommen hatte, und woran es lag, dass Gideon so viel besser küssen konnte.

Mir hätte auch zu denken geben können, dass eine Wand mit einem Beichtstuhlfenster zwischen uns war, durch das Gideon seinen Kopf und seine Arme gezwängt hatte, und dass das keine idealen Bedingungen für einen Kuss waren, mal ganz abgesehen von dem Fakt, dass ich nicht noch mehr Chaos in meinem Leben brauchen konnte, nachdem ich gerade erst vor drei Tagen erfahren hatte, dass ich das ZeitreiseGen von meiner Familie geerbt hatte.

Tatsache allerdings war, dass ich überhaupt nichts dachte, außer vielleicht Oh und Hmmmm und Mehr!

Deswegen bekam ich auch das Ziehen im Bauch nicht richtig mit, und erst jetzt, als dieser kleine Wasserspeier nun seine Arme verschränkte und mich von seiner Kirchenbank anfunkelte, erst, als mein Blick auf den kackbraunen Vorhang des Beichtstuhls fiel, der eben noch samtgrün gewesen war, schwante mir, dass wir in der Zwischenzeit zurück in die Gegenwart gesprungen waren.

»Mist!« Gideon zog sich auf seine Seite vom Beichtstuhl zurück und rieb sich den Hinterkopf.

Mist? Ich plumpste unsanft von meiner Wolke sieben und vergaß den Wasserspeier.

»So schlecht fand ich es nun auch wieder nicht«, sagte ich, um einen möglichst lässigen Tonfall bemüht. Leider war ich etwas außer Atem, was den Gesamteindruck schmälerte. Ich konnte Gideon nicht in die Augen sehen, stattdessen starrte ich noch immer auf den braunen Polyestervorhang des Beichtstuhls.

Gott! Ich war beinahe hundert Jahre durch die Zeit gereist, ohne etwas zu merken, weil dieser Kuss mich so vollkommen und ganz und gar… überrascht hatte. Ich meine, in der einen Minute meckert der Typ an einem herum, in der nächsten befindet man sich mitten in einer Verfolgungsjagd und muss sich vor Männern mit Pistolen in Sicherheit bringen, und plötzlich – wie aus dem Nichts – behauptet er, man sei etwas ganz Besonderes, und küsst einen. Und wie Gideon küsste! Ich wurde sofort eifersüchtig auf alle Mädchen, bei denen er das gelernt hatte.

»Niemand zu sehen.« Gideon lugte aus dem Beichtstuhl und trat dann hinaus in die Kirche. »Gut. Wir nehmen den Bus zurück nach Temple. Komm, sie werden uns schon erwarten.«

Ich starrte ihn fassungslos durch den Vorhang an. Hieß das etwa jetzt, dass er wieder zur Tagesordnung übergehen wollte? Nach einem Kuss (am besten eigentlich vorher, aber dazu war es ja nun zu spät) sollte man vielleicht doch ein paar grundsätzliche Dinge klären, oder? War der Kuss eine Art Liebeserklärung gewesen? Waren Gideon und ich jetzt vielleicht sogar zusammen? Oder hatten wir nur ein bisschen rumgeknutscht, weil wir gerade nichts Besseres zu tun gehabt hatten?

»In diesem Kleid fahre ich nicht mit dem Bus«, sagte ich kategorisch, während ich so würdevoll wie möglich aufstand. Lieber hätte ich mir die Zunge abgebissen, als eine der Fragen zu stellen, die mir eben durch den Kopf geschossen waren.

Mein Kleid war weiß mit himmelblauen Satinschleifen in der Taille und am Kragen, vermutlich der letzte Schrei im Jahr 1912, aber nicht wirklich geeignet für öffentliche Verkehrsmittel im einundzwanzigsten Jahrhundert. »Wir nehmen ein Taxi.«

Gideon drehte sich zu mir um, doch er widersprach mir nicht. In seinem Gehrock und der Bügelfaltenhose schien er sich wohl auch nicht unbedingt busfein zu fühlen. Dabei sah er darin wirklich gut aus, zumal seine Haare nicht mehr so geschniegelt hinter die Ohren gebürstet waren wie noch vor zwei Stunden, sondern in zerzausten Locken in seine Stirn fielen.

Ich trat zu ihm hinaus ins Kirchenschiff und fröstelte. Es war saukalt hier drinnen. Oder lag das vielleicht daran, dass ich in den letzten drei Tagen so gut wie gar nicht zum Schlafen gekommen war? Oder an dem, was eben passiert war?

Vermutlich hatte mein Körper in der letzten Zeit mehr Adrenalin ausgeschüttet als in den ganzen sechzehn Jahren vorher. Es war so viel passiert und ich hatte so wenig Zeit gehabt, darüber nachzudenken, dass mein Kopf vor lauter Informationen und Gefühlen geradezu zu platzen schien. Wäre ich eine Figur in einem Comic, hätte eine Denkblase mit einem riesengroßen Fragezeichen darin über mir geschwebt. Und vielleicht ein paar Totenköpfen.

Ich gab mir einen kleinen Ruck. Wenn Gideon zur Tagesordnung übergehen wollte – bitte, das konnte ich auch. »Okay, dann nichts wie raus hier«, sagte ich patzig. »Mir ist kalt.«

Ich wollte mich an ihm vorbeidrängen, doch er hielt mich am Arm fest. »Hör mal, wegen eben…« Er brach ab, wohl in der Hoffnung, dass ich ihm ins Wort fiel.

Was ich natürlich nicht tat. Ich wollte nur zu gern wissen, was er zu sagen hatte. Außerdem fiel mir das Atmen schwer, so nah wie er bei mir stand.

»Diesen Kuss… Das habe ich…« Wieder nur ein halber Satz. Aber ich vollendete ihn in Gedanken sofort.

Das habe ich nicht so gemeint.

Oh, schon klar, aber dann hätte er es auch nicht tun sollen, oder? Das war so, wie einen Vorhang anzünden und sich hinterher wundern, wenn das ganze Haus brennt. (Okay, blöder Vergleich.) Ich wollte es ihm kein bisschen leichter machen und sah ihn kühl und abwartend an. Das heißt, ich versuchte, ihn kühl und abwartend anzusehen, aber in Wirklichkeit hatte ich vermutlich so einen Ich bin das kleine Bambi, bitte erschieß mich nicht-Blick aufgesetzt, ich konnte gar nichts dagegen machen. Fehlte nur noch, dass meine Unterlippe zu beben anfing.

Das habe ich nicht so gemeint. Komm schon, sag es!

Aber Gideon sagte gar nichts. Er zupfte eine Haarnadel aus meinen wirren Haaren (vermutlich sah meine komplizierte Schneckenfrisur mittlerweile aus, als ob ein Vogelpärchen darin genistet hatte), nahm eine Strähne in die Hand und wickelte sie sich um seinen Finger. Mit der anderen Hand begann er, mein Gesicht zu streicheln, und dann beugte er sich zu mir hinunter und küsste mich noch einmal, diesmal ganz vorsichtig. Ich schloss die Augen – und schon passierte dasselbe wie zuvor: Mein Gehirn hatte wieder diese wohltuende Sendepause. (Es funkte nichts als Oh, Hmmm und Mehr.)

Allerdings nur etwa zehn Sekunden lang, dann nämlich sagte eine Stimme direkt neben uns genervt: »Geht das etwa schon wieder los?«

Erschrocken gab ich Gideon einen kleinen Schubs vor die Brust und starrte direkt in die Fratze des kleinen Wasserspeiers, der mittlerweile kopfüber von der Empore herabbaumelte, unter der wir standen. Genauer gesagt, war es der Geist eines Wasserspeiers.

Gideon hatte meine Haare losgelassen und eine neutrale Miene aufgesetzt. Oh Gott! Was musste er denn jetzt von mir denken? In seinen grünen Augen war nichts zu erkennen, allenfalls leichtes Befremden.

»Ich… ich dachte, ich hätte etwas gehört«, murmelte ich.

»Okay«, sagte er etwas gedehnt, aber durchaus freundlich.

»Du hast mich gehört«, sagte der Wasserspeier. »Du hast mich gehört!« Er war in etwa so groß wie eine Katze, sein Gesicht ähnelte ebenfalls dem einer Katze, allerdings hatte er zusätzlich zu seinen spitzen, großen Luchsohren auch noch zwei rundliche Hörner dazwischen, außerdem Flügelchen auf dem Rücken und einen langen, geschuppten Eidechsenschwanz, der in einem Dreieck mündete und aufgeregt hin und her peitschte. »Und du kannst mich auch sehen!«

Ich gab keine Antwort.

»Wir gehen dann besser mal«, sagte Gideon.

»Du kannst mich sehen und hören!«, rief der kleine Wasserspeier begeistert, ließ sich von der Empore auf eine der Kirchenbänke fallen und hüpfte dort auf und nieder. Er hatte eine Stimme wie ein verschnupftes, heiseres Kind. »Ich hab’s genau gemerkt!«

Jetzt bloß keinen Fehler machen, sonst wurde ich ihn nie wieder los. Ich ließ meinen Blick betont gleichgültig über die Bänke gleiten, während ich zur Kirchentür ging. Gideon hielt mir die Tür auf.

»Danke, sehr freundlich!«, sagte der Wasserspeier und schlüpfte ebenfalls hinaus.

Draußen auf dem Bürgersteig blinzelte ich ins Licht. Es war bewölkt und die Sonne daher nicht zu sehen, aber meiner Schätzung nach musste es früher Abend sein.

»Warte doch mal!«, rief der Wasserspeier und zupfte mich am Rock. »Wir sollten uns dringend unterhalten! Hey, du trampelst mir auf die Füße… Tu nicht so, als ob du mich nicht sehen könntest. Ich weiß, dass du es kannst.« Aus seinem Mund kam ein Schluck Wasser geschossen und bildete eine winzige Pfütze an meinem Knopfstiefelchen. »Ups. ’tschuldigung. Passiert nur, wenn ich aufgeregt bin.«

Ich sah an der Fassade der Kirche hinauf. Sie war vermutlich viktorianischen Baustils, mit bunten Glasfenstern und zwei hübschen verspielten Türmen. Backsteine wechselten sich mit cremeweißem Putz ab und bildeten ein fröhliches Streifenmuster. Aber so hoch ich auch schaute, am ganzen Bauwerk war keine einzige Figur oder gar ein Wasserspeier zu entdecken. Seltsam, dass der Geist hier trotzdem herumlungerte.

»Hier bin ich!«, rief der Wasserspeier und krallte sich direkt vor meiner Nase ans Mauerwerk. Er konnte klettern wie eine Eidechse, das können sie alle. Ich starrte eine Sekunde auf den Ziegel neben seinem Kopf und wandte mich ab.

Der Wasserspeier war nun nicht mehr so sicher, dass ich ihn wirklich sehen konnte. »Ach bitte«, sagte er. »Es wäre so schön, mal mit jemand anderem zu reden als mit dem Geist von Sir Arthur Conan Doyle.«

Nicht unraffiniert, das Kerlchen. Aber ich fiel nicht darauf rein. Er tat mir zwar leid, aber ich wusste, wie lästig die kleinen Biester werden konnten, außerdem hatte er mich beim Küssen gestört und seinetwegen hielt Gideon mich jetzt wahrscheinlich für eine launische Kuh.

»Bitte, bitte, biiiiiiiitte!«, sagte der Wasserspeier.

Ich ignorierte ihn weiterhin nach Kräften. Meine Güte, ich hatte weiß Gott genug andere Probleme am Hals.

Gideon war an den Fahrbahnrand getreten und winkte ein Taxi heran. Natürlich kam auch sofort ein freies. Manche Leute haben bei so was immer Glück. Oder so etwas wie natürliche Autorität. Meine Großmutter Lady Arista, zum Beispiel. Sie muss nur am Straßenrand stehen bleiben und streng gucken, schon machen die Taxifahrer eine Vollbremsung. »Kommst du, Gwendolyn?«

»Du kannst doch jetzt nicht einfach abhauen!« Die heisere Kinderstimme klang weinerlich, herzzerreißend. »Wo wir uns gerade erst gefunden haben.«

Wären wir allein gewesen, hätte ich mich vermutlich dazu hinreißen lassen, mit ihm zu sprechen. Trotz der spitzen Eckzähne und der Klauenfüße war er irgendwie niedlich und wahrscheinlich hatte er nicht viel Gesellschaft. (Der Geist von Sir Arthur Conan Doyle hatte mit Sicherheit Besseres zu tun. Was hatte der überhaupt in London zu suchen?) Aber wenn man in Gegenwart von anderen Menschen mit Geistwesen kommuniziert, halten sie einen – wenn man Glück hat – für einen Lügner und Schauspieler oder aber – in den meisten Fällen – für verrückt. Ich wollte nicht riskieren, dass Gideon mich für verrückt hielt. Außerdem hatte der letzte Wasserspeierdämon, mit dem ich gesprochen hatte, so viel Anhänglichkeit entwickelt, dass ich kaum allein aufs Klo hatte gehen können.

Also nahm ich mit steinerner Miene im Taxi Platz und guckte beim Anfahren starr geradeaus. Gideon neben mir sah aus dem Fenster. Der Taxifahrer musterte unsere Kostüme im Rückspiegel mit hochgezogenen Augenbrauen, sagte aber nichts. Das musste man ihm hoch anrechnen.

»Es ist gleich halb sieben«, sagte Gideon zu mir, offensichtlich um neutrale Konversation bemüht. »Kein Wunder, dass ich vor Hunger sterbe.«

Jetzt wo er es aussprach, merkte ich, dass es mir ganz ähnlich ging. Meinen Frühstückstoast hatte ich wegen der miesen Stimmung am Familienfrühstückstisch nicht mal halb heruntergewürgt und das Schulessen war wie immer ungenießbar gewesen. Mit einer gewissen Sehnsucht dachte ich an die appetitlich hergerichteten Sandwichs und Scones auf Lady Tilneys Teetafel, die uns leider entgangen waren.

Lady Tilney! Jetzt erst fiel mir ein, dass Gideon und ich uns besser absprechen sollten, was unser Abenteuer im Jahr 1912 anging. Schließlich war die Sache mehr als aus dem Ruder gelaufen und ich hatte keine Ahnung, was die Wächter, die in Sachen Zeitreisemission so gar keinen Spaß verstanden, davon halten würde. Gideon und ich waren mit dem Auftrag in die Zeit gereist, Lady Tilney in den Chronografen einzulesen (die Gründe dafür hatte ich, ganz nebenbei bemerkt, noch immer nicht ganz kapiert, aber das Ganze schien ungeheuer wichtig zu sein; soweit ich wusste, ging es um die Rettung der Welt, mindestens). Bevor wir das allerdings erledigen konnten, kamen meine Cousine Lucy und Paul ins Spiel – ihres Zeichens die Bösewichte der ganzen Geschichte. Davon war zumindest Gideons Familie überzeugt und er mit ihnen. Lucy und Paul hatten angeblich den zweiten Chronografen gestohlen und sich damit in der Zeit versteckt. Seit Jahren hatte niemand von ihnen gehört – bis sie bei Lady Tilney auftauchten und unsere kleine Teegesellschaft ziemlich durcheinanderwirbelten.

Wann allerdings genau die Pistolen ins Spiel gekommen waren, das hatte ich vor lauter Schreck verdrängt, aber irgendwann hatte Gideon eine Waffe an Lucys Kopf gehalten, eine Pistole, die er genau genommen gar nicht hätte mitnehmen dürfen. (Wie ich nicht mein Handy, aber mit einem Handy konnte man wenigstens niemanden erschießen!) Daraufhin waren wir in die Kirche geflüchtet. Aber die ganze Zeit war ich das Gefühl nicht losgeworden, dass die Sache mit Lucy und Paul nicht ganz so schwarz-weiß war, wie die de Villiers es gerne behaupteten.

»Was sagen wir denn nun wegen Lady Tilney?«, fragte ich.

»Na ja.« Gideon rieb sich müde über die Stirn. »Nicht, dass wir lügen sollten, aber vielleicht wäre es in diesem Fall klüger, die eine oder andere Sache wegzulassen. Am besten, du überlässt das Reden komplett mir.«

Da war er wieder, der altvertraute Kommandoton. »Ja, klar«, sagte ich. »Ich werde nicken und die Klappe halten, wie sich das für ein Mädchen gehört.«

Unwillkürlich verschränkte ich die Arme vor der Brust. Warum konnte sich Gideon nicht einmal normal benehmen? Erst küsste er mich (und zwar nicht nur einmal!), um gleich darauf wieder einen auf Großmeister der Wächter-Loge zu machen?

Wir schauten angelegentlich aus unseren jeweiligen Fenstern.

Es war Gideon, der schließlich das Schweigen brach, und das erfüllte mich mit einer gewissen Genugtuung. »Was ist los, hat die Katze deine Zunge gestohlen?« So wie er es sagte, klang es fast verlegen.

»Wie bitte?«

»Das hat meine Mutter immer gefragt, als ich klein war. Wenn ich so verstockt vor mich hin geguckt habe wie du gerade.«

»Du hast eine Mutter?« Erst als ich es ausgesprochen hatte, merkte ich, wie dämlich diese Frage war. Meine Güte!

Gideon zog eine Augenbraue hoch. »Was hast du denn gedacht?«, fragte er amüsiert. »Dass ich ein Androide bin und von Onkel Falk und Mr George zusammengeschraubt wurde?«

»Das ist gar nicht mal so abwegig. Hast du Babyfotos von dir?« Bei dem Versuch, mir Gideon als Baby vorzustellen, mit einem runden, weichen Pausbackengesicht und einer Babyglatze, musste ich grinsen. »Wo sind denn deine Mum und dein Dad? Leben sie auch hier in London?«

Gideon schüttelte den Kopf. »Mein Vater ist tot und meine Mutter lebt in Antibes in Südfrankreich.« Für einen kurzen Moment presste er seine Lippen aufeinander und ich dachte schon, er würde wieder in sein Schweigen zurückfallen. Aber dann fuhr er fort: »Mit meinem kleinen Bruder und ihrem neuen Mann, Monsieur Nenn-mich-doch-Papa Bertelin. Er hat eine Firma, die Mikroteile aus Platin und Kupfer für elektronische Geräte herstellt, und offensichtlich läuft das Geschäft super: Seine protzige Jacht hat er jedenfalls Krösus genannt.«

Ich war ehrlich verblüfft. So viele persönliche Informationen auf einmal, das sah Gideon gar nicht ähnlich. »Oh, aber das ist doch sicher cool, dort Ferien zu machen, oder nicht?«

»Ja, klar«, sagte er spöttisch. »Es gibt einen Pool so groß wie drei Tennisplätze und die bescheuerte Jacht hat goldene Wasserhähne.«

»Stelle ich mir auf jeden Fall besser vor als ein unbeheiztes Cottage in Peebles.« In meiner Familie verbrachte man die Sommerferien grundsätzlich in Schottland.

»Wenn ich du wäre und eine Familie in Südfrankreich hätte, würde ich sie jedes Wochenende besuchen. Selbst, wenn sie keinen Pool und keine Jacht hätten.«

Gideon sah mich kopfschüttelnd an. »Ach ja? Und wie würdest du das anstellen, wenn du dabei alle paar Stunden in die Vergangenheit springen müsstest? Nicht unbedingt ein prickelndes Erlebnis, wenn man gerade mit hundertfünfzig Sachen auf der Autobahn entlangfährt.«

»Oh.« Diese Zeitreisegeschichte war irgendwie noch zu neu für mich, als dass ich mich mit allen Konsequenzen auseinandergesetzt hätte. Es gab nur zwölf Träger des Gens – quer über alle Jahrhunderte verteilt – und ich konnte immer noch nicht recht fassen, dass ich einer von ihnen war. Vorgesehen war eigentlich meine Cousine Charlotte gewesen, die sich mit Feuereifer auf ihre Rolle vorbereitet hatte. Aber meine Mutter hatte aus unerfindlichen Gründen mit den Daten meiner Geburt getrickst und nun hatten wir den Salat. Genau wie Gideon hatte ich nun die Wahl, entweder kontrolliert mithilfe des Chronografen in die Zeit zu springen oder aber jederzeit und an jedem Ort von einem Zeitreisesprung überrascht zu werden, was, wie ich aus eigener Erfahrung wusste, nicht gerade angenehm war.

»Du müsstest natürlich den Chronografen mitnehmen, damit du zwischendurch immer in ungefährliche Zeiten elapsieren könntest«, überlegte ich laut.

Gideon stieß ein freudloses Schnauben aus. »Ja, auf diese Weise ist natürlich sehr entspanntes Reisen möglich und man lernt auch gleich noch so viele historische Orte an der Strecke kennen. Aber mal abgesehen davon, dass man mir niemals erlauben würde, mit dem Chronografen im Rucksack durch die Gegend zu fahren – was würdest du denn solange ohne das Ding machen?« Er sah an mir vorbei aus dem Fenster. »Dank Lucy und Paul gibt es nur noch einen oder hast du das vergessen?« Seine Stimme war wieder hitzig geworden, wie immer, wenn von Lucy und Paul die Rede war.

Ich zuckte mit den Schultern und sah ebenfalls aus dem Fenster. Das Taxi schlich in Schrittgeschwindigkeit in Richtung Picadilly. Na super. Feierabendverkehr in der City. Wahrscheinlich wären wir zu Fuß schneller gewesen.

»Dir ist offensichtlich noch nicht ganz klar, dass du nicht mehr viel Gelegenheit haben wirst, von dieser Insel herunterzukommen, Gwendolyn!« In Gideons Stimme schwang Bitterkeit mit. »Oder aus dieser Stadt heraus. Anstatt dich Urlaub in Schottland machen zu lassen, hätte deine Familie dir lieber mal die große weite Welt gezeigt. Jetzt ist es dafür zu spät. Stell dich darauf ein, dass du dir alles, wovon du träumst, nur noch über Google Earth anschauen kannst.«

Der Taxifahrer kramte ein zerfleddertes Taschenbuch hervor, lehnte sich in seinem Sitz zurück und begann ungerührt zu lesen. »Aber… du bist doch in Belgien gewesen und in Paris«, sagte ich. »Um von dort in die Vergangenheit zu reisen und das Blut von wie hieß er noch gleich und dieser Dings…«

»Ja, klar«, fiel er mir ins Wort. »Zusammen mit meinem Onkel, drei Wächtern und einer Kostümbildnerin. Ganz tolle Reise! Abgesehen davon, dass Belgien ja auch so ein wahnsinnig exotisches Land ist. Träumen wir nicht alle davon, mal für drei Tage nach Belgien zu reisen?«

Von seiner plötzlichen Heftigkeit eingeschüchtert, fragte ich leise: »Wo würdest du denn hinfahren, wenn du es dir aussuchen könntest?«

»Du meinst, wenn ich nicht mit diesem Zeitreisefluch geschlagen wäre? Oh Gott – ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen würde. Chile, Brasilien, Peru, Costa Rica, Nicaragua, Kanada, Alaska, Vietnam, Nepal, Australien, Neuseeland…« Er grinste schwach. »Na ja, so ziemlich überall hin außer auf den Mond. Aber es macht nicht wirklich Spaß, darüber nachzudenken, was man im Leben niemals tun kann. Wir müssen uns damit abfinden, dass unser Leben reisetechnisch eher eintönig ausfallen wird.«

»Wenn man von den Zeitreisen mal absieht.« Ich wurde rot, weil er »unser Leben« gesagt hatte und es irgendwie so… intim klang.

»Das ist wenigstens so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit für diese ewige Kontrolle und das Eingesperrtsein«, sagte Gideon. »Wenn es die Zeitreisen nicht gäbe, wäre ich vor Langeweile längst gestorben. Paradox, aber wahr.«

»Mir würde es als Nervenkitzel genügen, ab und zu einen spannenden Film anzuschauen, ehrlich.«

Sehnsüchtig sah ich einem Radfahrer nach, der sich durch den Stau schlängelte. Ich wollte endlich nach Hause! Die Autos vor uns bewegten sich keinen Millimeter, was unserem lesenden Fahrer ganz recht zu sein schien.

»Wenn deine Familie in Südfrankreich lebt – wo wohnst du denn dann?«, fragte ich Gideon.

»Seit Neustem habe ich eine Wohnung in Chelsea. Aber da bin ich eigentlich nur zum Duschen und Schlafen. Wenn überhaupt.« Er seufzte. Zumindest in den letzten drei Tagen hatte er offensichtlich genauso wenig Schlaf abbekommen wie ich. Wenn nicht noch weniger. »Vorher habe ich bei meinem Onkel Falk in Greenwich gelebt, seit meinem elften Lebensjahr. Als meine Mutter Monsieur Ohrfeigengesicht kennengelernt hat und England verlassen wollte, hatten die Wächter natürlich etwas dagegen. Schließlich waren es nur noch ein paar Jahre bis zu meinem Initiationssprung und ich hatte noch so viel zu lernen.«

»Und da hat deine Mutter dich alleingelassen?« Das hätte meine Mum niemals übers Herz gebracht, da war ich sicher.

Gideon zuckte mit den Schultern. »Ich mag meinen Onkel, er ist in Ordnung, wenn er nicht gerade den Logen-Großmeister raushängen lässt. Er ist mir auf jeden Fall tausendmal lieber als mein sogenannter Stiefvater.«

»Aber…« Ich traute mich beinahe nicht zu fragen und flüsterte deshalb. »Aber vermisst du sie denn nicht?«

Wieder ein Schulterzucken. »Bis ich fünfzehn war und noch gefahrlos verreisen durfte, war ich in den Ferien immer dort zu Besuch. Und dann kommt meine Mutter ja auch mindestens zweimal im Jahr nach London, offiziell, um mich zu besuchen, in Wirklichkeit aber wohl eher, um Monsieur Bertelins Geld auszugeben. Sie hat ein Faible für Klamotten, Schuhe und antiken Schmuck. Und für makrobiotische Sterne-Restaurants.«

Die Frau schien ja wirklich eine Bilderbuch-Mum zu sein. »Und dein Bruder?«

»Raphael? Der ist mittlerweile ein richtiger Franzose. Er sagt Papa zum Ohrfeigengesicht und soll einmal das Platinen-Imperium übernehmen. Obwohl es im Augenblick so aussieht, als würde er nicht mal seinen Schulabschluss schaffen, der alte Faulpelz. Er beschäftigt sich lieber mit Mädchen anstatt mit seinen Büchern.« Gideon legte den Arm hinter mir auf die Rückenlehne und prompt reagierte meine Atemfrequenz. »Warum guckst du so schockiert? Tu ich dir jetzt etwa leid?«

»Ein bisschen«, sagte ich ehrlich und dachte an den elfjährigen Jungen, der ganz allein in England hatte zurückbleiben müssen. Bei geheimnistuerischen Männern, die ihn dazu zwangen, Fechtunterricht zu nehmen und Violine zu spielen. Und Polo! »Falk ist doch nicht mal dein richtiger Onkel. Nur ein entfernter Verwandter.«

Hinter uns hupte es wütend. Der Taxifahrer sah nur flüchtig hoch und setzte dann den Wagen in Bewegung, ohne sich groß von seiner Lektüre ablenken zu lassen. Ich hoffte nur, dass das Kapitel nicht allzu spannend war.

Gideon schien gar nicht auf ihn zu achten. »Falk war zu mir immer wie ein Vater«, sagte er. Er lächelte mich schief von der Seite an. »Wirklich, du musst mich nicht ansehen, als wäre ich David Copperfield.«

Wie bitte? Warum sollte ich denken, er sei David Copperfield?

Gideon stöhnte. »Ich meine die Romanfigur von Charles Dickens, nicht den Zauberer. Liest du eigentlich ab und zu ein Buch?«

Und da war er wieder, der alte, überhebliche Gideon. Mir hatte ja schon der Kopf geschwirrt vor lauter Freundlichkeit und Vertraulichkeiten. Seltsamerweise war ich beinahe erleichtert, das alte Ekelpaket zurückzuhaben. Ich setzte eine möglichst hochnäsige Miene auf und rückte etwas von ihm ab. »Ehrlich gesagt bevorzuge ich moderne Literatur.«

»Ach ja?« Gideons Augen glitzerten amüsiert. »Was denn so, zum Beispiel?«

Er konnte nicht wissen, dass meine Cousine Charlotte mir diese Frage jahrelang ebenfalls regelmäßig gestellt hatte, und zwar mit genau der gleichen Arroganz. Eigentlich las ich nicht mal wenig und hatte deshalb immer bereitwillig Auskunft gegeben, aber da Charlotte meine Lektüre stets verächtlich als »nicht anspruchsvoll« und »albernen Mädchenkram« abgetan hatte, war mir irgendwann der Kragen geplatzt und ich hatte ihr den Spaß ein für alle Mal verdorben. Manchmal muss man die Leute mit ihren eigenen Waffen schlagen. Der Trick ist, dass man beim Sprechen nicht das geringste Zögern erkennen lassen darf, und man sollte mindestens einen anerkannten Bestsellerautorennamen einflechten, am besten einen, dessen Buch man auch wirklich gelesen hat. Außerdem gilt: je exotischer und ausländischer die Namen, desto besser.

Ich hob mein Kinn und sah Gideon fest in die Augen. »Na, George Matussek lese ich zum Beispiel gern, Wally Lamb, Pjotr Selvjeniki, Liisa Tikaanenen, überhaupt finde ich finnische Autoren toll, die haben so einen besonderen Humor, dann alles von Jack August Merrywether, obwohl mich das letzte ein bisschen enttäuscht hat, Helen Marundi selbstverständlich, Tahuro Yashamoto, Lawrence Delaney, und natürlich Grimphook, Tscherkowsky, Maland, Pitt…«

Gideon sah eindeutig verdutzt aus.

Ich verdrehte die Augen. »Rudolf Pitt, nicht Brad.«

In seinen Mundwinkeln zuckte es leicht.

»Obwohl ich sagen muss, dass mir Amethystschnee überhaupt nicht gefallen hat«, fuhr ich rasch fort. »Zu viele schwülstige Metaphern, fandest du nicht auch? Beim Lesen habe ich die ganze Zeit gedacht, das hat jemand anders für ihn geschrieben.«

»Amethystschnee?«, wiederholte Gideon und jetzt lächelte er richtig. »Ah, ja, das fand ich auch furchtbar schwülstig. Wohingegen mir Die Bernsteinlawine unheimlich gut gefallen hat.«

Ich konnte nicht anders, ich musste zurücklächeln. »Ja, mit Die Bernsteinlawine hat er sich den österreichischen Literaturstaatspreis wirklich verdient. Was hältst du denn von Takoshi Mahuro?«

»Das Frühwerk ist okay, aber ich finde es ein wenig ermüdend, dass er immer und immer wieder seine Kindheitstraumata verarbeitet«, sagte Gideon. »Von den japanischen Literaten liegt mir Yamamoto Kawasaki mehr oder Haruki Murakami.«

Ich kicherte jetzt haltlos. »Murakami gibt es aber wirklich!«

»Ich weiß«, sagte Gideon. »Charlotte hat mir ein Buch von ihm geschenkt. Wenn wir das nächste Mal über Bücher reden, werde ich ihr Amethystschnee empfehlen. Von – wie hieß er noch?«

»Rudolf Pitt.« Charlotte hatte ihm ein Buch geschenkt? Wie – äh – nett von ihr. Auf so eine Idee musste man erst mal kommen. Und was taten sie wohl sonst noch miteinander, außer über Bücher zu reden? Meine Kicherlaune war wie weggeblasen. Wie konnte ich überhaupt einfach so hier sitzen und mit Gideon plaudern, als wäre nie etwas zwischen uns passiert? Zuerst einmal hätten wir doch da noch ein paar grundsätzliche Dinge zu klären. Ich starrte ihn an und holte tief Luft, ohne genau zu wissen, was ich ihn überhaupt fragen wollte.

Warum hast du mich geküsst?

»Wir sind gleich da«, sagte Gideon.

Aus dem Konzept gebracht schaute ich aus dem Fenster. Tatsächlich – irgendwann während unseres Schlagabtausches hatte der Taxifahrer offenbar sein Buch zur Seite gelegt und die Fahrt fortgesetzt und nun war er kurz davor, in die Crown Office Row im Temple Bezirk abzubiegen, wo die Geheimgesellschaft der Wächter ihr Hauptquartier hatte. Wenig später parkte er den Wagen auf einem der reservierten Parkplätze neben einem glänzenden Bentley.

»Und Sie sind ganz sicher, dass wir hier stehen bleiben dürfen?«

»Das geht schon in Ordnung«, versicherte ihm Gideon und stieg aus. »Nein, Gwendolyn, du bleibst im Taxi, während ich das Geld hole«, sagte er, als ich hinterherklettern wollte. »Und vergiss nicht: Egal, was sie uns auch fragen werden: Du lässt mich reden. Ich bin gleich wieder da.«

»Die Uhr läuft«, sagte der Taxifahrer mürrisch.

Er und ich sahen Gideon zwischen den altehrwürdigen Häusern von Temple verschwinden und ich begriff jetzt erst, dass ich als Pfand für das Fahrgeld zurückgelassen worden war.

»Sind Sie vom Theater?«, fragte der Taxifahrer.

»Wie bitte?« Was war das für ein flatternder Schatten über uns?

»Ich mein ja nur, wegen der komischen Kostüme.«

»Nein. Museum.« Vom Autodach kamen seltsame kratzende Geräusche. Als wäre ein Vogel darauf gelandet. Ein großer Vogel. »Was ist das?«

»Was denn?«, fragte der Taxifahrer.

»Ich glaube, da ist eine Krähe oder so auf dem Auto«, sagte ich hoffnungsvoll. Aber es war natürlich keine Krähe, die ihren Kopf über das Dach neigte und zum Fenster hereinschaute. Es war der kleine Wasserspeier aus Belgravia. Als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck sah, verzog sich sein Katzengesicht zu einem triumphierenden Lächeln und er spuckte einen Schwall Wasser über die Windschutzscheibe.

Die Liebe hemmet nichts; sie kennt nicht Tür noch Riegel
Und dringt durch alles sich.
Sie ist ohn’ Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel
Und schlägt sie ewiglich.

Matthias Claudius (17401815)