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Brigitte Melzer

Im Schatten des Dämons

Roman

hockebooks

16

Eine flache Messingschale voll Wasser sollte Antworten bringen. Stattdessen warf sie weitere Fragen auf. Nachdenklich starrte Croghán auf die stille Wasseroberfläche. Er war beunruhigt. Warum gelingt es mir nicht, Kontakt zu knüpfen? Es war ihm immer ein Leichtes gewesen, Verbindung zu seinen Untergebenen im Dschungel von Bakemba aufzunehmen. Warum wollte es ihm heute nicht gelingen? Ausgerechnet am Tag des Rituals.

Missmutig schob er die Schale zur Seite. Sein Blick fiel auf die Umrisse des Pentagramms, das er vor langer Zeit mit goldener Farbe auf den Steinboden aufgetragen hatte. Das Gold war im Laufe der Jahre zu einem verwaschenen Ocker verblasst, dennoch erfüllte es noch immer seinen Zweck. So wie alles hier. Seine Augen streiften über die kalten Steinwände, wanderten über ein Regal, das bis unter die niedrige Decke mit alten Büchern, Folianten und Schriftrollen voll gestopft war, zu einem großen Tisch. Darauf häuften sich Ingredienzien – Kräuter, Eingeweide von Tieren und Menschen, Pulver, und einiges mehr –, allesamt unabdingbar für sein Werk. Die Kammer war seine Zuflucht und sein Gefängnis zugleich. Längst sollte er sein Handeln nicht mehr vor der Welt verbergen müssen. Es war die Schuld des Mädchens, dass er noch immer nicht am Ziel angelangt war.

Diese verfluchte Göre sollte längst tot sein!

Zur selben Zeit, als das Mädchen entkommen war, hatte auch Prinz Liamar die Stadt verlassen. Seit Monaten war er von dem Gedanken besessen, die Unschuld seines Vetters zu beweisen. Bisher war es Croghán gelungen, ihn davon abzuhalten. Bei ihrer letzten Begegnung war Liamar nicht mehr geneigt gewesen ihm zuzuhören. Die Götter allein wussten, wie das Mädchen es geschafft hatte, auch noch Landévennec für sich zu gewinnen.

Er griff nach einem Kohlebecken, stellte es auf den Tisch und entzündete die Kohlen. Voller Ungeduld wartete er, dass sie zu glühen begannen. Dann griff er nach einer Pulvermischung, die er eigens zusammengestellt hatte. Er stäubte eine Handvoll über die Glut. Dunkelblauer Rauch stieg in die Luft und breitete sich aus. Es roch nach feuchter Friedhofserde.

Seine Faust schloss sich um ein Stück glühender Kohle. »Komm zu mir, Herr der Nacht. Eile herbei, Gesicht in der Dunkelheit. Lass dich durch nichts fernhalten, höre meinen Ruf!« Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. Zischend brannte sich die Glut in seine Handfläche. »Erscheine, Herr der Nacht!«

Mit verkniffener Miene schleuderte er den Kohlenklumpen ins Zentrum des Pentagramms. Glut wirbelte über den Boden, erhob sich und gebar den, den er gerufen hatte. Zunächst unstet flackernd und durchscheinend verdichtete sich die Gestalt zunehmend.

»Ich habe mich schon gefragt, wie lange du deine Neugierde in Zaum halten kannst.« Der Arsilah trat aus dem Rauch.

»Was ist passiert?«

»Das Weltentor ist zerstört.« Er klang gelassen.

Croghán nahm die Nachricht weniger ruhig entgegen. »Wie konnte das geschehen?«, brüllte er.

»Errätst du es nicht?«

»Sie.« Er spie das Wort aus. Etwas am Verhalten des Dämons ließ Croghán stutzen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Zerstörung des Tores ihm den Weg auf diese Seite abgeschnitten hatte, wirkte er erstaunlich gleichmütig. Er verbirgt etwas. Im Geiste rezitierte Croghán einen Zauberspruch und konzentrierte sich auf den Dämon. Er ließ die unsichtbare Magie über ihn schwappen und beobachtete die Wirkung. Der Arsilah hatte sich nicht verändert. Er war noch immer stofflos, wie er es gewesen war, seit Croghán ihn zum ersten Mal gerufen hatte. Ein winziger Kern tief in seinem Innersten schien anders zu sein. Greifbar. Etwas band den Arsilah an diese Welt und irgendwo musste es einen Ort geben, an dem er mehr als nur der Schatten eines Dämons aus der Neunten Hölle war. Einen Ort, an dem er existierte.

»Wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte Croghán lauernd.

Der Arsilah sah ihn an. Zumindest vermutete Croghán, dass er es tat. »Es gibt einen Weg, das Ritual zu vollenden.«

»Ach ja?« Croghán heuchelte Interesse. Er wusste längst, worauf der Dämon hinauswollte. Und er war nicht bereit, es zu tun.

»Das Amulett um deinen Hals. Gib es mir. Es wird mich befreien.«

Unwillkürlich tastete Croghán nach der schweren silbernen Kette, deren Anhänger unter seiner Robe verborgen lag. Das Seelenfenster. Das Amulett war Crogháns Lebensversicherung. Es verlieh ihm Macht über den Arsilah und würde ihn schützen, für den Fall, dass der Dämon eines Tages auf den Gedanken käme, ihn nicht mehr zu benötigen. »Wenn ich dir das Amulett überlasse, gibt es nichts, das meine Sicherheit garantiert. Abgesehen davon hast du deinen Teil des Paktes noch zu erfüllen. Lehre mich das Gestaltwandeln.«

»Ich spüre deine Furcht, kleiner Mann.« Der Arsilah sog schnüffelnd die Luft ein. »Ich kann sie riechen.« Er lachte. »Hab keine Angst, ich gedenke mich an unsere Abmachung zu halten. Gib mir das Amulett und ich bringe dir bei, weshalb du mich gerufen hast.«

»Du zuerst.«

Der Dämon schüttelte den Kopf. »Dann gibt es für dich keinen Grund mehr, mich zu befreien.«

»Und wenn ich dich befreie, gibt es für dich keinen Grund mehr, mich die Magie zu lehren.« Und mich nicht zu töten.

»Hmhmhm.« Der Arsilah strich sich nachdenklich über das Kinn. »Wie mir scheint, befinden wir uns in einer Sackgasse.«

»Nicht im Mindesten. Es ist sehr einfach. Du wirst tun, was ich verlange, andernfalls wirst du niemals die Freiheit erlangen.« Schon vor sehr langer Zeit hatte er sich auf eine Situation wie diese vorbereitet. Seine Hand schloss sich um das Amulett unter seiner Robe. »Eradách nuriat compera!« Kalte Glut erstrahlte um das Amulett, drang durch den Stoff seiner Robe und hüllte seine Hand in silbernen Glanz. Die Gestalt des Arsilah verlor an Substanz.

»Was soll das, Croghán?«

»Wirst du tun, was ich verlange?«

»Ich bin nicht dein Sklave!«

»Eradách nuriat compera!« Das Amulett pulsierte. Die Umrisse des Arsilah wurden durchscheinend, fransten aus und zerrannen langsam. »Nun?«

Croghán glaubte zu spüren, wie sich die mörderischen Blicke des Dämons in seine Haut bohrten. »Also gut. Was willst du?«

»Ich will die Magie – jetzt – und ich will, dass du das Mädchen und ihre Begleiter aufhältst. Keiner von ihnen soll lebend nach Cor Amánthor zurückkehren!«

»Nimm die Finger von dem Ding und ich erfülle deinen Wunsch. Aber glaube ja nicht …« Croghán setzte an, erneut seine Zauberformel zu sprechen. »Kein Grund ungemütlich zu werden, Mensch. Ich werde deinen Wunsch erfüllen, also lass den Unfug.«

Zufrieden lächelnd zog Croghán die Hand zurück. Das Glimmen verging. Die Gestalt des Dämons verfestigte sich. Der Arsilah trat auf ihn zu. Croghán hob die Hand. »Komm nicht näher.«

»Wenn du die Magie willst, muss ich das tun. Es sei denn«, fügte er mit unterdrücktem Kichern hinzu, »du willst Jahre des Studiums darauf verwenden.«

»Ich warne dich. Versuch nicht Hand an das Amulett zu legen. Es würde dich auslöschen. Dafür habe ich gesorgt.«

»Spar dir den Atem. Ich gebe einfach vor, du wärst hier der Herr – für den Augenblick. Also lass mich meine Arbeit tun.« Als der Arsilah dieses Mal vor ihn trat, hielt Croghán ihn nicht auf. Der Dämon hob die Hand und legte sie auf Crogháns Stirn. Ein heftiger Ruck durchfuhr ihn, als das Wissen des Dämons in ihn flutete. Er fühlte die Barriere, mit der der Arsilah jene Kräfte abschirmte, die nicht für ihn bestimmt waren. Kräfte, deren Macht ihn augenblicklich getötet hätte. Lediglich das Wissen um eine einzige Art von Magie war frei. Das genügte Croghán. Er saugte es auf wie ein Schwamm.

Als der Dämon seine Hand zurückzog, tat Croghán zwei taumelnde Schritte. Lachend stand er da. Er konnte es! Ohne es versucht zu haben, wusste er, dass er es konnte. Er rief die Magie, stellte sich vor, auszusehen wie Prinz Liamar, und sprach die Worte. Etwas veränderte sich. Um ihn herum und in ihm. Und als er sein Gesicht in der Wasseroberfläche erblickte, war er Prinz Liamar. Dunkle Augen, braunes Haar und ein ansehnliches Gesicht. Jetzt steht meinen Plänen nichts mehr im Weg. Fast nichts. Er sah den Arsilah an und nickte. »Das ist ein Anfang. Nun geh und erledige, was ich dir aufgetragen habe.«

Der Arsilah verneigte sich übertrieben und verschwand ohne ein Wort. Er löste sich auf und schien im Boden zu versickern. Croghán blickte nachdenklich auf sein Spiegelbild. Er wusste, dass der Zauber des Gestaltwandelns nicht dauerhaft wirkte. Bereits jetzt verschwammen Liamars Gesichtszüge und wichen mehr und mehr seinen eigenen. Schon als das Wissen auf ihn übergegangen war, hatte er gespürt, dass der Zauber nicht vollständig war. Der Arsilah hatte einen Teil geheim gehalten. Croghán hatte Erfahrung mit der Erforschung der Magie. Es würde ein Leichtes sein, den fehlenden Splitter zu finden – jetzt, da er den eigentlichen Zauber kannte. Und was das Mädchen und ihre Begleiter anging, würde er sich nicht auf den Arsilah allein verlassen.

17

Für Daith vergingen die Tage in Schweigen. Er hatte nicht versucht noch einmal mit Cait zu sprechen. Er brauchte sie nur anzusehen, um zu wissen, dass sie nicht zuhören würde.

Zurück an Bord der Windprinz nistete er sich im Frachtraum ein. Sobald sie wieder in Dallán waren, würde er seine Sachen nehmen und gehen. Bis es jedoch so weit war, lag eine lange Zeit auf See vor ihm. Wochen auf engstem Raum, die alles andere als einfach werden würden.

Dass seine Befürchtungen nicht unbegründet waren, zeigte sich kurz nach dem Auslaufen, als Connor den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Hier bist du.« Ohne eine Aufforderung abzuwarten, trat er ein und schloss die Tür. »Warum bist du nicht oben?« Seine Blicke blieben an der Stelle zwischen Kisten und Fässern hängen, an der Daith sein Lager aufgeschlagen hatte. »Hast du etwa vor, dich hier einzunisten?«

»Oben ist es zu eng.«

»Aha.« Er tippte mit dem Finger gegen die Laterne, die an einem Haken unter der Decke hing. Sie geriet ins Schwingen. Das unruhige Licht ließ die Schatten im Raum anwachsen, nur um sie sogleich wieder schrumpfen zu lassen. Wachsen. Schrumpfen. Wachsen. Schrumpfen. Daith’ Augen folgten dem schwankenden Lichtkreis für eine Weile. Schließlich hob er die Hand und hielt die Lampe fest. Die Schatten erstarrten.

Connor wanderte zwischen den Kisten umher. »Gemütlich. Nicht zu hell. Keine überflüssigen Fenster. Ich verstehe, dass du diesen Ort mit muffiger, abgestandener Luft einer geräumigen Kajüte vorziehst.«

»Spar dir deinen Sarkasmus.«

Connor wandte sich Daith zu. »Vielleicht ist Sarkasmus der einzige Weg, dich zu einem Gespräch zu bewegen. Oder wenigstens zu irgendeiner Reaktion.«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Hör auf, mich für dumm zu verkaufen!« Connors Augen waren ein Spiegel seines Zorns. »Ich bin dein Freund, Daith. Und das nicht erst seit gestern. Verdammt, denkst du, ich wüsste nicht, dass etwas geschehen ist? Ich bin kein Idiot! Das Schlimme ist nur, ich habe nicht die geringste Ahnung, was sich zugetragen hat.« Er studierte Daith’ Miene. »Sichtlich war es nicht das, was du dir erhofft hast.«

Für eine Weile war es genau das. »Sie weiß es.«

Connor fuhr auf. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst es für dich behalten?«

»Sie hat mich gefragt, wo ich war, als sie … beinahe umgekommen wäre.«

»Und da hast du es ihr gesagt.« Er seufzte resigniert.

»Was hätte ich denn tun sollen?«

»Lügen.«

»Es wäre für immer zwischen uns gestanden. Ich weiß nicht, wie lange ich mit diesem Geheimnis hätte leben können.«

»Du hast monatelang damit gelebt!«

»Da dachte ich noch, ich hätte eine Mörderin für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen und nicht das Leben eines unschuldigen Menschen zerstört.«

»Wie hat sie es aufgenommen?«

»Aufgenommen?«, höhnte Daith. »Was glaubst du, wie sie es aufgenommen hat? Für sie bin ich gestorben.«

»Warum konntest du nicht den Mund halten!«

»Es wäre falsch gewesen.« Daith’ Gedanken reisten zurück zu jener Nacht. Die Enttäuschung in ihren Augen wollte ihn nicht mehr loslassen und drohte ihn zu zerbrechen. Sich ausgerechnet in das Mädchen zu verlieben, das er hatte töten wollen, war die bitterste Ironie, die ihm je untergekommen war.

*

Er saß in der dunklen Enge des Frachtraums und lauschte auf die Geräusche, die ihn umspülten wie das Wasser den Schiffsrumpf. Aus der Ferne drangen Stimmen an sein Ohr. Manchmal glaubte er Cait zu hören, die sich mit jemandem unterhielt. Irgendwann verstummten die Gespräche. Einzig das Knarren der Planken und das Rauschen der Wellen, die gegen den Rumpf schlugen, waren noch zu vernehmen. Es war spät geworden.

Daith verließ den Frachtraum und ging an Deck. Er suchte sich einen Platz auf dem Oberdeck, fernab vom Steuermann, und ließ sich auf einer Seilrolle nieder. Er schloss die Augen und ließ seine Gedanken ziehen wie die Wolken am Himmel. Ein Knarren schreckte ihn auf. Träge öffnete er ein Auge. Sein Blick blieb an Cait hängen, deren Silhouette sich auf dem Hauptdeck unter ihm im Mondlicht abzeichnete. Er öffnete auch das andere Auge und setzte sich auf. Vielleicht ist das meine Gelegenheit. Er glitt von der Seilrolle und rückte an das Geländer heran, das das Oberdeck umgab. Da bemerkte er, dass sie sich seltsam bewegte. Als würde sie schlafwandeln. Ihre Augen schimmerten trüb im Sternenlicht.

Sie hielt inne. »Du hast mich gerufen.«

Von ihren Worten überrascht, setzte er zu einer Antwort an. Eine fremde Stimme kam ihm zuvor. »Ich habe dir gesagt, wir würden uns bald wiedersehen.«

Hätte Daith die Stimme nicht gehört, er hätte die Gestalt niemals bemerkt, die nur eine Armeslänge von ihr entfernt stand. Gehüllt in dunkle Gewänder verschmolz der Unbekannte mit den Schatten zwischen den Decksaufbauten. Cait stand reglos da. Sie schien nicht einmal zu atmen.

»Du wirst etwas für mich tun«, erklang die Stimme erneut, volltönend und warm. Dennoch ließ ihr Klang Daith frösteln. Die feinen Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. Auf den Boden gepresst schob er sich an das Geländer heran, das ihn vom Hauptdeck trennte. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete die hoch gewachsene Gestalt, doch so sehr er sich bemühte, es wollte ihm nicht gelingen, die Züge des Fremden auszumachen. Nur langsam begriff er, dass der Fremde längst ins Licht getreten war. Eine stählerne Faust klammerte sich um seine Eingeweide und presste sie zusammen. Das ist unmöglich! Das Weltentor war zerstört, das Ritual niemals vollständig vollzogen worden. Er durfte nicht hier sein. Und doch war er es.

Der Arsilah trat an Cait heran. Er beugte sich herab, ließ seine Nase über ihren Hals streifen und sog ihren Duft ein. Daith’ Hände ballten sich zu Fäusten. »Du bist die Richtige.« Erneut füllte er seine Nase mit ihrem Duft. Sein Finger strich zärtlich über ihren Hals. »Meine Dienerin.«

Cait zuckte nicht einmal. »Das bin ich nicht.« Sie klang beinahe trotzig. Als hätte er zwar Macht über ihren Körper, nicht aber über ihren Verstand.

Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sie mit geneigtem Haupt. »Mach dir nichts vor, du hast das Ritual begonnen. Ich habe dich erhört.« Die Luft zwischen ihm und Cait begann plötzlich zu flimmern und verdichtete sich zu einem Wirbel, der sich stetig veränderte und formte, bis das Abbild eines Medaillons zwischen ihnen hing, kaum größer als ein Handteller. Umgeben von silbernem Glanz drehte es sich langsam um die eigene Achse, eine kleine, filigrane Maske erstarrt in einer Miene der Ausdruckslosigkeit. Die Augen leere Schlitze, hinter denen ein Abgrund aus Dunkelheit gähnte. »Was du siehst, nennt man Seelenfenster. Es befindet sich in Crogháns Besitz. Präge es dir gut ein.« Er machte eine kurze Pause, dann sagte er: »Du wirst es mir bringen.« Das Bild verblasste. Echos silbernen Lichts erfüllten die Luft, als es verging. Die Hand des Dämons senkte sich auf ihre Schulter. »Wage es nicht, Croghán zu töten! Dieses Vergnügen ist allein mir vorbehalten. Bring mir nur, was ich haben will. Noch etwas: Wenn einer deiner Begleiter nach Cor Amánthor zurückkehrt, wirst du ihn töten. Wenn es sein muss, alle vier.«

»Nein!«

»Tapfer gesprochen und doch so nutzlos. Du wirst es tun. Croghán will es so. Was das angeht, soll er seinen Willen haben. Nennen wir es ein Zeichen meines Entgegenkommens.« Er spreizte die Finger und ließ sie sogleich zurückschnellen. »Weigerst du dich meine Wünsche zu erfüllen, wird es dich umbringen. Stück für Stück, langsam und qualvoll. Kämpfe nicht dagegen an. Füge dich deinem Schicksal.« Er trat in die Schatten zurück, und als er mit der Dunkelheit verschmolz, vernahm Daith noch einmal seine Stimme: »Du wirst meine Wünsche erfüllen, Mädchen. Und jetzt wirst du einschlafen und erst bei Sonnenaufgang wieder erwachen.«

Ein Zucken durchlief Cait. Ihr Blick klärte sich. Verwirrung zeichnete ihre Züge. Einen Augenblick später sank sie in sich zusammen und stürzte auf die Decksplanken.

»Cait!« Daith sprang auf und setzte über das Geländer hinweg. Er ließ sich neben ihr auf die Knie fallen. »Wach auf.« Er schüttelte sie an der Schulter. Sie rührte sich nicht. »Komm zu dir!« Mit dem Handrücken schlug er leicht gegen ihre Wange. Sie murmelte etwas, ohne zu erwachen. Du wirst einschlafen und erst bei Sonnenaufgang erwachen. Daith hob sie hoch, trug sie in ihre Kajüte und legte sie ins Bett. Dann stürmte er auf den Gang, riss die Tür zur Nachbarkabine auf und platzte in den Raum. »Steht auf! Es gibt Ärger!«

Liamar war sofort auf den Beinen, das Schwert in der Hand. »Na’Darrach?«

»Nichts dergleichen. Wir müssen reden. Steht endlich auf!«

Connor entzündete eine Laterne und hängte sie unter die Decke. Annuides betrachtete ihn grimmig, die Augen zusammengekniffen angesichts der blendenden Helligkeit. »Bist du übergeschnappt, Landévennec?«

»Cait ist in Gefahr.« Annuides verstummte abrupt. »Der Arsilah ist hier. Ich habe ihn gesehen.« In knappen Worten gab er das Gespräch wieder, dessen Zeuge er geworden war. Nachdem er geendet hatte, herrschte angespanntes Schweigen.

Liamar war der Erste, der die Sprache wiederfand. »Was wir brauchen, ist ein Weiser, der uns helfen kann.«

»Jemanden wie Racielle? Jemanden, der uns an Croghán oder den Arsilah verrät oder sein Werk vollendet und uns umbringt?« Daith zwang sich zur Ruhe. Seine Sorge ließ ihn überreagieren.

Liamar störte sich nicht an Daith’ Zynismus. »Ich dachte an den Weisen vom Verschwundenen Turm

Obwohl ihm keineswegs danach zumute war, begann Daith zu lachen. »Das ist nicht dein Ernst! Du willst eine Legende jagen, in der Hoffnung Antworten zu finden?«

Liamar blieb ernst. »Ich glaube nicht, dass er eine Legende ist. Ihn zu finden dürfte allerdings schwierig werden.«

Schwierig – in der Tat. Daith hatte vom Verschwundenen Turm gehört. Dieser Ort trug seinen Namen nicht zu Unrecht. Manch einer behauptete, es gäbe ihn nicht. Andere waren der Ansicht, der Turm des Weisen würde sich jenen offenbaren, die wahrhaft nach ihm suchten. Was haben wir schon zu verlieren. Daith’ Blick wanderte von einem zum anderen. Annuides nickte, ebenso wie Connor. Schließlich sagte er: »Versuchen wir es.«

»Wo?«

»Es wird erzählt, er befinde sich im Wald von Artulién, an der Westküste Cartómiens. Nach allem was ich gehört habe, ist der Wald nicht groß. Weniger als ein halber Tagesritt in alle Richtungen.«

Connor runzelte die Stirn. »Wenn der Wald so winzig ist, scheint es mir verwunderlich, dass noch niemand den Turm gefunden hat.«

»Was glaubst du, warum sie ihn den Verschwundenen Turm nennen?«

»Großartig«, brummte Daith. »Was, wenn wir ihn nicht finden?«

»Darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn es so weit ist. Falls es so weit ist.« Liamars Selbstvertrauen schien grenzenlos.

»Was machen wir mit Cait?«

»Wenn sie erfährt, was wir vorhaben, wird es vermutlich auch der Arsilah erfahren.« Annuides lehnte sich zurück. »Können wir das riskieren?«

»Wir sagen ihr erst einmal nichts«, entschied Daith. »Sie hat genug Sorgen.«

18

»Land in Sicht!« Die Schreie trieben vom Ausguck herunter, getragen von der sanften Brise, die seit Tagen die Segel blähte. Cait schirmte die Augen mit der Hand ab und spähte in die Richtung, in die der Seemann gezeigt hatte.

Seit Tagen hatte sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Die Männer benahmen sich merkwürdig. Ständig schlich einer um sie herum, erkundigte sich, ob es ihr gut ginge. Sie sprach es nicht aus, doch sie fühlte sich erbärmlich. Beinahe zwei Wochen auf See und sie vermisste Daith’ Nähe mit jedem Tag mehr. Natürlich waren die anderen für sie da, allen voran Annuides. Doch er war nicht Daith. Sie vermisste seine grimmigen Blicke, seine Kommentare und spitzen Bemerkungen. Es fehlte ihr, sich mit ihm zu zanken, schweigend neben ihm zu sitzen oder in seinen Armen zu liegen. Wann immer sie ihn sah, fiel es ihr schwer, nicht die Hand nach ihm auszustrecken und ihn zu berühren. Sie fürchtete sich davor, ihm erneut zu vertrauen. Obwohl sie tief in ihrem Herzen wusste, dass sie das konnte.

Ihre Probleme mit Daith waren das eine, ihr unruhiger Schlaf das andere. Es gab Tage, an denen sie mit dem Gefühl erwachte, sich eben erst hingelegt zu haben. Manchmal war es, als hallte das Echo eines vergangenen Gesprächs beim Erwachen noch immer durch ihren Kopf.

Sie kniff die Augen zusammen und blickte über das Meer auf einen nicht enden wollenden Küstenstreifen, der zu beiden Seiten im Horizont versank. Das ist nicht Dallán. Die Küstenlinie war zu lang.

Sie machte kehrt und lief nach unten. Aufgeregte Stimmen drangen durch die Kajütentür auf den Gang. »Wir werden Cartómien bald erreichen«, hörte sie Connor sagen. »Wie sollen wir ihr erklären, dass wir nicht nach Dallán reisen?«

Jemand lief unruhig auf und ab. »Wir sollten ihr die Wahrheit sagen.« Liamars Stimme war ganz nah.

»Und ihn auf uns aufmerksam machen?« Connor.

Cait stieß die Tür auf. »Welche Wahrheit? Wen wollt ihr nicht auf euch aufmerksam machen?«

Alle vier starrten sie an. Connor und Annuides, die auf der Bank unter dem Bullauge saßen, Daith, der aufgehört hatte auf und ab zu wandern, und Liamar, der neben der Tür an der Wand lehnte.

»Würde mir jemand erklären, was das soll?«, verlangte sie, als niemand etwas sagte.

»Du stehst unter dem Bann des Arsilah«, platzte Connor heraus.

»Gut gemacht, Connor! Direkter hättest du es kaum zur Sprache bringen können!« Annuides wandte sich ihr zu: »Er war hier – an Bord. Vielleicht ist er es noch immer. Er befahl dir, ihm einen Gegenstand aus Crogháns Besitz zu beschaffen und du wirst nichts anderes tun können als seinem Befehl Folge zu leisten.«

Im ersten Moment fehlten ihr die Worte. Dann begann sie zu lachen. »Seid ihr noch bei Trost? Sollte ich mich nicht erinnern, wenn ich mit ihm gesprochen habe? Wenn er mich sogar mit einem Bann belegt haben soll!«

»Seine Magie lässt dich vergessen, dass er hier war«, sagte Daith ruhig. »Ich habe ihn gesehen, Cait, und ich habe gehört, was er von dir verlangt.«

Schlagartig verstummte ihr Gelächter. Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. »Wenn du das sagst, muss ich es wohl glauben.«

»Du bist in Gefahr. Deshalb kehren wir nicht nach Dallán zurück. Nicht solange wir nicht eine Möglichkeit gefunden haben, den Bann zu brechen.«

»Vielleicht kann mir einer von euch sagen, wohin die Reise geht?«

»Wir suchen den Verschwundenen Turm. Es ist ein …«

Sie glaubte, ihr Herz würde stehen bleiben. Ohne auf die Rufe zu achten, machte sie kehrt und verließ die Kajüte. Sie floh auf das Oberdeck und ließ sich auf die kleine Bank sinken, die ihr so oft als Ruheplatz gedient hatte.

Der Verschwundene Turm. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Wie oft hatte ihr Vater Geschichten von Lavandan dem Weisen erzählt. Jenem Mann, den er immer als seinen Freund bezeichnet hatte. Lavandan würde wissen, ob ihr Vater und Ewan am Leben waren. Was, wenn es nicht die Antwort ist, die ich hören will? Sie hatte immer geglaubt, ihr bliebe noch Zeit, ehe sie sich der Wahrheit stellen musste. Und mit einem Mal ging alles so schnell. Viel zu schnell.

»Alles in Ordnung?«

Connors Erscheinen schreckte sie auf. Es dauerte eine Weile, bis sie antworten konnte. »Der Gedanke an den Turm ist irgendwie …«

Er setzte sich neben sie und blickte aufs Meer. »Du glaubst uns kein Wort, nicht wahr?«

»Der Arsilah?« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn es so wäre, müsste ich mich doch erinnern.«

»Er hat dich …«

»… mit einem Bann belegt. Das habe ich gehört. Dennoch, ich müsste mich an irgendetwas erinnern, oder?« Womöglich ein paar Nächte, in denen ich das Gefühl hatte, gerade erst schlafen gegangen zu sein, als ich erwachte? Der Nachhall einer längst verklungenen Unterhaltung?

»Ich hoffe, Lavandan kann uns die Antworten geben, die uns fehlen.« Er verzog das Gesicht. »Wenn wir ihn jemals finden.«

»Ich glaube, ich kann ihn finden.« Beinahe amüsiert beobachtete sie, wie Connor große Augen bekam. »Ich war selbst noch nicht dort. Mein Vater schon. Er war Händler. Er hat oft für Lavandan gearbeitet – Bücher und Artefakte aufgestöbert und gekauft«, beeilte sie sich zu sagen.

Er stieß einen Pfiff aus. »Das erleichtert die Sache«, grinste er und sprang auf. »Das muss ich sofort den anderen berichten!« Er war schon halb die Stufen zum Hauptdeck unten, als er noch einmal zurückkehrte. »Warum sprichst du nicht noch einmal mit ihm?«

Es erstaunte sie nicht, dass Connor wusste, was zwischen ihr und Daith geschehen war. Überraschend war nur, dass er es erst jetzt zur Sprache brachte. »Es gibt nichts mehr zu besprechen.«

»Komm schon, Cait, was hättest du an seiner Stelle getan?«

»Fragen gestellt.«

»Du kennst seine Vergangenheit. Du weißt, wie sehr ihn Myles’ Tod belastet hat. Hättest du in dieser Situation wirklich Fragen gestellt?«

»Ich …« Sie verstummte.

Er sah sie nur an. Worte waren nicht nötig. Sie hatte verstanden.

*

Am nächsten Tag gingen sie in Freeport vor Anker. Sie blieben gerade lange genug, um fünf Pferde und ausreichend Ausrüstung zu kaufen. Sobald Cait im Sattel saß und den Wind in ihrem Haar spürte, musste sie sich beherrschen, das Pferd nicht zu sehr anzutreiben. Plötzlich konnte sie es kaum erwarten, zu Lavandan zu gelangen.

Sie hörte, wie Connor und Daith sich hinter ihr unterhielten, doch sie achtete nicht darauf. Sie wollte sich keine Gedanken über Daith machen. Nicht heute. Das Freiheitsgefühl, das sie nach den beengten Tagen an Bord der Windprinz empfand, war überwältigend. Für eine Weile gab es keinen Arsilah und keinen Kult. Croghán und die Na’Darrach waren in weite Ferne gerückt. Da war nur sie, frei zu gehen, wohin sie wollte. Sie wusste, dass sie sich selbst belog, dennoch gönnte sie es sich, ihre Gedanken treiben zu lassen. Wenigstens für ein paar Stunden.

Am späten Nachmittag erreichten sie die ersten Ausläufer des Waldes von Artulién. Gewaltige Eichen säumten den Weg, rückten näher und eroberten das Land. Die Schatten wurden länger.

Cait wusste nicht, welchen Weg sie einschlagen sollten. Immer wieder rief sie sich die Worte ihres Vaters in Erinnerung. Es gibt keinen Weg zu Lavandan. Wann immer ich ihn besuche, folge ich meinen Instinkten. Ich lasse mich treiben und überantworte mein Schicksal den Geistern des Waldes.

Einer stummen Prozession gleich, suchten sie ihren Weg durch den Wald. Die Hufe der Pferde sanken bei jedem Schritt in den weichen Boden. Hin und wieder knackte ein Zweig. Laub raschelte. Der liebliche Gesang eines Eichenpfeifers erklang. Nach einer Weile erreichten sie einen Bach. Eine fließende Grenzlinie, die sich quer durch den Wald zog, die Oberfläche schimmernd im unsteten Sonnenlicht.

Daith stellte sich in den Steigbügeln auf und blickte von einer Seite zur anderen. »Reiten wir am Bach entlang«, schlug Annuides vor. »Wenn jemand hier lebt, wird er sich in der Nähe des Wassers angesiedelt haben.«

Caits Augen wurden von der Welt jenseits des Baches angezogen. Dort war etwas anders. Größer. »Wir überqueren ihn.«

Daith runzelte die Stirn. »Bist du sicher?«

Ihr Blick wanderte zwischen den Bäumen hindurch und badete im Sonnenlicht, das durch die ausladenden Äste gefiltert wurde. Sie nickte.

Auf ihr Geheiß führten sie die Pferde durch eine Furt. Wasser spritzte auf, glitzerte im Sonnenlicht wie Diamanten. Auf der anderen Seite angelangt, war sie nicht sicher, welchen Weg sie einschlagen sollten. Ich lasse mich treiben, vernahm sie die Worte ihres Vaters. Cait schloss die Augen. Wartend. Hoffend. Mit einem Mal war es, als wäre sie in eine andere Welt getreten. Der Eichenpfeifer war verstummt. Was jetzt an ihr Ohr drang, waren andere Geräusche. Sie kannte Gerüchte, die besagten, Lavandan sei ein Zauberer, der an einem verwunschenen Ort lebte. Sie hatte sie stets als Märchen abgetan. Bis heute. Ihr Vater hatte ihn immer als einen außergewöhnlichen Mann beschrieben. Einen besonderen Mann. Zum ersten Mal vermutete sie, dass er ihr nicht alles gesagt hatte. Komm, schien der Wind zu raunen, der durch die mächtigen Baumkronen fuhr. Folge mir.

Sie öffnete die Augen. »Habt ihr das gehört?«

Annuides spähte in den Wald. »Den Eichenpfeifer?«

Sie schüttelte den Kopf. »Stimmen.«

»Sicher nur der Wind.« Daith lenkte sein Pferd neben sie.

Hier entlang. Ein Chor von tausend Stimmen, körperlos und melodisch, sanft und drängend zugleich. Cait verspürte den Ruf, der sie lockte, und glitt aus dem Sattel. Wie von selbst fanden ihre Füße den Pfad unter den ausladenden Ästen. Die Sonne drang durch das Blätterdach und zeichnete Säulen aus Licht auf ihren Weg. Undeutlich war sie sich der anderen bewusst, die ihr folgten. Ihre Aufmerksamkeit galt den Stimmen des Waldes, die ihr den Weg wiesen. Die Zweige bewegten sich im Wind und verwandelten die Welt in ein wogendes Meer aus Licht und Schatten.

Bis Einbruch der Dunkelheit behielt sie die Richtung bei. Die Stimmen waren nicht wieder erklungen.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Blinzelnd starrte sie in Annuides’ Gesicht. Es war, als erwachte sie aus einer Trance. »Es wird dunkel«, sagte er. »Wir sollten uns einen Platz zum Lagern suchen.«

Sie schüttelte die Benommenheit ab. Tatsächlich drang kaum noch Tageslicht zwischen den Blättern hindurch. Der Boden versank in Mustern aus dunklen Schatten und Wurzelwerk, die schon bald jeden Schritt tückisch werden lassen würden. Daith wählte eine Stelle zwischen dicht stehenden Bäumen aus, dort banden sie die Pferde an und sattelten ab.

Sie löste die Riemen der Satteltaschen, als Annuides zu ihr trat. »Ich hätte nicht gedacht, dass du den Weg zum Verschwundenen Turm kennst.«

»Manchmal überrasche ich mich selbst.« Sie griff nach den Taschen, um sie abzuladen.

»Lass mich das machen.« Er nahm ihr die Last ab und trug sie zum Lagerplatz. Cait ließ sich vor einem Baum nieder, lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Was weiß ich noch alles nicht über dich?« Annuides’ Frage traf sie überraschend. Statt seine Ration zu essen, betrachtete er sie forschend. »Wo kommst du her? Wer bist du?«

»Du kennst mich seit vielen Jahren.«

Er bedachte sie mit einem langen Blick, als sähe er sie zum ersten Mal. »Ich weiß, was für ein Mensch du bist, welche Dinge du liebst, was du verachtest oder wovor du dich fürchtest. Zumindest wusste ich das früher einmal sehr gut. Über deine Vergangenheit weiß ich nichts. Früher habe ich nicht gewagt danach zu fragen. Ich hatte Angst, du würdest dich verschließen. Jetzt will ich es riskieren.« Er machte eine kurze Pause. »Wer bist du, Cait?«

Um Worte ringend zupfte sie an einem Büschel Gras. Widerstrebend erzählte sie von ihrem Vater und Ewan. Ihre Stimme zitterte, als sie versuchte von jenem Tag zu berichten, an dem sie die beiden das letzte Mal gesehen hatte. Als sie glaubte, nicht fortfahren zu können, griff Annuides nach ihrer Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. »Was ist dann geschehen? Auf dem Schiff?«

»Ich …« Sie schüttelte den Kopf.

»Cait.«

»Hör auf, Annuides«, mischte sich Daith ein. »Du siehst doch, dass sie nicht darüber sprechen möchte.«

Annuides reagierte gereizt. »Du musst ja wissen, was in anderen Menschen vorgeht. Vermutlich ist deine Menschenkenntnis ebenso gut, wie deine Fähigkeit einen geeigneten Lagerplatz zu finden.«

Daith kniff die Augen zusammen. »Was gefällt dir nicht an der Auswahl des Lagerplatzes?«

»Die Bäume stehen zu dicht. Wenn wir angegriffen werden, sind unsere Schwerter nutzlos.«

»Ebenso wie die Schwerter und Bögen unserer Gegner.« Mit einem Nicken deutete er auf Annuides’ Waffengürtel. »Du trägst einen Dolch. Ich hoffe, du weißt damit umzugehen und benutzt ihn nicht nur, um deinen Braten zu schneiden.«

Annuides setzte sich kerzengerade auf. »Ich habe genug von dir, Landévennec! Du hältst dich für einen überragenden Krieger. Ich halte dich für einen Feigling.« Daith hob die Brauen. Annuides fuhr fort: »Du hast bisher nur bewiesen, dass du nicht in der Lage bist, dich dem Leben zu stellen. Du läufst davon, sobald es schwierig wird!«

Cait erkannte den Zorn in Daith’ Augen. Eine flinke Bewegung, dann war er auf den Beinen.

»Steh auf!«, verlangte er. »Wir bringen das jetzt ein für alle Mal zu Ende.«

Liamar machte Anstalten, sich zu erheben. Connor hielt ihn zurück. Liamar sah seinen Vetter an und schüttelte warnend den Kopf. Annuides achtete nicht auf ihn. Er stand auf und trat Daith entgegen.

Die beiden maßen sich mit abschätzenden Blicken.

Cait sprang auf und drängte sich dazwischen. »Hört sofort auf! Was soll das heißen, wir bringen das ein für alle Mal zu Ende? Wollt ihr kämpfen, bis nur noch einer am Leben ist?« Ihr Blick wanderte zwischen ihnen hin und her. »Wisst ihr überhaupt, was ihr da macht? Ich werde es euch sagen, denn ihr Narren begreift es sichtlich nicht. Euer Zwist bringt uns alle in Gefahr. Ihr seid egoistisch – alle beide! Verdammt noch mal, ihr verfolgt das gleiche Ziel! Ihr wollt Croghán zur Strecke bringen. Das wird nur gelingen, wenn ihr endlich begreift, dass ihr zusammenhalten müsst! Ihr beide solltet ganz schnell lernen, miteinander auszukommen. Weigert ihr euch, werde ich morgen, wenn ihr erwacht, nicht mehr hier sein.« Sie ließ die Arme sinken. »Das gilt für jeden Morgen, wenn ich sehe, dass ihr euch noch einmal wie zankende Kinder aufführt!«

19

Als Daith am nächsten Morgen erwachte, war Cait noch da.

Wie schon am Vortag übernahm sie die Führung. Ihr Verhalten ließ nie einen Zweifel daran, dass sie wusste, was sie tat. Nachdem sie es den ganzen Vormittag ausgesprochen eilig gehabt zu haben schien, zog sie plötzlich am Zügel und zwang ihr Pferd zum Stillstand. Sie saß kerzengerade im Sattel. Obwohl er ihr Gesicht nicht sah, war er alarmiert. Er zügelte seinen Braunen und lenkte ihn neben sie. »Was …« Die Frage blieb ihm im Hals stecken, als er die dunklen Gestalten sah, die sich ihnen in einer Front entgegenschoben. Durch die Bäume hindurch. Sieben körperlose Gestalten, durch dunkle Kapuzenumhänge in Form gezwungen.

»Was ist?«, rief Connor von hinten.

»Na’Darrach!« Daith riss sein Pferd herum. Cait rührte sich nicht. Sie starrte auf die undurchdringliche schwarze Welle, die sich ihnen lautlos entgegenwälzte. Er packte ihre Zügel und zerrte ihr Pferd mit sich. Kaum setzte sich das Tier in Bewegung, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Daith ließ ihre Zügel schießen. »Sieh zu, dass du wegkommst! Wir halten sie auf.«

»Nein!«

»Das ist nicht der richtige Augenblick für Diskussionen!«

»Kein Kampf, Daith! Es sind zu viele. Folgt mir!« Sie trat ihr Pferd in die Flanken und sprengte los.

Daith wechselte einen Blick mit Annuides. Der Prinz nickte. »Worauf wartet ihr noch! Ihr nach!«

Sie trieben die Tiere voran, jagten zwischen den Bäumen hindurch und setzten über umgestürzte Baumstämme hinweg. Obwohl Daith sich tief über den Pferdehals beugte, peitschten ihm immer wieder Äste ins Gesicht. Sie umrundeten die Phalanx der Na’Darrach. Die Kreaturen änderten ihre Formation, teilten sich auf und rückten näher. Bäume und Unterholz waren für sie kein Hindernis, während Daith und die anderen im dichter werdenden Gestrüpp immer langsamer vorankamen. Die ersten Verfolger waren beinahe gleich auf. Daith setzte über einen Busch hinweg. Fluchend stellte er fest, dass sie sich inmitten einer dichten Baumgruppe befanden. Sie mussten die Richtung wechseln. Die ersten Na’Darrach schnitten ihnen den Weg ab. Annuides riss sein Pferd herum. Mit einem wütenden Schrei sprengte er zwischen den Na’Darrach hindurch. Er trat nach einer der Kreaturen und riss sie von den Beinen.

»Ihm nach, Cait!«

Daith wartete, bis alle an ihm vorbei waren, dann trieb er seinen Braunen an. Das Tier scheute und bäumte sich auf. Er umfasste die Zügel fester und zwang das Tier zum Gehorsam. Er sah, wie Liamars Pferd mit einem Satz über den gestürzten Na’Darrach hinwegsetzte, und folgte ihm. Sobald die Na’Darrach hinter ihnen lagen, scherte Cait zur Seite aus. »Hier entlang!«

Daith schwenkte herum. Annuides war mit ihm gleich auf. Seite an Seite galoppierten sie voran, trieben Connor und Liamar vor sich her. Cait hatte ein paar Meter Vorsprung. Sie konnte es schaffen. Wenn es ihnen gelang, die Na’Darrach lange genug aufzuhalten. Seine Erleichterung verflog, als sie plötzlich stehen blieb. Kurz darauf war er neben ihr.

»Weiter!«, brüllte er und trat seinem Pferd in die Flanken. Das Tier rührte sich nicht vom Fleck. »Was, zum Henker …! Elender Gaul!« Er sprang ab und sah sich um. Die Na’Darrach rückten näher. Fassungslos stellte er fest, dass auch die anderen vergeblich versuchten ihre Pferde anzutreiben. »Wir müssen zu Fuß weiter!«

Die Na’Darrach holten auf.

»Wir müssen kämpfen!«, rief Connor über die Schulter hinweg.

Daith blieb stehen. »Lauft! Conn und ich verschaffen euch Zeit.«

Connor trat neben ihn, das Schwert in der Hand. Daith zog blank. Er sah sich nach Cait um, wollte sie ein letztes Mal sehen, ehe der Kampf begann. Sie war näher gekommen. »Du sollst verschwinden!«

Ihre Antwort ging in einem Zischen unter. Ein Lichtblitz tauchte die Welt in strahlendes Weiß. Für einen Augenblick war er blind. Er vernahm die erschrockenen Rufe seiner Begleiter. Irgendwo hörte er Cait. Er wollte zu ihr, stolperte und stürzte auf die Knie. Erstaunt fühlte er den kalten, glatten Stein unter seinen Händen, wo sich weicher Waldboden befinden sollte. Das gleißende Licht wich, verwandelte sich in grelle Punkte, die vor seinen Augen auf und ab tanzten. Er sprang auf.

Die Na’Darrach waren verschwunden, ebenso wie der Wald von Artulién. Daith blinzelte. Er hatte sich nicht geirrt. Der Boden hatte sich verändert. Und nicht nur der Boden. Er stand im Zentrum einer gut zwanzig Meter durchmessenden Halle aus glänzendem Marmor. Fackelschein hüllte den Raum in warmes Licht. Um sich herum entdeckte er seine Freunde. Annuides half Cait auf die Beine. Daith’ Augen suchten nach Connor. Er stand zu seiner Linken, das Schwert noch immer in Händen haltend, kampfbereit. Das Erstaunen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Liamar sah sich um. »Was ist das für ein Ort?«

»Ich schätze, der Verschwundene Turm ist nicht länger verschwunden«, bemerkte Connor.

»Wir sollten sehen, dass wir einen Weg nach draußen finden«, schlug Annuides halblaut vor.

»Willst du dich wieder mit den Na’Darrach anlegen?« Connor schüttelte den Kopf. »Dies ist der Ort, nach dem wir gesucht haben. Wir sind am Ziel.«

»Was, wenn die Na’Darrach uns hierher folgen?«

Die Tür öffnete sich. Daith griff nach Caits Arm und zog sie hinter sich. Ein Mann betrat die Halle. Seidiges Haar in der Farbe des Mondlichts ergoss sich über seine Schultern. Ein Netz von Falten und Linien umgab seine Augen, tiefe Furchen hatten sich in sein Gesicht gegraben. Er war ein Greis und doch bewegte er sich mit der Behändigkeit eines jungen Mannes. Seine beigefarbene Robe raschelte leise bei jedem Schritt. Ein anderes Geräusch war nicht zu hören. Über die Halle hatte sich ehrfürchtige Stille gesenkt. Der Alte schritt die Reihe der Neuankömmlinge ab und betrachtete jeden von ihnen eingehend. Schließlich blieb er stehen und sagte mit klarer, kraftvoller Stimme: »Ich bin Lavandan. Seid willkommen.«

Annuides räusperte sich. »Ich bin …«

»Ich weiß, wer Ihr seid.« Als er die irritierten Blicke bemerkte, lachte er. »Ich habe euch eingeladen.«

»Ihr meint, dass Ihr uns absichtlich hierher …?«, platzte es aus Connor heraus.

Wieder ein Lachen. »Wäre dies nicht mein Bestreben gewesen, hättet Ihr diesen Ort zweifelsohne niemals gefunden.«

»Was ist mit den Na’Darrach?« Liamar sah sich unruhig um. »Sie können jeden Moment erscheinen. Und wo sind die Pferde?«

»Macht Euch keine Sorgen, junger Prinz. Den Pferden wird nichts geschehen und die Na’Darrach vermögen es nicht, hier einzudringen.«

»Ich habe den Turm nicht gesehen, als wir im Wald …« Connor beäugte Lavandan argwöhnisch. »Wir sind doch noch im Wald?«

»Manchmal.«

Connors linke Augenbraue schnellte in die Höhe. Falls Lavandan es bemerkte, achtete er nicht darauf. Seine moosgrünen Augen hingen an Cait. Dann wandte er den Kopf zur Tür und brüllte: »Junge! Komm her!« Eine Weile geschah nichts. »Junge!«

Die Tür wurde aufgestoßen. »Ich bin doch nicht taub!« Ein junger Mann erschien auf der Schwelle. »Was ist denn so dringend?« Seine tiefblauen Augen wanderten über Lavandans Gäste und hefteten sich auf Cait. »Heiliger …« Er tat einen Schritt in den Raum und hielt inne. »Cait?«

Sie trat hinter Daith hervor. Ihre Lippen bewegten sich zitternd. »Ewan!«

Mit wenigen Schritten durchquerte er den Raum. »Bei allen Göttern!« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Seine Augen ruhten auf ihr, als blicke er auf einen Geist. Tränen liefen über seine Wangen. »Cait«, hauchte er, streckte die Arme nach seiner kleinen Schwester aus und zog sie an sich.

»Ich denke, die beiden haben sich viel zu erzählen«, meinte Lavandan an Daith und die anderen gewandt. »Folgt mir, ich zeige euch eure Unterkünfte.« Er machte kehrt, führte sie in eine Eingangshalle und eine steile Treppe empor. Daith war der Letzte, der ein Gemach zugewiesen bekam. »Wir sehen uns heute Abend zum Essen.« Mit einem Nicken zog Lavandan sich zurück.

Dicke Teppiche dämpften jeden Schritt, als Daith den Raum durchmaß. Er ging zum Fenster, stieß es auf und blickte nach draußen – auf den Wald von Artulién. Von den Na’Darrach war nichts zu sehen. Ein leiser Lufthauch fuhr in den Raum. Mit einem Seufzer ließ er Rucksack und Waffengürtel auf den Tisch fallen, schlüpfte aus seinen Stiefeln und warf sich aufs Bett. Er schloss die Augen und lauschte dem Gesang der Vögel, der durch das Fenster an sein Ohr drang. Als er die Augen wieder öffnete, war es dunkel.

Daith nutzte die bereitstehende Schüssel und einen Krug Wasser, um sich zu reinigen. Ehe er den Raum verließ, blieb sein Blick an einem Wandspiegel hängen. Prüfend betrachtete er sein Spiegelbild. Es war, als offenbarte ihm der Blick in den Spiegel, wer er wirklich war. Er fühlte nicht länger die Schande seines toten Vaters auf sich lasten. Er war Daith Landévennec, Hauptmann der Seáthrun. Sein Leben war dem Kampf gegen das Böse gewidmet. Ein Kampf, den er zu lange vernachlässigt hatte. Er löste seinen Blick vom Spiegel und verließ das Gemach.

Er vernahm Stimmen und folgte ihnen die Treppen hinab, in einen Raum abseits der Halle, in der sie angekommen waren. In einem offenen Kamin brannte ein knisterndes Feuer. Ein abgenutzter Sessel stand davor, daneben ein kleines Tischchen, auf dem neben einer Karaffe und einem Becher eine Pfeife lag. Am anderen Ende des Raumes stand ein langer Tisch mit Bänken.

Cait saß zwischen Annuides und ihrem Bruder. Immer wieder wechselte sie lange Blicke mit Ewan, als könnte sie nicht glauben, dass er wirklich hier war. Auf Lavandans Einladung hin ließ Daith sich nieder. Ewan reichte ihm einen gut gefüllten Teller. Er kostete Pilze, Wild und Braten, ebenso wie Fisch und Geflügel, verschiedene Gemüse und ofenfrisches Brot. Dazu einen ausgezeichneten Wein.

»Als Ihr sagtet, der Turm befände sich manchmal im Wald, habt Ihr versucht mich zu verkohlen, nicht wahr?« Connors Tonfall machte deutlich, dass er hoffte, es wäre ein Scherz gewesen.

»Ich wollte genau das zum Ausdruck bringen, was ich sagte«, gab Lavandan schmunzelnd zurück. »Dieser Turm existiert nicht an einem bestimmten Ort oder in einer bestimmten Zeit. Er ist nicht den Gesetzen unserer Wirklichkeit unterworfen. Meistens befindet er sich auf dem Pfad zwischen den Welten, wenngleich es bei einem Blick aus dem Fenster aussehen mag, als wären wir noch immer im Wald von Artulién.«

Der Pfad zwischen den Welten. Daith’ Mund fühlte sich trocken an. Aladar hatte davon erzählt. Eine Straße, die an der Grenze zur Anderen Seite – dem Reich der Toten – entlangführte und nur von mächtigen Magiern aufgesucht werden konnte. Ein winziger Fehler würde einen achtlosen Reisenden auf immer in der Zwischenwelt gefangen halten. Einen ganzen Turm dorthin zu versetzen … Wie mächtig seid Ihr, Lavandan?

Annuides’ Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Wenn der Turm nicht hier ist, wie konntet Ihr dann wissen …?«

»… dass ihr hier seid?« Als der Prinz nickte, sagte Lavandan: »Ich fühlte die Gegenwart von Magie im Wald und wurde neugierig.«

»Die Na’Darrach?«

Lavandan nickte. »Es ist schwer, ihre Anwesenheit zu übersehen.« Er wandte seine Aufmerksamkeit auf den Teller vor sich und schien nicht gewillt, mehr über die Na’Darrach zu sagen. Allmählich wandte sich die Unterhaltung anderen, banaleren Dingen zu. Dingen, die zu diskutieren Daith im Augenblick die nötige Geduld fehlte.

Er griff nach seinem Weinkelch, erhob sich und wanderte im Raum umher. Nach einer Weile blieb er neben dem Kamin stehen, als Ewan zu ihm trat. »Lavandans Eigenart, wichtige Dinge nicht sofort zu besprechen, kann ausgesprochen anstrengend sein.« Ewans Verwandtschaft mit Cait ließ sich nicht leugnen. Das gleiche Lächeln, dieselben strahlenden Augen. »Ich danke Euch, dass Ihr so gut auf meine Schwester achtgegeben habt«, sagte er plötzlich. »Ich wähnte sie verloren, doch Ihr habt sie mir zurückgebracht.«

Sichtlich kennt Ihr nur einen Teil der Geschichte. »Nach dem Überfall … habt Ihr nie …?«

»Nach ihr gesucht?« Traurigkeit legte sich wie ein Schleier über seine Augen. »Nachdem ich genesen war, bin ich losgezogen. Beinahe zwei Jahre bereiste ich jeden Hafen, suchte in jeder Küstenstadt nach ihr. Bis nach Chandra hat mich meine Suche geführt. Ohne Erfolg. Vater wurde krank. Seit dem Überfall hat er ein steifes Bein. Er ist nicht mehr derselbe, seit sie uns genommen wurde.« Er lächelte freudlos. »Ich musste nach Hause zurückkehren, und mich um ihn kümmern, wenn ich ihn nicht auch noch verlieren wollte. Ich schäme mich, es zu sagen, aber ich hatte sie aufgegeben.«

»Es gibt keinen Grund, sich zu schämen. Ihr habt getan, was in Eurer Macht stand.«

Ewans Blick ruhte auf Cait. »Sie hat sich verändert. Früher war sie verwöhnt und manchmal oberflächlich. Wenn ich sie jetzt ansehe, erblicke ich einen Menschen, der gelernt hat sich durchs Leben zu schlagen – ein Leben, das in den letzten Jahren nicht einfach gewesen zu sein scheint.« Seine Augen kehrten zu Daith zurück. »Meine kleine Schwester ist erwachsen geworden.« Er seufzte. »Sie war in der Tat verhätschelt. Trotz allem war es schwer, sie nicht zu lieben.«

Das ist es auch heute noch. »Verzogen und oberflächlich? Cait?«

»Sie war ein Kind, das noch nicht durch die Schule des Lebens gegangen war. Jetzt ist sie eine Frau. Die letzten Jahre haben sie verändert.« Er wurde ernst. »Gleich morgen früh werden wir uns mit Lavandan zusammensetzen und über die Dinge sprechen, die euch hierher führen. Cait hat bisher nur ein paar Andeutungen gemacht – zu mehr sind wir nicht gekommen. Gönnen wir ihr eine Nacht Ruhe.« Gedankenverloren fuhr er mit dem Finger über den Rand seines Weinkelchs. Sein Blick richtete sich auf Daith. »Ihr scheint sie gut zu kennen – und zu mögen.«

»Sie würde das abstreiten.«

Ewan zog eine Augenbraue in die Höhe. »Was ist geschehen?«

»Ich habe sie verraten.«

*

Am nächsten Morgen erwachte Daith durch ein Klopfen an der Tür. Verschlafen blinzelnd setzte er sich auf. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, trat Ewan in den Raum. »Lavandan erwartet uns.«

Während Daith sich anzog, stand Ewan am Fenster und blickte nach draußen. »Ich denke Ihr solltet noch einmal mit ihr sprechen.« Daith streifte sein Hemd über und tat, als hätte er ihn nicht gehört. »Ich weiß nicht, was zwischen Euch und meiner Schwester vorgefallen ist. Das ist auch nicht von Bedeutung. Mir genügt, was ich sehe.«

»Ach, und was soll das sein?«, fragte Daith schneidend.

»Ich sehe, wie Ihr sie anblickt. Ich sehe, dass Ihr sie liebt und Euer Leben für sie geben würdet.«

»Und das alles seht Ihr an meinen Blicken.«

Ewan ließ sich nicht verunsichern. »Das tue ich.«

»Dann seht Ihr auch, dass es hoffnungslos ist. Sie hat …«

»Warum sprecht Ihr nicht in Ruhe mit ihr?«

»Sie will mir nicht zuhören. Sie will mich nicht einmal in ihrer Nähe haben. Und wisst Ihr was? Sie hat recht. Was ich ihr angetan habe, lässt sich nicht durch ein Gespräch und eine Entschuldigung gutmachen. Die Dinge zwischen Cait und mir sind nicht so einfach, wie Ihr Euch das vorstellt.«

»Gebt nicht vorschnell auf. Und jetzt lasst uns gehen.«

Der Duft des Wissens.