9783518744345.jpg

Das Prinzip der Anonymität, wie es Wiki-Leaks, aber auch die Hackergruppe Anonymous praktizieren, und die Gesten der Flucht und des Exils von Snowden und Assange brechen mit den traditionellen Formen des zivilen Ungehorsams. Sie fordern uns dazu auf, die demokratische Öffentlichkeit und den politischen Raum neu zu denken: Was bedeutet es heute, politisch das Wort zu ergreifen, ein Bürger, ein Teil eines Kollektivs zu sein? Mit ihren Aktionen formulieren diese Internetaktivisten und Hacker für de Lagasnerie nicht weniger als eine neue kritische Theorie und entwerfen ein Ideal der Emanzipation in pluralen, heterogenen und flüchtigen Gemeinschaften.

Geoffroy de Lagasnerie, geboren 1982, ist Philosoph und Soziologe. Seit 2013 ist er Professor für Philosophie an der École nationale supérieure d’arts de Cergy-Pontoise. Zusammen mit dem Schriftsteller und Soziologen Édouard Louis gehört er zu einem Kreis junger Pariser Intellektueller, die mit Aktionen für die Rechte Homosexueller und gegen eine neue Fremdenfeindlichkeit in der französischen Öffentlichkeit für Aufsehen gesorgt haben. Er ist Herausgeber der Reihe à venir bei Fayard und bloggt bei Mediapart.

Geoffroy de Lagasnerie

Die Kunst der Revolte

Snowden, Assange, Manning

Aus dem Französischen
von Jürgen Schröder

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel L’art de la révolte. Snowden, Assange, Manning © Librairie Arthème Fayard, 2015.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016

Erste Auflage 2016

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-74434-5

www.suhrkamp.de

Für D. natürlich

Inhalt

Einleitung

I. Bestandsaufnahmen

1. Demokratie, Privatsphäre und bürgerliche Freiheiten

2. Die Auflösung des Rechts

3. Politik, Souveränität, Ausnahme

II. Die Herausforderung des Rechts

III. Neue politische Subjekte

1. Anonymität, öffentlicher Raum und Demokratie

2. Flucht und Politik der Zugehörigkeiten

3. Der Staatsbürgerschaft entkommen

4. Die Entnationalisierung der Geister

Schluß

Einleitung

Es geschieht etwas

Nur selten taucht im Bereich der Politik etwas Neues auf. Selbstverständlich meine ich nicht, daß radikale Infragestellungen oder Bewegungen selten zutage treten: Die gesellschaftliche Welt ist zum Glück ein Ort, an dem unablässig neue Gegenstände des Protests, neue Empörungen und daher auch neue Kämpfe entstehen, die dazu beitragen, für jeden von uns den Raum der Freiheit, der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit zu erweitern.

Aber die Vielzahl und starke Vermehrung der Kampfschauplätze können die Tatsache nicht verbergen, daß die Mobilmachungen im Zeichen von bereits etablierten Traditionen stehen. Sie laufen nach eingefahrenen Mustern ab. Das Vokabular, die Werte, die Ziele, um die es geht, sind häufig weitgehend vorherbestimmt und drängen sich den Akteuren selbst auf. Solide eingerichtete Institutionen strukturieren die Zeit und den Raum des Protests.

Die Politik ist vielleicht paradoxerweise einer der am meisten kodifizierten Bereiche des Gesellschaftslebens. Wir leben und wir konstituieren uns als Subjekte in einem gegebenen Umfeld. Politik zu machen bedeutet, präexistierende Formen aufzunehmen, sich in sedimentierte Rahmen einzufügen, mit ihnen zu handeln, um zu einem bestimmten Zeitpunkt ein konkretes Ziel zu erreichen. Der Streik, die Demonstration, die Petition, die Lobbyarbeit usw. stellen verschiedene institutionalisierte Mittel des Protests dar (was die Sozialwissenschaften im Gefolge von Charles Tilly als »Repertoire kollektiven Handelns«1 bezeichnen). Selbst die radikalsten Forderungen entgehen diesen Kodifizierungen nicht, die den demokratischen Raum abstecken. Eine politische Handlung gibt sich als solche dadurch zu erkennen, daß sie sich in einen bereits existierenden Rahmen des Protests einfügt; durch das Akzeptieren dieser Repertoire stellt sich das Subjekt als Bürger dar, der an der öffentlichen Deliberation teilnimmt. Sobald ein politischer Kampf sich nicht den vorgeschriebenen Ausdrucksformen beugt, wird er in seiner Art zu etwas Umstrittenem: In diesem Raum der Unentschiedenheit erscheinen beispielsweise Debatten über die »kriminelle«, »terroristische« oder »politische« Natur dieser oder jener Bewegung.

Die verschiedenen Rahmen, die die politische Sphäre regulieren, prägen auch die Gehirne: Sie hinterlassen ihren Abdruck auf unseren Wahrnehmungen der Dinge. Infolgedessen läßt sich die Schwierigkeit, im Bereich der Politik Raum für Neues zu schaffen, auch durch die Tatsache erklären, daß eine singuläre Bewegung höchstwahrscheinlich nicht als solche erkannt wird, nachdem sie einmal aufgetaucht ist. Ihre Besonderheit und ihr beispielloser Charakter liegen quer zu den Kategorien der Wahrnehmung und entgehen daher der Aufmerksamkeit. Eine solche Bewegung ist häufig dazu verurteilt, in ihrer Originalität nicht erkannt und mit Hilfe einer bereits existierenden Sprache beschrieben zu werden, und zwar auch durch ihre Akteure selbst.

Die theoretischen Interpretationen politischer Bewegungen sind durch die Tendenz gekennzeichnet, ein festgelegtes Vokabular zu übernehmen. Die kämpferischen Auseinandersetzungen werden in eine Geschichte, eine Tradition eingeschrieben; ihre Einsätze werden dadurch umgedeutet, damit sie mit einem bereits bestehenden Paradigma übereinstimmen. Die Haltung des Intellektuellen, des Philosophen, aber auch des Historikers führt oft dazu, die Kämpfe zu kolonisieren, ein altes Raster auf sie anzuwenden. Gerade gegen diese Tendenz zur Summierung, zur Verallgemeinerung, zur Universalisierung hat Michel Foucault für uns das Programm einer kritischen Analyse neu formuliert, indem er auf der Notwendigkeit bestand, im Sinne der Singularität, der Besonderheit und daher auch der Zäsur zu denken.

Neuheit

Die These, die ich vorbringen möchte, besagt, daß wir im Umfeld der Figuren von Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning gegenwärtig das Auftauchen von etwas Neuem erleben. Eine neue Weise des politischen Handelns, des politischen Denkens, der Vorstellung der Formen und Praktiken des Widerstands ist im Begriff, sich abzuzeichnen. Die Auseinandersetzungen, die sich um die Fragen der Staatsgeheimnisse, der Massenüberwachung, des Schutzes der Privatsphäre, der bürgerlichen Freiheiten im Zeitalter des Internets gruppieren, stellen neue Probleme: Für uns müssen sie den Ausgangspunkt einer kritischen Reflexion verkörpern, der Frage nach der Möglichkeit, anders zu denken und anders zu handeln.

Snowden, Assange und Manning können nicht einfach als »Whistleblower« betrachtet werden, deren Vorgehensweise nur im Verbreiten von Informationen bestehen würde. Sie sind viel mehr als das. Sie tun viel mehr als das. Ich schlage vor, sie als Aktivisten anzusehen, als exemplarische Figuren, die einer neuen politischen Kunst zur Existenz verhelfen – einer anderen Weise zu verstehen, was es bedeutet, Widerstand zu leisten. In ihren Handlungen, in ihrem Leben selbst gibt es etwas, das man vernehmen muss, dem man Aufmerksamkeit schenken muss, nämlich das Aufkommen eines neuen politischen Subjekts.

Mit anderen Worten, mit Snowden, Assange und Manning erscheinen nicht nur neue politische Gegenstände; nicht nur neue Punkte des Dissenses treten zutage und werden in die Arena der Öffentlichkeit getragen: Es handelt sich um neue Weisen der Subjektivierung. Diese drei Persönlichkeiten stellen nicht nur das in Frage, was sich auf der politischen Bühne abspielt, und die Art und Weise, wie es sich abspielt: Sie stellen die politische Bühne selbst in Frage.

Reaktion

Wie könnte man ansonsten auch die Heftigkeit der Reaktion der Staaten ihnen gegenüber erklären, wenn nicht durch die Radikalität der Destabilisierung, die sie betreiben? Ihre Tätigkeiten (aber auch, das ist wichtig festzuhalten, die Tätigkeiten anderer Whistleblower oder anderer Hacker, die weniger bekannt sind) haben eine strafrechtliche Verfolgung seltener Intensität ausgelöst. Die strafrechtliche Reaktion, insbesondere die der USA, hat unerhörte, außergewöhnliche und im Grunde unverständliche Ausmaße angenommen. Dafür, daß sie einfach vertrauliche Dokumente veröffentlicht hat, von denen einige illegale Aktivitäten von Regierungen enthüllten, wurde Chelsea Manning von der amerikanischen Justiz verfolgt. Der Staatsanwalt wollte sie wegen Verrat zu 60 Jahren Gefängnis verurteilt sehen;2 schließlich wurde sie zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt. Vor ihrer Untersuchungshaft war sie 23 von 24 Stunden eingesperrt, ohne Kopfkissen und ohne Decke, und es war ihr verboten, Gymnastik zu machen (sie wurde laufend von einem Aufseher überwacht).3 In den Vereinigten Staaten wurde die Organisation WikiLeaks von Julian Assange, die sich darauf beschränkt, einen Raum für die Veröffentlichung von Daten anzubieten, in die juristische Kategorie der »Staatsfeinde« eingeordnet (dieselbe, der der australischen Tageszeitung The Sydney Morning Herald zufolge auch Al-Qaida oder die Talibanbewegung angehören), so daß Julian Assange und alle, die bei dieser Organisation mitwirken, wegen »Zusammenarbeit mit dem Feind« verurteilt werden, das heißt von Militärgerichten bestraft werden können, und zwar sogar mit der Todesstrafe.4 Dafür, daß er die Öffentlichkeit über (häufig illegale) Programme der amerikanischen National Security Agency (NSA) zur Massenüberwachung von Bürgern auf der ganzen Welt und bestimmter Staatschefs und Diplomaten alarmiert hat, wurde Edward Snowden der Spionage beschuldigt und läuft ebenfalls Gefahr, den Militärgerichten ausgeliefert und dann bis zum Ende seines Lebens eingesperrt zu werden; die Vereinigten Staaten bieten beträchtliche diplomatische Energie auf, um zu verhindern, daß er ihrer Strafverfolgung dadurch entkommt, daß er in einem anderen Land Asyl erhält.

Sei es in der verwendeten Rhetorik (»Feiglinge«, »Feinde«, »Spione«, »Verräter« usw.), den Anschuldigungen (»Verrat«, »Hilfe für den Feind«), den verlangten und/oder verhängten Strafen sowie den auferlegten Haftbedingungen, wir haben es hier mit einer wahrhaften Inszenierung des staatlichen Repressionsapparats in seiner ganzen Brutalität und Unnachgiebigkeit zu tun. Diese strafrechtliche Gewalt und diese unverhältnismäßige Reaktion stellen eine bedeutende Tatsache dar. Und das sollte uns dazu führen, Fragen bezüglich der Funktion der zeitgenössischen politischen und rechtlichen Ordnung zu stellen. Die Repression ist nicht deshalb heftig, weil die »Verbrechen« schwerwiegend sind: Sie ist deswegen so massiv, weil diejenigen, die man als »Whistleblower« bezeichnet, die Ordnung des Rechts und der Politik, das heißt des staatlichen Rahmens, zutiefst destabilisieren. (Im Grunde könnte man diese Situation mit der Art und Weise vergleichen, wie die Staaten auf das allmähliche Wegbröckeln der innerstaatlichen Ordnung und der territorialen Souveränität reagieren, indem sie an ihren Grenzen ostentativ gewaltige Mauern errichten.)5 Diese Destabilisierung, ihre Gründe und Form sollen hier untersucht werden, um zugleich ihren Sinn und ihre Tragweite zu erfassen.

Würdigung

Dieses Buch möchte als eine Würdigung der Taten und des Lebens von Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning gelesen werden. Sein Ausgangspunkt liegt nicht im Bereich der Theorie oder der Politik; er liegt in einer Art von Bewunderung ihrer Vorgehensweise sowie in einem Gefühl der Empörung und auch des Zorns gegen die Repression, die über sie hereingebrochen ist und auch weiterhin über sie hereinbricht.

Die Frage, die sich notwendigerweise stellt, wenn man aus diesen Gründen anfängt zu schreiben, bezieht sich darauf, welchen Ort man diesem Zorn und dieser Bewunderung einräumen und welchen Gebrauch man davon machen soll. Was heißt es, ein Buch zu schreiben, das seine Quelle aus der Empörung schöpft? Und vor allem: Wie stellt man es an, nicht im Register des Gefühls eingeschlossen zu bleiben? Wie läßt sich vermeiden, daß sein Text nur einen Ausdruck von spontanen Gefühlen darstellt, der die Ordnung der Wahrnehmungen stabilisiert, wie es so häufig bei Werken der Fall ist, die sich als »politisch« oder als Interventionen präsentieren?

Für mich hat die Würdigung der Vorgehensweise von Snowden, Assange und Manning bedeutet, mich nicht in eine Position des Fürsprechers ihrer Vorstellungen zu begeben. Hätte ich erneut die Vorstellungen formuliert, die sie selbst zu ihrer Geschichte oder ihren Motiven vorschlagen, hätte mich das dazu geführt, mich ihrer Denkweise zu unterwerfen, das heißt auf das zu verzichten, was der theoretischen Reflexion Sinn verleiht: ihre Fähigkeit, unsere Sicht- und Denkweisen umzugestalten. Ich habe mich also eher bemüht, mich von der Energie Snowdens, Assanges und Mannings und ihrer Unnachgiebigkeit anregen zu lassen; ich habe sie gewissermaßen als Vorbilder genommen, um auf der theoretischen Ebene ebenso radikal zu sein, wie sie es auf der politischen sind. Als Intellektueller Snowden, Assange und Manning treu zu sein bedeutet den Versuch, eine Theorie vorzuschlagen, die sich in intellektueller Hinsicht auf der Höhe ihres eigenen Einsatzes befindet.

Deshalb wird das, was ich schreibe, nicht zwangsläufig mit dem vereinbar sein, was sie von ihrer Seite aus schreiben könnten, oder mit dem, was sie schon geschrieben haben. Von meinem Projekt könnte man sagen, daß es strukturell oder objektivistisch inspiriert ist. Meine Absicht ist, von Snowden, Assange und Manning und den Auseinandersetzungen auszugehen, die um sie herum stattfinden, um zu versuchen, eine innere und immanente Positivität dieser Handlungsbereiche freizulegen, die sich entfaltet, ohne daß diejenigen, die daran beteiligt sind, darum wissen. Zweifelsohne sind Snowden, Assange und Manning (aber neben ihnen und den Hackern auch das Kollektiv von Anonymous usw.) verschieden und haben unterschiedliche Vorstellungen von der Bedeutung ihrer Handlungen. Hinter der scheinbaren Streuung der Akteure und der Absichten gibt es jedoch den Zusammenhang eines Ganzen. Diesen Zusammenhang möchte ich rekonstruieren – in etwa nach dem Vorbild der Methode, die Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge ausgearbeitet hat, als er sich vornahm zu zeigen, wie es möglich ist, an drei verstreuten Orten des Bereichs der Erkenntnis (bei den drei Gegenwissenschaften der Ethnologie, der Linguistik und der Psychoanalyse) ein und dieselbe objektive Bewegung (der Auflösung des Menschen) am Werk zu sehen, die das Erscheinen einer neuen episteme ankündigt, deren Eigenart jeder dieser Wissenschaften für sich genommen entgeht, sowie den Wissenschaftlern, die sie betreiben.6

Snowden, Assange und Manning sind die Protagonisten eines Augenblicks, der die Fundamente, auf denen wir stehen, erschüttert, die Dispositive, die unsere Gegenwart bestimmen. Infolgedessen gestatten sie uns zugleich, etwas Neues zu denken und unsere traditionellen Denkweisen in Frage zu stellen. Ihre Existenz fordert uns auf, uns andere Möglichkeiten vorzustellen, wie wir uns zum Gesetz, zur Nation, zur Staatsbürgerschaft usw. verhalten können. Im Ausgang von ihnen schlage ich vor, die wichtigsten zeitgenössischen Analysen der Macht und der Souveränität zu prüfen und eine Reihe von Problemen mit Bezug auf den Gehorsam, das Verhältnis der Bürger zum Staat, zur Nation, zum Recht und zur Demokratie usw. aufzuwerfen. Dieses Buch möchte eine Untersuchung unseres politischen Unbewußten, der überkommenen Modi der Selbstkonstitution politischer Subjekte und der Grenzen dieser Subjektivierung vorschlagen, um das praktische Handeln, die Mittel und Formen des Engagements, des Widerstands und des Aufruhrs anders zu fassen.

Orte

Ich bin mir dessen wohl bewußt, daß es andere Bewegungen und andere Mobilisierungen sind, die andere zeitgenössische Theoretiker als Orte der Erneuerung der Politik wahrgenommen haben. Bei Autoren wie Judith Butler, Noam Chomsky, Angela Davis, Gayatri Spivak oder auch David Graeber wird den großen Protestbewegungen und Volksversammlungen ein Privileg zugestanden: Die Bewegung Occupy Wall Street oder die der Indignados, der Arabische Frühling, insbesondere in Tunesien und Ägypten, die ausgedehnten Proteste in der Türkei …

Der Zuccotti-Park in New York, der Tahrir-Platz in Kairo, der Taksim-Platz in Istanbul werden als die symbolischen Räume aufgefaßt, wo sich die Mobilisierungen abzuspielen scheinen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, wenn wir eine Analyse der Frage nach der Demokratie, des Kapitalismus und der Ungleichheiten, der Globalisierung, der sozialen Gerechtigkeit usw. neu begründen wollen.

Natürlich leugne ich die Bedeutung dieser Bewegungen und Zusammenschlüsse keineswegs. Das hätte weder einen Sinn, noch wäre es interessant. Und ich glaube auch ganz bestimmt, daß jedes Denken sich mit dem auseinandersetzen muß, was sie verkörpert haben. Aber ich möchte hier trotzdem die Idee vorschlagen, daß es ebensoviel Erneuerung, Originalität und ebensoviel Politik in den verstreuten Handlungen von Snowden, Assange und Manning sowie von weiteren Hackern und Whistleblowern gibt. (Man wird sich übrigens die Frage stellen können, welche implizite Vorstellung von Politik und Widerstand wir übernehmen, wenn wir spontan den großen Mobilisierungen auf einem öffentlichen Platz mehr »Wert« zugestehen als der einsamen Handlung eines Hackers.) Diese Personen waren und sind verstreut. Sie handeln nicht konzertiert, sondern isoliert. Dennoch stellt das virtuelle Kollektiv, das sie verkörpern, einen der wesentlichen Orte für die Reformulierung der zeitgenössischen Politik und für die Neufassung der Forderung nach Demokratie dar.

Dieses Buch könnte als der Ort gelten, der sie aufnimmt und sie versammelt. Und durch die Wirkung, die diese Versammlung erzielt, möchte es dazu beitragen, unsere theoretische Sprache in Frage zu stellen, um unser Verständnis dessen zu erweitern, was eine demokratische Politik bedeuten könnte.

1 Charles Tilly, La France conteste, de 1600 à nos jours, Paris, Fayard, 1986.

2 »Er hat die Vereinigten Staaten verraten, und für diesen Verrat verdient er, den größten Teil seines restlichen Lebens in Haft zu verbringen« hat der Staatsanwalt Joe Morrow erklärt. »Bradley Manning’s Prosecutors Seek 60-year Term«, http://www.cbc.ca/news/world/bradley-manning-s-prosecutors-seek-60-year-term-1.1378986.

3 Ein bestürzender Artikel von Glenn Greenwald beschreibt die unglaublichen Haftbedingungen von Chelsea Manning. »The Inhumane Conditions of Manning’s Detention«, Salon, 15. Dezember 2010, http://www.salon.com/2010/12/15/manning-3/.

4 »Julian Assange classé comme ennemi d’État«, http://www.francetvinfo.fr/monde/etats-unis-julian-assange-classe-comme-ennemi-d-etat_146673.html.

5 Wendy Brown, Murs. Les murs de séparation et le déclin de la souveraineté nationale, Paris, Les Prairies ordinaires, 2009.

6 Didier Eribon, Michel Foucault, Paris, Flammarion, 2011, S. 270-272; dt.: Michel Foucault: eine Biographie, übers. v. H.-H. Henschen, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1991, S. 245 ff.

I
Bestandsaufnahmen