Zum Buch

 

„In München möchte man nicht tot überm Zaun hängen?“ Das muss man auch nicht: Die Stadt hat 29 Friedhöfe mit etwa 200 000 „Liegeplätzen“ – und ähnlich vielen Geschichten. Wussten Sie zum Beispiel, wie der alte Südfriedhof vom Leichenacker für Pestopfer zum posthumen Hot Spot der feinen Gesellschaft wurde? Oder wieso der Nordfriedhof Thomas Mann an Venedig denken ließ? Und dass der Waldfriedhof der erste seiner Art in Europa war?

Michael Kubitza erzählt die Geschichte der Münchner Friedhöfe von den Anfängen der Stadt bis heute, lädt zum Friedhofsbesuch ein und nähert sich ganz nebenbei dem sehr speziellen Verhältnis der Münchner zum Tod.

 

 

 

Zum Autor

 

Michael Kubitza, geb. 1969 in Landshut, studierte Geschichte und Germanistik. Er arbeitet als Redakteur beim Bayerischen Rundfunk, als Dozent und freier Autor.

MICHAEL KUBITZA

Tot in München
Friedhofsgeschichte(n) aus acht Jahrhunderten

VERLAG FRIEDRICH PUSTET

REGENSBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

eISBN 978-3-7917-6019-3 (epub)

© 2014 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2558-1

 

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Kontakt und Bestellungen unter verlag@pustet.de

»MÜNCHEN WILL GAR NICHT ERÖRTERT, MÜNCHEN WILL GELEBT UND GELIEBT SEIN.« Wer möchte Ernst Heimeran (1902–1955), dem dieses so urmünchnerisch klingende Leitmotiv zugeschrieben wird, ernsthaft widersprechen? Doch vielleicht wird man ihn ergänzen dürfen, ihn, den großen Verleger und Autor, der in Schwabing das Gymnasium besuchte und wie viele als „Zuagroaster“ in München Wurzeln schlug: Die Liebe zur ersten oder zweiten Heimat schließt die Kenntnis über sie nicht aus – und umgekehrt.

Die Geschichte einer Stadt ist ebenso unerschöpflich wie die Geschichten, die in ihr spielen. Ihre Gesamtheit macht sie unverwechselbar. Ob dramatische Ereignisse und soziale Konflikte, hohe Kunst oder niederer Alltag, Steingewordenes oder Grüngebliebenes: Stadtgeschichte ist totale Geschichte im regionalen Rahmen – zu der auch das Umland gehört, von dem die Stadt lebt und das von ihr geprägt wird.

München ist vergleichsweise jung, doch die über 850 Jahre Vergangenheit haben nicht nur vor Ort, sondern auch in den Bibliotheken Spuren hinterlassen: Regalmeter über Regalmeter füllen die Erkenntnisse der Spezialisten. Diese dem interessierten Laien im Großraum München fachkundig und gut lesbar zu erschließen, ist das Anliegen der Kleinen Münchner Geschichten – wobei klein weniger kurz als kurzweilig meint.

So reichen dann auch 140 Seiten, zwei Nachmittage im Park oder Café, ein paar S- oder U-Bahnfahrten für jedes Thema. Nach und nach wird die Reihe die bekannteren Geschichten neu beleuchten und die unbekannteren dem Vergessen entreißen. Sie wird die schönen Seiten der schönsten Millionenstadt Deutschlands ebenso herausstellen wie manch hässliche nicht verschweigen. Auch Großstadt kann Heimat sein – gerade wenn man ihre Geschichte(n) kennt.

 

 

DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, lehrt Neuere/Neueste Geschichte an der Universität Regensburg und forscht zu Stadt und Bürgertum in der Neuzeit.

Der Münchner und der Tod: Gar net erst ignorieren!

Es gibt Städte, da fühlt der Tod sich zuhause. Wien zum Beispiel, wo das Jenseitige naturgemäß in jeder zweiten Lebensäußerung mitschwingt und die Stadtgesellschaft sich nach ihrem Ableben auf einer Fläche von 2,5 Quadratkilometern neu zusammenfindet – es lebe der Zentralfriedhof! Venedig, die seit Jahrhunderten sterbende Schöne, die sich in der Friedhofsinsel San Michele eine blasse Doppelgängerin erschaffen hat. Paris, wo der Himmel den prominenten Toten von Montmartre, Montparnasse und Père Lachaise rote Teppiche aus Marmor und wildem Wein ausrollt. Und am Ende der Welt (!) wartet Sydneys Totenstadt Rookwood Necropolis mit einer Million Einwohnern, Picknickplätzen und Honig aus friedhofseigenen Bienenstöcken. Sogar in der ziemlich diesseitig gestimmten deutschen Hauptstadt mit ihrem unübertrefflich mittigen Dorotheenstädtischen Friedhof ist das Rübermachen durchaus ein Thema – auch wenn man es meist mit jenem Pragmatismus anfasst, den Otto Reutter in seinem 1921er Couplet „Bevor de sterbst“ zelebriert: „Leg dich bequem, befreit von jedem Zwange / du liegst in dieser Lage ziemlich lange. / Nimm ’n Kissen untern Kopf mit weißen Bündchen / und mit der Aufschrift ,Nur ein Viertelstündchen‘“.

Die heimliche Hauptstadt? Die hält sich im Umgang mit den letzten Dingen bedeckt. Geht darüber hinweg. Lässt sich nicht aus dem Takt bringen. „Diese Münchner Art, so locker, so leicht, so vollkommen ohne Knirschen in den Gelenken, so ganz ohne Blei an den Füßen einherzugehen – mich verstört das“, schrieb 1969 der Berliner Reiseliterat Horst Krüger, der seinerseits schon zufrieden war, wenn er auf dem Laufsteg Leopoldstraße nicht stolperte. Die deutschen Mentalitätsunterschiede finden sich konserviert in berüchtigten Redewendungen und Redundanzen, Münchnerischen und anderen. „Watt mutt, datt mutt“ heißt es protestantisch streng im Norden. Die katholischen Religionsverwandten aus dem Rheinland haben den Tod auch schon eingepreist: „Et kütt, wie et kütt“ – denn schließlich: „Wat fott es, es fott.“ Die Münchner? Wenn wir das oberhalb der Grasnarbe schon überstrapazierte „Mia san mia“ weglassen, bleibt immer noch „Wer ko, der ko!“ Der Spruch geht auf den Rosshändler, Pferderennveranstalter und Lohnkutscher Franz Xaver Krenkl zurück, der ihn dem gar nicht amüsierten König Ludwig I. ins Gesicht schleuderte, nachdem er die royale Karosse mit seinem PS-stärkeren Gespann dreist überholt hatte. Die Anekdote hat den begnadeten Selbstdarsteller Krenkl unsterblich gemacht – einerseits; andererseits liegt er, seit er 1860 bei einem Theaterbesuch das Zeitliche segnete, auf dem Alten Südfriedhof.

Der Münchner an sich (immer mitgedacht die Münchnerin) lässt sich ungern dreinreden – nicht von oben, nicht von unten. In Umfragen und Städte-Rankings erklärt er bis zur Erschöpfung, wie gern er lebt, nämlich in München; vom Sterben ist in den Umfragen nicht die Rede. „Der Tod, der Gläubiger, der Regen / kommen immer ungelegen“, dichtete Eugen Roth (heute Friedhof Nymphenburg). Der Münchner hält es da mit dem Brandner Kaspar, der dem Boandlkramer, als dieser ihn abholen kommt, klar macht, dass ihm das jetzt im Frühling überhaupt nicht passt; auch nicht im Sommer, im Herbst oder gar im Winter. „Aber i glaab’, es is g’scheiter als die Rederei da, wann D’ mit mir a Glaasl Kersch’ngeist trinkst, i hon an recht an guat’n und Du schaugst ja so elendi’ aus …“ Wie die Geschichte ausgeht, konnte man im Münchner Residenztheater in über 1000 Aufführungen verfolgen – die Titelrolle spielte Fritz Straßner (Friedhof Unterhaching), den „Boandlkramer“ Toni Berger (Ostfriedhof). Längst gibt es Neuinszenierungen im Volkstheater und im Kino. Und wenn jetzt der Einwand kommt, dass der Brandner Kaspar laut Textbuch am Tegernsee, also nur „im Münchner Umland“ zuhause ist: Sein Erfinder, der Mineraloge Franz von Kobell, ist ein geborener und gestorbener Münchner (Alter Südfriedhof). Genau wie Josef Ruederer (Waldfriedhof), Autor der feinen Novelle „Das Grab des Herrn Schefbeck“ (1911). Der Titelheld hat in seiner Tarockrunde „das schönste Herzsolo“ auf der Hand, als ihn der Tod ereilt – was seine Beobachtungsgabe im weiteren Fortgang der Geschichte nicht im Mindesten beeinträchtigt. „Au weh! Sakra! Den hat’s!‘ So tönte es aufgeregt an sein Ohr. Und in das unverfälschte Münchnerisch der Freunde und Kaffeehausbesucher mischt sich aus den höheren Sphären das tadellose Hochdeutsch der singenden Engel und Cherubime.“ Preißn, engelische!

Es sind aber nicht nur die Zugereisten, denen am Ende der Tod zu schaffen macht, und zwar zu Zehntausenden und zu jeder Zeit. Massenhaft bei Feuersbrünsten und Brückeneinstürzen, Pest und Cholera, Schwedensturm und Bombenhagel, Sendlinger Mordweihnacht, Naziterror, Neonaziterror. Meist aber individuell. Denn wer ist schon ein „Münchner an sich“? Der populäre Volksbelustiger Max Griesser? – Hat sich das Leben genommen. Die Beinwurf- und Gesangs-Granate Margot Werner? – Dito. Der Paradegrantler Walter Sedlmayr? Der Schickeria-und-Boulevard-Beglücker Rudolf Moshammer? – Beide Opfer grausamer Gewaltverbrechen. Der kraftgenialische Filmemacher und Leuteschinder Fassbinder? – Ausgelebt nach 37 Jahren, sein Star Barbara Valentin mit 61. Der Monaco Franze – wenn wir den wunderbaren Helmut Fischer so ansprechen dürfen – hielt sein Krebsleiden jahrelang geheim, deutete der Presse nur einmal dezent an: „Das Leben macht sich ja mehr und mehr aus dem Staub.“

„Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist“: Auch Karl Valentin, der Münchnerischste unter den (Anti-)Münchnern, von dem dieser Satz stammt, ist leider schon tot. Gestorben an Auszehrung und Unterkühlung am Rosenmontag 1948, nachdem ihn erst sein Münchner Publikum vergessen hatte und dann noch der Zuschließer in einer eiskalten Theatergarderobe in Haidhausen. Das Theater ist heute ein Lebensmittelmarkt (sic!). Karl Valentin, zu Grabe getragen auf dem Ostfriedhof, liegt inzwischen in Planegg, Barbara Valentin unweit von Moshammer am Ostfriedhof, Fassbinder, Fischer und Sedlmayr in Bogenhausen. Griesser und Werner sind dem Tod, der Georg Kreisler zufolge ja ein Wiener sein muss, ein Stück entgegengekommen und liegen in Österreich.

Was zu beweisen war: Auch in München wurde und wird gestorben, bisweilen unter mörderischen Umständen. Nur dass man – darauf einen Kersch’ngeist! – nicht so gern über die Konsequenzen seines möglicherweise doch irgendwann bevorstehenden Ablebens redet. So wie man nicht über Hautunreinheiten oder die soziale Ungleichheit in der Stadt redet. 29 Friedhöfe gibt es in München, mehr als in den meisten Städten vergleichbarer Größe, fünf große, viele kleine und zwei „tote“ Gottesäcker mit zusammen an die 200.000 Einwohnern. Da ist der romantisch überwucherte Alte Südfriedhof: ein Stein und Bein gewordenes Panoptikum Münchner Geisteslebens im 19. Jahrhundert. Der neue Nordfriedhof: Inspiration und Schauplatz von Weltliteratur. Der Ostfriedhof: Zeuge blutigster deutscher Geschichte. Der Westfriedhof: eine italienische Fantasie kurz vor Moosach. Der Waldfriedhof: erster seiner Art in Europa und ein echtes Kulturereignis. Um nur die wichtigsten zu nennen.

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Abb. 1:
Bäume, Frieden, klassenloses Miteinander: der Alte Südfriedhof.

 

Fast alle Münchner Friedhöfe sind umgeben von einer Mauer, die sie aus den Augen, aus dem Sinn schafft. Schade drum und letzten Endes unverständlich: Hat nicht auch der Lieblingsort der lebenden Münchner – der Biergarten – so manches mit einem Friedhof gemein? Die Bäume. Den Frieden. Ein beinahe klassenloses Miteinander. Schlichtes, meist hölzernes Mobiliar. Das Vergießen von Flüssigkeiten. Und liegt nicht der Hauptzweck, weshalb man Friedhof und Biergarten besucht, hier wie dort kühl gelagert unter der Erde? Darüber scheint, so Gott will, die Sonne. „Friss nur! Mensch, friss und sauf! Wir hängen sowieso schon halb am Galgen“, schreibt Oskar Maria Graf (Friedhof Bogenhausen) in „Wir sind Gefangene“. Das Münchner Credo aber lautet: Der Tod soll sich gefälligst aus unserem Dasein raushalten, sonst kann er was erleben! Ein schönes Beispiel dieser monacensisch-charmanten Schizophrenie liefert die „Süddeutsche Zeitung“ vom 21. Juni 2012. Im Vermischten wird berichtet vom Streit um den Alten Nordfriedhof, zwischen dessen historischen Gräbern immer mehr Münchner/innen zum Ärger anderer Münchner/innen Sonnenbaden, Ballspielen, Bier trinken oder sich im Grabstein-Climbing üben. Es musste also kommen, dass – so der Bericht – Edelstahlstelen an den Eingängen aufgestellt wurden, die aufklären, was hier erlaubt ist und was nicht. Etwas weiter hinten im Blatt kommt der Friedhof dann ein zweites Mal vor. Die Jugendredaktion empfiehlt ihn als echten Geheimtipp. Überschrift des Artikels: „Sommerzeit ist Picknick-Zeit.“

Statten wir also – in der zweiten Hälfte des Buchs – den Grabstätten Münchens mit ihren gut 200.000 Einwohnern einen Besuch ab: den großen und wichtigen, aber auch einigen kleinen wie dem von Heilig Kreuz Fröttmaning, der ältesten und seltsamsten Kirche Münchens, oder den Prominenten von St. Georg Bogenhausen. Zuvor aber soll in gebotener Lebenskürze die Geschichte des Münchner Todes erzählt werden – von der Stadtgründung bis heute.

Anfänge: Vom Sterben und Begraben in alter Zeit

Wie der Tod ins Leben kam – und wieder daraus verschwand

Die Stadt ist ein Ort zum Leben. Der Friedhof ist der Ort für die Toten. Die Geschichte des Friedhofs zeichnet den Weg all jener nach, die hier ruhen: aus dem Nirgendwo ins Leben hinein – und wieder hinaus. Für lange Zeit war die Feuerbestattung in Europa die meistverbreitete Form, sich von den Toten zu trennen – wenn sie nicht gleich namenlos im Wald verscharrt wurden. Erst im römischen Reich entsteht so etwas wie eine einheitliche Bestattungskultur. Lange Gräberreihen säumen die Ausfallstraßen der Zentren. Die berühmteste dieser Begräbnisstraßen ist die Via Appia in Rom, ebenfalls gut erhalten Allychamps im französischen Arles. Auch die Asche der Augsburger Stadtheiligen Afra ist ursprünglich in einem solchen Straßengrab aus römischer Zeit beigesetzt, bevor Mönche darüber eine kleine Kapelle errichten, die sich erst zum Pilgerziel, später zu einem Kloster entwickelt.

Das christliche Mittelalter holt die Toten zu sich ins Dorf, genauer: in und um die Kirche. Ab etwa 500 rücken die Gläubigen ihren Heiligen buchstäblich auf den Leib (oder das, was davon übrig ist). Es geht darum, das Jüngste Gericht in der heilversprechenden Nähe von Reliquien zu erwarten. Dass, wer die Auferstehung vor Augen hat, nicht verbrannt werden will, versteht sich von selbst und wird durch ein Gesetz Karls des Großen noch einmal bekräftigt. Für mehr als ein Jahrtausend sorgt der christliche Glaube dafür, dass Bauern und Handwerker nach ihrem letzten Atemzug ihr Kreuzlein aus Holz, Klerus und Adel aber prächtige, zeitüberdauernde Grabmäler erhalten. So nämlich, glaubt man, sieht es die göttliche Ordnung vor. Und weil das Leben bekanntermaßen kurz ist und die Kirche turmhoch mitten im Dorf oder der Stadt steht, weil in ihrem Bezirk gebetet und gefeiert, Markt und Gericht gehalten wird, ist der Tod immer dabei.

Das ändert sich erst, als im 18. und 19. Jahrhundert die Friedhöfe aus Platzmangel und neu entwickeltem Hygieneverständnis an die Peripherie der Städte verbannt werden. Zugleich ändern sich die Zuständigkeiten. Teilten sich zuvor Landesherr und Kirche in den Vollzug der letzten Dinge, übernahm jetzt eine selbstbewusste Stadtbürokratie das Regiment. Entsprechend verändert sich – zuerst im aufgeklärten Bürgertum, später auch auf dem Land – die Einstellung zum Tod. An die Stelle rotglühend banger Aussicht auf Ewiges Leben tritt peu à peu die Hoffnung, in den Herzen der Lieben und den Augen der Nachwelt zu überdauern. Und statt der Länge des Titels entscheidet immer öfter die Dicke des Geldbeutels darüber, wer das prächtigste Grab hat.

Doch es ist nur eine Frage der Zeit, dass auch diese Erinnerungskultur an Bedeutung verliert. Die Belegungsdauer der Grabstellen nimmt seit Jahrzehnten ab, die Zahl der Feuerbestattungen zu, anonyme Friedwälder machen dem Gottesacker als Erinnerungsort Konkurrenz. Zugespitzt lässt sich sagen: Der Tod ist wieder da angekommen, von wo er sich zwei Jahrtausende zuvor aus dem Staub gemacht hat.

München, im Tode geteilt: eine Stadt, zwei „Gotzaecker“

Wie war das in München? Ab urbe condita, also nach ihrer Gründung 1158 ist München auch nach mittelalterlichen Maßstäben noch weit davon entfernt, eine Metropole zu sein. Regensburg, Augsburg, Nürnberg sind dem Sitz der bayerischen Herzöge an kultureller und wirtschaftlicher Bedeutung, auch an Einwohnern weit überlegen. Die ersten halbwegs verlässlichen Zahlen aus dem späten 14. Jahrhundert sehen die Stadt bei etwas über 10.000 Einwohnern, wobei es im Großen und Ganzen noch länger bleibt. Gestorben aber wird auch hier; Hunger, Krankheiten und Seuchen, vor allem die Pest, besonders aber die gerade in München bis ins 19. Jahrhundert hinein erhebliche Kindersterblichkeit drücken das Durchschnittsalter auf einen freilich rein statistischen Wert von 20 Jahren. Wer seine Kindertage überlebt, wird meist zwischen 40 und 60 Jahre alt.

Begraben werden all diese Münchner Bürger zunächst am Fuße des „Alten Peter“. Wenig erstaunlich, dass der Gottesacker bald überfüllt und der Hirte der einzigen Pfarrei der Stadt überfordert ist. 1271 zieht Bischof Konrad von Freising als Oberhirte der Herzogsstadt die Konsequenz: Derart ins Unermessliche sei die Zahl der Gläubigen zuletzt gewachsen („excreverit in inmensum“), dass St. Peter mit der Marien- oder Frauenkirche einen gleichberechtigten Ableger erhalten solle; Pfarrvolk, Zehnt und Pfründen werden entsprechend halbiert. Von da an ist München in Bestattungsfragen eine geteilte Stadt. Wer südlich einer Linie vom Isartor durch das Tal und die heutige Fußgängerzone bis zum Neuhauser Tor wohnt, wird wie zuvor auf dem Petersbergl beerdigt. Die rasch wachsenden Viertel im Norden gehören zur neuen Pfarrei, die ihrer Mutterkirche („matrix ecclesia“) rasch den Rang abläuft. Weitere kleine Friedhöfe unterhalten die Klöster, namentlich das Heiliggeistspital und der in München bedeutenden Franziskanerorden, dessen Kloster das Areal des heutigen Nationaltheaters einnimmt. Um 1480 eröffnen die beiden großen Bestattungsbezirke noch je eine „Zweigstelle“ an der Stadtmauer: Die unweit des Sendlinger Tors gelegene Kreuzkirche mit ihrem Gottesacker ist eine Filiale von St. Peter, der neue Friedhof des Doms zu Unserer Lieben Frau – etwas missverständlich als „Frauenfriedhof“ bezeichnet – entsteht rund um die ebenfalls neu errichtete Kirche St. Salvator, neben der sich heute das Literaturhaus befindet.

„Hier liegen wir und seind verwesen“: Was Grabsteine erzählen

Viel von alledem sieht man heute nicht mehr. Die alte romanische Peterskirche wird 1278 – wohl auch als Entschädigung für den erlittenen Bedeutungsverlust – durch einen gotischen Neubau ersetzt, den spätere Generationen mit anderer Kunstauffassung immer wieder neu und durchgreifend modellieren. 1327 fällt er dem großen Stadtbrand zum Opfer, die Renaissance legt Hand an den Wiederaufbau, 1945 fallen die Bomben. Nicht anders die Frauenkirche. In der Urkunde als schlichte Kapelle („simplex capella“) bezeichnet, ist sie im Hochmittelalter schon ein recht stattlicher romanischer Dom mit drei Schiffen und zwei Westtürmen. Bis 1488 wird sie durch einen gemeinsamen Kraftakt von Bischof, Herzog und Bürgern im Geist der Gotik zum bedeutendsten Kirchenbauwerk Münchens ausgebaut. Die Gräber, die sich rings um die beiden großen und die zwei kleinen Kirchen schmiegten, wie es ländliche Kirchhöfe bis heute tun, sind heute verschwunden – die frische Brise der Aufklärung fegte sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus der Stadt.

Einige Spuren haben sie uns doch hinterlassen. Besuchen wir den Frauendom: Wer ihn betritt, ist bis heute vom Tod umfangen. An der Außenfassade finden sich als Zeugnisse alter Zeit Grabsteine der Münchner Patrizierfamilien, die nach der lange umkämpften und am Ende äußerst rüden Auflösung des Gottesackers und dem sackweisen Abtransport der Gebeine noch näher an die Kirche herangerückt sind. Wie moderne Werbeplakate an einem Bauzaun hängen sie seither als Epitaphien an der Backsteinmauer. 400, so eine Zählung aus dem Jahr 1943, waren es vor der Zerstörung der Frauenkirche im Krieg. 118 sind bis heute erhalten und überliefern uns in Wort und Bild die Porträts und Gedanken der einst hier Bestatteten. Nicht alles erschließt sich, auch wenn die Messerschmitt-Stiftung in den 1980er-Jahren dafür gesorgt hat, dass die Steine lesbar bleiben. Vieles ist lateinisch, etliches abgekürzt, und manch Besonderheit der Schreibweise erinnert den Vorübergehenden des 21. Jahrhunderts nicht so sehr an den Verstorbenen wie an die geheimnisvollen Botschaften in den Mystery-Thrillern von Dan Brown.

Ita fILII patrI BernarDO ZIegLer,

hospPtI MonaCensi, aetatIs sVae 44

q Varto Febr. ObeVntI

Hmm, denkt man da, hier scheint einer zu liegen, der nach guter Bürgersitte seine Gelehrsamkeit hochhält und das Kirchenlatein des hochkatholischen Münchens in Ehren. Bernhard Ziegler. Bernhard wer? „So setzen die Söhne dieses Denkmal dem Vater Bernhard Ziegler, Gastwirt in München, der im 44. Jahre seines Alters am 4. Februar gestorben ist“ – so lautet der Grabspruch in der Übersetzung von Ludwig Rosenberger, einem intimen Kenner der Frauenkirche und ihrer Geschichte. Ratsherr und „Weingastgeb“ war Ziegler. Bleibt die verquere Groß- und Kleinschreibung – ein Chronogramm, in dem die arabischen Großbuchstaben zugleich römische Zahlen darstellen. Rosenbergers Latein- und Mathematikkenntnisse entziffern das Sterbejahr 1726. Nicht alles ist derart kryptisch, anderes eher poetisch verrätselt: „Wand’rer, benenne den Schatten, wer, wessen, wie er gewesen?“, wendet sich aus dem Jahr 1532 „Caspar Barth, Dekan, Doctor und Rath des Fürsten“ an den Passanten – „jetzt bin ich Staub und Asche“. Nicht alles, was uns so direkt anspricht, ist nach heutigem Empfinden auch ansprechend – vor allem die Menschen des Barock kennen den Tod und begegnen ihm wenig zimperlich: Einige Grabplatten zieren Höllenfratzen und Gewürm, Schädel und Gebein. „Wan ich von Würmern schon gefressen / bitt ich noch einmal thuet / meiner nicht vergessen“, lässt sich 1705 Joßeph Sedlmayr auf seine Grabplatte meißeln.

Die besten Plätze – wirkliche Grabplätze – befinden sich natürlich innerhalb der Mauern. Geistliche Würdenträger, aber auch alteingesessene Familien, die es sich leisten konnten, eine Ewigmesse zu stiften, erwarben sich das Anrecht auf eine eigene Grabkapelle. Ein gutes Dutzend davon umrundet den Kircheninnenraum. Prächtig ist auf Höhe des Nordturms die letzte Ruhestätte der Tulbecks. Johann IV. Tulbeck hatte es vom wohlhabenden Bürgerspross zum Fürstbischof gebracht; nun ruht sein Abbild in vollem Ornat, den Kopf wie zum Schlaf auf ein Kissen gebettet, auf der roten Marmorplatte vor dem reich geschmückten grüngoldenen Altar der Familienkapelle. Das gewaltigste der Grabmäler indes ist leer: Übermannshoch, aus dunklem Marmor geschnitten und umgeben von ähnlich dunklen Bronzefiguren erinnert seit 1622 das von Hans Krumper gestaltete Kenotaph – ein Scheingrab – an Kaiser Ludwig IV. den Bayern und seine erste Gattin Beatrix. Ursprünglich hatte der Wittelsbacherkaiser sich und seinen Nachfolgern ein Hochgrab im Chor der Vorgängerkirche einrichten lassen; heute ruhen seine Gebeine in Gesellschaft weiterer Wittelsbacher und einer Reihe hoher Geistlicher unterhalb der Kirche in der 1971 neu gestalteten Krypta. Auch das Kaiserkenotaph hat im Laufe der Jahrhunderte viermal den Standort gewechselt und empfängt Kirchenbesucher heute am südwestlichen Eingang.