Waltraud Legros

Was die Wörter erzählen

Eine kleine etymologische Fundgrube

 

Deutscher Taschenbuch Verlag

 

Originalausgabe 2010

©1997 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

 

eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41192 - 9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 20642 - 6

 

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Inhaltsübersicht

Vorwort

Wanderwörter

Abenteuer

kaputt

Sanssouci

Streik

heil

heuer

Kartoffel

Stiefmütterchen

Alltagswörter

heißen

die Deutschen

arbeiten

verdienen

faul

Tüchtigkeit

Schuld

Geld

Macht

Recht

mündig

gehorchen

Bürger

Biedermeier

Wortspaltereien

meinen

aufgeben

Opfer

Gift

fasten

Leben

Seele

Tod

Trost

denken

auswendig

Zweifel

Baukasten Sprache

Satzbau

Buchstabenprozessionen

Enttäuschung

urig

nicht

Begriff

Buchstabe

Umlaut

lesen

Baumeister

Eine junge Sprache

Wortregister

 

|4|Für Frau Fabian, unsere Tante Julie,
die so gern Geschichten erzählte,
wie sie in keinem Buch stehen.

|7|Vorwort

Jeder von uns hat gelegentlich in seiner Heimatstadt Fremdenführer gespielt und diese seltsame Erfahrung gemacht: Man wird von einer nie gesehenen Hausfassade überrascht, obwohl man seit Jahren täglich an ihr vorbeigeht; man entdeckt staunend einen Erker, einen Torbogen, ein altes Ziegeldach, weil unser Gast stehenbleibt, ein Photo macht oder wissen möchte, was die Inschrift über dem Tor bedeutet ...

Genauso ergeht es dem, der seine Muttersprache als Fremdsprache unterrichtet. Vertrautes sieht er wie zum ersten Mal, Selbstverständliches wird fragwürdig, er erfährt die eigene Sprache als fremdartig: als gleichzeitig bekannt und sonderbar. Das ist nicht etwa nur anfangs so, sondern immer wieder. Und man erfährt nicht nur seine Sprache aus einer anderen Perspektive, sondern natürlich auch sich selbst. Denn warum lernt der andere unsere Sprache? Doch nicht nur, weil sie als Unterrichtsfach auf dem Stundenplan steht oder damit er im Fall einer Reise nach dem Weg fragen kann. Er lernt unsere Sprache ja auch, um uns besser zu kennen und zu verstehen, um ein wenig zu wissen, aus welchem Stoff wir gemacht sind. Und dieser »Stoff« ist nicht nur unsere Geschichte, unsere Lebensweise, unsere »Kultur«, wie wir zu sagen pflegen, sondern vor allem – das heißt zuerst und grundlegend – unsere Sprache.

Aus dieser Perspektive also, aus der das Bekannte als Fremdes betrachtet wird, entstanden die Wortgeschichten dieses Buchs. Anlaß war jedesmal eine konkrete Situation im Dialog zwischen Menschen verschiedener Muttersprachen, im Dialog zwischen diesen Sprachen, wo ich durch Staunen, Fragen und »Fehler« meiner Studenten, meiner Kinder oder meiner Freunde die eigene Sprache »entdeckte«. Ich wurde aufmerksam auf so manche Ungereimtheit der deutschen Sprache, auf ihre |8|schöpferische Lebendigkeit, auf die oft abenteuerlichen Lebenswege ihrer Wörter.

Freilich gibt es bei solchen Entdeckungen nicht nur die freudigen Aha-Erlebnisse, sondern auch verblüfftes Schweigen, wenn zum Beispiel Wörter wie »Kartoffel«, »Marzipan« oder »Porzellan« plötzlich in leere Silben zerfallen, nur weil man sie ein wenig unter die Lupe nehmen wollte. Oder wenn Wörter wie »aufgeben«, »faul«, »kosten«, »Rolle«, »versuchen« verschiedene Bedeutungen anbieten und sich die Frage stellt, ob das nun Zufall sei oder nicht. Auch wenn Ausdrücke wie »bei Trost sein« oder »das gehört sich nicht« von den Studenten wörtlich übersetzt werden, also keinen Sinn geben, weil man sich von der Vokabel »Trost« oder »gehören« freidenken muß, um die Bedeutung des Ausdrucks nicht nur zu registrieren, sondern auch zu verstehen. Denn mit »richtig« oder »falsch« ist es ja nicht getan. Was ist »falsch«, wenn ein Student in einem Aufsatz über Heinrich von Ofterdingen schreibt: »Er sehnsucht die ideale Frau«? Ist dieses Verbkonzentrat aus romantischer Sehnsucht und träumerischem Suchen wirklich ein »Fehler«, nur weil noch kein deutscher Dichter auf die Idee gekommen ist, das Verb »sehnsuchen« zu bilden? Warum, fragt der Deutschlernende, ist »Schwerarbeit« richtig, »Schwerkoffer« aber falsch? Warum kann ich nicht sagen: »Ich bedeute den Text«, wohl aber »ich beantworte den Brief« oder »ich beschreibe das Bild«? Man sieht: Mit Logik ist solchen »Fehlern« nicht beizukommen. Sprache ist eben nicht logisch. Sondern eigensinnig, unergründlich, unberechenbar.

Dennoch hat bekanntlich jede Sprache ihre Regeln und Gesetze. Man glaube aber nicht, daß nicht auch die einfachste Regel zum Diskussionsthema werden kann. Wer zum Beispiel Franzosen begreiflich machen will, wie ein deutscher Satz konstruiert ist, wo das »nicht« hingehört, wie man Wörter zusammensetzt und auseinandernimmt, erntet zunächst ungläubiges Kopfschütteln. Wie denken und fühlen Menschen, fragen sie, die alles »verkehrt« sagen? Wie verhalten sich Menschen, die |9|von klein auf daran gewöhnt sind, sich auf keinen Satz zu verlassen, bevor nicht das sinngebende Schlußwort gefallen ist?

Fragen wie diese machen natürlich hellhörig und neugierig, und wer einmal angefangen hat, der Sprache beim Reden zuzuhören, die Wörter beim Wort zu nehmen oder in sie hineinzuhorchen, der kommt aus dem Fragen nicht mehr heraus: Wie ist das nun eigentlich mit der vielzitierten Beherrschung der Sprache? Wer beherrscht da wen? Denken wir mit Worten oder in Worten? Wer ist zuerst da, unsere Gedanken oder die Sprache? Denken wir womöglich immer nur so viel und so weit wie die Wörter, die wir kennen oder zu kennen glauben?

Sicher: Wir Menschen haben die Sprache »erfunden«, wir arbeiten an ihr, feilen und basteln ständig an ihr herum, heben vorübergehend gewisse Wörter auf Podeste, schicken andere von der Bühne, treiben Export- und Importgeschäfte mit ihnen, je nach Bedarf. Doch arbeitet auch die Sprache an uns. Wir werden von ihr geprägt, vielleicht mehr als wir es wahrhaben wollen. Denn mit der Muttersprache lernen wir ja nicht nur eine bestimmte Sprache verstehen und sprechen, wir lernen gleichzeitig, in ihr zu denken, Gefühle zu unterscheiden, wahrzunehmen. Wir erfahren die Welt, die anderen und uns selbst durch die Wörter und Strukturen dieser ersten Sprache, die wir »Muttersprache« nennen. Warum wohl? Doch nicht nur, weil sie uns in der Regel zuallererst durch die Stimme und die Worte unserer Mutter vermittelt wird, sondern wohl auch, weil wir uns in dieser Sprache daheim fühlen: geborgen und in Sicherheit.

Dennoch liegt aber gerade in diesem schönen Gefühl der Geborgenheit auch die Gefahr, das Gewohnte und Bekannte für so selbst-verständlich zu halten, daß es uns gar nicht in den Sinn kommt, es in Frage zu stellen oder auch nur kennen-zulernen. Das mag Goethe gemeint haben, als er behauptete: »Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.« Doch müßte man zweierlei hinzufügen: Selbst wenn wir später die Erfahrung machen, daß andere Sprachen die Welt anders wahrnehmen und benennen, bleibt unsere erste Sprache doch |10|lange Zeit unser Maßstab für das »Normale«. Sie bleibt Muttersprache im Sinne von Matrize. Und zweitens wird die Einsicht, daß Wort und Ding, Sprache und Wirklichkeit nicht identisch sind, im Grunde niemandem erspart, mit oder ohne Fremdsprachen. Denn auch die Muttersprache vermittelt ja nicht ein einziges Weltbild, sondern gibt jedem die Möglichkeit, seine persönliche »Ansicht« auszudrücken, ein Glas »halbvoll« oder »halbleer« zu nennen.

So ist also der Umweg über »fremde« Sprachen nicht die einzige Möglichkeit, seine eigene Sprache mit anderen Augen zu sehen. Man kann sich auch vorstellen, daß man sie jemandem zeigen will, so wie man einem Besuch eben seine Stadt zeigt. Oder sein Haus, seinen Garten, sein Familienalbum. Denn auch das, was wir am besten zu kennen glauben – fast möchte ich sagen: gerade das, was wir am besten zu kennen glauben –, kann uns in seiner plötzlichen Fremdheit überraschen.

Jede der Wortgeschichten dieses Buchs ist also ein Spaziergang durch bekannte Landschaften, eine Einladung, Vertrautes neu zu entdecken. Jede ist ein geschlossenes Ganzes, auch wenn dieses Ganze nie vollständig ist, es nicht sein kann, da wir uns ja in einer lebenden Sprache bewegen. Es kann vorkommen, daß die Geschichten ineinander übergreifen, sich kreuzen oder einander gar in die Quere kommen. Auch das liegt in der Natur der Sprache: Es gibt in ihr keinen Anfang, keinen Mittelpunkt und kein Ende.

Wenn die verschiedenen »Wortschaften« dennoch nach vier lockeren und unverbindlichen Themen gruppiert sind, so geschah dies also nicht, um irgendeine Hierarchie zu suggerieren, sondern um dem Leser einen der möglichen Wege vorzuschlagen: von den reiselustigen Wanderwörtern über gängige Wörter unseres Alltags und solche, die uns durch ihre schillernde Vielschichtigkeit erstaunen, bis hin zu einigen Besonderheiten deutscher Wortgebilde und Satzstrukturen. Denn wirklich spannend wird es ja erst, wenn wir sehen, wie aus Wörtern Sprache entsteht.