Jess Jochimsen

BELLBOY

ODER: ICH SCHULDE
PAUL EINEN SOMMER

Roman

 

Deutscher Taschenbuch Verlag

 

Ungekürzte Ausgabe 2012
© 2005 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41415 - 9 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 21402 - 5

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Danksagungen

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Pages

 

And the things you can’t remember,

tell the things you can’t forget.

 

Tom Waits

 

Dedicated to the boys of summer

Für Dieter, Sascha und Jan

Und in Erinnerung an Uli, der so fehlt

1

Paul trat in mein Leben wie ein Hautausschlag. Wie eines dieser Ekzeme, die ich als Kind öfter hatte, wenn es besonders heiß war im Sommer. Urplötzlich bekam ich dann Pusteln am linken Oberarm, ich merkte es erst gar nicht, und auf einmal waren sie da, kleine rote Pusteln mit weißen Köpfen, sie breiteten sich aus zu einem handtellergroßen Feld und juckten.

»Eigenschweißallergie«, diagnostizierte Doktor Söhnlein, der Kinderarzt, »nichts Tragisches. Das gibt sich.«

Es gab sich nicht, der Ausschlag begleitete mich den ganzen Sommer lang, hartnäckig und zäh. Ich konnte machen, was ich wollte, waschen, eincremen, Pflaster draufkleben, das Ekzem durch Kratzen in ein blutiges Schlachtfeld verwandeln, nichts half. Der Ausschlag war nicht wegzukriegen, »hier gefällt es mir, hier bleibe ich«, schien er damit sagen zu wollen. Nie breitete er sich aus, er beschränkte sich auf seinen Kreis von rund zehn Zentimetern Durchmesser auf meinem Oberarm. Dabei hätte es durchaus Stellen gegeben, an denen ich mehr schwitzte, vor allem Stellen, die man nicht so sah, Oberarm war ganz blöd, ärmellose Shirts konnte ich vergessen. Obwohl er sie mochte, der Ausschlag wollte gesehen werden. »Guckt her, Leute, bin ich nicht ein schmucker Eiterherd.« Luft tat ihm gut, Luft und in Ruhe gelassen werden. Aber weg ging er nicht. Und allzu lange durfte man ihn auch nicht ignorieren, dann begann er zu nässen und zu jucken, als riefe er: »Du könntest mich ruhig mal wieder beachten. Komm, lass uns was machen.« Ich gewöhnte mich an den Ausschlag, ich war nie allein, gemeinsam gingen wir vormittags zur Schule und nachmittags ins Schwimmbad, wir spielten Fußball, hingen gemeinsam rum, stritten und verliebten uns gemeinsam. Manchmal ließ er mich machen, manchmal war er eifersüchtig. Und irgendwann wurden die Tage kürzer, der Herbst kam, und das Ekzem verschwand. Ohne Tschüs zu sagen, unmerklich. Na ja, nächsten Sommer sehen wir uns ja wieder, dachte ich, und so war es auch. Bis ich wegzog.

In die Stadt hat es der Ausschlag nie geschafft, er war ein Landei und brauchte seine gewohnte Umgebung. Bis zum 8. April 2003, jenem Tag, an dem Paul in mein Leben trat. Oder besser gesagt: wieder in mein Leben trat. Paul ist mein Cousin, mehr als zehn Jahre hatte ich ihn nicht gesehen, er blieb zurück in der Provinz, in der miefigen Enge von Elternhaus und Verwandtenbesuchen, von grauen Reihenhaussiedlungen, einsamen Bushaltestellen und traurigen Stadtfesten. Er blieb zurück in der Welt der Ausfallstraßen, der Sonntagskleidung, der Ohrfeigen, der »Willst du mit mir gehen?«-Zettelchen, er blieb zurück in dem Leben mit Hautausschlag, das ich verlassen hatte.

 

Ich spülte gerade den Weinkelch, als es klingelte. Durchs Küchenfenster sah ich auf der Straße ein Taxi mit laufendem Motor. Ich trocknete mir die Hände ab, und mein Oberarm begann zu jucken. Ein vertrautes Gefühl, mechanisch kratzte ich mich. Im Gehen rieb ich mit dem Abtrockentuch über die Haut und öffnete die Tür.

»Gehört der Irre zu Ihnen?«, fragte ein Mann, der aussah und roch wie ein Taxifahrer. Neben ihm stand die Vergangenheit.

»Paul! Was machst du denn hier?«, rief ich und legte das Tuch weg.

»Sind Sie«, der Taxifahrer kramte nach einem Papierfetzen, »sind Sie Lukas Baumgarten?« Er reichte mir den Zettel.

»Ja.«

»Dann kriege ich sechsundzwanzig Euro.«

Paul griff sich in den Schritt. »Wenn man’s zu oft macht, kriegt man krumme Finger.«

»Was tust du denn da?«

»Krumme Finger kriegt man«, wiederholte er.

»Der ist völlig bekloppt«, sagte der Taxifahrer, »aber hier ist er wohl gut aufgehoben.« Er zeigte auf das Klingelschild, auf dem nicht nur mein Name, sondern auch der der Kirchengemeinde stand. »Kann ich jetzt meine Kohle haben?«

Konsterniert gab ich ihm das Geld.

»Wegsperren sollte man solche«, sagte der Taxler, »wegsperren, und fertig. Servus.« Er ging.

»Paul«, sagte ich, und noch mal, »Paul«. Mehr brachte ich nicht heraus, und mein Oberarm juckte.

»Ich hab sie verloren.« Paul begann zu weinen.

»Wen hast du verloren?« Was, zum Teufel, war hier los? »Komm doch erst mal rein.«

»Man darf sie nicht verlieren.«

»Wen? Paul, Herrgott, was hast du denn?«

»Die Zähne.«

»Was ist damit?«

»Ich hab sie verloren.«

»Jetzt spinn doch nicht rum, Paulemann.«

Mein linker Oberarm brannte wie Feuer. Ich ignorierte ihn und sah Paul an. Mein kleiner Cousin. Achtundzwanzig musste er mittlerweile sein oder neunundzwanzig, ungefähr zwei Jahre jünger als ich. Er stand da, wie er immer dastand: schief. Das linke Bein leicht vorgestellt, die Schultern eingezogen, demütig, als würde er darauf warten, dass ihm jemand sagte, was er tun sollte. Er zog die Nase hoch und schniefte. Einmal Heulsuse, immer Heulsuse. Seine Zähne waren, soweit ich erkennen konnte, alle an ihrem Platz.

»Sind doch noch alle da«, sagte ich.

»Doch nicht die.«

»Ja, welche dann?«

»Die aus Milch.«

»Deine Milchzähne?«

»Die darf man nicht verlieren.«

»Bist du meschugge, Kleiner?«

Paul schrie auf und schluchzte. Aus seinem Schluchzen wurde ein gellendes Heulen. Er warf sich auf den Boden und strampelte mit den Beinen. Seine Fäuste trommelten gegen den Türpfosten. Wie ein Insekt, das auf den Rücken gefallen war, früher hatte er das oft gemacht, wenn er bei Mensch-ärger-dich-nicht verloren hatte oder nicht mitspielen durfte. »Brüllkäfer«, hatten wir ihn dann genannt.

»Hör auf, Paul!«

»Ich will aber nicht!«

Was passierte hier? Mein kleiner Cousin war verrückt, komplett durchgedreht. Wie kam er eigentlich hierher? Was sollte das alles? Und was hatte ich damit zu schaffen? Ich kratzte mich mit den Fingernägeln am Arm.

»Ich hatte sie«, Paul rappelte sich hoch, »die Zähne aus Milch, gestern hatte ich sie noch.«

Ich hielt ihn an den Schultern fest. »Paulemann, ich habe keinen Schimmer, was passiert ist, aber deine Milchzähne hast du schon länger verloren. Jeder verliert sie, das ist normal.«

»Ich hätte sie aber noch gebraucht.« Er griff sich wieder in den Schritt.

»Was packst du dir eigentlich dauernd an deinen Dödel?«

»Wenn man’s zu oft macht, kriegt man krumme Finger.«

»Und das willst du?«

»Will ich nicht.«

»Ja, dann lass das. Wer erzählt dir überhaupt so was?«

»Dietsche sagt das.«

»Dietsche sagt viel.«

»Er sagt auch, dass man die Zähne wieder reinmachen kann.«

»Unsinn. Verarschen wollte er dich.«

»Mama sagt das auch.«

»Tante Erika? Nein, Paul, das hat sie bestimmt nicht gesagt.«

»Hat sie wohl.«

Irgendwas war passiert. Irgendetwas musste sich in den letzten zehn Jahren ereignet haben, von dem ich nichts mitgekriegt hatte. Vielleicht sogar früher. Paul war immer schon seltsam, eine Memme, eine Nervensäge, aber verrückt war er definitiv nicht gewesen. Ich musste Lena anrufen, sie würde Bescheid wissen. Oder besser Dietsche. Genau. Schließlich war er sein Bruder. Am besten sollte er gleich herkommen und Paul mitnehmen. Ich hatte damit nichts zu tun. Familienscheiße.

»Darf ich fernsehen?« Paul schien sich gefangen zu haben.

»Klar. Der Fernseher steht in der Küche. Magst du was trinken?«

»Hm«, Paul fummelte am Fernsehgerät, »kann ich eine Cola?«

»Hab ich nicht. Aber Bier und Wasser sind im Kühlschrank.«

Er beachtete mich gar nicht. Der Fernseher lief mittlerweile, und Paul setzte sich auf einen Stuhl. Nach ein paar Sekunden stand er auf, lief zum Fernseher, schaltete um und setzte sich wieder. Es liefen Nachrichten.

»Mag ich nicht«, sagte er, stand wieder auf und ging zum Fernseher.

»Schon mal von der Erfindung der Fernbedienung gehört?« Paul reagierte nicht. Diesmal blieb er am Gerät stehen und schaltete durch die Programme. Bei einem Zeichentrickfilm blieb er hängen.

»Wo läuft Speedy Gonzalez?«

»Keine Ahnung. Gibt’s das überhaupt noch?«

»Egal.«

Er setzte sich hin. Und starrte auf die Mattscheibe. Lieblos gezeichnete japanische Mädchen spielten Volleyball.

»Die haben gar keine Titten«, sagte er, »aber die eine ist nett.«

Ich halt das nicht aus, dachte ich, das geht über meine Kräfte.

»Bleib mal einen Moment hier, ich bin gleich zurück.«

Ich trat ins Treppenhaus und horchte, ob ich Musik hörte. Keine Musik. Also war Stevie nicht da. Wenn man ihn einmal brauchte ... Trotzdem stieg ich die Stufen hoch, sicher war sicher.

»Stevie, Stefan, bist du da?« Keine Antwort. Der Herr Pfarrer war aushäusig.

Ich atmete durch. Das kriege ich auch allein hin, wenn nur mein Oberarm nicht so jucken würde. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich den Zettel, den mir der Taxifahrer gegeben hatte, immer noch in der linken Hand hielt. Ich zerknüllte ihn und steckte ihn in die Hosentasche. Ein Stockwerk tiefer, fand ich meine Haustür verschlossen. Nicht auch das noch!

»Paul. Kannst du bitte die Tür aufmachen.« Ich klopfte meine Taschen ab, obwohl ich es schon wusste: kein Schlüssel, kein Handy, keine Kippen.

»Paulemann!«

Von drinnen hörte ich das tumbe Zack-Bumm des Zeichentrickfilms. Ich klingelte und trat mit dem Fuß gegen die Tür. »Paul, mach auf!«

Ich könnte sie aufbrechen, dachte ich. Wie im Film, Anlauf nehmen, einmal mit voller Wucht dagegen und dann mit der Tür in die Wohnung segeln. Abrollen, und ehe Paul bemerkt haben würde, was los war, könnte ich ihm eine einschenken. Hier, nimm meine Rechte! Ich könnte aber auch den Schlüsseldienst rufen.

Nur wie, ohne Handy. Wo war eigentlich das nächste Münztelefon? Ich ging im Geiste die Straßen der Umgebung ab. Zum Teufel, ich hatte ja nicht mal Geld einstecken, außerdem funktionierten die ja nur mit Karte. Wieso heißen sie dann Münztelefon? Leck mich doch! Was ist eigentlich aus den ganzen schönen gelben Häuschen geworden? Ich machte einen letzten halbherzigen Versuch.

»Paul!«

Irgendwann würde Stevie heimkommen, er hatte einen Schlüssel. Ich hörte Geräusche hinter der Tür.

»Wieso bist du weggegangen?« Pauls Stimme klang anders. Leise und bestimmt.

»Ich bin nur kurz zu meinem Vermieter hoch. Mach auf, ich hab keinen Schlüssel mit.«

»Nein, damals. Wieso bist du weggegangen?«

»Hör mal zu, das ist meine Wohnung, du öffnest jetzt die Tür, sonst kannst du was erleben.« Keine Antwort. »Soll ich die Bullen rufen, oder was? Lass mich jetzt rein, verdammt noch mal.«

»Ich soll keine Fremden reinlassen.« Paul kicherte.

»Ich bin kein Fremder, sondern dein beschissener Cousin.«

»Und warum bist du dann weg?«

»Hör jetzt endlich mit dem Blödsinn auf! Wir sind erwachsene Menschen.«

Das wirkte. Die Tür öffnete sich, und Paul stand im Türrahmen. Kerzengerade, bewegungslos. Er stand einfach nur da und sah mich fragend an.

Erwachsene Menschen, hatte ich gesagt, aber bei ihm war ich mir da eigentlich nicht mehr so sicher.

»Paul«, begann ich vorsichtig, »ich weiß echt nicht, was los ist ...«

»Dann erzähl’s mir.« Trotz lag jetzt in seiner Stimme.

»Was denn?«

»Alles.«

So geht das nicht, dachte ich, so geht das einfach nicht. Nicht mit mir. Er konnte doch nicht aus heiterem Himmel hier auftauchen und den Hampelmann spielen. Wir hatten uns ewig nicht gesehen. Streng genommen war er ein Fremder für mich. Das sah er ja selber so. Ich lebte mein Leben und er seins. Fertig. Ich sah ihn ernst an und dachte: Wir gehen da jetzt rein und rufen zu Hause an. Ende der Ansage.

Obwohl ich kein Wort gesagt hatte, kippte etwas in ihm, seine Schultern sanken ein, den rechten Fuß zog er zurück.

»Egal.« Er drehte sich um und schlurfte Richtung Küche. »Kann ich noch fernsehen?«

»Ja, ja. Ich komme gleich nach.«

Ich setzte mich auf die erste Treppenstufe. Die Hitze drückte von draußen ins Treppenhaus. Einen Jahrhundertsommer hatten sie angekündigt. Ich kratzte mich am linken Oberarm, hinschauen brauchte ich nicht, ich wusste es: Er war wieder da. Paul war wieder da. Und der Ausschlag war wieder da. Ich kramte in meinen Hosentaschen und zog den Papierfetzen hervor. Auf dem Zettel stand in Kinderschrift mein Name und meine Adresse. Und darunter der Satz: »Er muss es wissen.«

2

Ich weiß nicht, wie lange ich im Treppenhaus gesessen hatte. Als ich in die Wohnung kam, war der Fernseher aus und Paul schlief. Er lag angezogen und zusammengerollt auf meinem Bett. Völlig friedlich, wie ein Kind, in Embryonalstellung. Ich kratzte mich am Arm. Was hatten sie dir nur angetan? Ich wusste nichts von ihm. Die letzten Jahre daheim hatte ich mich nicht mehr für ihn interessiert, genau genommen schon vorher nicht wirklich. Ich ging aufs Gymnasium, so wie Dietsche und Lena auch, er machte Realschule. Und dann irgendeine Lehre. Schlosser oder so was Ähnliches. Irgendwas, was keiner brauchte.

 

Bei Dietsche meldete sich niemand, bei meiner Schwester sprang der Anrufbeantworter an und versprühte heile Welt: »Das ist der Anschluss von Hubert, Lena, Carina und Hendrik Baumgarten-Küppers. Wir sind alle ausgeflogen. Hinterlasst eine Nachricht, und wir rufen zurück.«

Alle vier gleich, Spitze. Ich legte auf. Wie ich dieses Geschwafel hasste ... »Das ist der Anschluss einer intakten Familie. Bitte behelligen Sie uns nicht mit Ihren Problemen.«, »Das ist der Anrufbeantworter der Familie Baumgarten-Küppers, wieso rufen Sie nachmittags an? Sie wissen doch, dass wir da arbeiten, wie andere anständige Leute auch. Schließlich haben wir gebaut, und irgendwer muss die Raten ja abbezahlen.«, »Hier spricht Lena Baumgarten-Küppers aus der Provinz, und das Wildeste, was ich in meinem Leben je gemacht habe, ist der Doppelname.«, »Hallo, hier ist Lena. Lukas, du weißt doch, wie’s läuft: Hubert ist auf Dienstreise, die Kleinen sind im Kindergarten oder beim Sport, und ich vögel gerade mit dem Nachbarn.«

Und ich hatte Paul am Hals ... Tauchte einfach hier auf, wie aus einer Anstalt entlaufen, mit einem Zettel in der Hand. Völlig krank. Was musste ich wissen?

 

»Hallo Tante Erika, Lukas ist dran.«

»Menschenskinder, Lukas, das ist ja eine Überraschung, dass du anrufst. Wir haben ja schon Ewigkeiten nichts mehr von dir gehört. Was macht das Studium? Wie geht’s denn immer?«

»Geht so, Tante Erika. Was ich sagen wollte ...«

»Lukas, ach Lukilein, das ist wirklich schön. Du musst uns mal wieder besuchen. Wie lang ist das her? Warst du in letzter Zeit mal am Grab? Lena kümmert sich wirklich ganz toll darum. Sie hat Azaleen gepflanzt und Begonien und so was Modernes aus Asien, sieht aber wirklich prima aus. Ich komme ja auch nicht so oft hin, weil doch der Sepp im Koma liegt, es ist furchtbar. Du weißt schon, der Sepp, dein Großonkel von hinter Wasserburg. Er hat Dietrich mal dieses Mofa geschenkt.«

»Erika, hör doch mal ...«

»Ach Lukas, manchmal machen wir uns schon auch Sorgen um dich. So alleine in der Stadt. Und München ist ja auch so groß. Lukas, Junge, du musst wirklich mal rausfahren zu uns. Sie haben doch die Bundesstraße ausgebaut, da bist du in null Komma nichts heraußen bei uns. Dietrich würde sich sicher auch freuen, er wohnt ja jetzt wieder hier, bei den Hofers zur Untermiete, von der Apotheke, du weißt schon, aber nur, bis er was Besseres findet. Er ist ja auch regelmäßig beim Sepp zu Besuch ...«

»Tante Erika! Paul ist hier.«

»In München? Das ist gut. Hat der Hubert auch gesagt. In München können sie ihm sicher weiterhelfen. Hat er gesagt. Da wird er bestimmt auch eine Arbeit finden. Oder so eine Umschulung. Weil, da sind doch auch die ganzen Ämter und alles. Ach, mein Paulchen.«

»Paul ist krank, Erika. Er ist krank. Er ist heute hier reingeschneit ...«

»Deswegen ging das ja auch nicht mehr beim Gschwandtner. Also, wo Paul zum Schluss war, beim Gschwandtner. Tiefbau, du weißt schon. Das ist zu stressig, aufm Bau. Und der Paul war immer schon sensibel. Hat der Doktor Söhnlein auch gesagt, das kommt vom Stress. Jetzt soll er sich erst mal richtig erholen, dann wird das alles wieder, hat der Doktor gesagt. München ist gut, da können sie ihm ...«

»Tante Erika. Was ist los? Kannst du bitte herkommen und Paul abholen?«

»Wieso? Nein! Das geht gar nicht. Wie stellst du dir das denn vor?«

»Er ist dein Sohn, Tante Erika. Ich kann mich hier nicht um ihn kümmern, ich, ich hab zu tun, ich muss arbeiten.«

»Der Nebenjob in deinem Pfarramt, oder was? Das ist doch keine Arbeit. Herrschaftszeiten, Lukas. Jahrelang hört man keinen Ton von dir. Und jetzt, wo du was brauchst, rufst an.«

»Es geht doch gar nicht um mich.«

»Wo deine Eltern gestorben sind, da waren wir gut genug. Für dich und die Lena. Aber seit du in der Stadt bist ... Die Lena kümmert sich wenigstens ums Grab. Und um die Familie, aber du ... Wie lang hast du dich nicht mehr gemeldet, ha? Wir haben hier auch zu tun.«

»Ja, Tante Erika. Was soll ich jetzt mit Paul ...«

»Paul ist erwachsen, Lukas. Er weiß schon, was er tut. Und auf mich hört er ja eh nicht. Wie er sich aufgeführt hat die letzte Zeit. Die Leute haben ja alle schon geredet. Aber das kommt vom Stress, sagt der Doktor Söhnlein. Das wird schon wieder. München ist gut. Erst mal erholen. Und dann kommt ihr mal heraus zu uns. Dann können wir auch den Sepp besuchen, der freut sich.«

»Erika ...«

»Lukas, ich muss jetzt. Bis dann. Servus.«

Aufgelegt. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Ich rieb meine Schulter. Während des ganzen Telefonats hatte ich mich gekratzt wie verrückt. Das Ekzem blutete. Paul schlief immer noch, und ich suchte nach einem Pflaster. Es würde nichts nützen.

3

Wieso erinnerte mich Paul dermaßen an meine Nachhilfeschüler? Er war neunundzwanzig und nicht elf oder zwölf. Ich sah auf den Plan: Um fünf musste ich rüber nach Perlach. Mathe mit Manfred. Jetzt war es halb drei, mit ein bisschen Glück würde Stevie bald kommen, dann könnte ich das Auto nehmen. Wo blieb er eigentlich?

»Wenn er zu blöd ist, dann tue ich ihn runter vom Gymnasium«, sagte Manfreds Mutter immer, »ich kann mir das eh nicht leisten.«

Jedes Mal, wenn ich Manfred zum hunderttausendsten Mal den Dreisatz erklärte, kam mir der alte Rainald-Grebe-Song in den Sinn: »In jedem Haufen, in jedem Verein / gibt’s ein’ / der daneben steht / Manfred.« Wie konnte man ein Kind der Neunziger nur Manfred nennen? Manfred Müller, Deutschlands dümmster Stabreim, mit ausgeprägter Mathematikschwäche.

»Im Supermarkt kostet ein Kilo Kartoffeln 2,90 Euro, im Bioladen dagegen 4,10 Euro. Wie viel spare ich im Supermarkt, wenn ich zweieinhalb Kilo möchte?« Die Zeiten werden rauer. Wer denkt sich so einen Mist aus? »Komm, Manni, zweimal Dreisatz und dann subtrahieren. Das schaffst du.«

»Mama sagt, Bioladen können wir uns nicht leisten.«

»Da siehst du mal, wie realistisch dein Mathebuch ist. Auf jetzt.«

»Wenn ich die Fünfte schaff, krieg ich einen DVD-Player

»Ja, Manni, aber so schaffst du sie nicht. Ab, komm, wenn ein Kilo 2,90 kostet, dann kosten zweieinhalb?«

»Pearl Harbor hab’n sie beim Lidl für 19,99. Den hol ich mir.«

»Kartoffeln wär’n billiger.«

»Darf ich mit Taschenrechner?«

»Nein, darfst du nicht. Das wirst du doch hinkriegen, die Aufgabe noch, komm, dann sind wir fertig.«

So läuft das. Die Hälfte der Zeit sitzt Manfred vor seinem Computer und simuliert Mathe oder ballert rum. Ich trinke mit seiner Mutter Kaffee und spiele Kummerkasten.

»Wenn er zu blöd ist, dann tue ich ihn runter vom Gymnasium. Ich weiß gar nicht, wie ich das alles schaffen soll. Er gibt sich aber auch überhaupt keine Mühe. Ich bin Ihnen ja so dankbar, Herr Baumgarten.«

»Ist schon in Ordnung.«

»Und in Deutsch ist er jetzt auch so schlecht. Dabei hat er das immer gemocht. Weil er halt ständig vorm Computer sitzt. Was soll er auch machen, wenn ich im Geschäft bin? Das wird mir alles zu viel. Noch einen Kaffee? Ich sag’s, wie’s ist: Abtreiben hätt ich sollen, damals.«

»So dürfen Sie nicht reden, Frau Müller.«

»Die Bescheinigung hätte ich gehabt, aber sein Herr Vater hat ja nicht woll’n. Der versoffene Depp. Und wo ist er jetzt? Über alle Berge. Einfach wegmachen, das wär’s gewesen.«

Abtreibung oder Manfred? Beides nicht schön. Ich hätte auch nicht vor der Entscheidung stehen wollen. Wie man’s macht ...

Zurück zum Plan: Um fünf also Mathe-Manni und dann noch kurz bei Sarah vorbei, um die Kohle für die evangelische Skifreizeit einzutreiben. Menschenskinder, es war April. Über drei Monate wartete ich jetzt auf das Geld. Kein Wunder, dass es mit den Kirchenfinanzen nicht so rosig aussah. Warum durften die Kinder eigentlich mitfahren, ohne vorher zu bezahlen? Und überweisen ging natürlich nicht.

»Ich schaff ’s zurzeit einfach nicht auf die Bank, Lukas. Schau doch einfach mal vorbei am frühen Abend. Da bin ich da. Ich könnte uns auch was zu essen machen. Die Sarah würde sich sicher freuen, wenn du kommst.«

Der Sarah wäre das komplett egal. Die ist schmerzfrei. Die sitzt vor ihrem CD-Spieler oder ihren Heftchen mit Schminktipps und interessiert sich einen Dreck dafür, ob ihre Mutter nebenan gerade ihre Zunge in den Nachhilfelehrer steckt ... Sollte Stevie doch selber sehen, wie er an das Geld kam.

Ich beschloss, Paul zu wecken. Irgendetwas musste ich ja machen. Wo sollte er überhaupt bleiben, wenn ich nachher loszog? So wirr, wie er vorher gewesen war, konnte ich ihn schlecht alleine lassen. Wenn Stevie nicht käme, würde ich ihn mitnehmen müssen. Mit Paul zu Mathe-Manni, auf einen Depp mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. Ich riss das Pflaster von meinem Oberarm und kratzte die Wunde wieder auf.

»Paul, Paulemann, aufwachen!« Er drehte sich auf die andere Seite. »Paul. Cousinowitsch. Der Mittagsschlaf ist zu Ende.«

Er rührte sich nicht. Schlief tief und fest. Ich neigte meinen Kopf nah an den seinen. Er atmete ganz flach. Wie ein Säugling. Ich musste mein Ohr direkt an seine Nase halten, um überhaupt ein Atemgeräusch zu hören. Ob er noch kitzelig war? Früher hatten Dietsche und ich ihn oft gekitzelt. »Chinesische Folter« hatte Dietsche das genannt. Ich hielt Paul fest, und Dietsche strich mit einer Feder über Pauls Fußsohlen, kitzelte ihn in Knie- und Armbeugen und in der Achselhöhle. Paul wieherte und krümmte sich vor Lachen.

»Sag uns, wo der Schatz versteckt ist, du Schuft«, knurrte Dietsche, und Paul lachte und prustete, bis ihm die Tränen kamen.

»Wir werden das Versteck schon aus dir rauskitzeln, mein Freund.«

Paul liebte dieses Spiel.

Ich ließ ihn weiterschlafen. Erst mal erholen, hatte der Arzt gesagt.

Sei’s drum.

In der Küche schaltete ich den Fernseher an und blätterte lustlos in der »Süddeutschen Zeitung«. Acht Sonderseiten zum Irakkrieg. Jeden Tag dasselbe. Und Frieden so wichtig. Sogar auf VIVA flatterte das dämliche Peace-Zeichen. Darunter saßen Moderatorendarsteller mit Ikea-Namen und lasen Betroffenheits-E-Mails vor, die wahlweise mit »Make love not war« oder »Fuck Bush« endeten. Na dann mal los, das passt doch! Zwischen Gesülze und Videoclips wurde ständig eine 0190er-Nummer eingeblendet, unter der man anrufen konnte, um eine Minute lang zu schweigen. Die waren sich wirklich für nichts zu doof. Peace-Management für Minderbemittelte. Was sollte das? Angeblich denkende Menschen wählen eine Hotline und sagen dann eine Minute lang nichts. Für den Frieden. Das Geld, so sagte der Dienst habende Sören, gehe karitativen Zwecken zu. Also an Leute, die es brauchen können – die Telekom zum Beispiel. Wenn das unsere Friedensbewegung ist, bin ich für den Krieg!

»Kein Blut für Öl!« Ich konnte es nicht mehr hören und stellte den Ton ab. Kein Blut für Öl, für andere Dinge schon. Für Frieden zum Beispiel. Für den waren sie alle. Außer Mathe-Manni vielleicht. Seit die Amerikaner gen Bagdad marschierten, um die Welt vom Terror zu befreien, war der Junge wie ausgewechselt. Er wusste alles.

»Nachts Streubomben werfen und tagsüber vorrücken, mit der ganzen Stellung, so muss man’s machen.«

Wenn Manfred das Rechnen nur halb so gut beherrschen würde wie Panzertypen und Geschütznamen, wäre ihm der DVD-Player sicher. Dann könnte er sich die Bombardements noch mal in Zeitlupe anschauen.

Aber zumindest war die Kirche voll. In diesem Punkt waren wir eindeutig Kriegsgewinnler. Und nicht nur sonntags. Andauernd gab es spontane Sing- und Arbeitskreise, nächtliche Gebetsrunden, Lichterketten, und Stevie war ganz in seinem Element. Er hielt glühende Predigten gegen den amerikanischen Präsidenten. Schwor seine Schäfchen auf den Pazifismus ein. Mahnte zur Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Organisierte, machte, tat. Endlich volles Haus. Endlich geliebt. Endlich egal, dass ein schwuler Pfarrer der bayerischen Gemeinde vorstand.

Auf jeden Fall rannten die Leute wie bekloppt zur Messe, als würde da das Weltgeschehen entschieden. Dank des mutigen und tapferen Zusammenhalts einer Münchner Vorstadtgemeinde sind die Kämpfe um Bagdad zum Erliegen gekommen.

In der »Süddeutschen« las ich, dass auf der großen Berliner Antikriegsdemo der Slogan »Frieden ist geil« zur besten Parole gewählt worden war. Von einer »unabhängigen Jury namhafter Intellektueller«. Die schrieben das wirklich so hin. Stell dir vor, es ist Krieg, und du wirst nicht in die Jury der Demonstrationsparolenbewerter berufen!

Ich schnitt den Artikel für Stevie aus, seinen Humor hatte er schließlich noch nicht verloren. Im Gegenteil, er blühte auf. Es freute ihn diebisch, dass all jene, die ihm das Leben sonst schwer machten, jetzt auf ihn angewiesen waren. Die Superchristen, die Moralapostel, die Blockwarte, ja, sogar einige CSU-nahe Landfrauen rannten ihm die Bude ein. An der Kirche kam in puncto Friedensbemühen einfach keiner vorbei. Wir hatten die Infrastruktur. Wir hatten die Kontakte. Und wir hatten Gott und die Regierung auf unserer Seite.

Aus seiner Homosexualität hatte Stevie nie einen Hehl gemacht. Er trug sie nicht zur Schau, das nicht, wäre vielleicht auch des Guten zu viel gewesen, aber er verleugnete sie auch nicht. Am Anfang hatte es natürlich böse Briefe gegeben und einmal auch einen tumben Artikel in einer Werbegazette. »Schwuler Pfarrer im Münchner Osten?«, hatte das Blatt getitelt. Darunter stand unser Lieblingssatz: »Der in Hannover gebürtige Pastor Stefan Frank Borchert lebt in eheähnlicher Gemeinschaft mit einem Pfarramtsangestellten.«

Damit war ich gemeint. Wir hatten uns bepisst vor Lachen. Es war aber auch ein starkes Stück: Schwul, WG und Preuße – mehr Teufelszeug ging nicht. Daraufhin hatte irgendjemand ein Fenster der Kirche eingeworfen, und dann glätteten sich die Wogen wieder. Ein Tribunal gegen die Geistlichkeit war wohl nicht erwünscht. Ich wurde sogar rührend rehabilitiert. Die Frau des Bürgermeisters schrieb einen wütenden Leserbrief, dass ich ihren Kindern seit geraumer Zeit Nachhilfe geben würde, dass sie und auch ihr Gatte äußerst zufrieden mit mir seien, und das eine könne sie versichern: »Schwul ist Herr Baumgarten nicht.« Sie musste es wissen.

Stevie hatte über die ganze Sache nur gelacht: »Nicht mal ein kleines Graffito, das ist schwach. Da hätten wir endlich die Fassade renovieren können.«

An der hing jetzt seit vier Wochen ein drei auf viereinhalb Meter großes Regenbogenbanner, eine dieser Fahnen, die den ganzen Stadtteil zierten, bei uns natürlich ohne die Beschriftung »Pace«.

»Wer hätte das gedacht«, sagte Stevie, »dass ich jemals die Gay-Pride-Flagge an meiner Kirche hissen würde, und keine Sau merkt was?«

Wegen dieser Subversivität mochte ich ihn. Es konnte schon mal vorkommen, dass bei einer Disco im Pfarrhaus »Highway to Hell« durch die heiligen Hallen donnerte, und auch seine Demonstrationsbeiträge waren ganz großes Tennis. Im vergangenen Herbst hatte die NPD zu einer Kundgebung auf den Orleansplatz geladen, und wir konnten schon mal für das Irak-Event üben. Die halbe Stadt war alarmiert.

»Kein Fußbreit den Faschisten«, hieß es allerorten.

Stevie hatte mit der Kinderbibelgruppe einen ganz eigenen Fußballgesang-angehauchten Kampfruf einstudiert. Weil er selber es dann doch vorgezogen hatte, zu Hause zu bleiben, marschierte ich mit den Knirpsen auf die Demo, und die Zwerge standen wacker ihren Mann und schmetterten den Nachwuchs-Nazis entgegen: »Ohne Hitler habt ihr keine Chance, ohne Hitler habt ihr keine Chance!«

Klang prima aus den Mündern von Achtjährigen. Schade, dass es damals keine Parolenjury gegeben hatte.

Ich verstaute den ausgeschnittenen Zeitungsartikel in der Küchenschublade und sah auf die Uhr. Halb fünf. Mathe-Manni wartete.

»Lukas.«

Ich fuhr herum. Paul stand in der Tür, mit verstrubbelten Haaren, und rieb sich die Augen. »Lukas, ich hab Hunger.«

Automatisch kratzte ich mich. »Es ist noch Pizza von gestern da.«

»Ich will aber ein Nutella-Brot.«

»Hör mal, Paul, ich muss gleich noch mal weg, arbeiten. Am liebsten wäre es mir, wenn du hier bleibst. Ich bin in einer Stunde zurück.«

»Erst essen.«

»Du kannst ...«

»Und dann Zähne putzen.«

»Paul. Schau doch mal ...«

Es rumpelte im Treppenhaus. »Lukas, wo steckst du?« Stevie. Endlich.

»In der Küche.«

Stevie kam ins Zimmer, schwer bepackt mit Plastiktüten. Er strahlte uns an. »Hi, Lukas, Lieblingsapostel. Ja, wen haben wir denn da?«

»Das ist mein kleiner Cousin Paul, und Paul, hier haben wir meinen Vermieter und Arbeitgeber, Herrn Borchert. Pfarrer Stefan Frank, der Pastor, dem die Frauen vertrauen.«

»Hast du mir ja nie von erzählt. Ich dachte, deine ganze Familie ist tot oder verschollen. Hi, ich bin Stevie«, er reichte Paul die Hand, »das ist vielleicht ein Schnuckelchen.«

»Stevie, bitte.« Ich bedeutete ihm, ruhig zu sein.

»Schnuckelchen, Schnuckelchen«, äffte Paul ihn nach.

»Habt ihr was getrunken?«

»Schnuckelchen, hihi, er hat Schnuckelchen gesagt.« Er rannte zurück ins Schlafzimmer und warf sich lachend aufs Bett. »Schnuckelmuckelwuckelchen!«

»Paul, komm her. Ich muss los.«

»Fang mich doch. Fang mich doch!«

»Hat der sie noch alle?«, fragte Stevie leise.

»Eher nicht. Stevie, ich erzähl dir das später. Ich muss zu Müllers. Nachhilfe. Kann ich den Wagen haben? Und hast du bitte ein Auge auf ihn.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Lass den Scheiß, bitte. Ich weiß auch nicht, was hier los ist. Er ist auf jeden Fall ziemlich krank. Verflucht.«

»Was kratzt du dich denn dauernd?«

»Stevie ... Das überfordert mich alles. Ich ... Er ist heute Mittag gekommen und ... und ...«

»Hey«, Stevie guckte mich an, »komm mal runter.«

Paul brüllte aus dem Schlafzimmer: »Ich will jetzt ein Nutella-Brot. Nie krieg ich Nutella. Nie, nie!« Er begann zu weinen. Dann schrie er wieder. »Am! Dam! Des!«

Stevie stellte die Tüten ab. »Au weia. Ein Schäfchen in Not. Bin gleich zurück.«

Paul schluchzte nebenan hemmungslos Kinderverse in die Kissen. »Am. Dam. Des. Am. Dam. Des.« Ohne jede Melodie. Er presste jedes Wort in stumpfem Stakkato einzeln hervor. »Wieso? Weshalb? Warum? Wer nicht fragt. Wer nicht fragt.«

Ich ging zu ihm und setzte mich auf die Bettkante. »Willst du ein Taschentuch?«

Wie hilflos diese Geste war, und zugleich doch so groß ... Wann hatte ich das letzte Mal bei jemandem am Bett gewacht? Wann hatte zuletzt jemand bei mir gesessen? Und wer? Tante Erika wahrscheinlich. Meine Eltern? Ich erinnerte mich nicht.

»Hier. Schnäuz dich mal.«

Der Rotz lief ihm aus der Nase. Mechanisch nickte er mit dem Kopf.

»Wer nicht fragt. Wer nicht fragt.« Seine Augen waren dabei weit aufgerissen und schoben die Stirn in Falten. Und er sah so alt aus. Aus der Spur geworfen und steinalt. Als hätte er abgeschlossen mit sich und der Welt. Ein alter Mann, der fassungslos auf die Scherben seines Lebens blickt und sie einfach nicht mehr zusammengefügt kriegt.

»Am. Dam.« Er griff nach dem Taschentuch. »Des.«

Ich bin nicht verantwortlich, dachte ich, ich bin dafür nicht zuständig.

»Lukas?«

»Ja.«

»Du gehst nicht mehr weg, versprochen?«

»Hm.« Ich nickte langsam.

»Nicht mehr weg«, wiederholte Paul manisch. »Nicht mehr weg. Nicht mehr weg.«

Ich glaube, das war der Moment, an dem ich erkannte, dass mir Paul Angst machte. Eine Angst, die ich nicht kannte.

»Noch jemand Hunger? Werden noch Schoko-Brote gewünscht?« Stevie steckte seinen Kopf ins Zimmer. »Voilà. Bitte sehr, bitte gleich.« Er zauberte ein Tablett hervor. »Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert. Wenn mir die Herren in die Küche folgen wollen.«

Paul jauchzte. »Au ja. Nutella.« Das Senile, das bis vor wenigen Sekunden an jeder Faser seines Körpers sichtbar gewesen war, war verschwunden. Er sprang auf und lief in die Küche.

»Nutella hatte ich leider keine. Dafür aber das hier.« Stevie zeigte auf das Tablett, das jetzt auf dem Tisch lag. Neben zwei Flaschen Wasser, einer Kaffeekanne, einer Schüssel mit Teig und einem Päckchen Zucker befanden sich dort drei große Scheiben Brot, die jeweils mit einer ganzen Tafel Vollmilchschokolade belegt waren.

»Die eiserne Ration«, lachte Stevie.

Paul strahlte. Große, glückliche Kinderaugen, die eben noch alt und leer gewesen waren.

»Ich, ich ...«, stammelte er, »Lukas, ich ... habe keine Zahnbürste mit, man muss doch ... putzen.«

»Das werden wir hinkriegen«, sagte Stevie, »jetzt greif erst mal zu.«

Paul nahm eins der Brote, betrachtete es ehrfürchtig und biss dann genüsslich ab. Beim Kauen schloss er die Augen.

»Du auch?«, fragte Stevie.

»Danke, nein.« Ich hatte keinen Hunger.

»Ich eigentlich auch nicht, aber egal, geben wir uns den Süß-Flash eben mal vor dem Rausch.« Er deutete auf die Schüssel. »Tatatata! Das werden leckerschmecker Haschkekse à la Création du Chef.«

»Sag, dass das nicht wahr ist«, entfuhr es mir.

»Heute Abend kommt Karl vorbei«, sagte Stevie und verdrehte die Augen, »wär doch gelacht, wenn meine traditionellen Haselnuss-Gras-Makronen die alte Klemmschwester nicht enthemmen könnten.«

Ich musste lachen.

»Er bringt übrigens Sophie mit.«

»Sophie? Ich dachte, die ist in Berlin.«

»Ist sie auch. Aber heute ist sie hier. Heute«, er warf einen kurzen Blick auf Paul, »heute ist Besuchstag.«

Sophie war in der Stadt. Mir wurde heiß. Sophie ...

»Und noch eine Überraschung hab ich für dich. Mathe-Manni muss ohne dich rechnen. Ich hab abgesagt.«

»Darf ich noch ein Brot?«, fragte Paul.

»Klar. Hau weg die Kalorien«, sagte Stevie, »und dann wird gebacken.«

»Jippieh!« Paul quiekte wieder. »Backen. Kann ich helfen?«

»Na sicher kannst du. Wenn sich dein Cousin hierfür freundlicherweise in die Sakristei bewegen würde, um ein paar Oblaten zu holen.«

»Bitte?«

»Ja, hast du schon mal Makronen ohne Oblatenboden gegessen?«

»Du willst den Kiffteig ... auf Hostien?«

»Heiliger Boden, Highlander.« Stevie grinste. »Du mit deiner katholischen Prägung. Merk dir endlich, dass du bei Evangelens arbeitest, da gibt’s keine geweihten Oblaten. Abmarsch!«

»Du spinnst.«

»Backe, backe, fangen wir jetzt endlich mit dem Backen an?« Paul rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Sein Mund war schokoladenverschmiert. Er gluckste vor Freude.

»Und?«, fragte Stevie.

»Ich gehe ja schon.«

Auf dem Weg in die Sakristei fasste ich mir an den Oberarm. Das Ekzem war da, aber es juckte nicht mehr. »Heute kommt Sophie, mein Freund«, schien der Ausschlag zu sagen, »für heute lasse ich dich in Ruhe, aber morgen wird was unternommen, klar?«

Klar. Ich unternehme was. Was, würde sich zeigen. Ich musste es ja wissen.