Liao Yiwu
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Chinas Gesellschaft von unten
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder
Fischer e-books
Mit einem Vorwort von Philip Gourevitch, einer Einführung von Wen Huang und einem Nachwort von Detlev Claussen
Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind von Eltern »ohne dauerhafte Aufenthaltserlaubnis« in der großen Hungersnot der 60er Jahre auf. 1989 verfasste er das Gedicht ›Massaker‹, das in Windeseile Verbreitung fand, auch über die Grenzen Chinas hinaus. Hierfür wurde er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien auf Deutsch sein von Kritik und Publikum euphorisch begrüßtes Buch ›Fräulein Hallo und der Bauerkaiser – Chinas Gesellschaft von unten‹, das Menschen vom Bodensatz der chinesischen Gesellschaft porträtiert und in China verboten ist. 2011, als ›Für ein Lied und hundert Lieder‹ in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seitdem lebt er in Berlin. Im November 2011 wurde ihm der Geschwister-Scholl-Preis verliehen, im Oktober 2012 erhält er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Panos Pictures / VISUM
© 2002 by Liao Yiwu
Für die Einleitung von Wen Huang: © 2008 by Wen Huang
Für die Vorwort von Philip Gourevitch: © 2008 by Philip Gourevitch
This translation published by arrangement with Pantheon Books, a division of Random House, Inc.
Für die deutsche Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
Die Rechte für das Nachwort von Detlev Claussen liegen beim Autor.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401079-3
Während der Kulturrevolution wurden Rote Garden aufs Land geschickt zur Bekämpfung der Vier Alten Übel: alte Ideen, alte Kultur, alte Bräuche, alte Gewohnheiten.
Die Kulturrevolution war eine von Mao Zedong ausgelöste Kampagne zwischen 1966 und 1976. Mit ihr entmachtete er die Fraktion von Liu Shaoqi und Deng Xiaoping, die für eine Öffnung des Landes und eine liberalere Wirtschaftspolitik stand. Kennzeichnend für die Kulturrevolution war der Sturm auf die Hauptquartiere der Partei und die Mobilisierung vor allem der Jugend, die Schulen und Universitäten verließ, um als Rote Garden dem Ruf Maos zu folgen und den Klassenkampf gegen den inneren Feind nicht zuletzt auch in die ländlichen Gebiete zu tragen. Der dreijährige Höhepunkt der Kulturrevolution von 1966 bis 1969 war gekennzeichnet durch weitgehend wahllose Verfolgung, Misshandlung und Ermordung scheinbarer innerer Feinde.
Als »befreite Gebiete« wurden die von Anfang 1945 bis Ende 1948 von den kommunistischen Truppen eroberten Gebiete vor allem in Mittel- und Nordchina bezeichnet.
1959–1962, auch als »drei Jahre der Naturkatastrophen« bezeichnet, in denen China eine durch Naturkatastrophen, aber vor allem durch die verfehlte Wirtschaftspolitik des Großen Sprungs nach Vorne ausgelöste Hungersnot von nie dagewesenem Ausmaß erlebte. Schätzungen sprechen von 30–40 Millionen Toten.
Wegen der Bevorzugung von männlichem Nachwuchs.
Zehn Yuan sind heute etwa 1 Euro.
Ein Jiao sind ein Zehntel Yuan, also etwa ein Cent.
Lei Feng, ein junger Soldat, dessen Selbstaufopferung für Staat und Partei zur Zeit des Großen Sprungs Ende der fünziger Jahre als Vorbild für die Jugend aufgebaut wurde.
Liu Shaoqi (1889 –1967), 1959 bis zu seiner Verhaftung 1965 Präsident der VR China. Aufgrund des Desasters, das der Große Sprung für die chinesische Wirtschaft und Gesellschaft darstellte, wurde er 1959 Maos Nachfolger als Staatspräsident, dessen Politik er offen kritisierte. Nicht zuletzt, um Liu und seine Fraktion zu bekämpfen, löste Mao 1966 die Kulturrevolution aus, in deren Verlauf Liu verhaftet wurde. Er starb 1967 in der Haft und wurde 1980 rehabilitiert.
Nach maoistischer Sicht sind die Produktionsbeziehungen im Sozialismus von einem Zwei-Linien-Kampf zwischen der maoistisch-leninistischen Linie und der Linie rechter Revisionisten geprägt – zu denen u.a. auch Liu Shaoqi gezählt wurde.
Während der Kulturrevolution gab Mao Zedong die berühmten 57 Anweisungen an die arbeitende Bevölkerung seines Landes heraus, denen zufolge jeder Bereich auch von den anderen Arbeitsbereichen lernen und in seinen klassenkämpferischen Bemühungen nicht nachlassen sollte.
Shi Zhuanxiang (1915–1975), ein Klärmann für die privaten Haushalte, der 1959 bei einer Versammlung der Helden der Arbeit in Peking vom Staatspräsidenten Liu Shaoqi mit den Worten empfangen wurde: »Du als Klärmann stehst im Dienst des Volkes, ich als Fährmann stehe im Dienst des Volkes, das ist nicht mehr als eine revolutionäre Arbeitsteilung.«
Die alten öffentlichen Toiletten in China kannten keine Toilettenschüsseln. Auch gab es keine Kabinen mit Trennwänden. Es waren Hockstellen gekennzeichnet, unter bzw. hinter denen sich einfach ein Loch oder eine Rinne befand.
Während der Kulturrevolution übliche Bezeichnung für alle Arten von politisch unliebsamen Bürgern.
Der Überlieferung zufolge soll der Erste Kaiser von China Bücher ihm unliebsamer Philosophenschulen verbrannt und einige hundert konfuzianische Gelehrte bei lebendigem Leib begraben haben. Letztes ist ein Überlieferungsfehler bzw. eine bewusste Übertreibung der konfuzianischen Nachwelt. Hinrichtungen allerdings gab es.
Hu Feng (1903–1985), Lyriker, Essayist und Kritiker wurde 1955 zum Konterrevolutionär erklärt und blieb bis 1980 in Haft. 1981 rehabilitiert.
Wang Guangmei (1921–2006), Ehefrau von Liu Shaoqi. Sie wird 1967 mit ihrem Mann verhaftet, kommt 1979 frei und wird danach eine Zeitlang Mitglied des Politbüros.
Die Bewegung der Vier Säuberungen, kurz die Vier Säuberungen begann bereits1962 und zog sich bis in das Jahr 1966. Zunächst nur auf die Volkskommunen gerichtet, wurde sie später erweitert zu den Vier Großen Säuberungen, der Säuberung von Politik, Wirtschaft, Organisation und Denken mit dem Ziel einer intensivierten, antirevisionistischen Erziehung zum Sozialismus.
Siehe die Geschichte Der Gelegenheitsarbeiter.
Bao Zheng (999–1062), war ein Richter zur Zeit der Song-Dynastie. Während seiner Dienstzeit erreichte er durch die Erleichterung der Abgaben große Popularität. Er leitete mehrere Prozesse gegen Staatsbeamte und verurteilte mehrere korrupte Adelige und Beamte zum Tode. Nach seinem Tode wurden ihm bei Rechtsstreitigkeiten Opfer gebracht, um ein positives Resultat zu erreichen. Berühmt geworden nicht zuletzt durch die von dem Sinologen Robert van Gulik verfassten Kriminalgeschichten des Richters Di, zu dem er die Vorlage geliefert hat.
Hier wird angespielt auf eine Pekingoper mit dem Titel »Bao Zheng entscheidet einen Fall im Traum«, in der der Richter im Traum zum Gerichtshof der Unterwelt hinabsteigt und mit der Hilfe von Geistern einen Mörder findet.
Das chinesische Totengedenkfest Anfang April.
Ein kleines Dorf in Ningxia, einem Autonomen Gebiet der Hui-Nationalität im Nordwesten der VR China.
Eine Biermarke.
Yu Yifa, ein beliebter DJ und Radiomoderator aus Hongkong, dessen Spitzname Fa Zi kantonesisch Faat Jai ausgesprochen wird und der auch in einigen Filmen und Fernsehproduktionen mitgespielt hat.
Wang Fei, beliebte Sängerin und Film- und Fernsehdarstellerin.
Zhang Huimei, englischer Name A-Mei, eine beliebte taiwanesische Sängerin.
Ende des zwanzigsten Jahrhunderts etwa 200 Euro/400 Mark, heute nur noch 100 Euro.
Zhou Runfa, populärer Film- und Fernsehschauspieler aus Hongkong.
Qiong Yao, in Sichuan geborene, jetzt in Taiwan lebende Autorin von historischen Romanen. Diese Romane sind besonders durch Fernsehadap-tionen bekannt geworden; die bekannteste ist »Prinzessin Perle«.
Yi Shu, bekannte Romanautorin aus Hongkong.
Fernsehjournalistin und Autorin der jüngeren Generation aus Kanton.
Xi Juan, mit bürgerlichem Namen Wu Zhenying, taiwanesische Autorin von romantischen Romanen, seit 1993 an die siebzig Titel.
Schriftsteller.
Eine Zitatzeile aus dem Gedicht »Nordberg« aus dem Xiaoya-Kapitel des Shijing. Wörtlich heißt es dort: »Unter dem Himmel ist alles Land des Königs.«
Lin Zexu (1785–1851), hoher Beamter der Qing-Dynastie, der 1838 als Sonderkommissar nach Kanton geschickt wurde, um den Kampf gegen den Opiumhandel der Engländer aufzunehmen. Seine Beschlagnahme und Vernichtung von 20000 Kisten Opium führte 1839 zum ersten Opiumkrieg, der 1842 mit einer vernichtenden Niederlage Chinas und dem demütigenden Vertrag von Nanking endete.
Die Richtigstellung der Namen ist ein wesentlicher Gedanke aus den »Gesprächen« des Konfuzius. Erst wenn Bezeichnung und Bezeichnetes, z.B. Ränge, Verantwortungen und Personen, so die Vorstellung, in richtiger, von der Tradition vorgezeichneter Weise übereinstimmen und in diesem Sinn richtiggestellt sind, wird in die Gesellschaft Harmonie einkehren.
Liang Shanbo und Zhu Yingtai ist eine der berühmtesten tragisch endenden Liebesromanzen Chinas, oft verglichen mit der Geschichte von Romeo und Julia.
Das Nanji shenshu ist eines der fünf großen astrologischen Wahrsagebücher, dessen Kompilation einem gewissen Zhang Guolao aus der Tang-Dynastie zugeschrieben wird.
Das Meihua yishu ist ein Wahrsage-System, das von Shao Yong (1011–1077) auf der Basis des Buchs der Wandlungen entwickelt wurde.
Tui bei tu , ein Prophezeiungsbuch aus dem 7. Jahrhundert, das mit den Werken des Nostradamus verglichen wird.
Tiangongshu , ein astronomisches Kapitel aus dem Shiji, der aus dem zweiten bis ersten vorchristlichen Jahrhundert stammenden ersten Gesamtgeschichte Chinas von Sima Qian.
Huangdi neijing , ein Klassiker der chinesischen Heilkunst, der in Teilen bis auf das erste Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zurückgeht.
Legendäre Figur aus der Zeit der Machtübernahme der Zhou-Dynastie, Ende des zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung. Als ehemaliger militärischer Berater des letzten, in der chinesischen Tradition als grausam dargestellten Shang-Herrschers verlässt er den Hof und beschäftigt sich mit Angeln, bis er im Alter von 80 Jahren von König Wen an den Zhou-Hof geholt wird, dem und dessen Nachfolger er hilft, die Shang zu stürzen.
Tao Yuanming (365 oder 372–427), berühmter chinesischer Dichter, vor allem bekannt durch sein Gedicht vom Pfirsichblütenquell, in dem ein Fischer durch eine Höhle zu einer anderen, idealen Welt findet.
Die Fünf Übel oder Fünf Gifte: Bestechung, Steuerhinterziehung, Betrug bei der Ausführung staatlicher Aufträge, Veruntreuung von Staatseigentum und Wirtschaftsspionage.
Sui-Dynastie (581–618).
Mu, chin. Flächenmaß, entspricht 1,15 Hektar.
Die sechs Wurzeln, buddhistischer Terminus für die Wurzeln der sechs Begierden in Nase, Mund, Ohren, Zunge, Körper und Geist.
Topfförmiges Schlaginstrument aus Metall in buddhistischen Tempeln.
Sehr volkstümliche buddhistische Göttin der Barmherzigkeit.
Nach momentanem Wechselkurs (2009) sind das etwa zwei Millionen Euro.
Amitofu, der Amitabha Buddha, der Buddha des unendlichen Lichts.
Der Qing-Kaiser Shen Zhu (1622–1723) wird oft nach seiner Regierungsdevise Kangxi als Kangxi-Kaiser bezeichnet.
Grasschrift ist eine besonders freie Form der Kalligraphie chinesischer Schriftzeichen, die auch für Chinesen selbst oft nur lesbar ist, wenn sie mit dem jeweiligen Künstler vertraut sind. Die Schriftzüge wirken wie Gras, daher der Name.
1372 unserer Zeitrechnung.
1403 unserer Zeitrechnung.
Zhang Zhixin (1930–1975), Dissidentin während der Kulturrevolution, berühmt für ihre Kritik am Personenkult um Mao und an der Ultralinken. Wurde 1975 hingerichtet.
Yu Luoke wurde während der Kulturrevolution hingerichtet, nachdem man sein Tagebuch mit heterodoxen Standpunkten gefunden hatte.
Nach der Kampagne »Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern« ab 1957 von Mao initiierte Kampagne gegen kritische Intellektuelle und bürgerliche Kreise.
Als Einzäunungsbewegung wird die Auflösung der Allmenderechte in der englischen Landwirtschaft bezeichnet, bei der vorher gemeinschaftlich genutztes Land von privater Seite zur intensiveren Nutzung eingezäunt wurde. Die Anfänge der Bewegung gehen in Europa zurück bis ins 12. Jahrhundert
Die fünf Übel waren: Bestechung, Steuerhinterziehung, Betrug bei Staatsaufträgen, Veruntreuung von Staatseigentum und Wirtschaftsspionage. Die Vier Bereinigungen bezogen sich auf die Klärung politischer, ökonomischer, organisatorischer und ideologischer Fragen.
1942/43 in Yan’an, eine erste Säuberungskampagne Maos, die das Vorbild abgab für alle weiteren Kampagnen dieser Art.
Gemeint waren Korruption, Verschwendung und Bürokratismus.
Unter Heimkehrerkorps verstand man bewaffnete Banden geflüchteter Grundbesitzer, die mit Unterstützung der Guomindang während des Bürgerkrieges zwischen GMD und Kommunisten in die Befreiten Gebiete zurückkehrten.
Lei Feng (1940–1962), Soldat der Volksbefreiungsarmee, der in den Mittelpunkt der Kampagne »Vom Genossen Lei Feng lernen« von 1963 gestellt wurde und vor allem für die Jugend ein Vorbild sein sollte für Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft.
Unter den Drei Roten Bannern wurde die Generallinie für den Aufbau des Sozialismus, des Großen Sprung nach vorn und die Volkskommunen verstanden.
Ding Ling (1904–1986), chinesische Schriftstellerin.
Wang Qingfeng war als Kämpfer der Volksbefreiungsarmee und Vorkämpfer für die Wiederaufforstung des Landes Ende der 50er Jahre in China ein Vorbild.
Die Rede ist hier von der Hundert Blumen-Bewegung von 1956/57, die der Kampagne gegen Rechts vorausging und in der Mao Zedong die Intellektuellen expressis verbis zur öffentlichen Kritik aufgerufen hatte, eine Falle, wie sich herausstellte.
Eine Geste, die in China als sehr viel heftiger und aggressiver empfunden wird, als bei uns. Es kann z.B. bei Verhandlungen durchaus vorkommen, dass eine westliche Delegation komplett ausgetauscht werden muss, wenn eins ihrer Mitglieder sich hat hinreißen lassen, bei seinen chinesischen Geschäftspartnern auf den Tisch zu hauen.
Edgar Snow (1905–1972) begleitete Mao und die Kommunisten auf dem legendären Langen Marsch und schrieb darüber ein ebenfalls zur Legende gewordenes Buch: Roter Stern über China. Die Hälfte seiner sterblichen Überreste sind heute am See ohne Namen auf dem Campus der Universität Peking beigesetzt.
Feng Zhongci meint vermutlich das Buch Red China Today: The Other Side of the River, New York 1962.
Peng Dehuai (1898–1974), chinesische Verteidigungsminister von 1954–1959, der wegen seiner Kritik an der verfehlten Wirtschaftspolitik des Großen Sprungs in Ungnade gefallen, verfolgt und eingesperrt wurde.
Gemeint ist Maos Großer Sprung und der Versuch, die Stahlproduktion Chinas auf den Stand Amerikas zu bringen.
Chinesischen Bauern wurde und wird ein festgesetzter Anteil ihrer Ernte zu Festpreisen verpflichtend abgekauft und auf die staatlichen Märkte gebracht. Das Problem dabei ist bis heute, dass die Festpreise weit unter dem Marktpreis liegen. Die Differenz wird seit den 50er Jahren vom Staat abgeschöpft, einer der wichtigsten Gründe für die heutige Kluft zwischen den boomenden Küstenstädten und den ländlichen Gebieten.
Am 30. Juni 1950 durch die Zentrale Volksregierung verkündet. Hauptziel ist die Abschaffung »feudaler Ausbeutung durch die Grundbesitzerklasse« und Übergabe des Landbesitzes an die Bauern.
Kang, ein im Norden von China üblicher Steinofen, der zum Heizen, zum Kochen, als Sitz- und Schlafbank genutzt werden konnte. Deshalb heißt es im Text auch, die Öfen seien »gemauert« worden.
Gemeint ist die Machtergreifung der Kommunistischen Partei 1949, die von ihr bis heute als »Befreiung« bezeichnet wird.
Hu Shi (1891–1962), chinesischer Philosoph, Philologe und Politiker, einer der Väter der 4.-Mai-Bewegung von 1919, die sich als literarische Revolution von der traditionellen Schriftsprache trennt und in verschiedenen literarischen Gesellschaften in den folgenden knapp zwei Jahrzehnten versucht, eine moderne, am Westen und Japan geschulte und in Umgangssprache geschriebene Literatur zu entwickeln. Während des Krieges gegen Japan ist Hu Shi Botschafter Chinas in den Vereinigten Staaten und danach bei der UN. Hu Shi gilt als einer der wichtigsten chinesischen Liberalen des zwanzigsten Jahrhunderts, was ihn in Gegensatz zu den chinesischen Kommunisten bringt. Er stirbt 1962 auf Taiwan.
Gao Gang (1905–1954), hoher Kader der Kommunistischen Partei, der wegen seiner prosowjetischen Linie nach dem Tod Stalins und der beginnenden Abwendung Maos von der Sowjetunion kritisiert wurde. Er stirbt 1954 an einer Überdosis Schlaftabletten.
Die Drei Volksprinzipien sind: Nationalismus, Demokratie und Volkswohl.
Jap. Folksänger, der sich in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts über die Ausgrenzung einer japanischen Minderheit (burakomin) ausgelassen hat.
Bo Yi und Shu Qi waren Brüder, die einzeln von zu Hause wegliefen, damit der jeweils andere das elterliche Erbe antreten konnte. Als König Wen von Zhou sich anschickte, die Herrschaft der Shang zu beenden, flohen die beiden in die Berge, wo sie verhungerten. Bo Yi ist auch bekannt als Musiker.
Eine Liebesgeschichte aus der Zeit des ersten chinesischen Kaisers von Aufopferung und Treue bis in den Tod.
Eine berühmte und von den Menschen in China bald parodierte Parole Deng Xiaopings. »Wang qian kan« kann im Chinesischen verstanden werden als »nach vorne schauen« oder »auf das Geld schauen«.
1950–1952.
Auf dem Land von 1963–1965 durchgeführte Kampagne zur Bereinigung der Politik, der Wirtschaft, der Organisation (= der Partei) und des Denkens. Mit der Fünf-Anti-Bewegung in den Städten zusammen bildete sie die Bewegung zur Erziehung zum Sozialismus.
Hao Ran (1932–2008), Revolutionsschriftsteller in der VR China.
Ke Fei (1930–), Revolutionsschriftsteller.
Juren, akademischer Titel der traditionellen staatlichen Prüfungen auf Provinzebene während der Ming- und Qing-Dynastien.
7.-Mai-Kaderschulen wurden in China während der Kulturrevolution errichtet, wo Kader auf die »Massenlinie« eingeschworen werden sollten, die sich nach dem Slogan ausrichtete: »Aus dem Volk, durch das Volk, für das Volk«. Durch harte körperliche Arbeit sollten die Kader ihre Entfremdung vom Leben der Massen überwinden und mit ihnen eins werden.
Während der Kulturrevolution aufgekommene Loyalitätsbezeugung für Mao. Die Tänzer trugen Armeeuniformen und hielten die Mao-Bibel in den hoch erhobenen Händen. Der Tanz bestand aus angedeuteten Verbeugungen vor dem Großen Vorsitzenden und dem Schütteln der Faust zum Zeichen der revolutionären Begeisterung.
Tao Zhu (1908–1969), Politbüromitglied und hochrangiger Funktionär. Während der Kulturrevolution angegriffen und entmachtet, stirbt er 1969 im Hausarrest. Berühmt für seine Integrität.
»Lebewohl, meine Konkubine« ist der Titel einer berühmten Pekingoper und eines gleichnamigen Films von Chen Kaige.
Private Grundschulen in armen Regionen Chinas, die von Organisationen aus Taiwan und Hongkong gegründet wurden.
»Das Herz eines Mädchens« von Dai Mi, während der Kulturrevolution in handgeschriebenen Kopien im ganzen Land auch unter dem Titel »Die Erinnerungen Man’nas« im Umlauf, ein Buch, in dem es direkte Beschreibungen von Sexualität und Körperlichkeit gab.
In der Stalin-Ära im Stil des sozialistischen Realismus geschriebener Roman des Sowjetschriftstellers Nikolai Ostrovsky (1904–1936).
Zhao Ziyang (1919–2005), 1980–1987 chinesischer Premierminister, 1987–1989 Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Unterstützer der chinesischen Reformpolitik, der sich vergeblich um einen Ausgleich zwischen der Führung und den Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Frühjahr 1989 bemühte.
Li Peng (1928–), 1987–1998 Premierminister, unterstützt im Frühjahr 1989 die Entscheidung Deng Xiaopings, die Demonstrationen gewaltsam niederzuschlagen.
Mauer der Demokratie, eine Wandzeitung, die Ende der 70er Jahre die chinesische Regierung kritisierte und mehr Demokratie forderte. Wei Jingsheng wurde als Führer der Dissidenten 1979 zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt.
Ein 1960 von Luo Guangbin und Yang Yiyan veröffentlichter Roman über den Befreiungskampf der Kommunistischen Partei gegen die Guomindang-Truppen um die Großstadt Chongqing.
Damals Ministerpräsident von Taiwan.
Liu Xiaobo (1955–), Kulturkritiker und Menschenrechtsaktivist, seit 2008 in Haft.
Verheiratete Frauen behalten in China ihren eigenen Namen bei.
Auf dem Babaoshan-Friedhof von Peking haben viele Märtyrer und Helden der Revolution ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Aung San Suu Kyi, Menschenrechtlerin aus Birma, die sich seit Ende der 80er Jahre gewaltlos für eine Demokratisierung ihres Heimatlandes einsetzt. Von den Militärmachthabern seit Jahrzehnten unter Hausarrest gestellt, erhielt sie 1991 den Friedensnobelpreis.
Neben Wahrhaftigkeit zwei der drei wesentlichen Begriffe des Falun Gong.
Dongtaiwang, etwa »Dynamisches Netz«, eine spezielle Software, die es seit 2002 erlaubt, geschlossene Internetverbindungen und Portale zu öffnen.
Originaltitel des Films: »Kimi yo fundo no kawa o watare«, engl. Titel: »Across the River of Wrath«, Regie: Junya Sato, Japan 1973.
Sechstes Jahr der Regierungsdevise Tongzhi meint das Jahr 1868.
Bei den »Helden, die Geier schießen« handelt es sich um einen der beliebten Kampfsport-Romane des Autors Jin Yongs (1926–).
Im tradtionellen China wurden (Gedenk-)Stelen oft auf dem Rücken steinerner Schildkröten errichtet.
Heute etwa 20000 Euro, zum Zeitpunkt des Interviews etwas mehr.
Wang Jian (847–918), chin. Kaiser.
A Bing (1893–1950), beliebter Volksmusiker.
Hou Baolin (1917–1993), belieber Volkskomiker.
Sehr bekannter und häufig verfilmter Roman aus der Ming-Dynastie.
Oper von Kong Shangren (1648–1718), in der es um eine Liebesgeschichte zwischen einer Prostituierten und einem Schriftsteller geht, in deren Mittelpunkt ein Geschenk an das Mädchen steht: ein Fächer.
Chen Xitong (1930–), ehemaliges Politbüromitglied und Bürgermeister von Peking, als Nachfolger Deng Xiaopings gehandelt, wird er 1997 wegen Korruption verurteilt.
Eine lange Bambusflöte, die beim Spielen senkrecht vor den Körper gehalten wird.
Luo Dayou oder Lo Ta-yu, geboren 1954, ist ein bekannter und in den achtziger Jahren, auch in der Musikszene der VR China, einflussreicher taiwanesischer Sänger und Liedschreiber.
»Queyue«, der Name des Straßenkünstlers, ist eigentlich ein Verb, das »Freudensprünge machen, vor Freude springen« bedeutet.
Wu Song ist ein Held aus der Geschichte »Die Räuber vom Liang-Schan-Moor«, der mit bloßen Händen einen Tiger erschlagen haben soll.
Die von der chinesischen Regierung sanktionierte, »patriotische« christliche Organisation in der VR China.
Dieses Lied sang der Musiker Hou Dejian 1989 während der Studentendemonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Es wurde dort zur Hymne der kritischen Jugend.
Dieser Satz stammt aus einem Artikel Mao Zedongs »Lernen und politische Lage« von 1944. Damit sollten die Genossen der Kommunistischen Partei ermutigt werden, den Ballast alter Fehler abzuwerfen und sich aktiv der Revolution zu widmen.
Lebte 1893–1981, Frau des berühmten chinesischen Demokraten und kurzzeitigen ersten Präsidenten der chinesischen Republik, Sun Yatsen (Sun Zhongshan), und eine der drei sogenannten Song-Schwestern, Töchter eines wohlhabenden chinesischen Geschäftsmannes und Missionars, die alle mit bedeutenden chinesischen Politikern des 20. Jahrhunderts verheiraten waren.
Lebte 1878–1972, Malerin, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Japan ging und sich dort der revolutionären Gruppe um Sun Yatsen anschloss, welche das Ziel verfolgte, die Qing-Dynastie, die letzte chinesische Kaiser-Dynastie, zu stürzen. Neben der Malerei engagierte sie sich auch nach 1911 weiter in der demokratischen Bewegung Chinas.
Grenzfluss zwischen der VR China und Nordkorea.
Song Dandan (geb. 1961), beliebte Komikerin.
Yi-Nationalität, eine nationale Minderheit in Yunnan, Sichuan und Guizhou.
Wala, Kopfbedeckung der Yi: grobe Schafwolle wird in Streifen von sieben bis acht Millimetern zusammengenäht, ein Wala besteht aus 13 solcher Streifen und wird um den Kopf gewickelt. Walas gibt es in Schwarz, Blau und Weiß.
Walter Benjamin, Der Erzähler, in : Gesammelte Schriften (GS), Bd. II, 2, Frankfurt a.M. 1977, S. 443.
Ebenda, S. 456.
Eine meisterhafte Darstellung von Lu Hsüns Schriftstellerei findet sich in einem der gelehrtesten Bücher eines Sinologen: Wolfgang Bauer, Das Antlitz Chinas. Die autobiographische Selbstdarstellung in der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis heute, München/Wien 1990. Das lesenswerte Kapitel heißt: »Lu Hsüns ›Tagebuch eines Verrückten‹ und der Kampf gegen Menschenfresser«, S. 595ff.
Victor Zaslavsky, In geschlossener Gesellschaft. Gleichgewicht und Widerspruch im sowjetischen Alltag, Berlin 1982.
William Hinton, Fanshen. Dokumentation über die Revolution in einem chinesischen Dorf, 2 Bände, Frankfurt a.M. 1972.
Herbert Marcuse, One Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, London 1964, S. 257. Zuerst in Walter Benjamins lange Zeit unbeachtetem Aufsatz »Goethes Wahlverwandtschaften« (entstanden 1921/22), in: Walter Benjamin, GS, Bd. II, 1 Frankfurt a.M. 1974, Bd. I,1, S. 201.
Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 573ff.
Jürgen Osterhammel, China und die Weltgesellschaft. Vom 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit, München1989.
Walter Benjamin, a.a.O., Bd. II, 2, S. 457.
a.a.O. Bd. II, 2, S. 464.
Ders., Erfahrung und Armut, in: GS, Bd. II, 1, S. 214.
Es gehört zum Aufregendsten, was ein Buch bieten kann: das Vernehmen einer neuen Stimme – und Liao Yiwu lässt uns gleich mehr als zwei Dutzend origineller Stimmen vernehmen, die auch wirklich etwas zu sagen haben. Liao ist unerschrockener Beobachter und unbeirrbarer Chronist zugleich, ein Vor-Ort-Reporter und kunstvoller Geschichtenerzähler, Historiker mündlicher Geschichte, begabter Schauspieler, Volkskundler und Satiriker. Vor allem aber ist er ein Mittler für ganze mit einem Maulkorb versehene Gruppen der chinesischen Gesellschaft, deren Existenz die Partei am liebsten leugnen würde: Strichmädchen, Outlaws und Straßenkünstler, öffentlich Abtrünnige und Behinderte, Leute, die, in doppeltem Sinn, mit menschlichem Abfall Geschäfte machen, Künstler und Schamanen, Gauner und selbst Kannibalen – und jeder von ihnen ist ehrlicher als all diese offiziellen Aufzeichnungen des chinesischen Lebens, die vom Staat herausgebracht werden im Namen des »Volkes«.
Liao selbst haben bitterste Erfahrungen zum Schriftsteller geformt: Als Kind wäre er fast verhungert, und sein Vater wurde als Feind des Volkes gebrandmarkt; er wurde ins Gefängnis geworfen für Gedichte, die die Wahrheit sagten über die Kommunistische Partei Chinas, er wurde im Gefängnis misshandelt, weil er sich weigerte, den Mund zu halten; und im Gefängnis entdeckte er, wie ungeheuer wertvoll es ist, Menschen zuzuhören, die die Behörden, wie ihn selbst auch, am liebsten für immer zum Schweigen gebracht hätten. So schreibt Liao wie ein Mensch, der den Verlust kennt und ihn nicht fürchtet. Es gibt nichts, was seine Aufmerksamkeit mehr erregt als das offizielle Verbot, von etwas Notiz zu nehmen, nichts, was ihn hellhöriger macht als das offizielle Taubstellen, nichts, was ihn mehr dazu bringt, uns die Augen zu öffnen, als die Blindheit, die uns die kommunistische Bürokratie auferlegen will.
Aber es ist nicht nur Trotz und es ist kaum politische Polemik, was die von ihm gesammelten Geschichten so lebendig werden lässt. Die Begegnungen Liaos mit seinen Protagonisten werden so eindringlich, weil er mit deren Menschlichkeit sympathisiert, so verquer sie auch zum Ausdruck kommen mag, und weil er in grundlegendster Weise Respekt zeigt für seine Personen: Er lässt sie für sich selbst sprechen.
Es ist keine Frage, Liao ist einer der originellsten und bemerkenswertesten Schriftsteller, die China zur Zeit hat. Besser gesagt, einer der originellsten und bemerkenswertesten Schriftsteller, die wir heute haben, kommt aus China. Ja, seine Sprache ist Chinesisch, sein Land und sein Volk sind sein Thema, und seine Geschichten sind Geschichten von intensiven Begegnungen auf dem Land. Aber selbst für jemanden, der nie in China gewesen ist und der von Liaos Arbeit nur durch Übersetzungen erfahren kann, haben diese Geschichten eine Unmittelbarkeit und Intimität, die über alle Grenzen und Kategorisierungen hinausgeht. Sie gehören zum großen Erbe der Weltliteratur.
Liao Yiwu ist einzigartig, aber man kann sicher sein, dass so unterschiedliche Autoren wie Mark Twain, Jack London, Nikolai Gogol, George Orwell, François Rabelais und Primo Levi in ihm einen Bruder im Geiste und in litteris anerkannt hätten. Er ist ein Direktor im menschlichen Zirkus, und seine Arbeit ist eine mächtige Mahnung: Nicht nur in die sichtbaren und lauten Wortführer der Macht, sondern auch in die Ausgegrenzten, Übersehenen und Ungehörten ist unsere Geschichte auf das Sprechendste eingeschrieben.
Philip Gourevitch
November 2007
Philip Gourevitch, geboren 1961 in Philadelphia, ist Redakteur der Zeitschrift »The Paris Review« und langjähriger Autor des »New Yorker«. Mit seinem Buch über den Völkermord in Ruanda erregte er 1998 großes Aufsehen und gewann zahlreiche Preise. Zuletzt veröffentlichte er »Die Geschichte von Abu Ghraib« (zus. mit Errol Morris).
Zur Einführung
Als die chinesische Regierung in der Nacht vom 3. Juni 1989 in Peking Panzer einrollen ließ und die Demokratie-Bewegung der Studenten brutal niederschlug, war Liao Yiwu zu Hause, im Südwesten der Provinz -Sichuan. Die Nachrichten erschütterten ihn in den Grundfesten. Über Nacht verfasste Liao ein langes Gedicht mit dem Titel »Massaker« und schilderte in drastischen Bildern die Ermordung unschuldiger Studenten und Bürger, und das so lebendig wie Picasso die Bombardierung von Guernica durch die Nazis.
Ohne Möglichkeit, sein Gedicht in China zu veröffentlichen, sprach Liao Yiwu den Text mit rituellen Gesängen und der heulenden Anrufung des Geistes der Toten auf Band. Die Aufnahme wurde durch Untergrundkanäle in ganz China verbreitet. In einem weiteren Gedicht aus der gleichen Zeit beschreibt er die Frustration, sich nicht wehren zu können:
Du bist geboren mit der Seele eines Attentäters,
Aber wenn es Zeit ist für die Tat,
Bist du verloren, tust nichts.
Du hast kein Schwert zu ziehen,
Dein Körper, die Schwertscheide, ist verrostet,
Deine Hände zittern,
Deine Knochen faulen,
Deine kurzsichtigen Augen taugen nicht für den Schuss.
Das Band mit dem Gedicht »Massaker« und der Film »Requiem«, den er anschließend mit Freunden drehte, riefen die chinesische Sicherheitspolizei auf den Plan. Als er im Februar 1990 einen Zug nach Peking bestieg, fiel sie über ihn her. Sechs seiner Freunde, Dichter und Schriftsteller, und seine schwangere Frau wurden wegen ihrer Beteiligung an seinem Filmprojekt zur gleichen Zeit verhaftet, als Rädelsführer bekam Liao vier Jahre Gefängnis.
Seither steht Liao auf der schwarzen Liste der Regierung. Die meisten seiner Werke sind in China noch immer verboten, wo er unter den wachsamen Augen des Amtes für Öffentliche Sicherheit als Straßenmusiker in einer kleinen Stadt im Südwesten der Provinz Yunnan lebt. In der Vergangenheit wurde er mehrere Male wegen »illegaler Interviews« und der Darstellung der dunklen Seiten der kommunistischen Gesellschaft in seinem dokumentarischen Buch »Interviews mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft« verhaftet. Die neunundzwanzig Geschichten, die in diesem Buch erscheinen, wurden aus dieser Sammlung wie aus neueren Texten von chinesischen Webseiten außerhalb Chinas ausgewählt und übersetzt.
Liao ist 1958 im Jahr des Hundes geboren. Es war auch das Jahr, in dem Mao Zedong den Großen Sprung nach vorn initiierte, eine Kampagne, die Chinas rückständige Agrarwirtschaft industrialisieren sollte. Die zwangsweise Kollektivierung der Landwirtschaft und die blinde Mobilisierung des Landes zur primitiven Produktion von Eisen und Stahl führte 1960 zu einer Hungersnot, die geschätzte 30 Millionen Menschen das Leben kostete.
Während der Hungersnot litt Liao unter einem Ödem und war dem Tode nah. In ihrer Verzweiflung schaffte seine Mutter ihn aufs Land, wo ein Doktor der Naturheilkunde »mich über einen Wok hielt, in dem ein Kräutersud kochte«. Wie durch ein Wunder machte dieses Dampfbad ihn gesund.
1966 wurde Liaos Familie tief traumatisiert, als sein Vater, ein Lehrer, während der Kulturrevolution als Konterrevolutionär gebrandmarkt wurde. Seine Eltern ließen sich scheiden, um ihre Kinder vor den Auswirkungen dieses Paria-Status des Vaters zu schützen. Das Leben ohne den Vater war hart. Unter seinen Kindheitserinnerungen ist eine, an die er sich noch heute lebhaft erinnert: »Ein Verwandter gab meiner Mutter einen offiziellen Bezugsschein für zwei Meter Stoff. Aber als meine Mutter ihn auf dem Schwarzmarkt verkaufte, um etwas für uns zu essen besorgen zu können, wurde sie von der Polizei gefasst und wurde mit anderen Kriminellen auf der Bühne des Sichuan-Opernhauses vorgeführt. Als einige meiner Mitschüler, die meine Mutter gesehen hatten, mir davon erzählten, war das für mich ein Desaster.«
Nach der höheren Schule reiste Liao durch das Land, arbeitete erst als Koch und dann als Lkw-Fahrer auf der Strecke zwischen Sichuan und Tibet. In seiner Freizeit las er westliche Dichter, die früher verboten gewesen waren, von Keats bis Baudelaire. Außerdem fing er an, eigene Gedichte zu schreiben und in Zeitschriften zu veröffentlichen.
In den achtziger Jahren wurde Liao zu einem der populärsten neuen Dichter Chinas mit regelmäßigen Beiträgen in einflussreichen Literaturzeitschriften und Untergrundpublikationen, in denen Gedichte im westlichen Stil erschienen, für die Regierung ein Zeichen »geistiger Verschmutzung«. Im Frühjahr 1989 nutzten zwei prominente Zeitschriften das zeitweilige politische Tauwetter und brachten Liaos Langgedichte »Die gelbe Stadt« und »Das Idol«. In diesen Gedichten kritisierte er in allegorischen Anspielungen, was er ein System nannte, das von einer kollektiven Leukämie gelähmt und aufgefressen werde. Er behauptete, das Erscheinen von Mao sei das Symptom dieser unheilbaren Krankheit gewesen. Aufgeschreckt durch diese unverhohlen antikommunistische Botschaft, veranstaltete die Polizei bei Liao eine Hausdurchsuchung und unterzog ihn mehreren gründlichen Untersuchungen, Befragungen und kurzzeitigen Inhaftierungen. Auch die Herausgeber der Zeitschriften wurden gemaßregelt; eine Zeitschrift wurde per Anordnung geschlossen.
Liaos Inhaftierung 1990 für seine Verurteilung der Niederschlagung der Demokratiebewegung durch die Regierung im Jahr zuvor war ein Schlüsselerlebnis in seinem Leben. Geächtet und deprimiert, rebellierte er während der vier Jahre seiner Einkerkerung gegen die Gefängnisregeln, was ihm nichts einbrachte als unverhältnismäßige Bestrafungen: mit Elektroknüppeln geschlagen, gefesselt und gezwungen, stundenlang in der heißen Sommersonne zu stehen. Einmal wurden ihm in Einzelhaft die Hände für dreiundzwanzig Tage hinter den Rücken gebunden, bis Abszesse seine Achselhöhlen bedeckten. Er erlitt mehrere Nervenzusammenbrüche und versuchte zwei Mal, sich das Leben zu nehmen. Unter den anderen Insassen war er bekannt als der »große Mondsüchtige«.
1994 wurde Liao auf internationalen Druck 50 Tage vor Ablauf seiner Strafe freigelassen (die chinesische Regierung behauptete, er sei für seine gute Führung belohnt worden). Er kehrte nach Hause zurück, wo er feststellte, dass seine Frau ihn verlassen und ihr gemeinsames Kind mitgenommen hatte. Seine städtische Wohnerlaubnis wurde aufgehoben, wodurch er keine Arbeit mehr bekam und aufs Land vertrieben wurde. Seine früheren literarischen Freunde mieden ihn – aus Angst. Das Einzige, was er besaß, war eine Flöte, die er im Gefängnis zu spielen gelernt hatte. Liao ging durch die lärmenden Straßen Chengdus, seiner Geburtsstadt, und begann von vorne, als Straßenmusiker.
Aber er gab seine literarische Arbeit nicht auf. 1998 stellte er einen Band mit dem Titel »Der Fall des heiligen Tempels« zusammen, eine Anthologie von Untergrundgedichten aus den siebziger Jahren, in der Texte von zahlreichen chinesischen Dissidenten enthalten waren oder erwähnt wurden. Einer der Vizepräsidenten Chinas ordnete persönlich eine Untersuchung des Buches an und bezeichnete es als einen »vorsätzlichen und von mächtigen antichinesischen Gruppierungen unterstützten Versuch, die Regierung zu stürzen«. Er wurde erneut verhaftet und dem Herausgeber ein einjähriges Publikationsverbot erteilt.
Als die chinesische Regierung ihre Nase immer tiefer in seine literarische Karriere steckte, ging es mit Liao weiter bergab, und er nahm Gelegenheitsjobs in Restaurants, Nachtclubs, Teehäusern und Buchhandlungen an. Aber sein Leben in diesen Kreisen erweiterte den Fokus seines Buchprojektes über sozial ausgegrenzte Menschen, mit denen er mittlerweile Freundschaft geschlossen hatte. Die Gespräche mit Mitinsassen im Gefängnis und mit den Menschen von der Straße ließen sein Buch »Gespräche mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft« entstehen. Unter den sechzig Interviews, die er für sein Buch zusammenstellte, sind Gespräche mit einem professionellen Trauermusiker, einem Menschenhändler, einem Mörder, einem Bettler, einem Wahrsager, einem Einbrecher, einem Dissidenten, einem Homosexuellen, einem Zuhälter, einem ehemaligen Grundbesitzer, einem Lehrer und einer Falun-Gong-Anhängerin. Wie der Autor selbst, wurden seine Protagonisten entweder während der verschiedenen politischen Säuberungen in der Mao-Zeit auf die unterste Stufe der Gesellschaft hinabgeschleudert, oder sie landeten dort als Resultat der tumultartigen Prozesse, in denen sich die chinesische Gesellschaft heute entwickelt.
Die Interviews sind literarisch und journalistisch zugleich – eher Rekonstruktionen der Treffen mit seinen Gesprächspartnern als reine Wiedergaben. Da die Gespräche eine spezielle Sensitivität und Geduld erforderten, verzichtete er manchmal auf gewöhnliche Hilfsmittel wie Kassettenrekoder oder Notizbuch. Ob im Gefängnis oder auf der Straße, Liao verbringt immer eine beträchtliche Zeit mit seinen Partnern und versucht, ihr Vertrauen zu gewinnen, bevor er mit einem Interview beginnt. Für ein Gespräch mochten drei, vier Treffen zu verschiedenen Gelegenheiten notwendig sein. Zum Beispiel interviewte er einen Bestattungsunternehmer sieben Mal und baute diese Gespräche zu einem einzigen zusammen.
2001 brachte der Yangzi-Verlag eine gereinigte und gekürzte Fassung seines Buches heraus, die sofort ein Bestseller wurde. Yu Jie, ein bekannter unabhängiger Literaturkritiker in Peking, bezeichnete das Buch als den »investigativen Bericht eines Soziologen, der als historische Bestandsaufnahme des zeitgenössischen China dienen kann«.
Ein anderer unabhängiger Kritiker, Ren Bumei, beobachtete in einem Interview mit dem Radio Freies Asien: »Alle Personen, die in dem Buch vorkommen, haben eines gemeinsam: Sie wurden ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung beraubt. Dieses Buch ist die lautstarke Verdammung dieser Beraubung und ein exzellentes Porträt dieser Gruppe von einzigartigen Persönlichkeiten.«
Liao war der Erste, der seit der Machtübernahme der Kommunisten 1949 das Wort diceng (Bodensatz, Unterschicht) in Bezug auf China gebrauchte. Dieser Begriff ist für Unterstützer von Maos kommunistischer Bewegung, die eine egalitäre Gesellschaft ohne Prostituierte, Bettler, Triadengangster und Drogenabhängige schaffen sollte, ein Schlag ins Gesicht. Wie zu erwarten, wurden auf Anordnung des Propagandaministeriums und der Chinesischen Nachrichten- und Verlagsverwaltung sämtliche Bücher Liaos aus den Regalen genommen, sein Verleger wurde bestraft und alle leitenden Angestellten des populären Wochenblattes »Südliches Wochenende«, die ein Interview mit Liao gemacht und sein Buch vorgestellt hatten, wurden gefeuert.
2002 traf Kang Zhengguo, ein Schriftsteller und Lektor an der Yale-Universität, Liao in China und schmuggelte das komplette Manuskript außer Landes. Mit Kangs Hilfe brachte das in Taiwan angesiedelte Rye-Field-Verlagshaus eine ungekürzte Fassung der »Gespräche mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft« in drei Bänden heraus. Im selben Jahr bekam Liao einen Literaturpreis vom Unabhängigen Chinesischen Pen-Zentrum und 2003 ein Hellman-Hammett-Stipendium, ein jährlich vergebener Preis von Human Rights Watch in Anerkennung von Schriftstellern, die angesichts politischer Verfolgung ungewöhlichen Mut bewiesen haben.
Ich selbst hörte zum ersten Mal von Liao im Juni 2001, als Radio Freies Asien mich anstellte, um ein Interview, das er der Station nicht lange nach dem Verbot seines Buches in China gegeben hatte, zu übersetzen. Das Interview weckte mein Interesse für den Autor. »Gespräche mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft« erinnerte mich an Studs Terkels Buch »Working« [deutscher Titel: Der amerikanische Traum. 44 Gespräche mit Amerikanern], in dem Terkel Interviews mit Amerikanern auf allen Ebenen der Gesellschaft sammelte, begonnen mit einer Bedienung und einer Telefonistin bis hin zu einem Baseballspieler und einem Musiker, die allesamt über ihre Jobs und ihr Leben in Amerika berichteten. »Working« wurde ins Chinesische übersetzt mit dem Titel »Amerikaner sprechen über ihr Leben in Amerika«. (Als College-Student las ich in China die englische und die chinesische Fassung als Textbuch für amerikanisches Englisch in der Umgangssprache). »Working« zeigte mir wie vielen anderen Chinesen, wie Amerika und das Leben der einfachen Amerikaner wirklich war, wovon ich zuvor nicht viel wusste. Ganz ähnlich, wie ich glaube, werden die wahren Lebensgeschichten in Liaos Buch das Gleiche bei westlichen Lesern erreichen und ihnen helfen, China aus dem Blickwinkel der einfachen Chinesen zu verstehen.
Seit 2002 unternahm ich über Freunde in China mehrere Versuche, einen Kontakt zu Liao herzustellen. Die Suche stellte sich als recht mühsam heraus, da er als dissidenter Schriftsteller ständig umziehen musste, um Schikanen durch die Polizei zu entgehen. Einmal musste er aus einem Fenster im dritten Stock springen und aus Chengdu fliehen, um einer Verhaftung wegen eines Interviews mit einem Mitglied einer kriminalisierten Religionsgruppe zu entgehen.
Eines Tages Anfang 2004 bekam ich eine E-Mail von einer Freundin, einer ehemaligen Gastdozentin an der Harvard-Universität. Sie kannte Liao recht gut und machte ihn ausfindig, als sie wieder in Peking war. Durch ihre E-Mail erfuhr ich, dass Liao meinem Vorschlag zugestimmt hatte, seine Arbeiten ins Englische zu übersetzen, und er hatte ihr auch seine Handynummer gegeben. Ich überprüfte die Vorwahl, sie war die einer Kleinstadt nahe der chinesischen Grenze zu Myanmar.
Ein zweistündiges Gespräch markierte den Beginn unserer Zusammenarbeit. Die nächsten beiden Jahre arbeiteten Liao und ich bei den Übersetzungen per E-Mail und Telefon zusammen. Manchmal sprachen wir in nur uns verständlichen Codes oder, wenn wir vermuteten, dass unsere Gespräche abgehört wurden, über gegenseitige Freunde.
Im Sommer 2005 erschienen drei Interviews aus Liaos Buch – der Trauermusiker, der Menschenhändler und der Klomann – zum ersten Mal in englischer Sprache in der ersten Nummer der Zeitschrift »The Paris Review« unter ihrem neuen Herausgeber Philip Gourevitch.
Nach dem erfolgreichen Debüt von »The Paris Review« suchten Liao und ich siebenundzwanzig Geschichten aus, die wir für repräsentativ hielten und die unserer Ansicht nach auch für westliche Leser von Interesse sein würden.
Mittlerweile bricht Liao trotz wiederholter Schikanen durch die Polizei weiter die Zensurgesetze der chinesischen Regierung, indem er seine Arbeiten in chinesischsprachigen Webseiten in Übersee veröffentlicht. Im Dezember 2007 ist Liao verhaftet und mehr als vier Stunden verhört worden, als er nach Peking reiste, um den Freedom-to-Write-Award des Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrums entgegenzunehmen. Man hat ihn nicht einschüchtern können. Mit der Hilfe eines chinesischen Anwalts verklagt er jetzt die chinesische Regierung wegen Verletzung seiner Menschenrechte: »Ich versuche, nach und nach die Furcht zu überwinden, die man mir eingepflanzt hat«, sagt er. »Indem ich das tue, versuche ich, meine Gesundheit und meine innere Freiheit zu wahren.«
Wen Huang
Januar 2008
Wen Huang ist Autor und Journalist. Seine Artikel und Übersetzungen sind u.a. im »Wall Street Journal Asia«, der »Chicago Tribune« und »The Paris Review« erschienen. Wen Huang ist Übersetzer der amerikanischen Ausgabe des vorliegenden Buchs von Liao Yiwu.
Am 2. September 1994 kehrte ich mit meiner Freundin Song Yu nach Jiangyou zurück, und auf unserem Abstecher in die berühmte Landschaft der Baotuan-Berge lernte ich den etwa 70 Jahre alten Li Changgeng kennen.
Li Changgeng stammte aus Henan, und obwohl er seine Heimat schon vor vielen Jahren verlassen hatte, hatte er sich doch noch immer den Zungenschlag der zentralchinesischen Tiefebene bewahrt. Er war von stabiler Gesundheit und einen halben Kopf größer als die Männer sonst in Sichuan, er sagte, es sei körperlich sehr anstrengend, die Suona, eine Art Schalmei, zu blasen.
Die goldenen Zeiten seines Berufes waren längst vorbei, aber mit einer gewissen Halsstarrigkeit und einem etwas schmerzlichen Sinn für Tradition gab Li Changgeng nicht auf.