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Dr. Christiane Schlüter, geb. 1961 in Göttingen, Studium der evangelischen Theologie in Göttingen und Genf, 1993 Promotion, 1992–1994 Tageszeitungsvolontariat, anschließend Zeitungs- und Zeitschriftenredakteurin in Goslar und Augsburg. Seit 2004 freiberuflich in Augsburg tätig. Veröffentlichung von rund 30 Sach- und Geschenkbüchern, vor allem in den Bereichen Religion, Philosophie und Psychologie. 2002–2003 zusätzliche seelsorgerliche Ausbildung, seit 2005 Psychodrama-Ausbildung.

Zum Buch

Die wichtigsten Psychologen im Porträt

In über 50 biografisch-werkgeschichtlichen Porträts zeichnet das Buch die Entwicklung der psychologischen und psychotherapeutischen Ansätze und Schulen im Kontext ihrer jeweiligen Zeit nach – von den Psychophysikern des 19. Jahrhunderts über die Tiefenpsychologie, die Lern- und Persönlichkeitstheorien bis hin zu den systemischen Ansätzen der Gegenwart. Den Porträts ist ein ausführlicher Abriss über die wichtigsten psychologischen Lehren von der Antike bis zum 19. Jahrhundert vorangestellt.

Christiane Schlüter
Die wichtigsten Psychologen im Porträt

Christiane Schlüter

Die wichtigsten
Psychologen im Porträt

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Lektorat: Adrian Urban, München

Covergestaltung: Thomas Jarzina, Köln

Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin

eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

www.marixverlag.de

INHALT

ZUR EINFÜHRUNG

I.

VON DER ANTIKE BIS ZUM 19. JAHRHUNDERT

II.

SINNESPHYSIOLOGIE – BEWUSSTSEINSPSYCHOLOGIE – GESTALTPSYCHOLOGIE

 

1 Das »romantische Land der Psychophysik«

 

Gustav Theodor Fechner

 

2 Ein materialistischer Eid

 

Hermann von Helmholtz

 

3 Das erste psychologische Labor

 

Wilhelm Wundt

 

4 Verstehen statt Erklären

 

Wilhelm Dilthey

 

5 Dem Gedächtnis auf der Spur

 

Hermann Ebbinghaus

 

6 Ganzheit und Gestalt

 

Max Wertheimer

III.

TIEFENPSYCHOLOGISCHE ANSÄTZE

 

7 Die Entdeckung des Unbewussten

 

Sigmund Freud

 

8 Interesse für das Ich

 

Alfred Adler

 

9 Märchen, Mythen, Archetypen

 

Carl Gustav Jung

 

10 Abschied von der Kindheitsidylle

 

Melanie Klein

 

11 Die »sanfte Rebellin der Psychoanalyse«

 

Karen Horney

 

12 Die Theorie vom »gehemmten Menschen«

 

Harald Schultz-Hencke

 

13 Mehr als nur Vaters Tochter

 

Anna Freud

 

14 Bioenergie und Charakterpanzer

 

Wilhelm Reich

 

15 Protest eines Humanisten

 

Erich Fromm

 

16 Unterwegs zur eigenen Identität

 

Erik H. Erikson

 

17 Der »Glanz im Auge der Mutter«

 

Heinz Kohut

 

18 Das Unbewusste als Sprache

 

Jacques Lacan

IV.

LERN- UND KOGNITIONSPSYCHOLOGISCHE ANSÄTZE

 

19 Die Hunde und der Glockenton

 

Iwan P. Pawlow

 

20 Das Gesetz von Versuch und Irrtum

 

Edward L. Thorndike

 

21 Behavioristische Utopie

 

John B. Watson

 

22 Kluge Ratten in der Box

 

Burrhus F. Skinner

 

23 Geist und Wirklichkeit

 

Jean Piaget

 

24 Lernen durch Bezugspersonen

 

Lew S. Wygotski

 

25 Eine angeborene Universalgrammatik

 

Avram Noam Chomsky

 

26 Die Kraft der Einsicht

 

Albert Ellis

 

27 Schluss mit negativen Gedanken

 

Aaron T. Beck

 

28 Alles nur Nachahmung

 

Albert Bandura

 

29 Hilflos aus Erfahrung

 

Martin E. P. Seligman

V.

HUMANISTISCHE UND RESSOURCENORIENTIERTE ANSÄTZE

 

30 Eine Bühne für die Seele

 

Jakob L. Moreno

 

31 An der Wiege der Humanistischen Psychologie

 

Charlotte Bühler

 

32 Offene und geschlossene Gestalten

 

Fritz Perls

 

33 Behandlung unter Hypnose

 

Milton H. Erickson

 

34 Psychotherapie als Gespräch

 

Carl R. Rogers

 

35 Heilung durch Sinnfindung

 

Viktor E. Frankl

 

36 Die Bedürfnispyramide

 

Abraham H. Maslow

 

37 Die »Spiele der Erwachsenen«

 

Eric Berne

 

38 Der Mensch, die Gruppe, das Thema

 

Ruth C. Cohn

VI.

SYSTEMISCHE ANSÄTZE

 

39 Die Familie als Patient

 

Virginia Satir

 

40 Mit der Kraft des Paradoxen

 

Mara Selvini Palazzoli

 

41 Kommunikation und Wirklichkeit

 

Paul Watzlawick

 

42 Von Aufträgen und Vermächtnissen

 

Helm Stierlin

 

43 Die unbewusste Komplizenschaft der Liebenden

 

Jürg Willi

VII.

PERSÖNLICHKEITS- UND INTELLIGENZFORSCHUNG

 

44 Die getestete Intelligenz

 

Alfred Binet

 

45 Auf der Suche nach dem Besonderen

 

William Stern

 

46 Sieben menschliche Fähigkeiten

 

Louis L. Thurstone

 

47 Die Einzigartigkeit des Individuums

 

Gordon Willard Allport

 

48 Klassifizierung der Wesenszüge

 

Raymond B. Cattell

 

49 Grundbausteine der Persönlichkeit

 

Hans J. Eysenck

VIII.

SOZIALPSYCHOLOGISCHE ANSÄTZE

 

50 Der Mensch im Lebensraum

 

Kurt Lewin

 

51 Von der »Unfähigkeit zu trauern«

 

Alexander und Margarete Mitscherlich

 

52 Sympathie und Solidarität

 

Horst E. Richter

 

53 Das Straf-Experiment

 

Stanley Milgram

 

54 Die Sprache des Gesichts

 

Paul Ekman

 

LITERATURVERZEICHNIS

ZUR EINFÜHRUNG

Am Anfang steht ein Widerspruch. »Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte«, stellte im Jahr 1908 der Gedächtnisforscher Hermann Ebbinghaus fest. Er hatte Recht. Seit Jahrtausenden beschäftigen sich die Menschen mit den Geheimnissen der Seele, weshalb die Wurzeln der Psychologie weit in die vorchristliche Zeit hinabreichen.

Als Wissenschaft im Sinne empirischer, das heißt methodisch überprüfbarer Forschung wird die Psychologie jedoch erst seit dem 19. Jahrhundert betrieben. Seit der Zeit also, da sich die Naturwissenschaften zu emanzipieren begannen und ihrerseits die Deutungshoheit über Mensch und Welt beanspruchten. Was vorher in die Zuständigkeit von Dichtern und Philosophen gefallen war, wurde nun zum Arbeitsfeld für Biologen, Physiker, Chemiker und Mediziner. Die noch junge Wissenschaft der Psychologie verstand sich selbst überwiegend als naturwissenschaftlicher Forschungszweig der Philosophie. An den Universitäten blieb sie auch lange, trotz ihrer experimentellen Arbeitsweise, ein Teil der philosophischen Fakultäten. Doch bestand daneben eine zweite, geisteswissenschaftlich orientierte Psychologie fort. Sie arbeitete mit dem Verstehen statt mit dem naturwissenschaftlichen Experiment.

Der doppelte methodische Ansatz prägt die Psychologie bis heute. Er rührt daher, dass ihre eigenständige Entwicklung just in der Epoche begann, in der sich Geistes- und Naturwissenschaften voneinander trennten. Innerhalb der Psychologie kam es dabei zu interessanten Überkreuzungen. Zum Beispiel befassten sich gerade die Neurologen und Psychiater als Erste mit der unempirischsten aller psychologischen Richtungen, mit der Psychoanalyse nämlich. Was daran lag, dass deren Begründer Sigmund Freud selber Arzt war.

Während sich also die Psychoanalyse entfaltete, erforschten andere die Wahrnehmung und das Verhalten, das menschliche Lernen, die Intelligenz, die Kommunikation und vieles mehr. In der praktischen Anwendung fanden die verschiedenen Themen dann nicht selten wieder zusammen und setzten auf diese Weise neue Forschungen in Gang. So erscheint die Psychologie wie ein dickes Tau aus vielen verschiedenen Strängen. Je länger dieses Tau wird, desto mehr öffnen sich die Stränge füreinander und bilden neue Verflechtungen.

Das vorliegende Buch versammelt nicht nur die therapeutischen Richtungen, auf welche die Psychologie im allgemeinen Verständnis gern reduziert wird. Es stellt auch andere psychologische Ansätze vor, um ein vielfältiges Bild dieser Wissenschaft zu geben. In der Darstellung folgt es dem zeitlichen Verlauf und ordnet zugleich die Porträtierten einem Hauptthema ihrer Arbeit zu. Daraus ergibt sich die Unterteilung in acht große Abschnitte:

Der erste Abschnitt setzt am unteren Ende des beschriebenen Taus an, dort, wo die Psyche erstmals als wissenschaftlicher Begriff auftritt. Von da bis zum 19. Jahrhundert markiere ich kurz ein paar Daten an diesem Tau und stelle einige bedeutende Menschen aus der langen Vergangenheit der Psychologie vor.

Im zweiten Abschnitt geht es um die naturwissenschaftliche Sicht auf die Leistung der Sinnesorgane, aber auch um die Erforschung des Bewusstseins und der Wahrnehmung.

Der dritte Abschnitt handelt von der Tiefenpsychologie, die, beginnend mit der Psychoanalyse, einen völlig anderen Blick auf die Seele wirft.

Im Mittelpunkt des vierten Abschnitts steht das menschliche Lernen und Verhalten. Manche Wissenschaftler erklären alles Verhalten als automatische Reaktionen auf Sinnesreize. Andere betrachten den Geist des Menschen und untersuchen, wie er im Wechselspiel mit der Außenwelt seine eigenen Vorstellungen von der Realität bildet.

Der fünfte Abschnitt stellt therapeutische Ansätze vor, die weniger die Störungen der Psyche betrachten als vielmehr ihre Entwicklungsmöglichkeiten. Die Vertreter dieser ressourcenorientierten Herangehensweise verstehen sich als Humanisten, das heißt: Sie betonen besonders die Würde und Entscheidungsfreiheit des Menschen.

Im sechsten Abschnitt kommt das Beziehungsgeflecht des Patienten in den Blick, denn man hat erkannt: Nicht der Einzelne allein ist behandlungsbedürftig, sondern das zwischenmenschliche System, zu dem er gehört. Diese Ansätze, die sich zunächst auf die Familientherapie beziehen, werden heute allgemein als systemisch bezeichnet.

Der siebte Abschnitt stellt Wissenschaftler vor, die Bedeutendes für die Erforschung der menschlichen Eigenschaften und der Intelligenz geleistet haben.

Im achten Abschnitt geht es um den Menschen als soziales Wesen, als Mitglied einer Gruppe, der Gesellschaft, des Staates. Hier zeigt sich noch einmal besonders deutlich, wie vielfältig die Psychologie in ihrer Anwendung ist.

I.

VON DER ANTIKE BIS ZUM 19. JAHRHUNDERT

 

UM 400 V. CHR.

Der griechische Philosoph Platon (427–347 v. Chr.) gliedert die Psyche in einen unsterblichen Anteil, der als Denken im Kopf angesiedelt ist und das ewige Gute schaut, und in zwei sterbliche Anteile: das Begehren im Unterleib und die Zielstrebigkeit in der Brust. Der Gedanke einer unsterblichen, von Gott stammenden Seele prägt später die gesamte abendländische Kultur.

UM 330 V. CHR.

In seiner Schrift »Über die Seele« führt Aristoteles (384–324 v. Chr.) als Erster den Begriff der Psyche in ein wissenschaftliches System ein. Der Grieche bindet in seiner Beschreibung des Menschen den Körper und die Seele enger zusammen als sein Lehrer Platon. Doch letztlich unterscheidet auch Aristoteles zwischen einem vegetativen, sterblichen Aspekt der Seele und einem unsterblichen, geistigen Aspekt.

397 N. CHR.

In seiner autobiografischen Schrift »Bekenntnisse« beschreibt der nordafrikanische Kirchenvater Augustinus (354–430 n. Chr.) seine Bekehrung und seine innere Erfahrung. Damit begründet er eine psychologische Methode, die später sehr wichtig wird: die Selbstbeobachtung, die Schau nach innen (Introspektion).

11.–13. JH.

Die mittelalterlichen Scholastiker, unter ihnen der Italiener Thomas von Aquin (1224/25–1274), übernehmen die Zweiteilung (Dualismus) der Griechen. Sie begreifen die Seele als immaterielle, unsterbliche Substanz, die unmittelbar von Gott gegeben ist und den Körper mit dem Tod verlässt.

UM 1520

In einer Schrift des dalmatinischen Humanisten Marko Maurulic (1450–1524) ist erstmals der Begriff der Psychologie (Seelenkunde) nachzuweisen. Er wird sich jedoch erst im 19. Jahrhundert völlig durchsetzen.

16. JH.

Der deutsche Reformator und Humanist Philipp Melanchthon (1497–1560) fasst die Seelenlehre der Antike und des zeitgenössischen Humanismus zusammen.

1644

In seinen »Prinzipien der Philosophie« setzt der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) die Seele gänzlich mit der Denk- und Erkenntnisfähigkeit (cogitatio) des Menschen gleich. Als Einzige lebendig, steht diese denkende Substanz (res cogitans) der toten, ausgedehnten Materie (res extensa) gegenüber. Zu der gehören nicht nur die Tiere, sondern auch der menschliche Körper – beide sind für Descartes lediglich Automaten. Den Wirkungsort der Seele vermutet Descartes in der Zirbeldrüse, die er als Verbindungsstück zwischen Leib und Seele ansieht.

1714

Der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) begreift in seiner »Monadologie« die Welt als Beziehungsnetz kleinster Einheiten, so genannter Monaden. Die Monaden denkt Leibniz sich als individuelle, in sich abgeschlossene (»fensterlose«) und seelenartige Substanzen.

17./18. JH.

Die englischen Philosophen des Empirismus betonen die Erkenntnis aus Erfahrung. Das wirkt sich auf die Sicht der Seele aus. John Locke (1632–1704) führt alle Vorstellungen, also alle Inhalte der Psyche, auf die Erfahrung zurück. Für ihn ist die Seele bei der Geburt ein leeres Blatt Papier. David Hume (1711–1776) geht noch weiter: Alles, was wir von der Seele kennen, sind ihm zufolge Vorstellungen, die in unaufhörlicher Folge im Bewusstsein auftauchen und wieder verschwinden. Hume verzichtet darauf, überhaupt eine seelische Substanz anzunehmen, er löst die Seele ganz in den Prozess der inneren Erfahrung auf. In den psychologischen Ansätzen der Folgezeit wird die Erfahrung nun immer wichtiger.

1785 ff.

Einen »psychologischen Roman« nennt der deutsche Schriftsteller Karl Philipp Moritz (1756–1793) seinen vierbändigen »Anton Reiser«, der zwischen 1785 und 1790 erscheint. Das kaum verhüllte autobiografische Werk schildert die grausame Kindheit und Jugend dieses jung verstorbenen Spätaufklärers und frühen Klassikers. Von 1783 bis 1793 gibt Moritz ein »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« heraus. Die Zeitschrift verschreibt sich einem empirischen, also an Beobachtung und Experiment orientierten Ansatz. Ursprünglich sollte Anton Reisers Geschichte in ihr als Modellfall erscheinen.

1824/25

Der deutsche Philosoph und Pädagoge Johann Friedrich Herbart (1776–1841) veröffentlicht sein zweibändiges Werk »Psychologie als Wissenschaft«. Er versucht darin, Seelisches mit mathematischen Modellen zu erfassen, womit er Gustav Th. Fechner (s. Kap. 1) beeinflussen wird. In der Selbstbeobachtung entdeckt Herbart das so genannte »flüssige Wesen« des Psychischen, vertritt also trotz des mathematischen Zugangsversuchs einen ganzheitlichen Ansatz, gegen die Zergliederung in einzelne »Seelenvermögen«.

1846

In seinem Werk »Psyche« vermutet der deutsche Arzt und Philosoph Carl Gustav Carus (1789–1869) den »Schlüssel zur Erkenntnis des bewussten Seelenlebens« in der »Region des Unbewusstseins« oder auch »Unbewussten«. Es sei die erste Aufgabe der Wissenschaft von der Seele, den Weg in diese Tiefen zu weisen.

1859 ff.

Die Philosophen Moritz Lazarus (1824–1903) und Chajim Steinthal (1823–1899) geben die »Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft« heraus. Die Völkerpsychologie befasst sich nicht mit dem Individuum, sondern mit den historischen und gesellschaftlichen Formen des menschlichen Erlebens und Verhaltens. Der Begriff stammt von Wilhelm von Humboldt (1767–1835). Zuvor schon hatte Johann Gottfried Herder (1744–1803) den Gedanken der Volksseele eingeführt. Wilhelm Wundt (s. Kap. 3) wird später eine zehnbändige »Völkerpsychologie« verfassen.

1872

Der englische Naturforscher Charles Darwin (1809–1882) veröffentlicht ein Buch über den »Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren«. Darin überträgt er die Lehre von der Abstammung auf das Psychische: Auch die mimischen und gestischen Gefühlsäußerungen werden im Lauf der Evolution weitergegeben. An diese Erkenntnis knüpft später Paul Ekman an (s. Kap. 54).

II.

SINNESPHYSIOLOGIE –
BEWUSSTSEINS-
PSYCHOLOGIE –
GESTALTPSYCHOLOGIE

1 DAS »ROMANTISCHE LAND DER PSYCHOPHYSIK«

GUSTAV THEODOR FECHNER

Der Physiker, Arzt, Philosoph und Schriftsteller Gustav Theodor Fechner begründete die Psychophysik, die Messung seelischer Empfindungen. Damit gehört er zu den Vätern der modernen Psychologie. Die von ihm erarbeitete mathematische Gleichung zur Bestimmung von Sinnesreizen ist bis heute gültig. Sigmund Freud nannte ihn nur den »großen Fechner«.

WEG

Als Pfarrerssohn 1801 in Groß-Särchen in der Niederlausitz geboren, studiert Gustav Theodor Fechner Medizin in Leipzig. Weil er sich jedoch als Arzt für »bar jeden Talents« hält, verfasst und übersetzt er nach der Promotion Lehrbücher für Physik und Chemie und gibt ein Hauslexikon heraus, dessen Beiträge überwiegend von ihm selbst stammen. Unter dem Pseudonym Dr. Mises schreibt er medizinische Satiren, nebenbei studiert er noch Philosophie und habilitiert sich 1823. Von 1834 bis 1840 lehrt er als Professor für Physik in Leipzig.

Im Jahr 1840 erkrankt Fechner an den Augen – eine Folge seiner Experimente am eigenen Leib. Drei Jahre lang ist er arbeitsunfähig, hält sich in einem schwarz gestrichenen, abgedunkelten Zimmer auf oder schützt seine Augen mit einer Maske. Er kann kaum etwas essen – nach heutiger Kenntnis ist er an einer massiven Depression erkrankt.

Die Krankheit hat auch eine schöpferische Seite. Nachdem er seine Lebenskrise überwunden hat, wird Fechner zum Begründer der Psychophysik: Ihn interessiert, wie stark Reize und auch die Unterschiede zwischen ihnen sein müssen, um wahrgenommen zu werden. Seine Erkenntnisse legt er 1860 in »Elemente der Psychophysik« nieder und verteidigt sie in mehreren Folgeveröffentlichungen. Eine Schrift, die er noch in seinem Todesjahr veröffentlicht, bezeichnet er gar als »Ritt ins romantische Land der Psychophysik« – so sehr haben ihm seine Erkenntnisse am Herzen gelegen. Fechner stirbt 1887 in seiner Heimatstadt Leipzig, deren Ehrenbürger er geworden ist.

IDEEN

Gustav Th. Fechner begreift das Universum als kosmischen Organismus, dessen Glieder bis hin zu den Pflanzen und Steinen beseelt sind. Dieser naturphilosophische Gedanke der Allbesee-lung führt ihn zu der Annahme, dass zwischen Physischem und Psychischem eine durchgängige Parallelität besteht. Die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen beiden Bereichen erforscht er in der Psychophysik. Sie ist keine metaphysische, sondern eine exakte Wissenschaft, welche die psychologischen Phänomene durch Messen und Experimentieren untersucht. Die »innere Psychophysik« befasst sich mit der Beziehung zwischen den neuronalen Vorgängen und dem Erleben, heute würde man sagen: den kognitiven Neurowissenschaften. Für sie fehlt damals jedoch das methodische Handwerkszeug.

Die »äußere Psychophysik« handelt von den Zusammenhängen zwischen dem Erleben und der physischen Außenwelt. Fechner untersucht die Schwellen eines Reizes: Ab wann ist ein Reiz so stark, dass er bemerkt wird, und ab welcher Intensität verwandelt er sich in Schmerz? Bereits sein akademischer Lehrer Ernst Heinrich Weber (1795–1878) hat diese Reizschwellen erforscht. Fechner baut darauf auf. In Selbstversuchen – beispielsweise mit unterschiedlich schweren Gewichten in der rechten und der linken Hand – findet er heraus, dass Reizveränderungen, die als solche wahrgenommen werden sollen, immer in einem bestimmten Verhältnis zum Standardreiz stehen müssen. Dabei besitzt jede Sinnesmodalität einen eigenen, immer gleichen Steigerungsquotienten – die Helligkeit beispielsweise 1 zu 60, die Temperatur 1 zu 30. Diese Werte, die über die Leistungsfähigkeit der menschlichen Sinnesorgane Aufschluss geben, werden als »Weber-Fechnersche Konstante« bezeichnet. Die mathematische Gleichung, in die Fechner seine Erkenntnis überführt hat, behält als »Weber-Fechnersches Gesetz« bis heute für die mitt leren Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung ihre Gültigkeit. Mit seinen Erkenntnissen betrachtet Fechner die Psychologie als vollendet und wendet sich der Untersuchung des ästhetischen Empfindens zu. In Wahrheit aber hat er der Experimentalpsychologie erst den Weg geebnet.

Anekdote: Ein Schinkengericht stand am Beginn von Fechners Genesung. Eine Freundin des Hauses hatte es nach einem Traumerlebnis für ihn zubereitet. Er aß und vertrug es, wurde wieder gesund – und erlebte anschließend seine schöpferischste Lebensphase.

2 EIN MATERIALISTISCHER EID

HERMANN VON HELMHOLTZ

Er war der wohl genialste Naturwissenschaftler seines Jahrhunderts – die wilhelminische Geschichtsschreibung ernannte ihn zum »Reichskanzler der Physik«. Hermann von Helmholtz hat die sinnesphysiologische Forschung mitbegründet. Deshalb zählt er zu den Wegbereitern der Psychologie als experimenteller Wissenschaft.

WEG

Im Jahr 1821 in Potsdam geboren, studiert Hermann Helmholtz – er wird erst 1882 geadelt – Medizin in Berlin. Seine Liebe gehört jedoch der Physik. Die aber gilt in seiner Jugendzeit noch als »brotlose Kunst«. Bis 1848 dient er als Militärarzt in Potsdam. Bereits 1847 formuliert er den Grundsatz endgültig aus, wonach innerhalb eines geschlossenen Systems Energie zusätzlich weder erzeugt noch vernichtet werden kann. Über seinen Studienfreund Ernst von Brücke wird dieses Gesetz später Sigmund Freud (s. Kap. 7) bei der Formulierung seiner Triebtheorie beeinflussen.

Nach Stationen in Berlin, Königsberg und Bonn lehrt von Helmholtz ab 1858 als Professor der Physiologie in Heidelberg. Hier wird Wilhelm Wundt (s. Kap. 3) sein Assistent, der spätere Begründer des weltweit ersten experimentalpsychologischen Instituts. 1871 wechselt von Helmholtz an die Berliner Universität – nun endlich als Professor für Physik. Die Liste seiner wissenschaftlichen Erfolge ist schier endlos. Unter anderem bestimmt er die Wellenlängen des UV-Lichts und erfindet den Augenspiegel, er arbeitet zur Elektro- und zur Thermodynamik und begründet die Meteorologie als Wissenschaft. Hermann von Helmholtz stirbt 1894 in Charlottenburg (heute Berlin).

IDEEN

Unter seinen vielen Arbeiten sind für die Psychologie besonders die sinnesphysiologischen Erforschungen der Leitgeschwindigkeit in den Nerven sowie die Untersuchung der Farbwahrnehmung, des Hörens und des Sehens bedeutsam. Bereits im Jahr 1826 hatte von Helmholtz’ Lehrer an der Berliner Universität, der Zoologe, Anatom und Physiologe Johannes P. Müller (1801–1858), das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien aufgestellt. Danach nehmen Sinnesorgane nur die Reize wahr, die ihnen gemäß sind: die Augen das Licht, die Ohren die Schallwellen und so fort. Hermann von Helmholtz baut darauf auf und unterscheidet die Methoden, beispielsweise in seinem 1866 abgeschlossenen »Handbuch der psychologischen Optik«: Während die Physik die Wege des Reizes im Sinnesorgan nachvollzieht und die Physiologie die Empfindungen des betreffenden Nervenapparates untersucht, kommt der Psychologie eine dritte Aufgabe zu. Sie soll klären, wie die solchermaßen entstandenen Wahrnehmungen verstanden, also zu einem einheitlichen Bild gestaltet werden.

Mit dieser Aufteilung spricht von Helmholtz der Psychologie ein eigenständiges, von den Bereichen der Physik und der Physiologie unterschiedenes Wissenschaftsgebiet zu. So bereitet er die Emanzipation der Psychologie mit vor, sichert zugleich deren Anschluss an die Naturwissenschaften und rechtfertigt nachfolgende Forschungen.

Anekdote: Mit Studienfreunden schwor von Helmholtz im Jahr 1842 einen materialistischen Eid: Keine anderen als physikalisch-chemische oder damit vergleichbare Kräfte wollten sie im Organismus annehmen. Bislang nicht erklärte Phänomene müssten mit Hilfe der Physik und der Mathematik entschlüsselt werden. Einer dieser Freunde war Ernst Wilhelm Ritter von Brücke ( 1819–1892 ), später der wichtigste akademische Lehrer des jungen Sigmund Freud (s. Kap. 7).

3 DAS ERSTE PSYCHOLOGISCHE LABOR

WILHELM WUNDT

Er verankerte das Experiment endgültig in der Psychologie und sorgte gleichzeitig für deren inhaltliche Anbindung an die Ideen- und Begriffsgeschichte seiner Zeit. Damit verhalf Wilhelm Wundt der Psychologie zu einer eigenen Methodik. Sein Leipziger Institut bildete bis nach dem Ersten Weltkrieg das Zentrum psychologischer Forschung und Lehre.

WEG

Wie Gustav Th. Fechner (s. Kap. 1) ist auch der 1832 in Neckarau geborene Wilhelm Wundt ein Pfarrerssohn, wie jener studiert er Medizin. Er arbeitet als Assistent bei Hermann von Helmholtz (s. Kap. 2) in Heidelberg und wird dort 1864 Professor für Anthropologie und medizinische Psychologie. Zugleich sitzt er als Abgeordneter für die bürgerlich-liberale Badische Fortschrittspartei im Badischen Landtag.

1874 geht Wundt an die philosophische Fakultät in Zürich und im Jahr darauf nach Leipzig, in die Stadt Gustav Theodor Fechners, wo er die Universitätswohnung von Fechners akademischem Lehrer Ernst Heinrich Weber übernimmt. In Leipzig gründet Wilhelm Wundt 1879 das Institut für experimentelle Psychologie. Es ist das weltweit erste psychologische Institut überhaupt und wird zur Pilgerstätte für junge Wissenschaftler aus aller Welt. Sein Gründer finanziert es jahrelang selbst, bis es 1883/84 staatlich anerkannt wird. Das Institut gehört, wie damals üblich, zum philosophischen Lehrstuhl. Die Psychologie, einst hervorgegangen aus dem Nachdenken über die Seele, ist immer noch Teil der philosophischen Wissenschaft, und die Studenten sind hauptsächlich angehende Lehrer.

Die »Ära Wundt« markiert jedoch einen Meilenstein auf dem Weg zur naturwissenschaftlichen Grundlegung dieser Disziplin, denn nun wird das Experiment endgültig in ihr verankert. Die Selbstbeobachtung, die typische Methode der damaligen Zeit, ist für Wundt nur unter strengen experimentellen Bedin-gungen aussagekräftig, und das heißt: wenn gemessen wird. Von Helmholtz und Fechner hatten dazu bereits einiges geleistet. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern entwirft Wundt zahlreiche Versuchsgeräte und lässt sie bauen. Aus heutiger Sicht wirken die Experimente sehr einfach: Die Versuchspersonen müssen beispielsweise Gerüche, Töne, optische Reize oder Gewichte vergleichen und ihre Empfindungen darüber mitteilen – das Bewusstsein reflektiert sich selbst. In seinen gut besuchten Vorlesungen demonstriert Wilhelm Wundt eigene Versuche, was damals nicht üblich ist.

Dennoch bezieht er immer auch die Philosophie und andere Disziplinen in sein Denken mit ein, indem er die Ergebnisse der Experimente philosophisch begründet. Nachdem Wundt seinen Ansatz unter anderem im »Grundriss der Psychologie« (1896) niedergelegt hat, verfasst er in seinen letzten 20 Lebensjahren die zehnbändige »Völkerpsychologie«. Heute würde man sie als kulturhistorische Analyse bezeichnen. Sie hat sich nicht auf die zeitgleich in den USA entwickelte Sozialpsychologie ausgewirkt, denn experimentelle Untersuchungen sozialer Prozesse hat ihr Verfasser abgelehnt. Stattdessen verdanken ihr die Ethnologie und die Linguistik wichtige Impulse.

Auch als Wissenschaftspolitiker nimmt Wundt Einfluss. Im Jahr 1912 protestieren Philosophiedozenten vieler Universitäten dagegen, dass immer mehr philosophische Lehrstühle mit Psychologen besetzt werden. Doch Wundt, der einen Bedeutungsverlust für seine Disziplin befürchtet, setzt sich dafür ein, dass sie – obgleich vielfach von Mathematikern und Naturwissenschaft lern betrieben – noch für Jahrzehnte an die philosophischen Fakultäten angebunden bleibt.

Wilhelm Wundt stirbt 1920 in Großbothen bei Leipzig. Aus der Psychologiegeschichte ist er nicht wegzudenken. Durch sein Institut, das zur Keimstätte der so genannten Leipziger Schule wird, und durch seine empirischen Methoden, die über eine ganze Generation von Wissenschaftlern weiterwirken, wird die Psychologie zunehmend eigenständig – und zwar nach beiden Seiten hin: nach der philosophischen und der physiologischen.

IDEEN

Seit Wilhelm Wundt fragt die Psychologie, wie Sinneseindrücke erfahren und verarbeitet werden. Dabei interessiert diesen Forscher weniger die physikalische Seite, also der Weg des Reizes zum Sinnesnerv, sondern vielmehr das Problem, wie sich die Reizung des Sinnesnerven in erlebte Empfindung, in einen Bewusstseinsinhalt verwandelt. Das ist die psychologische Fragestellung, die Wundt streng gegen die physikalische abgrenzt.

Das Erleben, das er im Experiment betrachtet, begreift Wundt als Prozess. Er fragt nicht nach einem substanzhaften Bewusstsein, das als Träger der Vorgänge dienen würde, sondern er löst das Psychische ganz in diesem Prozess auf. Das Geschehen, in dem sich eine Empfindung in einen Bewusstseinsinhalt verwandelt, nennt er Apperzeption, vom lateinischen adpercipere – hinzuwahrnehmen. Der Begriff ist seit Gottfried W. Leibniz (1646–1716) bekannt. In der Apperzeption ordnet sich das Vorstellen, Fühlen und Wollen zur Einheit des Bewusstseins. Dieses besteht also aus ununterbrochenen Apperzeptionsvorgängen, einfachen und komplexeren.

Wundt versteht die Apperzeption als zielgerichtete Willenshandlung, weshalb er seinen Ansatz später auch Voluntarismus (Lehre vom Willen) nennt, und macht sie zum Modell aller psychischen Prozesse. Weil sie einen schöpferischen und auf eine Synthese ausgerichteten Prozess annimmt, unterscheidet sich seine Apperzeptionstheorie von den mechanistischeren Modellen der zeitgleich forschenden klassischen Assoziationspsychologen wie Hermann Ebbinghaus (s. Kap. 5). Diese gehen von einem Zusammenschluss der psychischen Elemente aus, ohne, wie Wundt, die Einheit des Erlebens zu berücksichtigen und auf einen Willensakt zurückzuführen. Weil Wundt aber wie die Assoziationspsychologen von Bewusstseinselementen ausgeht, die es zu finden gelte, wird er letztlich doch in ihre Nähe gestellt.

Gegen die Annahme einzelner, sich zur Einheit des Bewusstseins erst zusammenschließender Elemente wird sich dann später Wilhelm Dilthey mit seiner geisteswissenschaftlichen Psychologie (s. Kap. 4) wenden. Auch die so genannte Würzburger Schule entsteht in dieser Auseinandersetzung. Ihre Protagonisten sind unter anderen der ehemalige Wundt-Schüler Oswald Külpe (1862–1915) und sein Schüler Karl Bühler (1879–1963). Die Würzburger kritisieren an Wundts Bewusstseinspsychologie, dass sie die Selbstbeobachtung auf Wahrnehmungen und Vorstellungen beschränkt, also auf anschauliche Bewusstseinsinhalte. Was aber ist mit den unanschaulichen Bewusstseinsinhalten, mit den Gedanken und spontanen Einfällen? Mit ihrem Anliegen, den unbewussten Denkvorgängen auf die Spur zu kommen, begründen die Würzburger die so genannte Denkpsychologie. Sie lassen Versuchspersonen von dem berichten, was während der Lösung von Denkaufgaben in ihrem Bewusstsein geschieht. So zeigen sie, dass das Denken nicht als assoziative Ansammlung von Bewusstseinsinhalten abläuft, sondern durch unbewusste Kräfte gelenkt und bestimmt wird, etwa durch die jeweilige Aufgabe und durch das Erkenntnisziel.

Anekdote: Ist er je Kind gewesen? Edwin Boring, Psychologiegeschichtler in Harvard, konnte sich den bedeutenden Wilhelm Wundt nicht anders denn als Erwachsenen vorstellen und behauptete daher, dieser habe in jungen Jahren nicht gespielt und keine Freunde gehabt. Wahrscheinlicher ist aber doch, dass Wundt auch schon in jungen Jahren einfach sehr fleißig gewesen ist. Nach Schätzung von Edwin Boring hat der unermüdliche Arbeiter im Lauf seines Gelehrtenlebens mehr als 53.000 Seiten veröffentlicht.

4 VERSTEHEN STATT ERKLÄREN

WILHELM DILTHEY

»Verstehen statt erklären« lautete sein Motto. Wilhelm Dilthey hat die Geisteswissenschaften im Gegenüber zu den Naturwissenschaften methodisch auf eine neue Grundlage gestellt und mit seiner »verstehenden Psychologie« ein Gegengewicht zur experimentalpsychologischen Betrachtungsweise geschaffen.

WEG

Auch Wilhelm Dilthey ist, wie viele Gelehrte seiner Zeit, ein Pfarrerssohn. Geboren 1833 im rheinischen Biebrich, studiert er unter anderem Geschichte, Philosophie und Theologie. Nach dem ersten theologischen Examen und der staatlichen Schulamtsprüfung arbeitet er zunächst als Lehrer, zieht sich jedoch 1857 aus dem Schuldienst zurück, um sich ganz der Wissenschaft zu widmen. 1864 wird Dilthey mit einer Arbeit über die Ethik Schleiermachers promoviert, im selben Jahr habilitiert er sich mit einer Abhandlung über das »moralische Bewusstsein«. Es folgen Professuren in Basel, Kiel, Breslau und von 1883 bis 1908 in Berlin. Dilthey gilt als unglaublich arbeitsam. Bei seinem Tod im Jahr 1911 in Seis am Schlern hinterlässt er eine umfangreiche Bibliografie: Die derzeit erscheinende Ausgabe seiner Gesammelten Werke umfasst bislang 26 Bände.

IDEEN

Um das Jahr 1890 herrscht in der Psychologie eine klare Tendenz vor: Sinneserlebnisse werden in kleinste Einheiten (Elemente) zerlegt, die Bewusstseinsinhalte werden auf diese Elemente zurückgeführt, komplexere Prozesse erklärt man durch eine assoziative Verknüpfung der kleineren Einheiten. Gegen diese Elementar- oder Assoziationspsychologie wendet sich Wilhelm Dilthey. Für die nachfolgende Geistesgeschichte erwirbt er sich dadurch große Bedeutung.

Diltheys Zeit ist geprägt vom Siegeszug der Naturwissenschaften. Der Positivismus, jene philosophische Richtung, welche die Erkenntnisfähigkeit auf das beschränkt, was durch die Sinne erfahrbar und letztlich messbar ist, hat seinen Siegeszug angetreten. Mit ihrem Anspruch des Analysierens stellen die Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften, etwa die Geschichtsschreibung, in Frage: Georg W. F. Hegel (1770–1831) konnte hinter den Einzelereignissen der Weltgeschichte noch ein höheres Ganzes sehen, das sich stufenweise verwirklicht. Wilhelm Dilthey ist das zu seiner Zeit nicht mehr möglich, die Historie löst sich ihm in lauter geschichtlich bedingte Einzelerscheinungen auf (historischer Relativismus). Dies entspricht dem geschilderten Elemente-Denken der Psychologie jener Zeit, wie es die klassischen Assoziationspsychologen vertreten.

Doch Dilthey findet zur Einheit des Ganzen zurück: in der so genannten Lebensphilosophie, deren wichtigster deutscher Vertreter er wird (für Frankreich ist hier Henri Bergson, 1859–1941, zu nennen). Die Lebensphilosophie trauert dem absoluten Sein, das sich restlos in die Vielfalt der historischen Erscheinungen aufgelöst hat, nicht mehr nach. Stattdessen versucht sie, jenes Werden und Vergehen als Bewegung des Lebens selbst zu erkennen und zu würdigen: Trotz seiner Prozesshaftigkeit sei das Leben eben doch mehr als bloß die Summe seiner Einzelerscheinungen. Diese Sichtweise führt im Grenzbereich der Biologie zum so genannten Vitalismus mit seiner Annahme einer zielgerichteten natürlichen Lebenskraft. In der Psychologie wird sie später die Gestalttheorie (s. Kap. 6) beeinflussen. Doch zunächst bringt sie durch die Arbeit Diltheys einen Gegenentwurf zur zeitgenössischen, naturwissenschaftlich orientierten Assoziationspsychologie hervor.

Wilhelm Dilthey denkt ganzheitlich, wie man heute sagen würde. Er stellt fest, dass eine rein elementarisierende Betrachtungsweise das Eigentümliche der menschlichen Seele verkennt. Diese ist für ihn nämlich eine komplexe Struktur, bestehend aus dem Willen, aus Gefühls- und Triebleben und aus der Intelligenz. Der Mensch ist ein Lebewesen, das will, fühlt und sich etwas vorstellt. Dieser Strukturzusammenhang bewirkt, dass psychische Prozesse immer auch Sinn- und Wertaspekte beinhalten. Psychisches Leben steht deshalb nicht einfach reproduzierbar und messbar zur Verfügung. Stattdessen lässt es sich aus seinem vielfältigen Ausdruck – aus Aussagen, Handlungen und der Äußerung unmittelbarer Erlebnisse – erschließen. Es kann nicht erklärend in isolierte Wahrnehmungselemente zerlegt, sondern muss als Ganzes verstanden werden: Dilthey fordert statt der »erklärenden« eine »verstehende«, eine geisteswissenschaftliche Psychologie, die sich um Wesenserkenntnis bemüht. Daneben etabliert er eine vergleichende Forschung, die eine überindividuelle Typenlehre herausarbeitet.

Seitenblick: Dilthey hat den Geisteswissenschaften eine eigene methodische Grundlage erschlossen und ihnen damit zu neuem Selbstverständnis und zur Selbstständigkeit gegenüber den Naturwissenschaftgen verholfen. Die Lehre vom deutenden Verstehen aus dem Gesamtzusammenhang heraus (Hermeneutik) hat die Philosophie befruchtet bis hin zu Martin Heidegger (18891976) und Hans-Georg Gadamer (19002002). Auf dem Gebiet der Psychologie hat Diltheys Schüler Eduard Spranger (18821963) den typologischen Ansatz weiter ausgearbeitet, etwa in seinen 1914 erschienenen »Lebensformen«. Auch der Psychiater und spätere Existenzphilosoph Karl Jaspers (18831969) baut in seiner »Psychologie der Weltanschauungen« (1919) auf Dilthey auf.

5 DEM GEDÄCHTNIS AUF DER SPUR

HERMANN EBBINGHAUS

Mit ihm wandte sich die Psychologie der experimentellen Gedächtnisforschung zu. In disziplinierten Selbstversuchen erforschte Hermann Ebbinghaus die Gesetze des Behaltens und Vergessens. Von ihm stammt auch der erste Intelligenztest für Kinder.

WEG

Der 1850 geborene Unternehmersohn Hermann Ebbinghaus aus Barmen gehört zu den Wegbereitern der experimentellen Psychologie. Wie Fechner und von Helmholtz will er psychologische Phänomene durch Messungen exakt bestimmen. Doch wo Fechner die Reizverarbeitung im Blick hatte, interessiert ihn die Leistung des menschlichen Gedächtnisses.

Vom Studium her ist Ebbinghaus Philosoph, in diesem Fach wird er 1873 in Bonn promoviert. Er geht nach Berlin, studiert Mathematik und Naturwissenschaften, reist viel und arbeitet als Privatlehrer, zuletzt beim Prinzen Waldemar von Preußen. Nach dessen Tod 1879 beginnt er mit den oben beschriebenen Selbstversuchen, deren Ergebnisse er in seiner 1880 an der Berliner Universität eingereichten Habilitationsschrift niederlegt. Einer seiner Gutachter ist übrigens Hermann von Helmholtz (s. Kap. 2).

Nun beginnt Ebbinghaus’ wechselvolle akademische Laufbahn. Er vertieft seine Gedächtnisforschung im ersten, von ihm eingerichteten Berliner Laboratorium für experimentelle Psychologie – was aufgrund der Notwendigkeit, Lern- und Vergessensphasen genau einzuhalten, eine eher stereotype Lebensweise und somit einige Opferbereitschaft erfordert. Als Mitherausgeber der ersten deutschsprachigen »Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane« fördert er die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Psychologie.

1894 geht Ebbinghaus nach Breslau. Hier entwickelt er im Auftrag des städtischen Magistrats den ersten Konzentrations- und Leistungstest für Kinder, auch als Ebbinghaussche Lückenprobe bezeichnet, weil in einem Text Lücken ergänzt werden müssen. Die Tests werden gebraucht, um Befürchtungen zu widerlegen, die Schüler könnten durch die ständigen geistigen Anforderungen während des Unterrichts überlastet werden.

1905 wechselt Hermann Ebbinghaus nach Halle. Hier stirbt er bereits vier Jahre später an einer Lungenentzündung.

IDEEN

Ein Mann sitzt in seinem Studierzimmer und murmelt sinnlose Silben vor sich hin: »dot chauf maut …« Anschließend beschäftigt er sich mit anderen Dingen, behält jedoch die Stoppuhr genau im Auge. Nach einer festgelegten Zeit überprüft er, wie viele Silben er noch behalten hat … So weit ein kurzer Einblick in das früheste Labor für experimentelle Gedächtnisforschung. Versuchsleiter, Protokollant und Versuchsobjekt in einer Person: Hermann Ebbinghaus.

Bei seinen Selbstversuchen findet und formuliert er das nach ihm benannte Gesetz, wonach ein Lernstoff wesentlich häufiger durch Wiederholung eingeprägt werden muss, wenn er auch nur geringfügig anwächst (Lernkurve). Je häufiger jedoch etwas repetiert wird, umso weniger Zeit braucht man dafür – dies ist die so genannte »Ersparnismethode«.

Auch die von Ebbinghaus im Jahr 1885 bestimmte Verges-senskurve ist bis heute gültig. Sie besagt, dass Gelerntes zu Beginn schnell und allmählich immer langsamer vergessen wird. Bestimmte Lerntechniken und die emotionale Beziehung des Lernenden zum Lernstoff können allerdings bewirken, dass man den Stoff länger im Gedächtnis behält. Mit seinen Experimenten bekräftigt Ebbinghaus zudem die Theorie der klassischen Assoziationspsychologie, wonach die kleinsten, elementaren Bewusstseinsinhalte sich nach bestimmten Prinzipien wie Ähnlichkeit oder Kontrast zu größeren Komplexen zusammenschließen.

Seitenblick: Zu Ebbinghaus’ wissenschaftlichem Widerpart entwickelt sich in Berlin ein ursprünglich befreundeter Kollege: Wilhelm Dilthey (s. Kap. 4). Gegen die experimentelle, »erklärende« Psychologie vertritt Dilthey die »beschreibende« und »verstehende« Psychologie: Sie soll den Menschen als »geisteswissenschaftlichen Gegenstand« betrachten und sein Seelenleben als Struktur, die erfasst und verglichen werden muss. Die Diskussion mit Dilthey markiert das bis heute spürbare Dilemma der Psychologie, doppelt verwurzelt zu sein: in den Geistes- und in den Naturwissenschaften. Sie wird in Streitschriften öffentlich ausgetragen und ist wohl einer der Gründe, warum Hermann Ebbinghaus 1894 Berlin verlässt.

6 GANZHEIT UND GESTALT

MAX WERTHEIMER

Ihm und seinen Mitstreitern verdanken wir die Einsicht, dass psychische Phänomene als organisiertes und strukturiertes Ganzes verstanden werden müssen. Max Wertheimer war der führende Vertreter der Gestaltpsychologie, die in den 1920er-Jahren in Frankfurt und Berlin wichtige Schulen begründete.

WEG

1880 in Prag geboren, studiert Max Wertheimer unter anderem Jura, Philosophie und Psychologie und forscht nach seiner Promotion 1905 zunächst an verschiedenen Universitäten privat weiter. 1910 beginnt seine Arbeit am Institut für Psychologie an der damaligen Frankfurter Akademie für Handels- und Sozialwissenschaften, der späteren Universität. Denn hier steht ein Radtachistoskop – ein Instrument zur Messung von visuellen Reizen. Es gelingt in den folgenden Jahren, experimentelle Belege einer Gestalttheorie der Wahrnehmung zu erbringen, das heißt: nachzuweisen, dass die Wahrnehmung als organisiertes und strukturiertes Ganzes angesehen werden muss und nicht in Elemente zerlegt werden darf.

Bis 1916 bleibt Max Wertheimer in Frankfurt, geht dann nach Berlin und kehrt 1929 wieder nach Frankfurt zurück. Seine Mitstreiter sind Wolfgang Köhler (1887–1967) und Kurt Koffka (1886–1941). Köhler wird 1922 Leiter des Psychologischen Instituts in Berlin. Gestaltpsychologisch ausgerichtet, entwickelt das Berliner Institut in den 1920er-Jahren eine ähnliche Anziehungskraft wie zuvor das Leipziger Institut Wilhelm Wundts (s. Kap. 3), weshalb man auch von der »Berliner Schule« spricht. Zum engeren Umkreis der Gestaltpsychologie gehört auch der Neurologe und Psychiater Kurt Goldstein (1878–1965), der ebenfalls in Frankfurt und Berlin tätig ist. Bei seiner Arbeit mit Hirnverletzten erkennt er, dass der Mensch im Akt des Wahrnehmens dazu neigt, aus Teilen ein Ganzes zu machen. 1935 wird Goldstein in die USA auswandern und dort Mitbegründer der Humanistischen Psychologie (s. Kap. 36).

Bereits vor Goldstein emigriert Max Wertheimer mit seiner Familie über die Tschechoslowakei in die USA – am Tag vor der deutschen Märzwahl im Jahr 1933, unter dem Eindruck von Hitlers Rundfunkrede. Kurt Koffka ist schon 1924 ausgewandert. Wolfgang Köhler, der den Nationalsozialisten mehrfach öffentlich Widerstand geleistet hat, folgt 1934. Durch die Emigration der führenden Köpfe der Gestaltpsychologie etabliert sich diese, wenn auch langsam, in den USA. Sie empfängt hier Anregungen aus der Auseinandersetzung mit dem Behaviorismus (s. Kap. 21 u. 22) und entfernt sich von der Philosophie, mit der sie in Europa enger verbunden war. Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie (s. Kap. 32), wird von ihr beeinflusst werden.

Max Wertheimer lehrt bis zu seinem Tod an der New School for Social Research in New York. Er stirbt 1943 in New Rochelle, New York.

IDEEN

Um die Jahrhundertwende dominiert in der Psychologie noch der elementaristische Ansatz: Man stellt sich das Bewusstsein als Zusammenschluss aus kleinsten Einheiten vor, die es zu untersuchen gelte. Wie jede Einseitigkeit ruft auch diese Richtung eine Gegenbewegung hervor, die in dem Fall ganzheitlich denkt: Das ist die Gestaltpsychologie. Bereits 1890 hat der Grazer Philosoph Christian Maria von Ehrenfels (1859–1932) seine berühmte Schrift »Über Gestaltqualitäten« vorgelegt. Er erklärt darin am Beispiel der Musik, dass die menschliche Wahrnehmung die einzelnen Elemente des sinnlichen Reizes, in diesem Fall die Töne, nicht nur einfach zusammenaddiert. Vielmehr macht sie aus ihnen etwas Neues, Ganzes – etwas, das über die Summe der Einzelelemente hinausgeht, in diesem Fall die Melodie.

Das Prinzip, wonach das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, nennt sich »Übersummenhaftigkeit«. In der Philosophie ist dieser Gedanke der Ganzheit (Holismus) bereits seit der Antike bekannt und hat beispielsweise in Aristoteles, Leibniz, Goethe und Hegel prominente Vertreter gefunden. Doch seine Anwendung auf die Psychologie ist neu und der Grazer Schule um von Ehrenfels zu verdanken. Populär wird die Gestaltpsychologie dann mit der Frankfurter und der Berliner Schule um Max Wertheimer.

Am Frankfurter Radtachistoskop erforscht Wertheimer die so genannte Scheinbewegung, auch phänomenale Bewegung genannt. Sie entsteht, wenn eine Bilderfolge schnell genug gezeigt wird, dass sich der Eindruck der Bewegung ergibt, so wie beim Film. Wertheimer nennt diese Bewegungsgestalt »Phi-Phänomen«. Sie belegt, dass Wahrnehmungen sich nicht nur aus Einzelelementen zusammensetzen, sondern als sinnvolle Einheiten, als Gestalten, im Bewusstsein erscheinen, etwa in von Ehrenfels’ Beispiel die Melodie. Anders als die Grazer Schule um von Ehrenfels erklärt Wertheimer diese Gestalten jedoch nicht zu Ergebnissen von Sinneseindrücken, sondern zu ursprünglichen Grundeinheiten der Psyche. Kurt Koffka weitet seine Theorie aus: Nicht nur die Wahrnehmung, auch das Handeln ist von Gestalten geleitet.

Anekdote: Historisch ist dieser Anfang der Gestaltpsychologie nicht belegt, aber Max Wertheimer erzählte ihn immer wieder gern: wie er, ein unbekannter Privatgelehrter, 1910 auf der Fahrt von Wien ins Rheinland spontan in Frankfurt am Main ausgestiegen sei, um hier ein Kinder-Stroboskop zu kaufen und damit in einem Hotelzimmer zu experimentieren. Gleich danach habe er Kontakt mit dem Institut aufgenommen, woraus sich dann seine produktive Arbeit entwickelte.

Übrigens: Auch unsere evolutionsgeschichtlichen Verwandten, die Menschenaffen, bestätigen durch ihr Handeln die gestaltpsychologische Grundthese. Das belegte Wolfgang Köhler von 1914 bis 1920 in einer Schimpansenstation auf Teneriffa. Wie könnten Schimpansen beispielsweise Stöcke als Instrumente benutzen oder Kisten zu Stapeln auftürmen, um an Futter zu gelangen, wenn sie nicht von einer Gestalt geleitet wären, bestehend aus dem Zusammenhang zwischen Ziel und Hilfsmittel?

III.

TIEFENPSYCHOLOGISCHE ANSÄTZE

7 DIE ENTDECKUNG DES UNBEWUSSTEN

SIGMUND FREUD

Er hat die Welt umgekrempelt, und er ist sich dessen bewusst gewesen. Sigmund Freuds Werk, die Psychoanalyse, markiert einen tiefen Einschnitt im Selbstverständnis des Menschen. Nicht nur Medizin und Psychologie, sondern auch Kunst, Alltagsleben und unser Verständnis von der Gesellschaft sind von ihr beeinflusst. Worte wie »Verdrängung« oder »Freudsche Fehlleistung« gehören zum normalen sprachlichen Repertoire, und das Deuten von Träumen ist längst eine Art Volkssport geworden.

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