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EXTRA

 

 

Der dritte Goratschin

 

Zwischen Venus und Terra – sie experimentieren mit der Zellprobe eines toten terranischen Mutanten

 

von Wim Vandemaan

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog

Vierzehn Jahre zuvor:

23. Juli 1345 NGZ

23. Juli 1345 NGZ

26. Juli 1345 NGZ

15. August 1345 NGZ

2. bis 16. Oktober 1345 NGZ

16. Oktober 1345 NGZ

11. Februar 1346 NGZ

17. Februar 1346 NGZ

14. März 1346 NGZ

17. März 1346 NGZ

Erster Aufbruch

26. Juni 1346 NGZ

29. Juni 1346 NGZ, 13.40 Uhr

30. Juni 1346 NGZ, 13 Uhr

30. Juni 1346 NGZ, 15 Uhr

30. Juni 1346 NGZ

Epilog

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Der Sommer des Jahres 1346 Neuer Galaktischer Zeitrechnung: Seit die Terminale Kolonne TRAITOR die Milchstraße und die umliegenden Galaxien besetzt hat, leisten praktisch nur noch die Bewohner des Solsystems zähen Widerstand gegen die Besatzer.

Die Menschen auf Terra sowie den bewohnten Planeten und Monden werden durch den undurchdringlichen TERRANOVA-Schirm gegen die Angriffe der Terminalen Kolonne geschützt. Die andauernde Belagerung sorgt für eine angespannte Stimmung unter den Terranern; überall wird an Möglichkeiten gearbeitet, gegen TRAITOR vorgehen zu können.

Nicht nur Terraner leben im Solsystem; auch eine Kolonie von Aras sitzt gewissermaßen auf der Venus und der Erde fest. Unter den Galaktischen Medizinern reift eine wagemutige Idee – und diese gipfelt in einer riskanten Entwicklung. Es ist DER DRITTE GORATSCHIN ...

Prolog

25. Juli 1345 NGZ

Ein ewiger Winter

 

»Hejho, hejho!«, rief Weniamin Trofimowitsch Stawrogin. Er schwang die Peitsche hoch über den Kopf und ließ sie knallen. Die Troika zog kräftiger an, und der Schlitten kam wieder in die Spur.

Stawrogin sang aus voller Kehle: »Schiroki prastor dlja metschty i dlja schisni ...«

Für einen Moment heulte der Sturm so laut auf, dass Stawrogin die eigenen Worte nicht verstand. Unbeeindruckt davon jauchzte er weiter. Dann flaute der Lärm ab, und er hörte sich wieder.

»Nam silu dajot nascha wernast otschisne«, sang er. »Tak byla, tak jest i tak budet wsegda!«

Eines der Pferde aus der Troika ließ einen gewaltigen Furz. Es stank für einen Augenblick bestialisch. Enorm, dachte Stawrogin. Doch sofort durchstießen sie die Duftwolke und ließen sie hinter sich. Welche Finesse!

Weit vorne schimmerte ein Licht im Schneegestöber auf. Das musste der »Einbeinige Orang-Utan« sein. Die Rauchfahne von Stawrogins Atem verwehte. Er holte tief Luft und sang noch einmal die alte russische Hymne, diesmal aber in der Interkosmo-Version.

»Ein Land, weit genug für Träume und Leben – eröffnet sich uns in der künftigen Zeit. Uns kräftigt die Treue zu unserer Heimat. – So war es, so ist es, so wird's immer sein.«

Der Schnee verwandelte sich in prasselnden Eisregen, als Stawrogin die Troika endlich auf den Hof der Schänke lenkte. Er parkte den Schlitten zwischen zwei Gleitern; einer der beiden musste aus den Zeiten des Solaren Imperium stammen und besaß, wenn überhaupt, nur noch musealen Wert. Das war Petenkas Fahrzeug.

Stawrogin stieg ab, stellte den Kragen seines Mantels auf und warf die ölgetränkte Plane über den Bock des Schlittens. Er tätschelte dem außen stehenden Pferd, einem Rappen, die Flanke; es roch wunderbar nach Pferd. Ein leises Schnauben; Stawrogin lachte und stapfte los.

Das Metallschild der Schänke pendelte im Wind, quietschte und kreischte in den Scharnieren; der Namenszug war kaum lesbar: »Zum Einbeinigen Orang-Utan«. Das Eis und die Nacht krochen ihm in den Bart.

Stawrogin warf einen Blick zurück zur Troika. Die drei Pferde bebten in der Kälte. »Na gut«, murmelte Stawrogin, zog seinen Impulsgeber aus dem robenartigen Mantel und richtete ihn auf die Troika. Ein Druck auf die Sensortaste, und die drei Pferde fielen in ein gefühlloses Stand-by.

Stawrogin trat die Tür mit dem Stiefel auf und betrat den Korridor. Einige Schritte weiter erst, vor der Tür zum Gästeraum der Schänke, klopfte er die Schuhe in einer Fußmatte ab.

Die Tür quietschte wie eine alte Jungfer, die man beim Tanz von hinten tief in die Pobacken griff.

Wobei es auf der Venus von alten Jungfern nicht gerade wimmelt, dachte Stawrogin und grinste. Na, wenn schon. Dann greift man zur Not auf die jungen Jungfern zurück!

Dichter Rauch hing in der Stube, es duftete nach Knaster, Koljurija, Salzgurken und geschmortem Fleisch.

»Weniamin Trofimowitsch, bist du das?«, bellte ihm eine Stimme entgegen.

»Und wenn?«

»Und wenn: Dann schließ die Tür, du Sohn einer Glotzschnecke und ... und ... du Missgeburt! Tür zu!«

Stawrogin lächelte vergnügt und schritt voran, aber die Tür hatte die Bitte des Gastes schon vernommen und schloss sich.

Schlagartig wurde es leiser; es war, als hätte jemand den Schneesturm draußen per Knopfdruck ausgeschaltet. Stawrogin schlug Petenka im Vorübergehen auf den Rücken, dass es krachte. Der Wodka hüpfte aus dem Glas in Petenkas Hand wie eine aufgeschreckte Kröte.

Stawrogin kicherte. »Petenka, du Wrack, wer hat dich aus dem Heiltank deines Sanatoriums gefischt?«

»Mein Wodka, gib mir meinen Wodka zurück, du mieser ... Politkommissar! Ich will meinen Wodka wiederhaben!«

»Beruhig dich, Mädel!« Stawrogin winkte dem Orang-Utan, der auf einem Bein heran geschaukelt kam, den langen rechten Arm immer am Führungsseil.

Das Seil war kreuz und quer unter der Decke gefestigt und verlief nach einem für Menschen nicht duchschaubaren System. Mit der anderen Hand balancierte er ein Tablett, auf dem eine Flasche Wodka Tomisenkow stand. Auf dem Holoetikett sah man den berühmten Handschlag des berühmten Generals Tomisenkow mit dem noch berühmteren Major Rhodan. Militärs unter sich, jederzeit bereit, der Stimme der Vernunft zu folgen. Es war ein ebenso kitschiges wie verlogenes Bild.

»Väterchen Weniamin, nicht immer unartig Rotzblag, lass mein Petenka in Ruh!«, schimpfte der Orang. »Auf deine Rechnung das geht, ja?«

»Ja ja, setz es auf meine Rechnung«, willigte Stawrogin ein und schnäuzte sich in ein riesenhaftes Taschentuch voller gelber und weißer Flecke. Enorm, dachte er und steckte das Tuch nickend wieder ein.

Der Orang hagelte sich zum Tresen, um Ersatz für Petenkas Wodka zu beschaffen.

Stawrogin sah sich um und bemerkte, dass die meisten Tische und Nischen besetzt waren. Warum auch nicht? Denis Denisowitsch Scheckows Kochkünste waren venusweit berühmt, und es sollte nicht wenige Terraner geben, die eigens herüberflogen, um im tomisenkowgrader Einbeinigen Orang-Utan Wohlhynische Kohlwickel, Plow, Tabakhühnchen und andere altrussische Spezialitäten zu genießen.

Und zum Nachtisch unbedingt Meister Scheckows berühmten Wackelwodka, eine unter Verwendung von Wodka hergestellte Götterspeise, klar wie Kristall, herzerwärmend wie ein Zungenkuss der Liebsten.

Überrascht sah er in einer der Séparées des Schankraumes eine Ebar-Doschonin, ein elfengleiches Geschöpf mit Gliedern wie aus Glas und hellem, rätselhaften Gesicht. Er wusste, dass die Ebar-Doschonin seit Äonen in einer Symbiose mit Geschöpfen lebten, die einer Riesenmuschel der irdischen Biosphäre ähnelte.

Aber was diese Symbionten waren und warum die Ebar-Doschonin diese Lebensgemeinschaft eingingen, davon hatte er keine Ahnung. Diese Elfe schmiegte sich an das irisierende, samtige Innenhaut der Muschel. Sie sah verloren aus. Ihre Blicke folgten Stawrogin.

Stawrogin nickte ihr grüßend zu.

In einer anderen Nische entdeckte er drei Menschen, die er auf den ersten Blick für Terraner gehalten hätte, deren Haare aber eine ähnliche Violettfärbung aufwiesen wie ihre Augen, die ihn schamlos musterten.

Übrigens möglich, dass die drei tatsächlich Terraner waren und bloß einer befremdlichen Mode folgten, einem Hang zum Exotischen. Aber sein Gefühl sagte Stawrogin, dass es sich tatsächlich um Báalols handelte, um Antis.

Wahrscheinlich sind diese Antis ebenso wie die Ebar-Doschonin Kolonnengestrandete, vermutete er, verirrte Seelen, wie sie sich zu Millionen in diesen Tagen im Solsystem aufhalten, gestrandet, seitdem das Solsystem hinter dem TERRANOVA-Schirm hat in Deckung gehen müssen.

Endlich fand der Orang-Utan Zeit für ihn. Er hangelte sich zum Stawrogin heran und grunzte klagend. »Väterchen Weniamin, ihr euch gar nicht angekündigt habt. Hab kein Tisch nich' für euch reserviert.«

Stawrogin nickte. »Hast du dennoch ein Plätzchen für mich?«

Der Orang grunzte. »Wenn nicht, schmeißen Petenka raus«, bot er an.

Petenka fuhr auf. »Du Tier! Du Untier! Du Bestie in ... Affengestalt!«

Der Orang grunzte vergnügt, griff in die Seile und hangelte los. Stawrogin folgte ihm zu einem Séparée und setzte sich auf den angewiesenen Platz.

»Wodka? Schipowka? Nikolaschka?«, fragte der Orang, rückte den Intelligenzhut zur Seite und kratzte sich dezent am orangeroten Kopf.

Stawrogin wusste, dass der Hut des Orang-Utans eine umgebaute SERT-Haube war. Der Orang hatte ihm vor Jahren erzählt, dass Denis Denisowitsch den Hut in der Metallsternenstadt erworben hatte. Die Metallsternenstadt lag dort, wo Grippis und Bhaun in den Tausend-Bogen-Fluss mündeten, beinahe im geometrischen Zentrum des Kontinents Aphrodite-Terra.

Die Metallsternenstadt war altes chinesisches Siedlungsgebiet. Merkwürdigerweise hatten sich auf der Venus etliche ethnische Traditionen besser bewahrt als auf Terra selbst, auch wenn sich die Venusier längst physiognomisch vereinheitlicht hatten. Keinem von ihnen war mehr die irdische – oder gäanische – Herkunft anzusehen. Sie alle zeigten einen blassblauen Teint und waren im Durchschnitt schlanker, fragiler, höher gewachsen als die Alt-Terraner.

Kein Wunder, schließlich betrug die Schwerkraft auf der Venus nur 0,85 Gravo.

Ja, die Venus war anders, und es schien, als würde sie, die der Erde zunächst ähnlicher gewesen war als der Mars, ihrer Terrafizierung zäheren Widerstand leisten als der ehemals rote Wüstenplanet.

»Einen Nikolaschka«, orderte Stawrogin.

Der intelligenzoptimierte Orang, der ein geschäftstüchtiges Kerlchen war und den Laden in Schwung hielt, hangelte sich zum nächsten Tisch, nahm eine weitere Bestellung auf, turnte zur Küche und brüllte die Bestellung durch das Sprachfenster hinein.

Stawrogin blickte auf die Uhr. Es war der 25. Juli 1345 NGZ, 18.30 Uhr Terra-Standard. Tiefste Venusnacht. Da die Venus sich beinahe zehnmal langsamer drehte als Terra, dauerten Tag und Nacht etwa 240 Stunden.

Stawrogin trank den Nikolaschka, der nach Kognak, Zuckerzitrone und Bohnenkaffee schmeckte. Er wartete.

 

*

 

Der Mann, der nach fast zwei Stunden in die Tür zur Schänke trat, war keine auffallende Erscheinung. Blass, annähernd zwei Meter groß, eine Zobelpelzmütze auf dem Kopf, hätte man ihn für einen Venusier halten können. Allerdings fehlte seiner Haut der blassblaue, porzellanene Glanz, und die Augen schimmerten in einem lichten Rot. Er schaute sich suchend um. Petenka pöbelte grundlos herum.

Als der Blick des Neuankömmlings über das Gesicht Stawrogins glitt, hob dieser sein Glas und prostete ihm lächelnd zu.

Der Fremde trat mit den langen Schritten eines Stelzvogels an seinen Tisch. »Du bist der Lieferant, wie ich vermute?« Er sprach Interkosmo mit einem leichten arkonidischen Akzent, durchaus dezent und nicht mit den Heullauten durchsetzt, mit denen arkonidische Adlige die Nichtigkeiten verzierten, die sie zu sagen hatten.

»Einsicht in Leben und Heil, Paspatern«, wünschte Stawrogin.

Der Ara setzte sich, nahm die Mütze ab und legte sie auf den Tisch. Stawrogin sah, dass Paspaterns hoher, kahler Schädel von einem feinmaschigen Wärmenetz geschützt war.

»Ich habe mit der Bestellung auf dich gewartet. Soll der Orang uns die Karte bringen?«

»Ich bin nicht zum Essen hier. Ich bin satt.«

»Da entgeht dir etwas. Das Plow mit Zweigfüßlerfleisch ist eine Sensation. Aber der Geheimtipp ist Tschachochbili aus echter Ente.«

»Die Ente ist ein terranischer Vogel«, bemerkte der Ara. »Kein venusisches Tier.«

»Das ist richtig. Aber keine Sorge: Die Enten, die Denis Denisowitsch für sein Tschachochbili verwendet, sind nicht den ganzen Weg von Terra hierhin zu Fuß geflogen. Er züchtet sie selbst.«

»Ich bin begeistert.« Der Ara fixierte Stawrogin. »Du hast den Busen abgelegt, den du im Museum getragen hast. Warum? Er stand dir gut.«

Stawrogin lachte. »Kompliment. Und ich dachte, es sei eine prima Maske. Ja, der Busen – mir war bis dahin gar nicht bewusst, dass diese Dinger so lästig sein können. Kein Wunder, dass unsere Weibchen ein derart ausladendes Hinterteil haben müssen, als Gegengewicht, was?« Er lachte dröhnend.

Der Ara verzog das Gesicht und forderte: »Kommen wir zum Geschäft.«

Stawrogin nestelte in seinem Mantel, fand, wonach er gesucht hatte, und stellte eine Puppe auf den Tisch, handspannengroß und aus weichem Lindenholz geschnitzt.

»Was ist das?«, fragte der Ara.

Stawrogin drehte die Figur langsam, so dass der Ara den aufgemalten, quietschbunten Sarafan und das bäuerlich-gemütliche Gesicht der Puppe bewundern konnte. »Das ist eine Matrjoschka«, erläuterte er. »Eine Steckpuppe. Gib Acht!«

Er drehte die obere Hälfte des hölzernen Mütterchens ab und holte die darin eingesteckte zweite Puppe hervor; er nahm auch diese auseinander, danach die dritte, die vierte. »Interessant, nicht wahr?«

»Keineswegs«, erwiderte der Ara.

Der Orang-Utan hangelte sich an ihren Tisch und fragte, ob er noch etwas bringen dürfe. Der Ara verscheuchte ihn.

Stawrogin drehte zwei weitere Puppenhälften auseinander. Dann hielt er eine nicht einmal fingernagelgroße, ovale Kristallkapsel zwischen den Kuppen. »Es ist hier drin«, sagte Stawrogin. »In diesem Kryokristall.«

Er legte die Kapsel auf den Tisch und ließ den Ara danach greifen. Der Ara hielt es sich vor die Augen. Stawrogin hatte davon gehört, dass etliche Aras sich nanomechanische Wahrnehmungsassistenten in die Sinnesorgane implantieren ließen, optische Prothesen beispielsweise, die sie nacht-, wärme- oder mikrosichtig machten.

Der Ara blickte auf. »Es sieht aus wie ein Schiff. Es ist sehr schön.«

Tatsächlich war die Kristallkapsel unregelmäßig gestaltet, und Stawrogin fand, dass der Ara recht hatte: Mit etwas Fantasie konnte man darin ein archaisches Wasserfahrzeug erkennen.

»Woher weiß ich, dass sie echt sind?«, fragte der Ara.

»Woher weiß ich es?«

»Woher weißt du es?«

»Es war unter dieser Bezeichnung archiviert. Und laut Archiv haben die Zellen genau die Eigenschaften, von denen ich dir erzählt habe.«

»Aber du hast keinen Beleg.«

Stawrogin lächelte. »Ich hätte es ein wenig unverschämt gefunden, Pouman noch um ein Echtheitszertifikat zu bitten. Oder die Positronik um eine Expertise. Immerhin ist dieser Warentransfer nicht ganz legal, nicht wahr?«

»Ist er das nicht?«, fragte der Ara.

»Nein, ist er nicht. Die Zellen sind Eigentum der Liga.«

»Du hast sie entwendet«, konstatierte der Ara.

»Boschemoj – ich habe sie entwendet!«, flüsterte Stawrogin wie in jäher Selbsterkenntnis. »Na, da will ich sie mal an Ort und Stelle zurückbringen!« Er nippte an seinem Glas, stellte es schwungvoll auf die Tischplatte und winkte dem Orang-Utan.

»Ihr könnt nichts mit der Probe anfangen. Ihr braucht sie überhaupt nicht«, protestierte der Ara.

»Während du sie aus Forschungszwecken dringend benötigst?«

Der Ara klopfte sich mit den Fingerknöcheln bestätigend an die Stirn. Er bemerkte den Blick des Venusiers und nickte, wie es Terraner tun. »Ich benötige sie.«

»Tja. Was machen wir denn da?«

Der Ara wühlte in seinem Mantel und legte gleich darauf ein Kreditstäbchen und eine schmale Phiole auf den Tisch. Darin schwappte träge eine ölige, blausilberne Flüssigkeit.

Stawrogin schob das Kreditstäbchen ungeprüft in eine Manteltasche und nahm die Phiole in die Hand. »Aha!«, sagte er.

»Es ist das Stärkste, was wir haben. Es wirkt unfehlbar.«

»Wie kann ich sicher sein?«, fragte Stawrogin.

»Würde es dir helfen, wenn ich dir ein Echtheitszertifikat dazulege, oder ziehst du eine Expertise vor?«

Stawrogin lachte fröhlich. »Vertrauen gegen Vertrauen.«

 

*

 

Stawrogin trat aus der Schänke und aktivierte mit einem Impulsgeber die Pferde. Er entfernte die Plane, stieg auf den Bock des Schlittens und nahm die Zügel in die Hand.

»Hejho, meine Täubchen!«, rief er und schnalzte mit der Zunge.

Die drei Robottiere trabten an. Der Schneesturm hatte sich gelegt. Die Luft war eisig und klar. Im Westen kündigte ein zartes Rosa den baldigen Sonnenaufgang an. Im Westen, denn schließlich rotierte die Venus im Gegensatz zum üblichen Drehsinn der Eigendrehung und der Umlaufbewegung der solaren Planeten rückläufig.

Wenn er die Robotpferdchen laufen ließ, würde er Tomisenkowgrad mit dem Schlitten in etwa drei Stunden erreichen; im Antigravmodus mochte ihn der Flug 15 Minuten kosten.

Stawrogin legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Zweithimmel auf. Das Firmament der Tomisenkowgrader Kuppel war dem originalen Nachthimmel der Venus sehr ähnlich, nur standen einige Planeten vergrößert da. Der grandiose Saturn mit seinen erhabenen Ringen; der gute Mond der Erde. Auf die Erde selbst, die in der Nacht hing wie ein beleuchteter Kinderglobus, hätte er verzichten können.

Wer brauchte schon die Erde?

Ihren honigfarbenen Mond hingegen fand er schön wie immer, denn Stawrogin war ein Romantiker. Deswegen hatte er dem Ara das Material auch nicht für Geld überlassen, sondern gegen einen romantischen Preis: ein Aphrodisiakum aus araischer Fertigung.

Er müsste nur, wie Paspatern ihm verraten hatte, einige Tropfen eigenes Blut in die Substanz mischen, die sich dann molekular auf ihn eichen würde. Wer immer einige Tropfen nur von dieser Substanz trank oder sie über die Haut aufnahm, dem würden designte Bindungshormone, Oxytocin und Oxytocinderivate aus der Liebeszauberküche von Aralon das Hirn fluten.

Mit folgender Wirkung: Die fragliche Person würde in hemmungsloser, ewiger, unersättlicher Leidenschaft zu Stawrogin entbrennen.

Vor seinem geistigen Auge ließ Stawrogin die Mitarbeiterinnen seines zukünftigen Harems paradieren.

Aber er musste ja nicht nur die Damenwelt beglücken. Stawrogin kicherte schalkhaft. Warum nicht einige Tropfen an Waldermar Olbarow verschwenden, seinen Konkurrenten in der Abteilung? Was für ein Spaß, wenn Olbarow, der ihn bislang gehasst und verachtet hatte, nun von Herzen anschmachten müsste? Völlig aussichtslos übrigens, denn Stawrogin machte sich nichts aus 80-jährigen, beleibten Männern mit manikürten Fingernägeln und hochtoupierten Haaren.

Stawrogin ließ die Pferde fliegen. Bald kamen die Myriaden Augen der Stadt Tomisenkowgrad in Sicht. Der ewige Winter unter der Kuppel kühlte seine Stirn, aber sein Herz brannte in Vorfreude auf die Vergnügungen, die da kommen würden.

Er liebte es, solche Geschäfte zu machen. Aus voller Kehle sang er wieder:

»Nam silu dajot nascha wernast otschisne – tak byla, tak jest i tak budet wsegda!«

Vierzehn Jahre zuvor:

13. Juli 1331 NGZ

Ein Beratervertrag

 

Celestine Ponkas Butler-Roboter bat Rith'meas herein. Der Ara durchschritt den ovalen Korridor ließ dabei eine Desinfektion über sich ergehen. Der Desinfektionsblitz war gedimmt und stach nicht in die Augen. Das konnte kein billiges Gerät sein.

Der Butler-Roboter nahm Rith'meas die Pelerine ab und rollte auf dem Rad, das aus seinem Rumpf ragte, vorweg. Der Ara folgte.

Ponka stieg ihm aus dem zentralen Wohnraum entgegen und reichte ihm die Hand. Ihr Griff war fest, die Haut kühl und glatt wie Glas. Nano-Creme, vermutete Rith'meas, Teil eines Hyper-Make-ups.

»Ich freue mich, dich zu sehen«, sagte Ponka.

»Es freut mich, wenn du dich freust. Ich wünsche dir Einsicht in Heil und Leben.«

Ponka schien einen Moment zu stutzen, lächelte dann aber. »Setzen wir uns.«

Rith'meas blickte sich um. Durch den Wohnraum schlängelte sich ein Röhrenaquarium, in dem etliche Brokatkarpfen ihre Bahnen schwammen, einige von ihnen groß und wuchtig.

Vor dem Panoramafenster erhoben sich die mächtigen Wände der Freya Montes, des Massivs, das den gesamten Nordwesten des Kontinents Ishtar-Terra umspannte. Er sah das glitzernde Band der Traktorgondeln, das zum Gipfel des Mount Tropnow heraufführte, einem beliebten Ausflugsziel. Da die Atmosphäre der Venus dichter als die der Erde war, konnte man auch dort oben in fast 10.000 Metern Höhe verhältnismäßig leicht atmen.

Die Couch fühlte sich warm und seidig an, wie der Leib einer Schlange.

Inmitten des Raumes plapperte ein Nachrichten-Holo. Der Ara hörte den Sprecher gut.

»Eulalia, die Sprecherin der syntronischen Künstler von Zumurrund, bezeichnete alle weiteren Einschränkungen des kreativen Betriebs in der Künstlerkolonie als unannehmbar und drohte damit, die Kolonie für unabhängig und zum 1. Juli 1331 ihren Austritt aus der Liga zu erklären. Die Kolonie habe bereits eine Anwaltskanzlei mit der rechtlichen Überprüfung dieses Schrittes beauftragt.

Die Behörden von Zumurrund erachten dagegen eine Unabhängigkeitserklärung von Seiten der Kolonie für unwirksam. Maschinen kämen laut Verfassung der Liga Freier Terraner keinerlei politischen Rechte noch Freiheiten zu, und Syntroniken blieben selbst dann Maschinen, wenn sie künstlerisch-kreativ tätig werden.«

Ponka schnippte das Holo auf stumm.

»Eine neue Krise?«, fragte Rith'meas.

Ponka zuckte mit den Achseln. »Krisen sind Chancen.«

Der Ara studierte das ebenmäßige blassblaue Gesicht der venusischen Wissenschaftlerin. Er hätte ihr Alter nicht zu schätzen gewusst. »Krisen sind Chancen? Sicher tut man gut daran, es so zu sehen, wenn man einen Regenten wie Rhodan hat, der Krisen förmlich anzieht.«

Sie lachte. »Resident, nicht Regent«, verbesserte sie. »Aber du bist nicht hier, um über terranische Politik zu plaudern?«

»Ich brauche deine Hilfe als Medizinhistorikerin. Ich biete dir einen gut dotierten Beratervertrag an.«

»Du weißt ja nicht, ob du dir mich leisten kannst.«

»Mein Suhyag ist reich.«

Ponka lachte auf; also kannte sie den Begriff. Suhyag – so nannten die Aras ihre Clans oder Stämme, ihre parafamiliären Interessensverbände. Wörtlich ins Terranische übersetzen konnte Rith'meas den Begriff nicht. Suhyags, Mantarheiler, vielfältige Lobbys, Gewerkschaften, die elf Minister des Medizinischen Rats, der Lord-Mediker – das araische Gesellschaftssystem war von beachtlicher Labyrinthizität. Wer letztlich den Staat der Aras regierte, blieb den meisten Außenstehenden unerfindlich.

Der Butler-Roboter rollte herbei. »Wünscht unser Gast etwas zu trinken?«

»Coca Cola«, bestellte der Ara. Wenn man im Solsystem weilt, sollte man auch die lokalen Nationalgetränke kosten – und Beweise sammeln für den immer noch barbarischen Geschmack der Terraner.

»Sehr wohl«, sprach der Roboter und rollte davon.

»In welcher Hinsicht werde ich dich beraten, Mantarheiler Rith'meas?«