Vorwort

Vorwort

Das Labor, in dem ich viele Jahre hindurch die Erbsubstanz lebender Menschen untersucht habe, ist nur durch wenige Türen vom Leichenkühlraum des Kölner Universitätsinstitutes für Rechtsmedizin getrennt. Das tägliche Nebeneinander des sichtbar gemachten Lebensbauplanes einerseits und des greifbaren Todes andererseits regte mich dazu an, dieses Buch zu schreiben. Schon während meines Biologiestudiums fragte ich mich: Warum müssen nahezu alle Wesen sterben trotz der langen Entwicklungszeit, die das irdische Leben in Anspruch genommen hat? Wäre Unsterblichkeit nicht ein praktisches und erstrebenswertes Ziel der Evolution?

Auf der Suche nach einer Antwort ging ich den seltsamen Berichten über eingefrorene Köpfe, die in Lagerhallen privater Firmen auf eine Wiedererweckung warten, ebenso nach wie den Forschungen, mit denen man die Alterungsgene ausschalten will. Ich traf Genetiker, die Lebensinformationen verändern, und Mediziner, die uralte Erbsubstanzstücke untersuchen. Ich arbeitete mit Entwicklungsbiologen, die die Entstehung jeder einzelnen Körperzelle eines Tieres durch das Mikroskop beobachtet haben, und fand Rechenmethoden, die scheinbar den Ablauf des Lebens erklären können. In staubigen Bücherbergen entdeckte ich Werke des Erfinders der Biorhythmen und die Lehren von Goethes Leibarzt.

Wie sich zeigte, ist der Wunsch nach ewigem Leben eine grundlegende und uralte Sehnsucht des Menschen. Seit jeher nutzen wir alle technischen Möglichkeiten, um Leben zu erhalten und zu verlängern.

Aber erst die biomedizinische Forschung der letzten Jahre hat uns dem alten Traum vom ewigen Leben ein Stück näher gebracht. Für Hunderte erblicher Krankheiten haben wir tatsächlich schon die auslösenden Gene und damit den möglichen Schlüssel für eine Heilung gefunden.

Seit vergangenem Jahr ist das Erbgut vieler Lebewesen entschlüsselt – zumindest so weit, dass wir damit sinnvoll arbeiten können. Weder die Anzahl der Gene des Menschen noch die Arbeitsweise der nicht kodierenden Erbsubstanzabschnitte ist aber bisher verstanden, und so bleibt es spannend im gerade beginnenden Jahrhundert der Bioforschung. Die Schönheit des Lebens, aber auch dessen zerbrechliche und zufällige Art bleiben dabei für viele Forscherinnen das befriedigendste Beschäftigungsfeld.

In der jetzt wirklichen Umwälzung des biologisch-medizinischen Denkens und Arbeitens geraten einige der im vorliegenden Buch beschriebenen Methoden wie das Tieffrieren menschlicher Körper, der Bau von Einmann-Überlebenswaben zur Besiedlung des Planeten Mars oder die massenhafte Lagerung aller Pflanzensamen zu scheinbaren Beinoten biotechnischen Wirkens. Vielleicht werden aber gerade unter gröberen Ansätzen einmal gedankliche Perlen sein, die uns helfen, Fortschritte zu machen. Zumindest in vielen der sich entwickelnden Ländern, in denen ich in den vergangenen Jahren als Wissenschaftler arbeiten durfte, bleibt der Blick aufs Ganze und Große wichtig.

Der biologische Sinn der Sterbens und die darin enthaltene Schönheit treten angesichts unserer zunehmenden Hinwendung zum Molekularen schärfer hervor als noch vor wenigen Jahren. Ich habe bei der Bearbeitung des deutschen Textes für die vorliegende Taschenbuchausgabe darauf Rücksicht genommen. Der Text wurde zudem gestrafft und aktualisiert.

Ich lade Sie hiermit zum unterhaltsamen und spannenden Blättern, Quer- und Wiederlesen in die Welt der Biologie, (Rechts-)Medizin, Kulturgeschichte und Zukunftsforschung ein. Bitte werfen Sie auch einen Blick in das Literaturverzeichnis. Es liefert Ihnen vielleicht den einen oder anderen Lesetipp.

Eine alte rechtsmedizinische Regel besagt, dass die Wirklichkeit stets einen Deut bunter ist als die Vorstellungskraft. Dieses Buch soll Ihnen zeigen, dass selbst eine Romanphantasie mit der Realität nicht mithalten kann.

Dennoch: Betrachten wir das biologische Wissen, das wir bis heute gesammelt haben, nüchtern, dann stellen wir fest, dass das Leben als Gesamtheit eine hartnäckige Zufälligkeit ist, eine Laune, die immer neue Geschöpfe hervorbringt, um sich selbst zu erhalten, und die eines Tages dort enden wird, wo sie begonnen hat: in der Gluthitze und Eiseskälte des Leblosen. Das Leben ist ein einziger Selbstzweck – aber der wundervollste und raffinierteste, den wir kennen. Sein Programm lautet Anpassung, Ausdehnung und Vervielfältigung. Dieses Buch schaut dem Lebensprogramm derart in die Karten, dass es die Frage nach dem Sinn des Lebens und des Todes derart beantwortet, wie es Wissenschaftler aus Erfahrung am liebsten tun: mit der einfachsten erkennbaren Erklärung.

Mark Benecke

Cover

ERSTER TEIL

Warum die Natur den Tod erfand

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„Alles, was lebt, muss sterben. Der Mensch ist das einzige irdische Geschöpf, dem es bisweilen gelingt, Unsterblichkeit zu erlangen.“

Publius Aelius Hadrian, um 100 n. Chr.
Vergiftete seine Frau Sabrina, seinen Schwager Servianius und seinen Enkel Dion, bevor er qualvoll an Wassersucht starb, weil sein Arzt ihm die Sterbehilfe verweigerte.

Blitz und Donner machen den Anfang

Ein schwüler Abend im Sommer 1952. In einem Labor in Chicago zuckt ein Lichtblitz durch einen Glaskolben, der mit kochendem Wasser und giftigem Methan-, Wasserstoff- und Ammoniakgas gefüllt ist. Der junge Forscher Stanley Miller ahmt damit die Umwelt nach, wie sie nach Meinung seines Chefs, des Chemie-Nobelpreisträgers Harold Urey, kurz vor der Entstehung des Lebens auf der Erde ausgesehen haben könnte. Tatsächlich entsteht in Millers Hexenkessel nach einigen Tagen beinahe Leben. Genauer gesagt, es bilden sich ein paar chemische Bausteine, die auch in Lebewesen vorkommen, vor allem Aminosäuren. Sie sind die Bestandteile aller Proteine, der wichtigsten Aufbaustoffe lebender Körper.

Anfangs entstand in Millers Kolben allerdings vorwiegend rötlicher Teer. Nach einigen Änderungen des Versuchsaufbaus wurde das Ergebnis aber interessanter, und beinahe hätte der deutsche Biologe Ernst Haeckel Recht behalten, der einem Kollegen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Scherz geraten hatte: »Na, kondensieren Sie nur, eines Tages wird‘s schon krabbeln.«

Der Übergang von unbelebter Materie zu lebenden Gebilden ist auch heute noch eines der interessantesten und komplexesten Themen der Biologie und Chemie. Der deutsche Nobelpreisträger Manfred Eigen beschäftigte sich jahrelang ausführlich mit diesem Problem, und es war noch 1994 das Thema eines Leitartikels des einflussreichen Wissenschaftsmagazins Nature.

Mit ihren Versuchen konnten Miller, seine Mitarbeiter und andere Forscher nur den ersten Schritt zur Entstehung von Leben nachvollziehen; weitere wollen bis heute im Labor kaum gelingen. So bleibt gültig, was der amerikanische Wissenschaftler Harold Klein einmal sagte: »Selbst das einfachste Bakterium ist aus der Sicht eines Chemikers so verdammt kompliziert, dass man sich kaum vorstellen kann, wie es entstanden sein soll.«

Andererseits waren Bakterien aber sicher nicht die ersten lebensähnlichen Gebilde, die auf der Erde entstanden. Das macht es leichter, über die Anfänge des Lebens nachzudenken. Jüngere Versuche einer Arbeitsgruppe um J. P. Ferris vom Rensselear Polytechnic Institute in Troy zeigen, dass die Bausteine der Proteine (die Aminosäuren) und die Bausteine der Nukleinsäuren (Nukleotide) sich in der Gegenwart zweier Mineralien der so genannten Ursuppe (Illit und Montmorillonit) zu Bioketten verbinden können, wie sie auch in Lebewesen vorkommen. Solche Molekülketten kann man sich sehr gut als Ausgangsstoff für die Entwicklung des Lebens vorstellen.

Millers Versuche haben gezeigt, dass das Leben offenbar vor unendlich langer Zeit in schwärzester Nacht bei Sturm und Blitz geboren wurde.1 Mit gewaltigem Aufwand ist seit damals ein bunter Strauß von Lebensformen erblüht: Adler, Krebse, Tannen, Pudel, Butterblumen – und Menschen. Sie alle haben eines gemeinsam: einen mehr oder weniger eindrucksvollen Auftritt auf der Bühne des Lebens und – den Tod.

Lebende Geschöpfe wissen zu viel

Höhere Pflanzen und Tiere bestehen aus unglaublich vielen Zellen. Manche dieser Lebensbausteine kann man mit bloßem Auge gerade noch erkennen, die meisten sind dazu jedoch zu klein. Sie sind so winzig, dass in einen einzigen Blutstropfen mehr als eine Million Zellen passen.

Die Zahl eine Million ist schwer vorstellbar. Ein Gedankenexperiment soll sie deutlich machen. Eine geöffnete Hand fasst etwa zweitausend Reiskörner; in beide Hände passen folglich viertausend Körner. Um eine Million Reiskörner halten zu können, sind demnach zweihundertfünfzig Menschen nötig, und wenn sie alle ihre Hand voll Reis in Kochtöpfe schütten, füllen sie deren fünfzehn. Fünfzehn Kochtöpfe voller Reiskörner: So viele Zellen enthält ein Tropfen Blut.

In einem Lebewesen wie dem Menschen arbeiten aber nicht nur Millionen, sondern Billionen Zellen geregelt zusammen. Gleichgültig, wie weit die Zellen eines Körpers voneinander entfernt sind: Sie stimmen ihre Tätigkeit aufeinander ab. Wäre das nicht der Fall, würde jeder Teil des Körpers tun und lassen, was er wollte. Eine Nervenzelle würde zum Beispiel das linke Augenlid dazu anregen, unablässig zu zucken. Oder ein kleiner Hautabschnitt, vielleicht am Kinn, würde trotz grimmiger Kälte plötzlich schwitzen, weil einige Schweißdrüsen ihre Arbeit aufgenommen haben. So könnte kein Körper funktionieren. Das Zusammenspiel der Zellen erfolgt durch chemische und elektrische Nachrichten.

In unserem Körper gibt es etwa zweihundert verschiedene Zelltypen, die jeweils ganz spezielle Aufgaben erfüllen. Zellen der gleichen Sorte haben die gleiche charakteristische Gestalt: Nervenzellen etwa sind oft lang gestreckt, und Schweißdrüsenzellen sind becherförmig. Der einheitlichen Form entsprechen gleiche Aufgaben – Nervenzellen leiten elektrische Signale weiter, Schweißdrüsenzellen produzieren Schweiß.

Jede Zelle enthält eine Arbeitsanweisung. In den Zellen der Schweißdrüse ist die genaue Anleitung zur Herstellung von Schweiß niedergeschrieben. Dieses Rezept befolgen die Zellen sehr genau. Auch Nervenzellen beachten eine innere Anleitung. Sie erzeugen elektrische Signale, die im Körper ganz bestimmte Vorgänge steuern, etwa den Schlag der Augenlider. Erreicht das Nervensignal sein Ziel (in unserem Beispiel das Augenlid), zucken die Muskelzellen dort zusammen, weil genau das ihre vorgegebene Aufgabe ist; sie können nicht anders.

Sind Zellen also regelrechte Fachidioten, die nur jeweils eine einzige Aufgabe erfüllen können? Tun sie immer, was der innere Plan vorschreibt? Ja, aber das ist nicht alles. Fast alle Zellen tragen einen stillen Schatz in sich, den sie normalerweise niemals nutzen. Er besteht aus Information.

Jede Zelle besitzt nicht nur den Plan für ihre eigene Spezialaufgabe, sondern auch die Anleitungen und Rezepte aller anderen Zelltypen. Das heißt umgekehrt: Die meisten Pläne, die eine Zelle mit sich herumschleppt, braucht sie gar nicht. Wo eine Zelle im Körper liegt und wie sie auch aussieht, ihr Wissensschatz ist genauso groß wie der jeder anderen Zelle desselben Körpers. Eine menschliche Schweißdrüsenzelle trägt die Anleitungen für den Bau von Adern, Knochen und Gehirnmaterial in sich, obwohl sie diese Dinge niemals herstellt. Und wenn es nur um die Information ginge, könnte eine Nervenzelle genauso gut Fett produzieren wie die entsprechenden Zellkollegen im Gesäß. Nur – sie tut es nicht. Das hat zwei Gründe.

Erstens beauftragt niemand die Zellen damit, auf einmal eine andere Funktion auszuüben. Dazu gibt es auch keinen Grund. Warum sollte eine Nervenzelle im Gehirn die Aufgabe einer Gesäßzelle übernehmen müssen? Zweitens haben die Zellspezialisten oft schon eine Lage im Körper eingenommen, die ihnen eine neue Aufgabe unmöglich macht, selbst wenn sie zu einer solchen veranlasst würden. Eine in den Knochen eingemauerte Zelle kann keine Tränen nach außen entlassen, und eine Fettzelle kann nicht am Denken teilnehmen. Dazu müsste sie ins Gehirn wandern, sich dort sehr lang strecken, sich mit Isoliermaterial umhüllen und Anschlüsse zu Nerven bilden. Ein Ding der Unmöglichkeit. Warum also werfen die Zellen ihre überflüssigen Baupläne nicht fort?

Sie tun es nicht, weil die scheinbar überflüssigen Informationen sehr wertvoll sein können. Das ist ein Überbleibsel aus alten Tagen, als die unsterblichen Geschöpfe entstanden, die später in diesem Buch beschrieben werden. Diese Lebewesen bestanden aus einer einzigen Zelle und benötigten fast alle Arbeitsanleitungen, weil sie alles selbst tun mussten. Denn obwohl es nötig war, Nahrung aufzuspüren, zu erbeuten und zu verdauen, gab es noch keine speziellen Seh-, Kaumuskel- oder Darmzellen.

Manchmal ist es auch beim Menschen nützlich, dass jede Zelle noch alle Pläne in sich trägt: Einige Zelltypen können nicht nur eine spezielle Arbeitsvorschrift lesen, sondern je nach dem Zustand der Umgebung auch zuvor überflüssige Anleitungen. Wenn eine Wunde heilt und anschließend die passenden Gewebe – meist Haut und Muskeln – wieder eingebaut werden, sind solche Multitalente am Werk. Meistens schwimmen sie im Blut herum und warten nur darauf, dass ein Unfall passiert. Sobald das Notsignal kommt, werden sie im Blutstrom an Ort und Stelle transportiert. Dort verhalten sie sich wie ein Notarzt, der am Unfallort das jeweils geeignete Instrument aus seinem Rettungskoffer zieht. Blutverklumper, Stoffe, welche die Bildung neuer Haut und Muskeln fördern, sowie schmerzlindernde Substanzen sind nur einige der Hilfsmittel, über die solche Rettungszellen (Thrombozyten, Leukozyten und Fibroblasten) verfügen.

Die Geheimschrift des Lebens kann jeder lesen

Wie sehen nun all die Rezepte, Karten und Pläne aus, von denen die Rede ist? Woraus bestehen sie? Sie liegen in den langen Molekülfäden, auf denen sich auch die Anleitungen für das Altern und Sterben finden. Wenn man ewig leben möchte, muss man also den Informationsfaden verändern, und dazu muss man genau wissen, wie er aufgebaut ist und wo auf ihm die einzelnen Anleitungen stehen.

Manchmal nennt man den Informationsfaden auch Erbsubstanz. Die Eigenschaften des Körpers, zum Beispiel die Augenfarbe oder Form der Nase, können durch den Informationsfaden von den Eltern auf die Kinder übertragen, also vererbt werden. Der chemische Name der Säure ist kompliziert. Er lautet deoxyribonucleic acid, zu Deutsch: Desoxyribonukleinsäure. Weil Wissenschaftler ebenso bequem sind wie alle anderen Menschen, kürzen sie den englischen Namen mit DNA ab. Der ausgeschriebene chemische Name hört sich etwas exotisch an und erinnert ein wenig an malerische Indianerwörter. Übersetzt heißt er: »saurer Zucker aus dem Kern der Zelle, der zu wenig Sauerstoff hat«.

DNA ist tatsächlich eine Säure, ähnlich wie die in Zitronen oder Essig, aber sie ist viel komplizierter zusammengesetzt. Im Zitronensaft schwimmen Zitronensäurebausteine in Wasser herum. Entzieht man dem Saft das Wasser, zum Beispiel durch Erhitzen, lagern sich die Bausteine zu einem hübschen Kristall zusammen. Solche Kristalle mögen gut schmecken und in der Sonne glitzern, aber sie sind auch einfältig. In ihnen kann keine Information gespeichert oder verschlüsselt sein, weil sie aus lauter gleichen Untereinheiten bestehen. Es ist ähnlich wie beim Schreiben, einer menschlichen Art der Informationsübermittlung: Man kann so viele gleiche Buchstaben aneinander reihen, wie man möchte: Ein Wort oder ein Satz kommt dabei nie heraus.

Der DNA-Faden einer Zelle besteht aus vier verschiedenen Arten von Säurebausteinen. Mit ihnen lassen sich Informationen verschlüsseln und speichern, genauso wie wir es beim Schreiben durch Buchstabenkombinationen tun: Die vier Bausteine des Informationsfadens sind in Dreiergruppen hintereinander angeordnet, bilden also gewissermaßen lauter Wörter aus drei Buchstaben. Lesemoleküle der Zelle nehmen sich dann der Reihe nach jede Dreiergruppe vor und Übersetzen sie in einen Zellbaustein. Es gibt vierundsechzig Dreiergruppen oder »Wörter«, von denen einige allerdings dieselbe Bedeutung haben. Mit ihnen sind alle Bau- und Arbeitspläne der Zellen geschrieben.

Ein bildhaftes Beispiel: Die vier Säurebausteine (»Buchstaben« oder Basen) heißen abgekürzt A (für Adenin). C (für Cytosin) , G (für Guanin) und T (für Thymin). Angenommen, ein Stückchen eines solchen Informationsfadens besteht aus der erfundenen Reihenfolge CCCGTTAAG. Sehr stark vereinfacht gesagt, erkennt der Leseapparat: CCC = Fett. GTT = am. AAG = Fuß. Heraus kommt also: Fett am Fuß. Es handelt sich um eine der Fettzellen, die am Anfang des Kapitels erwähnt wurden.

Die übersetzten Dreiergruppen ergeben in Wirklichkeit natürlich keine Worte oder Anweisungen. Die Zelle benutzt stattdessen Moleküle. Das macht aber eigentlich keinen Unterschied. Fett könnte wirklich entstehen, wenn auch nicht genau wie im angeführten Beispiel. Es sind einige molekulare Umwege nötig, und die Zelle braucht dazu eine Kette von mindestens zehntausend »Buchstaben« (das sind ungefähr dreißig Seiten dieses Buches). Die meisten Anleitungen in lebenden Zellen sind noch viel länger. Sie enthalten sogar Bereiche mit wirren Zeichenkombinationen, die der Leseapparat nicht versteht und durch Tricks »überspringen« muss.

Die Übersetzung der Anweisung in der DNA kann heutzutage schon jeder Schüler durchführen. Dazu nimmt man eine Zelle, bringt sie zum Platzen, zieht den Informationsfaden heraus, indem man Alkohol daraufgießt, und steckt den Faden in ein Plastikröhrchen mit einer Salzlösung. Das Röhrchen kommt in einen Apparat, der gerade halb so groß ist wie eine Waschmaschine. Das Gerät erkennt die »Buchstaben« A, C, G und T und druckt sie der Reihe nach aus. Steckt man das Röhrchen abends in diese Maschine, so ist am nächsten Morgen eine Seite mit einer Unmenge von C, G, A und T fertig gestellt. Wenn man Lust hat, kann man die Dreiergruppen nun selbst lesen. (Im Normalfall überlässt man diese Arbeit jedoch einem Computerprogramm. Es übersetzt oft genauer und stets schneller als ein Mensch.)

Obwohl die Geheimschrift der Zelle beeindruckend ist, sollte uns die dahinter steckende Idee vertraut sein: Auch Menschen verschlüsseln jeden Tag Dinge in einem Code aus Buchstaben. Dass es wirklich ein Code ist, merkt man daran, dass nicht jeder ihn versteht. Das Wort líomóid bedeutet Zitrone. Im Westen Irlands würde jeder wissen, was gemeint ist; der Sprachcode ist dort eben anders als hier.

Heute gibt es ein Wörterbuch für die Zellsprache. Man nennt es oft Codon-Sonne, weil die Dreiergruppen aus Säurebausteinen »Codons« genannt werden und das Schema mit etwas Phantasie wie die Sonne aussieht. Die Übersetzungsregeln der Codon-Sonne sind sehr einfach. Der Grundsatz »Je einfacher, desto besser« gilt in der Natur genauso wie im Alltag. Je einfacher und eleganter etwas aufgebaut ist, desto besser funktioniert es.

Wo auf dem Säurefaden liegt nun die Information für Altern und Sterben? Das erste Problem: Wenn ich die DNA aus einer einzelnen Zelle herausziehen möchte, um diese Anweisungen zu suchen, habe ich drei Probleme: Meine Finger sind zu dick, meine Arme zu kurz und meine Augen zu schwach.

Der Faden ist so dünn, dass ich ihn nicht mit den Fingern festhalten kann. Aus dem gleichen Grund kann ich ihn nicht sehen. Sogar das stärkste Vergrößerungsglas ist zu schwach dafür. Meine Arme sind zu kurz, weil der Faden einer einzigen Zelle zwei Meter lang ist – ich kann ihn nicht am Stück herausziehen. Eigentlich kommt noch ein vierter körperlicher Mangel hinzu. Mein Gehirn ist zu schwach. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein zwei Meter langer Säurefaden in einer Zelle liegt, die so klein ist, dass ich sie mit bloßem Auge nicht einmal sehen kann.

Eine weit ernstere Hürde besteht darin, dass die auf dem DNA-Molekül gesuchte Information so winzig ist. Strecken Sie zwei Meter Zwirn quer über den Tisch aus. Der Zwirn soll die DNA sein. Pieksen Sie mit einer Nähnadel in eine beliebige Stelle des Fadens. Wäre der Faden DNA, so hätten Sie mit einer Handbewegung bis zu fünfzehn Bauanweisungen für verschiedene Zellbestandteile aufgespießt. Diese »Bauanweisungen für Zellbestandteile« nennt man Gene. Manchmal ist ein Gen wirklich dasselbe wie exakt eine Anleitung, meist braucht der Körper aber viele Gene und zusätzlich DNA-Bereiche als Vorlage für ein einzelnes Endprodukt, beispielsweise ein Barthaar oder einen Knochen.

Gene, die zusammengehören oder sich ähneln, müssen nicht nebeneinander liegen. Es ist wie mit einem mehrbändigen Lexikon. Sie können alle Bände voneinander getrennt in der Wohnung aufstellen. Solange Sie die Standorte der Bücher im Gedächtnis behalten, können Sie auf jedes gewünschte Stichwort samt Querverweisen nachschlagen. Auch die Zelle weiß, wo auf der DNA die gewünschten zusammengehörigen Informationen liegen, und bringt sie zueinander.

Zurück zum Experiment mit der Zwirnfaden-DNA. Mit der Nadelspitze haben Sie soeben bis zu fünfzehn Gene aufgespießt. (Sie hatten dabei Glück, denn über 90 Prozent der DNA bestehen aus Nicht-Genen, deren Sinn uns bis heute verborgen ist.) Stellen Sie sich vor, jedes der getroffenen Gene habe eine Nummer, von 1 bis 15. Jede Nummer, also jedes Gen, ist eine Bauanleitung für eine Zutat in einem körpereigenen Rezept. Alle fünfzehn Zutaten ergeben gemeinsam ein nützliches Gesamtes, etwa das Rezept für Teile einer lichtempfindlichen Zelle im Auge oder für ein winziges Hohlkügelchen in der Zelle, das Moleküle transportiert.

Insgesamt enthält der Faden mehrere zehntausend verschiedene Rezeptteile. Stellen Sie sich vor, wie oft Sie in den Faden stechen können, ohne dieselben Zellrezepte ein zweites Mal zu berühren! Und wenn Sie oft genug zustechen, haben Sie auch das Rezept für »Altern ab dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr« getroffen. Wie kann man ein solches Rezept im echten DNA-Faden finden?

Mit Elektronenmikroskopen gelingt es, einzelne zarte Säurefäden sichtbar zu machen. Leider sind sie durch die notwendige Vorbehandlung mit einer dicken Metallschicht zugeschüttet. In Wirklichkeit erkennt man also nur das Metall, das darüber geschichtet ist. Auch hier ist die Information für »Altern« noch nicht zu sehen. Was tun?

Eine alte Genetikerregel lautet: Du findest ein Gen am besten, wenn du dir eine lebende Zelle anschaust, in der das gesuchte Gen nicht mehr arbeitet. Das hört sich widersprüchlich an, es funktioniert aber: Eine Zelle, die anders ist als alle anderen, ist oft leicht zu erkennen. Um das Gen für Altern zu finden, warte ich, bis eine Zelle auftaucht, die nicht altert.

Solche Zellen gibt es. Meistens ist ihr Auftreten jedoch kein Anlass zur Freude. Im Gegenteil. Meistens sind unsterbliche Zellen nichts anderes als Krebszellen.

Wie man aus Bananen DNA gewinnt

Irgendwo in der Erbsubstanz sitzen die Anweisungen für das Altern und Sterben. Wenn man aus einem solchen DNA-Faden die unerwünschten Alterungsbefehle herausschneidet, sollte ein unsterbliches Lebewesen entstehen – möchte man meinen. Dazu muss man zunächst an den Erbfaden gelangen. Eine einfache Methode der DNA-Gewinnung hat der Autor selbst erdacht und erprobt. Man nehme:

1/4 reife Banane
2 1/2 EL Kochsalz
ein dünner Schaschlikspieß (Holz)
einen Esslöffel hochwertiges Vollwaschmittel
Brennspiritus

Bananenviertel mit einer Gabel zerdrücken. Brei in ein Glas (0,3 Liter) geben, mit Leitungswasser auffüllen und einen Esslöffel hochwertiges Vollwaschmittel sowie 2 1/2 gehäufte EL Kochsalz zugeben. Kurz aufkochen umrühren, vom Herd nehmen. Abkühlen lassen und einen Schuss Brennspiritus zugeben. Mit dem Spieß (Spitze auf dem Boden des Glases) langsam rechtsherum rühren.

Um die Spitze wickelt sich nach kurzer Zeit eine geringe, aber gut sichtbare Menge einer gelatineartigen Substanz. Jetzt zieht man die Bleistiftspitze am Rand des Glases nach oben und zupft die Masse ab.

Man kann mehrmals in dem Bananen-Salz-Cocktail fischen. Immer wieder wickeln sich einige tausend Informationsfäden aus DNA und viele Proteine um die Bleistiftspitze. Würde man auf dieser DNA den Todescode finden, herausschneiden und den Rest des Informationsfadens wieder in eine Zelle einbauen, entstünde ein unsterblicher Bananenbaum.

(Der Versuch ist ungefährlich. Wenn Sie die DNA nicht herausgefischt hätten, hätten Sie diese zusammen mit der restlichen Banane verspeist.)

Unsterbliche Zellen, die den Tod bedeuten

In der DNA einer Familie mit erblicher Vierfingrigkeit ist gegenüber der DNA anderer Menschen eine Stelle verändert. Genauso verhält es sich mit der nicht alternden Zelle. Etwas in ihr ist verändert. Eine solche Änderung innerhalb des DNA-Informationsfadens nennt man Mutation. Jede Bauanleitung jeder Zelle kann mutieren. Das Rezept für Fünffingrigkeit kann sich ebenso verändern wie das für Altern oder jedes andere.

Eine DNA-Veränderung oder Mutation ist nicht von vornherein gut oder schlecht. Der erblich bedingte Verlust eines Fingers war beispielsweise die Voraussetzung dafür, dass sich die Hufe von Pferden, Milchkühen, Giraffen und Kamelen entwickeln konnten.

Niemand bezweifelt, dass Hufe für das Laufen auf vier Beinen vortrefflich geeignet sind. Der Verlust des Alterns hingegen ist nur für eine einzelne Zelle von Vorteil. Sie vervielfältigt sich rasch und erinnert vollkommen an die unsterblichen Urtiere, die noch vorgestellt werden. Das Krebsgeschwür ist eine Ansammlung praktisch gleicher, unsterblicher Zellen. Durch die ständige ungeregelte Teilung einer einzigen mutierten Zelle und ihrer Nachkommen kommt schließlich der ganze Körper aus dem Gleichgewicht: Das Krebsgeschwür drückt Leitungsbahnen zu, behindert die Funktion von Organen oder entstellt unter Umständen die Erkrankten.

Es gibt sehr viele Möglichkeiten, wie aus einer normalen Zelle eine Krebszelle werden kann. Entsprechend gibt es sehr viele verschiedene Arten von Krebs. Wegen der vielen Entstehungs- und Erscheinungsformen von Tumoren wird es wohl niemals eine Behandlungsmethode gegen alle Krebsarten geben. Es gibt auch kein vorbeugendes Mittel dagegen. Das Zusammenspiel der Zellen des Körpers kann jederzeit aus dem Gleichgewicht geraten. Der Traum vom Sieg über den Krebs wird sich vermutlich nicht erfüllen. Ein Gutes hat die Krebsforschung aber in jedem Fall: Sie bringt unser Wissen um den Aufbau und die Vorgänge in Zellen seit dreißig Jahren enorm voran. Ohne die Krebsforschung wären sehr viele biomedizinische Fortschritte nicht (oder nicht so rasch) möglich gewesen. Seit wir Zellen besser verstehen, können wir viele andere Krankheiten behandeln, die eigentlich nicht unter den Begriff Krebs fallen. Außerdem haben wir vieles über Zellen gelernt, das wir bislang noch nicht praktisch nutzen konnten. So ist es oft in der Forschung: Versuche, die einem bestimmten Zweck dienen sollen, bringen ein anderes Wissensgebiet voran. Und umgekehrt kommt die Lösung für ein teuer und lange untersuchtes Problem oft aus einem Bereich, von dem man es nie erwartet hätte. Der Aufbau der DNA, der Geheimschrift des Lebens, wurde zum Beispiel erst durch rein physikalische Versuche (Röntgenbeugungsmuster) endgültig aufgeklärt.

Die vorprogrammierte Lebensdauer

Um den Tod zu verstehen, muss man etwas über das Altern wissen. Lange glaubte man, dass Zellen einfach sterben, weil sie nach einiger Zeit zu viele Abfallstoffe in sich tragen. Zellabfallstoffe entstehen durch Atmung, Verdauung und Bewegung. Diese Vorgänge benötigen Energie, und Energieerzeugung verursacht Abfall. Was den Atomkraftwerken die alten Brennstäbe sind, sind den Zellen unverwertbare winzigste Nahrungs- und Zellbestandteile. Diese Reste werden – ganz ähnlich wie verbrauchte Brennstäbe – sicherheitshalber umhüllt. Die Zelle kann den giftigen Müll oft nicht ausstoßen, deshalb bleibt er in ihr liegen. Man kann sich durchaus vorstellen, dass die Zelle sich auf diese Weise langsam selbst vergiftet, bis sie stirbt. Diese Idee soll im 16. Jahrhundert schon der streitbare Arzt Philippus Theophrastus Paracelsus vorgetragen haben. Ende des 19. Jahrhunderts wiederholte sie der Zellbiologe Elias Metschnikow. Als Biologe wundert man sich allerdings ein wenig über das (gewollte?) Vergiftungsmissgeschick der sonst so elegant gesteuerten Zellen.

Die berühmten Biologen Charles Darwin und August Weismann gingen Ende des 19. Jahrhunderts davon aus, dass eine Zelle sich ähnlich wie eine Maschine abnutzt. Dass dieser Vergleich hinkt, zeigt aber schon das Beispiel eines Muskels, der sich bei Nichtbenutzung, etwa im Gipsverband, zurückbildet. Eine Maschine würde so etwas nicht tun. Wenn eine Zelle sich schon wie eine Maschine verhalten soll, muss sie alle oder zumindest viele maschinenähnliche Eigenschaften zeigen und nicht bloß eine einzelne.

Eine wesentlich bessere Erklärung für den Tod der Zellen fanden die Forscher schließlich auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert, als sie eine Blutzelle in einem Glasschälchen züchten wollten. Sie setzten eine junge, lebendige Zelle in einen Flüssigkeitstropfen, stellten eine für das Wachstum günstige Temperatur ein, gaben Nährstoffe zu und sorgten für Sauerstoff zum Atmen. Die Zelle starb. Daraufhin verbesserten die Wissenschaftler die Lebensbedingungen der Zelle. Sie füllten eine Glasschale mit einem Gelee aus gekochten Algenzutaten und setzten die Zelle darauf. Nichts geschah. Sie gaben recht wahllos weitere Nahrungsstoffe zu. Nun überlebte die Zelle. Sie entwickelte sich aber nicht weiter. Da kam einer der Forscher auf die Idee, dem Nährboden Blutserum zuzusetzen (das Serum ist der Teil des Blutes, der nach Wegnahme der roten Blutkörperchen übrig bleibt). Von da an gedieh die Zelle hervorragend, das heißt, sie vermehrte sich. Eine in Kultur gehaltene Mauszelle zum Beispiel teilte sich in geeigneter Umgebung bis zu zwanzigmal. Warum, konnte sich zunächst niemand erklären. Es fiel jedoch auf, dass die Zellen sich bei Zugabe von einem Prozent Serum nicht so oft teilten wie bei einem Serumanteil von zehn Prozent. Das Serum musste das entscheidende Geheimnis des Wachstums und der Zellteilung in sich bergen.

Zur gleichen Zeit hatte der Chirurg, Zellkulturspezialist und Nobelpreisträger Alexis Carrel zusammen mit seinem Kollegen Albert Ebeling vom Rockefeller-Institut für Medizinische Forschung in New York Bindegewebszellen (Fibroblasten) aus einem Hühnerherz in körperwarmer Nährlösung am Leben erhalten. (Hühnchen – vor allem sehr frühe, ungeschlüpfte Entwicklungsstadien – benutzt man immer noch gerne als Forschungsmaterial, unter anderem, weil man Hühnereier leicht bebrüten und die Embryonen im teils vorsichtig geöffneten Ei gut untersuchen kann.) Carrels Kultur hielt sich sehr lange. »Am 17. Januar 1921«, schrieb er stolz seinem Kollegen Raymond Pearl, »werden die Bindegewebszellen des Hühnerherzens neun Jahre alt.« Erst nach insgesamt vierunddreißig Jahren warfen die Forscher die Schalen mit der immer noch lebenden Zellkultur – freiwillig und ohne besonderen Grund – fort.

Ursprünglich hatte sich Carrel vor allem für die Lagerung von Geweben (und nicht für ihre Züchtung) interessiert. Als der Chirurg einem Hund ein »fingerlanges Stück« der Bauchschlagader durch ein ebenso langes Stück einer Katzenvene ersetzte, benutzte er erstmals Gewebe, das zwanzig Tage auf Eis gelegen hatte. Die Operation gelang, und die Ader heilte ein. Nun wurde Carrel mutiger. Er wusste, dass sein Kollege Wentscher schon 1894 Haut übertragen hatte, die fünfzig Tage auf Eis gelegen hatte. Auch einen Versuch des Mediziners Ljungren, der Haut einen Monat außerhalb des Körpers aufbewahrt hatte, bewunderte Carrel. Als schließlich die ersten Organübertragungen des Forschers Garrè bekannt wurden, gab es für Carrel kein Halten mehr. Was ihm mit Adern gelungen war, musste auch mit größeren, sogar viel größeren Gewebestücken gelingen. Zusammen mit seinem Kollegen Guthrie brachte er es schließlich so weit, dass er einem Tier beide Nieren mit der zuführenden Bauchschlagader, der abführenden Hohlvene, dem Harnleiter und der Harnblase entnehmen und einem anderen Tier erfolgreich und dauerhaft einsetzen konnte. Aber auch mit diesem Kunststück war Carrel noch nicht zufrieden. Er tat sich mit seinem Kollegen Burrows zusammen und verbesserte einen Versuchsaufbau des Amerikaners Ross Granville Harrison, der 1907 Gewebestückchen von Fröschen in eine Nährlösung getaucht und zur Weiterentwicklung gebracht hatte. Harrison, damals Forscher an der amerikanischen Universität Yale, war damit der Erfinder der Gewebezüchtung. Carrel übertraf ihn jedoch, vor allem wegen seiner unermüdlichen Ausdauer.

Hermann Dekker beschrieb 1913 das Zuchtverfahren von Carrel folgendermaßen:

Von dem Gewebe wird ein kleines Stückchen von 1/101/2 mm Durchmesser, sagen wir von Stecknadelkopfgröße, auf ein Deckgläschen gebracht und mit dem präparierten frischen Plasma [Blutflüssigkeit ohne Blutkörperchen] bedeckt. Sofort wird dieses Deckgläschen, die Kultur nach unten, mit Paraffin auf einen hohlgeschliffenen Objektträger gekittet (um die Kultur feucht zu erhalten) und in einen Brutschrank gebracht. In diesem ›hängenden Tropfen‹ geht das Wachstum vor sich. Die ganze Prozedur erfordert rasches Handeln, ist das Werk von Augenblicken, damit das Gewebe nicht geschädigt wird und um den Zutritt von Keimen zu verhindern. Carrel und Burrows haben seit dem Jahre 1910 auf diese Weise fast alle Gewebe von Erwachsenen, von Hund, Katze, Ratte, Kaninchen, Huhn, außerdem Krebszellen vom Menschen kultiviert.2

Innerhalb von zwei Jahren wurde weltweit in allen großen Zeitungen über Carrels Versuche berichtet. Meist wurden die Experimente jedoch übertrieben: Aus den stecknadelkopfgroßen Gewebestücken wurden lebende Arme und Beine, die angeblich in Kulturen schwammen. Den wirklichen Wert der Gewebezüchtung, die eines Tages die molekulare Zellforschung ermöglichen würde, konnte damals noch niemand erkennen.

Die Forscher sind so närrische Käuze«, schrieb Hermann Dekker, »dass sie zunächst gar nicht nach dem praktischen Wert ihrer Forschungen fragen. Es genügt ihnen, wenn ihnen im stillen Laboratorium der Kopf heiß und das Herz warm wird in der großen Freude über die stillen Erfolge ihrer Arbeit.3

Ein sprachliches Missverständnis, wie beim etwas irreführenden Begriff »Gewebezüchtung«, liegt auch dem Bericht zugrunde, wonach der russische Forscher Krakow, ebenfalls zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das Ohr eines Kaninchens und einen menschlichen Finger über die Zeit gerettet haben soll, indem er sie trocknete und später in Wasserdampf »zum Leben« erweckte. Diese Versuche lösten damals große Begeisterung aus. Antoni Nemilow, Professor für Anatomie und Zellkunde der Haustiere, schrieb dazu 1927 im damaligen Leningrad:

Der Versuch der Aufziehung einzelner Teile des Körpers außerhalb des Organismus bedeutet eigentlich schon einen Sieg über den Tod, denn er hat klar bewiesen, dass die Wissenschaft stärker ist als der Tod. Mag das Stückchen Rücken, das im Laboratorium von Carrel schon 15 Jahre lebt und wächst, auch sehr klein sein, es ist dem Tode, der bis dahin als unbesiegbar und allmächtig gegolten hat, entrissen. Dieses wachsende und lebende Stückchen Vogel widerlegt bedingungslos und ein für alle Mal den Aberglauben und alle Märchen von der höheren Gewalt des Todes, der über Willen und Vernunft des Menschen stehe.4

Obwohl es sich nicht um einen Hühnchenrücken handelte, sondern um einzelne Zellen aus einem Herz, kann man Nemilows Begeisterung verstehen. Tatsächlich bewunderten viele Wissenschaftler jener Zeit vor allem die Schönheit der Gewebekulturen, das heißt die Tatsache, dass es überhaupt möglich war, Zellen in Schalen zu züchten.

Zwischen 1940 und 1960 wurde die Gewebekultur von der Spielerei Einzelner zur Chefsache. Mittlerweile wusste man, dass die kleinsten Vorgänge in den Zellen die Grundlage des Lebens darstellen. Diese Stoffwechselabläufe wollte man nun enträtseln. Deshalb begannen sehr viele Labors damit, Zellkulturen als Ausgangsmaterial für ihre Forschungen zu züchten.

Anfang der Sechzigerjahre beobachtete Professor Leonard Hayflick, dass sich Bindegewebszellen in Schalen ungefähr fünfzigmal teilen (mindestens vierzig- und höchstens sechzigmal). Kurz vor Ende dieses Teilungsprozesses beginnt das so genannte »Phase-3-Phänomen«: Die Zellen teilen sich zuletzt, in Phase 3, immer langsamer (Alter) und sterben schließlich (Tod). In den Phasen 1 und 2 wachsen die Zellen mit gleich bleibender Geschwindigkeit heran, wenn man sie lässt. Sobald normale Zellen allerdings die Oberfläche ihrer Wachstumsschale mit einer einlagigen Schicht bedecken, beenden sie ihre Vermehrung vorläufig. Krebszellen teilen sich dagegen munter weiter. Solche unbegrenzt vermehrungsfähigen Zellen – zwei bekannte Typen tragen die Bezeichnungen »HeLa« und »L« – waren jahrzehntelang die Objekte, an denen die Krebsforschung stattfand. »Unsterbliche Zellen wie HeLa und L«, sagte Professor Hayflick schon in den Sechzigerjahren voraus, »haben eine oder mehrere anormale Eigenschaften.« Daraus ergab sich eine wichtige Erkenntnis: Kennt man erst einmal alle anormalen Eigenschaften, versteht man auch die Krebsentstehung. Vielleicht kann man dann vorbeugende Maßnahmen entwickeln, um Krebserkrankungen endgültig zu verhindern.

Zellen haben ein Gedächtnis

Das war auch Leonard Hayflick von Anfang an klar. Um die Zellen möglichst lange benutzen zu können, züchtete er die sterbliche Linie WI-38 heran, deren Kulturen er in viele kleine Portionen teilte und seit 1962 in flüssigem Stickstoff bei minus 192 Grad Celsius aufbewahrte. Zugleich konnte Hayflick die Zellen auf diese Weise an seine Kolleginnen und Kollegen in der ganzen Welt versenden, wann immer sie dies wünschten. (Es ist unter Wissenschaftlern üblich, Proben stets kostenlos auszutauschen.) Während WI-38 in den Siebzigerjahren zur bestuntersuchten lebenden Zelleinheit der Erde wurde, fiel Hayflick etwas Erstaunliches auf. Trotz ihres Eisschlafes konnten die Zellen sich merken, wie oft sie sich vor dem Einfrieren geteilt hatten. Taute man die Zellen auf, so machten sie nur noch genau so viele Teilungen durch, wie sie es auch unter normalen Bedingungen getan hätten. Es gibt also einen Zähl- und Speichermechanismus, der die Zellteilungen festhält. Ein solches inneres Zählwerk hatte man zwar in den Zellen erwartet, aber dass die Zelluhr so lange funktioniert, war eine Überraschung. Hayflick bestätigte 1990 stolz: »Wir haben in den letzten achtundzwanzig Jahren aus hundertdreißig Gefäßen wieder Zellen aufgetaut. Ihr Gedächtnis ist noch genauso gut wie 1962.«

Dieses Zellgedächtnis funktioniert auch bei Zellen, die aus einem lebenden Körper stammen. Je älter ein Mensch zum Zeitpunkt der Zellentnahme ist, desto geringer ist die Zahl der Zellteilungen in der daraus hergestellten Kultur. Nun wissen wir aber, dass sich die vielen Zellen eines Menschen im Laufe seines Lebens mehrmals komplett erneuern. Die innere Uhr tickt also nicht nur in jeder einzelnen Zelle und zählt deren Teilungen. Jede Zelle muss schon bei ihrer Entstehung darüber informiert sein, wie alt der übrige Körper ist.5

Jede Zelle des Körpers geht aus einer anderen, meist gleichartigen Zelle hervor. Man kann also annehmen, dass die Information über den Zustand des Körpers, in dem die Zellen leben, beim zellulären Schichtwechsel weitergegeben wird. Wie das im Einzelnen passiert, ist noch unbekannt. Einige Zellzählwerke und -uhren sind mittlerweile entdeckt worden. Man weiß aber immer noch nicht, welche molekulare Uhr zu welchem Ereignis, zum Beispiel zur Zählung der Zellteilungen, gehört.

Je älter ein Mensch ist, desto seltener können sich seine Zellen in einer künstlichen Kultur teilen. Gilt diese Regel für alle Zellen? Soweit es Zellen aus einem gesunden Körper sind, lautet die Antwort ja. Wie steht es aber mit Zellen von Menschen, die zu früh altern? Zwei Krankheiten, bei denen eine stark verfrühte Vergreisung eintritt, sind die Progerie und das Werner-Syndrom. Kinder mit Progerie sehen bereits mit neun Jahren aus wie Siebzigjährige, bei Patienten mit dem Werner-Syndrom setzt der körperliche Verfall einschließlich Arterienverkalkung, brüchiger Knochen und eines Hangs zur Zuckerkrankheit etwas später ein. Man hatte ausgerechnet, dass die Zellen in Gewebeteilen eines mit dem Werner-Syndrom geborenen Menschen sich in Kultur höchstens noch etwa zwanzig bis vierzigmal teilen müssten. Hayflicks Kollege S. Goldstein fand diese Frage besonders spannend und machte, wie es in den Naturwissenschaften üblich ist, die Probe aufs Exempel. Die Werner-Zellen teilten sich in Wirklichkeit nur noch höchstens achtzehn mal. Auch in dieser Untersuchung zeigte sich, dass das Altern der Werner-Kinder schneller als erwartet voranschritt. Mittlerweile weiß man mehr über die schlimme Erkrankung, und vielleicht gelingt es dadurch bald, die betroffenen Kinder von ihrem Leid zu erlösen.

Ein tödlicher Überlebenscocktail

Jeder Molekularbiologe oder -mediziner kann heute Wachstumsfaktoren herstellen. Er baut in den Informationsfaden von Bakterien die entsprechende Bauanleitung ein. In einer Flasche vermehren sich die kleinen Lebewesen samt der Zusatzbauanleitung und sondern dabei das gewünschte Lebenselixier ab.

Selbst wenn jeder Schluck dieses Getränks mehrere tausend Euro kostet – wer würde im Angesicht des Todes zögern zuzugreifen? Der Nervenwachstumsfaktor als Allheilmittel gegen den Abbau von Nerven bei der Alzheimerschen Krankheit wäre zweifellos ein Verkaufsschlager.

Leider ist der Cocktail – vorausgesetzt, er wirkt – giftig. Sterbende Zellen oder solche, die ihr Entwicklungsziel erreicht haben, würden sich weiterentwickeln, obwohl dies im Gesamtplan des Körpers nicht vorgesehen ist. Dadurch entstünden zum Beispiel unerwünschte Kontakte zwischen Nervenzellen, die normalerweise nicht zusammengehören. Eine Verbindung vom Sehnerv zum Hörbereich des Gehirns könnte etwa bewirken, dass man Farben hört. Andere falsch gewachsene Nerven können die Muskulatur unnötigerweise anregen. Dauernde Krämpfe wären die Folge. Wie neuere Forschungsergebnisse zeigen, führen falsch ausgeschüttete Wachstumsfaktoren beispielsweise auch zu Rheuma.

Der »Überlebenscocktail« aus Wachstumsfaktoren erfüllt seinen Zweck also nicht, weil die ausgewogenen Wechselwirkungen innerhalb des Körpers durch die willkürliche Zugabe der Überlebensproteine aus dem Gleichgewicht geraten würden.

Anfangs konnte man sich nur schwer vorstellen, dass die Entwicklung einer Zelle von einer so aberwitzig geringen Stoffmenge wie einigen Tropfen Blutserum abhängen sollte. Wie sich später zeigte, entscheiden noch nicht einmal alle Zutaten der Tropfen, sondern nur einzelne Bestandteile aus ihnen über Teilung oder Nichtteilung. Die guten Geister bei der Weiterentwicklung von Gewebekulturen, so stellte sich heraus, waren so genannte Wachstumsfaktoren.

Ihre enge Verknüpfung mit der Zellteilung kommt dadurch zustande, dass sie das Okay für viele Abläufe geben, die vor der eigentlichen Verdoppelung ablaufen. Fehlt ein Wachstumsfaktor als Informationsempfänger und -übermittler, so stockt das Wachstum der Zelle. Dann nützt es auch nichts mehr, wenn die äußeren Bedingungen (etwa das Nahrungsangebot oder Befehle anderer Zellen) eine Zellteilung wünschenswert oder zwingend machen. Wenn die Information mangels Wachstumsfaktor versackt, erfahren die übrigen Zellbestandteile nicht, dass sie nun gefordert sind. So kommt es auch, dass man Zellen in wachstumsfaktorfreier Zellkultur wochenlang halten kann, ohne dass sie sich teilen. Die Zellen finden dann alle Nährstoffe vor und »fühlen sich wohl«, sie können aber nicht an ihre innere Schaltzentrale melden, dass die Gelegenheit für Wachstum und Teilung gekommen ist.

Proteine sind Wachstumsfaktoren; jeder dieser Faktoren wirkt nur auf bestimmte Zelltypen, und jede Zellart benötigt eine genau auf sie abgestimmte Zusammensetzung von Wachstumsfaktoren. Der Körper stellt an festgelegten Orten spezielle Wachstumsfaktoren zu bestimmten Zeiten her. Dort liegen Zelltypen, die für eine Sorte von Wachstumsfaktoren empfänglich sind und sich an dieser Stelle vermehren beziehungsweise verändern sollen. Wie gering der Bedarf an Wachstumsfaktoren tatsächlich ist, zeigt das Zuckerdosenbeispiel: Man wirft einen Zuckerwürfel ins Meer und nimmt an, dass sich der gelöste Zucker auf alle Ozeane der Erde verteilt. Man kann dann aus jedem Meer der Welt eine Tasse Wasser schöpfen und findet darin noch zwei Moleküle des Würfelchens. In dieser Größenordnung liegen auch die Mengen von Wachstumsfaktoren, die vom Körper genutzt werden.6

Eines Tages versuchte man, eine junge Nervenzelle in einem Glasschälchen dazu zu bringen, dass sie sich auf ein Röhrchen ausrichtete. In ihre Nähe tropfte man mit diesem Röhrchen eine winzige Menge eines Wachstumsfaktors für Nerven. Nach einiger Zeit bildete die Zelle einen Fortsatz und reckte sich zum Röhrchen. Zog man das Röhrchen etwas beiseite und tropfte wieder ein wenig Wachstumsfaktor hindurch, folgte der Nerv abermals.

Die Wachstumsfaktoren fördern also nicht nur die Fortentwicklung einer Zelle, sondern die Zelle sucht auch aktiv ihren Wachstumsfaktor auf. Sie folgt einem Weg, der durch einen Überlebensstoff gesteckt ist. Zellausläufer, die keinen Wachstumsfaktor vorfinden, verkümmern.

Multiplizierte Wurmleben

Wenn jede Zelle zu einer festgesetzten Zeit stirbt, sollte auch ein ganzer Körper zu einem vorhersagbaren Zeitpunkt sterben. Bei Menschen ist der Tod einzelner Zellen jedoch schwer festzustellen. Außerdem sind menschliche Zellen während des Lebens zu vielen Einflüssen ausgesetzt, die einen genetisch vorprogrammierten Todestermin verändern können. Stress und Rauchen führen beispielsweise zu einem verfrühten Tod, ein geruhsameres Leben kann den Verschleiß des Körpers hinauszögern.

Es gibt jedoch Lebewesen, die der Beobachtung besser zugänglich sind. Sie erblicken nur für wenige Tage das Licht der Welt. Eines dieser Tiere ist der Fadenwurm Caenorhabditis elegans. Seine Todeszeit ist vorhersagbar.

Die kleinen Würmer kommen auf der ganzen Welt vor. In Blumenerde trifft man sie genauso an wie auf Äckern und Wiesen. Sie sind buchstäblich überall. Da sie nur einen halben Millimeter lang und zudem durchsichtig sind, fallen sie nicht auf. Biologen haben sich die Mühe gemacht, diese Tiere zu züchten und zu ermitteln, wie lange sie leben. Normalerweise sind es einundzwanzig Tage.

Spannend wurde es, als um 1990 C.-elegans-Würmer vollkommen gleichen Aussehens auftauchten, die im Schnitt einen halben Tag länger lebten. Die C.-elegans-Forscher in aller Welt entdeckten weitere Tiere, die nach 33, 25 oder 12,5 Tagen sterben. Der Forscherinstinkt war geweckt, und so suchte man nach der Ursache der veränderten Lebenszeit. Eine noch nicht ausgereifte Erklärungsmöglichkeit besagt, dass eine bestimmte Grundeinheit von Lebenstagen mit einer genetisch festgelegten Zahl, die größer oder kleiner als eins sein kann, multipliziert werden könnte. Woraus die Zellzeitmultiplikatoren bestehen, ist noch ungewiss. Vielleicht liegt das Geheimnis des verlängerten oder verkürzten Lebens in ausgewählten Bereichen der Erbsubstanz, die man »Todesgene« nennen könnte.

Einige Todesgene sind schon bekannt

In Caenorhabditis elegans, aber auch in der Taufliege Drosophila melanogaster konnten Genetiker bereits mehrere Gene finden, die gezielt Zellen des eigenen Körpers umbringen. Besonders berühmt sind zwei Selbstmordgene namens ced-3 und ced-4, die in jeder Körperzelle des Fadenwurms stecken.

Während der junge Fadenwurm heranwächst, sterben in ihm bestimmte Zellen zu vorhersagbaren Zeitpunkten ab. Das ist wenig dramatisch – derselbe Vorgang findet statt, wenn sich Menschenfinger bilden: Ohne programmierten Zelltod würden sich zwischen unseren Fingern Schwimmhäute spannen.

Wenn man zwei der Selbstmordgene im Wurm ausschaltet (das ist problemlos möglich), dann überleben sämtliche Zellen, darunter auch solche, die bei der Normalentwicklung sterben, um Raum für neu entstehende Organe zu schaffen. Thomas Johnson gelang es schon Anfang der Neunzigerjahre an der Universität Colorado, ein Todesgen des Fadenwurms auszuschalten und die Lebenszeit der Tiere dadurch zu verdoppeln. Ganz ähnliche Gene gibt es in den Zellkernen der Säugetiere. Besonders erwähnenswert sind auch so genannte Überlebensgene wie das Gen p53. Sie verhindern den programmierten Zelltod, ohne dass Todesgene ausgeschaltet werden müssten.