image

Daniela Danz

Türmer

Daniela Danz

Türmer

Roman

Image

Jan Facher

1913

Jan

Einmal war ich mit Köppen auf dem Dachstuhl. Ich meine, bevor wir auf den Turm zogen, bevor ich ahnen konnte, daß ich hier oben einmal leben sollte, war ich mit Köppen hier. Die dunkle Ecke neben dem Turmaufgang war unser Lieblingsplatz. Und Köppen hatte ein neues Messer, ein Klappmesser mit einem Heft aus rotem Leder. Es war das schönste Messer, das ich je gesehen hatte. Trotzdem habe ich gesagt, daß es etwas schwergängig sei. Köppen war gekränkt. Er wettete, daß er damit die Tür zum Turm öffnen könne, und er gewann. Seit langem wollten wir auf den Turm, aber die alten Türmer achteten immer darauf, daß die Tür zum Aufgang verschlossen war. Wir stiegen die Stufen hoch, bis die erste Tür nach links abging. Es war die Tür zum Dachstuhl. Wir gingen auf den knarrenden Planken in die Mitte des Raumes. Er war sehr hoch, höher noch schien er uns als das Gewölbe unten im Kirchenschiff. Wir stiegen auf den verdreckten Leitern bis zur fünften von sieben Ebenen und setzten uns auf einen Balken. Köppen holte wieder sein Messer hervor. Mir tat es leid, daß ich ihn gekränkt hatte. Gib mal her, sagte ich. Es ließ sich wirklich etwas schwer öffnen, aber ich tat so, als ob es mir keine Mühe machte. Ich begann, in den Balken, auf dem wir saßen, das Datum 8.1.1913 zu ritzen, zwischen Köppen und mich. Wir schwiegen, ganz still war es auf dem Dachstuhl, nur das Kratzen des Messers war zu hören und unser beider Atmen. Als ich fertig war, nahm Köppen das Messer und schnitt ein J unter die Zahl. Und noch ein K, sagte ich, um ihn noch länger betrachten zu können. Von der Seite war sein Gesicht fast das einer Frau, mit der feingeschnittenen Nase, den hohen Wangenknochen und den schmal auslaufenden Brauen. J und K, sagte Köppen und lächelte fast scheu. Laß uns noch ein bißchen herumsehen, fügte er schnell hinzu. Wir streiften weiter durch den Dachstuhl, er auf der linken, ich auf der rechten Seite. Die Streben fügten sich zu immer neuen Mustern. Jan, rief Köppen mit unterdrückter Stimme. Als ich in seine Nähe kam, gab er mir ein Zeichen, langsam zu gehen und leise zu sein. Erst als ich neben ihm stand, bemerkte ich die Traube von schlafenden Fledermäusen, die unter einem Balken hing. Sie hatte etwas beängstigend Unordentliches mit den weichen Pelzen und dem nackten faltigen Leder der Flügel, mit den spitzen Köpfen und großen Ohren. Wir hatten sie gestört, Bewegung kam in sie, unmerklich vom Rand her wie ein Flimmern. Flügel fächerten sich leicht auf, Ohren stellten sich, schwarze Augenpaare sahen uns an. Köppen faßte nach meiner Hand. Er war einen Schritt zu mir getreten, und wir standen jetzt so nah beieinander, daß ich im Gegenlicht eines kleinen Fensters die Härchen auf seiner Wange sehen konnte. Er ließ sich von mir betrachten und sah regungslos auf die Fledermäuse, die sich allmählich wieder zu beruhigen schienen, sie waren zu träge, zu unterkühlt, um aufzuwachen. Köppens Hand war warm und rauh, eine große Hand. Nirgendwo anders hätten wir so stehen können wie hier, wo keiner uns sehen konnte. Als wieder Ruhe in die Traube gekommen war, ließ er langsam meine Hand los, sehr langsam, vielleicht, um die Fledermäuse nicht wieder aufzuwecken.

Turm

Vor meinem Leben auf dem Turm war ich wie Köppen, Donatus, Hellmund und die anderen. Ich bin täglich unten durch die Straßen gegangen, ohne nach oben zu sehen, warum auch. Vor dem Turm lebten wir im Kellergeschoß eines Mietshauses in der Breiten Straße. Mein Vater war Kunstmaler. Er muß sogar mal ein guter Maler gewesen sein, wenn er auch wenig verkauft hat. In unserer Stube hing ein Bild, das er gemalt hatte. Es zeigte ein graues Schiff auf schmutziggrünem Wasser. Die Formen des Schiffes ließen sich aber nicht klar erkennen, sie waren in einzelne Flächen aufgelöst. Die Wellen waren wie Keile gegeneinandergeschoben. Unmöglich konnte auf diesem Wasser ein Schiff fahren. Die anderen Bilder hatte er verkauft, viel zu billig, wie Mutter oft sagte. Ich weiß nicht, was er außer diesem Schiff früher gemalt hat. Jetzt malte er Bäume. Tagelang blieb er in den Wiesen vor der Stadt. Er hatte sich dort eine Art Verschlag gebaut, in dem er schlief. Einmal hat er mich mitgenommen, und ich habe ihm bei der Arbeit zugesehen. Stundenlang rührte er Farben an, ohne mit dem Malen zu beginnen. Vater, wann fängst du endlich an? Wenn die Farben fertig sind. Das dauert seine Zeit. Ich habe kein Geld für Farben, ich habe kein Geld für gute Pigmente, kein Geld für Leinöl. Das weißt du. Das ist, was ich habe: Eiweiß und ranziges Öl, Kohle, Erde … Na, kann man damit Blumensträuße malen? Du malst doch sowieso keine Blumen. Nein, male ich nicht. Ich kann mit diesen Farben auch nur Bäume malen. Aber du könntest doch … Nein, ich kann nur Bäume malen. Er sagte diesen Satz mit solchem Nachdruck, daß ich schwieg. Ich schwieg, wie Mutter schwieg, ein wenig blaß, wenn er nach Tagen mit halbleeren Leinwänden nach Hause kam. Nichts als ein paar Äste darauf in dieser stumpfen, rissigen Dreckfarbe. Nur seine Erklärungen, was auf den Bildern zu sehen sein würde, wenn sie fertig wären, wurden immer länger. Obwohl er der Überzeugung war, daß wir von Bildern gar nichts verstünden, beschrieb er uns das, was noch nicht zu sehen war, ausführlich. Hier würde der Himmel sein, kein Himmel wie wir ihn kennen, sondern ein vitreszierter Himmel. Er sagte vitresziert, weil es ihm egal war, ob wir ihn verstanden. Mutter strich mir, wenn er fertig war und sich erschöpft in den Sessel fallen ließ, über den Kopf und sagte: Es werden Apfelbäume, Birnbäume, was du willst. Vater wird die Bilder hier drin fertig malen, wenn es Winter ist. Ich wußte nicht, was schlimmer war – seine Erklärungen oder ihr Streicheln.

Vater malte die Bilder nicht mehr fertig. Er sagte, er brauche Zeit, eine Schiffsladung Zeit. Der Türmerposten auf St. Thomas war vakant geworden. Mutter hatte Angst und hatte Hoffnung. Es wurde entschieden, daß Vater der Nachfolger des verstorbenen Türmers werden sollte. Das erste Mal seit langem sah ich ihn vergnügt, fast triumphierend. Siehst du, sagte er beim Abendessen, ein Kunstmaler ist nicht irgendwas. Unter zehn haben sie mich ausgewählt. Ja, erwiderte Mutter bitter, du warst wahrscheinlich der einzige, der nüchtern war. Es war das erste Mal, daß ich einen Widerspruch von ihr hörte.

Mutter traf sich heimlich mit der Witwe des alten Türmers. Nun, Sie werden leben wie die Vögel, sagte die Alte. Mutter wußte nicht, was das heißen soll. Sie sah auf den Drähten die Rauchschwalben hocken: einerseits, andererseits. Sie warf Äste nach ihnen, und als sie sie verjagt hatte, warf sie weiter nach den leeren Drähten. Was meinst du, Jan, wenn so ein Ast zwischen zwei Drähten hängenbleibt und wenn es regnet und sich dann eine Schwalbe darauf setzt, was passiert dann? Ich verstand sie nicht. Vermutlich nichts, antwortete ich. Das war im Frühling, und wir zogen auf den Turm.

Aufsteigen

Ich zählte die Stufen, als wir mit den Koffern auf den Turm stiegen und Vater fluchte und Mutter sich immer wieder nach mir umdrehte. Zweihundertdreiundsechzig, als der vom Kirchenvorstand sagte: Da wären wir. Ich konnte nicht sehen, wo wir sein sollten, denn auf dem schmalen Podest hatten nur der vom Vorstand und mein Vater Platz. Mutter und ich standen auf Stufe zweihundertdreiundsechzig und ich rechnete eins hinzu. Die Zahl stimmte, ich ging am Abend noch sechsmal hinunter und hinauf: zweihundertvierundsechzig. Der vom Vorstand wies auf zwei Türen: Das wären dann die Schlafzimmer. Früher haben sie mit vier Kindern hier gelebt, was wollen Sie mehr. Und hier, er öffnete eine weitere schmale Tür, befindet sich das Uhrwerk. Sie verändern daran bitte nichts. Als er weiterging, sah ich noch einmal in die beiden Schlafzimmer. Im rechten standen zwei Betten. Im linken nur eines. Das also würde mein Zimmer sein. Ein eigenes Zimmer. Wir stiegen die Treppe weiter nach oben, ich zählte nicht mehr. Auf dem nächsten Treppenabsatz war die Küche. Mutter öffnete hastig alle Ofenklappen und schloß sie wieder, aber der vom Vorstand war schon weiter in die angrenzende Stube gegangen. Er stand am mittleren Fenster und sah hinaus. Vater fragte Beiläufiges und bekam mißtrauische Antworten. Dabei wußte ich, daß er wenig Hintersinn in diese Fragen legte. Es war Frühling, und er sorgte sich um wenig. Mutters Augen aber liefen von einer Wand zur anderen, sie stieß Vater an und flüsterte: Frag nach dem Holz, frag nach dem Wasser, frag nach dem Rauch und dem Abtritt. Wo soll das hin, wo sollen wir hin?

Eine weitere Tür ging von der Küche ab: Das ist Ihre Wirkungsstätte, Herr Facher. Der Turmumgang. Ein niedriges Geländer. Mein erster Blick auf das Satteldach der Kirche. Schwindelhaft steil war es. Ich fragte den vom Vorstand danach: Dreiundsechzig Grad steil, antwortete er unwillig, und: Norden, Süden, Osten, Westen. Damit betrachtete er seine Aufgabe als beendet, drückte Vater die Dienstinstruktionen in die Hand, blickte angestrengt Richtung Nordwest: Was kommt aus dem Schornstein, wer geht ein und aus. Er hatte es eilig.

Zimmer

Wir blieben zurück, Vater, Mutter und ich. Mutter mit zitternden Nasenflügeln, Vater zog die Augenbrauen hoch, schob die Unterlippe vor und sagte: Hmm. Ich wartete darauf, daß er den Zettel auf den Tisch legte, denn ich wußte, er hatte ihn längst vergessen. Es kam nur darauf an, ihn zu nehmen, bevor Mutter ihn nehmen konnte. Ich drückte mich an ihr vorbei und stellte mich neben den Tisch. Vater sagte noch einmal: Hmm, und ging auf den Turmumgang hinaus. Den Zettel legte er achtlos hin. Als ich danach langte, fühlte ich Mutters Blick auf meiner Hand. Doch sie sagte nichts, ich nahm das Papier und ging an ihr vorbei in mein neues Zimmer.

Mein erstes eigenes Zimmer – ein aus dem Himmel geschnittenes Stück Leere. Ein Bett stand darin, sonst nichts. Möbel hatten wir nicht mit auf den Turm bringen können. Die Wand war zu sechs Achteln gekrümmt. Eine rechtwinklige Ecke war um die außen entlanglaufende Wendeltreppe gebaut, dahinter stand das Bett. Eine dünne Wand trennte mich von den Schritten der Herauf- und Herabsteigenden. Von der Tür aus sah man auf ein kreisrundes Fenster mit einer in die tiefe Laibung eingelassenen Fensterbank zur Linken und Rechten. Ein Erker über der Stadt. Ich fragte mich, welches meine Aufgabe auf dem Turm sein würde, Vater hatte mir darauf bis jetzt nicht geantwortet. Vermutlich keine. Ich würde hier sitzen auf der Fensterbank und auf die Stadt sehen, bis ich gebraucht würde. Das könnte jederzeit und gar nicht sein. Ich hatte zu warten. Mir fiel der Zettel in meiner Hand ein, ich setzte mich und las: Dienstinstruktionen. Vaters Schritte umkreisten den Turm.

Instruktionen

Wußte Vater, worauf er sich einließ? Ging dieses Wort jetzt in Schauern durch seinen Körper: unausgesetzt. Und jagte böig die Gedanken durcheinander. Immer, ständig, unausgesetzt anwesend sein. Vater, der so oft wegging, und keiner wußte wohin, der wiederkam, sich an den Tisch setzte und wartete, daß sein Leben wieder in den Takt fand, der uns zu einer Familie machte. Vater sollte eine Gleichung erfüllen, deren andere Seite lautete: stete Wachsamkeit, Umsicht und Pünktlichkeit, keine zerstreuende Nebenbeschäftigung. Tag und Nacht, unausgesetzt, auch wenn von abends elf Uhr bis morgens um sechs der Beiwächter half. Um den Turm auf ein paar Stunden pro Woche für Besorgungen zu verlassen, genügt mündliche Zusage des Magistrats. Für längere Zeit ein schriftlicher Antrag. Vertretung ist selbst zu stellen und zu bezahlen. Die immerwährende Wachsamkeit ist kundzutun durch viertelstündliches Pfeifen. In demselben Zeitabstand mindestens ein Rundgang um den Turm. Brandmeldung über einen Fernsprecher an Hauptfeuerwache. Jeden Abend acht Uhr Probegespräch zur Feststellung der Betriebssicherheit des Fernsprechers. Tägliches Aufziehen der Turmuhr und vierzehntägiges Schmieren derselben. Nach Gewitter, Regenguß und heftigem Sturm sofortiges und gründliches Untersuchen des Turmes und des Kirchendachs. Holz ist nur für die nächsten acht Tage auf den Turm zu schaffen. Der Unrat in gehörig verdeckten Kübeln von vier zu vier Tagen zur Nachtzeit behutsam am Kloben herabzulassen. Der Wasservorrat im Faß muß für drei Tage reichen. Vaters Schritte umkreisten den Turm noch immer. Ich wußte, er ahnte nichts. Er würde es nie ahnen, und nur der seine Säumigkeit verbergende Zufall und die Geduld des Kirchenvorstands würden das Ende seines Türmerlebens hinauszögern. Vielleicht würde dieses Ende auch aus anderen Gründen eintreten. Es war seit Jahren bekannt, daß diese Stadt eine der letzten war, die sich gleich drei Türmer leistete. Sie wuchs an den Rändern über den Gesichtskreis des Türmers hinaus. Die Meldesysteme der Feuerwehren waren ohnehin schneller und zuverlässiger. In den letzten fünfundzwanzig Jahren hatte nur einmal ein Türmer schneller gemeldet als die Feuerwehr. Das war bekannt, und Türmersohn zu sein war nichts, was man gern von sich sagte. Sohn eines Tagediebs und Sonderlings. Was erzählte man sich schon vom Leben hier oben: Gabriel Putzschel, wegen Dienstvernachlässigung und Schlägerei ins Gefängnis geworfen, Johann Christian Madlung, kaum einen der vielen Brände seiner Dienstzeit gemeldet und zahnlos, so daß man die Tradition des Choralblasens durch den Türmer abschaffen mußte, Heinrich Moritz Köhler, erschossen auf dem Stadtfriedhof aufgefunden.

Einleben

Unsere Wohnung begann in achtunddreißig Metern Höhe. Sie endete bei einundfünfzig Metern und war damit insgesamt dreizehn Meter hoch und sechs Meter im Durchmesser. Ich überlegte, ob ich die Räume nach der Höhe, in der sie sich befanden, nennen sollte. Küche: siebenundvierzig Meter. Schlafzimmer: vierundvierzig Meter. Abtritt: achtunddreißig Meter.

Ich überlegte, wie wir hier leben würden. Die Küche war eigentlich nur ein Treppenabsatz. Der Ofen stand neben der Tür zum Turmumgang, zur Treppe hin gab es keine Tür, so daß der Raum sich nicht aufheizen konnte. Warm würde es nur in der Nähe des Ofens sein. Es gab noch einen zweiten Ofen in der Stube, aber ich kannte die Sparsamkeit meiner Mutter. Wir würden alle zusammen in dem einen beheizten Zimmer beieinander sitzen müssen oder frieren. Doch vor uns lag endlos der Sommer. Von der Küche gelangte man in die Stube. In ihr hatten außer dem kleinen Ofen nur ein schmaler, langer Tisch und ein paar Stühle Platz. Der Raum war nirgends breiter als zwei Meter. Dafür gab es in der halbrunden Wand drei nach Westen gehende Fenster. Durch die Stube wiederum kam man in ein weiteres Zimmer. Ich richtete es in Gedanken mit den Sachen ein, für die sonst kein Platz war: Mutters Nähtischchen mit den gehäkelten Decken und Trockenblumen, von denen sie den Staub blies, der sich dann als feine Schicht auf das Tischchen legte. Mutter konnte fast nicht nähen, aber dieses Tischchen hütete sie wie einen Vorsatz. Bilder an den beiden nicht gekrümmten Wänden und Gardinen am Fenster, zart wie Schleier: Mutters Brautkleid. Auf dem Wandregal die Bücher: Die gute Küche, Der Arzt im Hause, Der Obstbaumschnitt, Das Carillon. Vielleicht hatten Vater und Mutter sich einmal darauf geeinigt, daß jeder zwei Bücher haben dürfe. Zu einer Zeit, als sie noch über diese Dinge stritten. Vielleicht war es so: Als sie sich kennenlernten, brachte Mutter ein Buch mit. Der Arzt im Hause. Sie hatte sich das alles vorgestellt. Sie wollte gut beginnen. Und jung war sie. Den sie heiratete, der hatte auch ein Buch. Nicht wahr, das spricht doch für ihn. Das Carillon. Man muß einander nicht ganz verstehen, es reicht, wenn man gut zueinander ist. Aber dann, vielleicht, war es anders gekommen, dann kamen schwere Zeiten, solche, durch die man nicht zusammenwächst. Und als beide ratlos nebeneinander lebten, kaufte Mutter ein neues Buch: Die gute Küche. Und auch Vater ging seiner Wege: er lehnte den Buchdeckel des Obstbaumschnitts an Mutters Bücher. Sie teilten sich ein Regal, Rücken neben Rücken.

Ging man die hölzerne Wendeltreppe vom Küchenofen nach unten, gelangte man zum Schlafzimmer der Eltern und zu meinem Zimmer. Daran grenzte der Raum, in dem sich das Uhrwerk befand. Ich legte mich auf mein Bett und hörte durch die dünne Wand das Geräusch des Ineinandergreifens der Zahnräder. Das langsame, zeitfressende des Walzenrades und den schnellen, mühelosen Gang des Ankerrads. Langsam fand ich mich in ihren Takt und wie eine anhaltende Erschütterung spürte ich durch den dünnen Bretterboden den schwindelig machenden Unterschied zwischen den kleinen Bewegungen, mit denen die Pendel an der Halterung angetrieben wurden, und der Wucht, mit der sie vier Meter tiefer im Pendelschrank ausschwangen.

Mensuren

Die Welt hat zwei Hälften. Eine Hälfte ist die Stadt, die andere der Himmel. Die Stadt, das sind die Menschen. Auf den Straßen gehen die Gedanken und kreuzen sich. Aus jedem Fenster gehen sie ins Leere. Der Himmel, das ist eine Anzahl von Geraden, die sich nicht schneiden, der Himmel ist ohne Grenze, und kein Mensch kann in ihm bleiben. Der Turm ist ein Käfig. Er ist in den Himmel gebaut und nimmt sich ein Stück Raum, ein Stück für mich, ein Stück, in dem meine Zeit vergeht. Die Stadt und der Himmel sind die zwei Mensuren der Sanduhr. Ich bin der schmale Durchgang. Durch mich rinnt die Unbegrenztheit in die Straßen und Häuser, durch mich rinnen die Gedanken ins Raumlose. Wenn die Zeit abgelaufen ist, wenn die Uhren umgedreht werden, wartet in der oberen Mensur der leere Raum darauf, sich zu füllen mit dem Sand, der in die untere Mensur gerieselt ist: Festigkeit, kristallines Gefühl. Ich bin der Durchgang, ich bin die Zeit.

Dachstuhl

Der Dachstuhl erschien mir seit meinen ersten Tagen hier oben wie ein Modell der Welt, eine Schule der Perspektiven. Ich selbst fühlte mich als Teil dieses Systems von Stütze und Last. Jeder einzelne Moment darin war wie die genaue Schwere der Balken. Die Notwendigkeit eines klaren Gedankens. Die Konzentration eines Stoffes zu seiner einzig möglichen Gestalt. In dieses Modell, dachte ich, könnten sich alle späteren Erscheinungen fügen, als Summe und Variation der hier vorkommenden Einsichten. Ich sah die Scherensparren wie die unteren Hierarchien der staatenbildenden Insekten, ganz eingewöhnt in ihr Dienen. Im Wissen, daß selbst der oberste, der Hahnenbalken, und die Königssäule in der Mitte auch nur ihren Platz auszufüllen hatten. Daß sie halfen, die Dachhaut über die ganze Konstruktion zu spannen. Die janusköpfigen Zimmermannshämmer mit ihrem geneigten Gesicht, das Verbindungen schuf, und ihrem schwalbenschwänzigen Gesicht, das Verbindungen trennte, hörte ich in der Weite dieses hölzernen Raumes nachhallen. Und das Vorspiel zur ersten Fuge auf der neuen Orgel im Kirchenschiff.

Gleichzeitig ahnte ich aber auch die Unregelmäßigkeit des Ganzen in seinen einzelnen Gliedern. Die überzähligen Stützen, ohne die doch alles aus dem Gefüge geriete. Die eingetriebenen Keile an den Gelenken. Eine angehaltene Deformation eines der Kehlbalken in der zweiten Ebene. Ganz wie das Aufbäumen des Holzes, noch einmal den Eigensinn des Baumes hervorzutreiben, der, einem Hindernis ausweichend, zwar eine Strecke weit waagerecht wächst, um dann doch wieder die Richtung zu verfolgen, die zum Licht führt.

Obwohl ich wußte, daß ich mich über dem Kirchenraum befand, hatte ich meist das Gefühl, in dem unter der Meeresoberfläche liegenden Schiffsbauch der Kirche zu sein. Still war es hier, wie es tief im Meer sein muß, und nur durch kleine Luken sah man das endlose Blau draußen. Der Boden schwankte leicht, und die Planken, über die ich lief, knarrten. Ganz abgeschlossen war dieser Raum, und ich stand in der Stille des sich geduldig niederlegenden Staubes, dessen neue Muster alle hier geschehenen Bewegungen im Gedächtnis bewahrten. Auch ich wirbelte Staub auf, der sich eine Weile in der Luft drehte, um dann wieder auf die Planken, die Balken und Sparren zu fallen. Es würde eine Weile dauern, bis sich auch das Muster meiner Gegenwart dort abbildete. Die toten Zellen des Holzes öffneten sparsam einige ihrer geheimen Augen, um einen Blick auf mich zu werfen, ungerührt, wie die versteinerten Gestalten der Märchen, für die nach hundert Jahren noch ein Ereignis vorgesehen ist.

Hagel

Stürmisch war es in diesen ersten Maitagen und kalt wegen des noch einmal zurückkehrenden Winters. Am frühen Nachmittag kündigte fernes Grollen Gewitter an, und der Hagel schlug hart wie auf ein Xylophon auf die Ziegel, hell und tönern. Es war, als müßten sie vom First aus übereinander herabrutschen, um bloß das nackte Holzgerüst stehenzulassen. Es war, als müßte das nach fünfhundert Jahren gerade heute geschehen. Doch es geschah nicht, das Dach hielt, und das war fast schlimmer, denn nun wußte ich, hier oben war ich ausgesetzt, ich gehörte nicht mehr in den Schutz der Stadt, ich gehörte zum Himmel und zu den Vögeln.

Beiwächter

Vater hatte mich mit einer kurzen Bewegung seines Kopfes zu sich ins Wohnzimmer gerufen. Jan, sagte er, während er am Fenster stand und hinaussah, willst du unbedingt da unten etwas anfangen? Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Was könnte ich machen, eine Lehre zum Schuster, hatte ich immer gedacht. Es würde mir gefallen, in meiner Werkstatt allein zu arbeiten. Die harten Sohlen, das weiche Leder. Die Verschiedenheit der Schuhe. Elegante Damenschuhe, in deren weiches Leder sich Überbeine und ein schiefer Gang eingedrückt hatten, und Kinderschuhe, die durch verbotene Reviere gekommen waren. Schuhe, die geliebt wurden, und plumpe, praktische Schuhe, die von ihren Trägerinnen verwünscht und heimlich mißhandelt wurden. Doch ich richtete sie wieder, und sie hielten noch eine Saison, bis es auch schon egal war. Als fast noch junger Mann einen krummen Rükken bekommen und schlechte Augen und schließlich ein letztes Paar Schuhe machen, das schon keiner mehr kauft. Reparaturen nicht mehr annehmen und nutzlos werden. Ich konnte mir fast jede Arbeit für mich vorstellen, weil es mich nicht stören würde, tagaus, tagein dasselbe zu tun. Vermutlich würde ich es auch gar nicht merken. Ob es unbedingt sein müßte, das anzufangen? Nein, mir war es nicht wichtig, das oder etwas anderes zu tun. Vater ließ mir Zeit für die Antwort. Was wollte er hören? Nein, sagte ich und wartete, was er mit dieser Antwort anfing. Gut, Jan. Du weißt, daß ich einen Beiwächter brauche. Sie haben mir schon einen zugeordnet. Ich will aber, daß du das machst. Es ist ohne die Kosten für den Beiwächter knapp genug. Er hatte also mittlerweile sogar die Instruktionen gelesen.