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Manfred G. Schmidt

DER DEUTSCHE
SOZIALSTAAT

Geschichte und Gegenwart

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Spätestens seit den Hartz-Reformen und der Agenda 2010 steht der deutsche Sozialstaat im Mittelpunkt hitziger Debatten. Seine ökonomische und politische Bedeutung ist kaum zu überschätzen. Knapp ein Drittel des deutschen Bruttoinlandsprodukts wird in ihm umgesetzt. Rund 40 Prozent aller Wahlberechtigten bestreiten ihren Lebensunterhalt hauptsächlich aus Sozialleistungen. Manfred G. Schmidt beschreibt und erklärt die Geschichte des deutschen Sozialstaats von seinen Anfängen im Deutschen Reich von 1871 über die Weimarer Republik, den NS-Staat und die DDR bis zur Bundesrepublik Deutschland der Gegenwart. Dabei zieht er immer wieder den Vergleich mit den Entwicklungen in anderen Ländern, analysiert die Herausforderungen von Globalisierung und Europäisierung und untersucht sowohl die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wirkungen des Sozialstaats als auch die Reformbemühungen der letzten Jahre.

Über den Autor

Manfred G. Schmidt ist Professor für Politische Wissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Das politische System Deutschlands (2. Aufl. 2011), Das politische System der Bundesrepublik Deutschland (2. Aufl. 2008).

Inhaltsverzeichnis

    I. Einführung

   II. Sozialpolitik in Deutschland von den Anfängen bis 1949

Das Deutsche Reich von 1871 als Pionier der Sozialgesetzgebung

Sozialpolitik in der Weimarer Republik: Ausbau, Stillstand und Rückbau

Der «nationalsozialistische Wohlfahrtsstaat»

Sozialpolitik in den Jahren der Besatzung (1945–1949)

  III. Der Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland

Sozialstaatsstrukturen

Ein Sozialstaat nur für Arbeitnehmer oder für alle Staatsbürger?

Etappen der sozialstaatlichen Entwicklung seit 1949

Antriebskräfte des Sozialstaats

  IV. Der Fall der «sozialistischen Sozialpolitik»: die DDR (1949–1990)

Die sechs Schichten der DDR-Sozialpolitik

Regimespezifika der «sozialistischen Sozialpolitik»

Leistungen und Leistungslücken

Legitimitätsprobleme

Überlastung der Wirtschaft durch Sozialpolitik

Politische Ursachen des Zielkonflikts von Sozialpolitik und Wirtschaftskraft

   V. Deutschlands Sozialstaat im internationalen Vergleich

Pionier und Nachzügler der Sozialgesetzgebung

Ein Mischtyp aus sozialdemokratischem, konservativem und liberalem Sozialstaat

Sicherheit, sozialpolitische Lohnersatzraten und Beschäftigungsschutz

Innenpolitische und innergesellschaftliche Antriebskräfte

  VI. Der Sozialstaat in einer Ära der Globalisierung und Europäisierung

Globalisierungswirkungen auf den Sozialstaat

Der Einfluss der Europäischen Union auf den Sozialstaat

Das Mehrebenensystem der Sozialpolitik in Europa

 VII. Sozialstaatsreformen in schwierigen Zeiten

Innenpolitische Herausforderungen des Sozialstaats

Hindernisse für Sozialstaatsreformen

Sozialstaatliche Anpassungsreformen unter bürgerlich-liberalen und rot-grünen Regierungen

Politische Reaktionen auf Sozialstaatsumbau und -rückbau

Sozialstaatsreformen und Reformbedarf

VIII. Wirkungen des Sozialstaats in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft

Politische und gesellschaftliche Stabilisierung

Ökonomische Stabilisierungseffekte

Nebenwirkungen, Folgeprobleme und Alternativen eines weit ausgebauten Sozialstaats

Einstellungen der Bürger zum Sozialstaat

Bilanz

 

Anmerkungen

Hinweise zu weiterführender Literatur

Register

I. Einführung

Dieses Buch handelt von einer Einrichtung, die im In- und Ausland von vielen bewundert wird: dem deutschen Sozialstaat. «Sozialstaat» meint eine weit ausgebaute Sozialpolitik für alle Staatsbürger oder zumindest einen Großteil von ihnen. Der «Sozialstaat» ist der Gegenpol zum «Nachtwächterstaat» und zum liberalen «Marktstaat». Er ist der Staat der Sozialintervention, der Rückwirkung des politischen Überbaus auf die gesellschaftliche Basis. Mit der Sozialpolitik übernimmt dieser Staat «Verantwortung für die Befindlichkeit der Gesellschaft»[1]. Seinen Zielen nach zu urteilen, soll er dabei vor allem materielle Verelendung verhindern, besser gegen die Wechselfälle des Lebens wie Alter, Krankheit oder Invalidität sichern, krasse soziale Ungleichheit eindämmen, den Wohlstand und seine Ausbreitung fördern und für sozialen Ausgleich in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt sorgen.

Den Sozialstaat lässt sich der Gesetzgeber in Deutschland einiges kosten. Mehr als 760 Milliarden Euro waren es laut Sozialbudgetstatistik des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales allein im Jahr 2010. Dieser Betrag entspricht fast einem Drittel des Wertes aller in diesem Jahr in Deutschland hergestellten Güter und Dienstleistungen. Und er repräsentiert weit mehr als die Hälfte aller Ausgaben von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen. Von der großen Bedeutung des Sozialstaats zeugt eine weitere Zahl: Rund 40 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland finanzieren ihren Lebensunterhalt mittlerweile überwiegend aus Sozialleistungen. Die meisten von ihnen sind Altersrentner, andere erhalten Leistungen der Kranken- oder Arbeitslosenversicherung oder – wie knapp 10 Prozent der Wohnbevölkerung in Deutschland – Geldleistungen aus einem der Mindestsicherungssysteme wie Sozialhilfe, Sozialgeld oder Arbeitslosengeld II oder aus anderen Sozialprogrammen (siehe Kapitel 3).

Deutschland ist ein Pionier der Sozialgesetzgebung. Früher als in anderen Ländern, im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, wurden im Deutschen Reich von 1871 die Weichen für eine reichsweite Sozialpolitik gestellt. Besonders weit ausgebaut wurde die Sozialpolitik aber erst in der Bundesrepublik Deutschland. In ihr entstand ein Sozialstaat, der weltweit zu den stärksten und teuersten seiner Art zählt. Von seiner Geschichte und Gegenwart handelt das vorliegende Buch. Es erörtert den Werdegang und die Strukturen des deutschen Sozialstaats, seine Antriebskräfte und seine Auswirkungen auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Zudem untersucht es die Position, die Deutschlands Sozialstaat im internationalen Vergleich einnimmt, und geht seinem Schicksal in einem Zeitalter der Europäisierung und Globalisierung nach.

Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert. Das erste ist die vorliegende Einführung. Das zweite Kapitel umreißt die Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland von 1883, dem Geburtsjahr der Sozialgesetzgebung im Deutschen Reich von 1871, über die Weimarer Republik und den Staat des Nationalsozialismus bis zu den Jahren der Besatzung von 1945 bis 1949.

Vom Auf- und Ausbau des Sozialstaats in der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland handelt das dritte Kapitel. Es erörtert zudem seine Antriebskräfte. Zu ihnen gehört eine auch international ungewöhnlich sozialstaatsfreundliche Parteienlandschaft: In ihr konkurrieren gleich zwei große Sozialstaatsparteien, die CDU/CSU und die SPD. Mit der Wiedervereinigung kam eine radikal-wohlfahrtsstaatliche Partei hinzu, die PDS – heutzutage Die Linke.

Das vierte Kapitel blickt auf die Sozialpolitik der Deutschen Demokratischen Republik, der DDR, zurück. Dort kam es zum Aufstieg und Niedergang eines Sozialstaats eigener Prägung: des Staates der «sozialistischen Sozialpolitik». An ihm kann man lernen, dass die DDR-Sozialpolitik mehr als nur eine Fußnote der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte ist. Sie ist vielmehr ein Exempel für Wege und Irrwege eines sozialistischen Wohlfahrtsstaates, der sich in einen systemimmanent nicht mehr lösbaren Zielkonflikt mit der wirtschaftlichen Leistungskraft verstrickte.

Ein Perspektivenwechsel kennzeichnet die drei folgenden Kapitel. Sie porträtieren den deutschen Sozialstaat aus dem Blickwinkel des internationalen Vergleichs. Von den Besonderheiten des deutschen Sozialstaats im Vergleich zu anderen Ländern handelt das fünfte Kapitel; von den Rückwirkungen der Europäischen Union und der Globalisierung auf die Sozialpolitik das sechste. Das siebte Kapitel erörtert Sozialstaatsreformen in wirtschafts- und finanzpolitisch schwierigen Zeiten. Die Parteienlandschaft in Deutschland erschwert sozialstaatliche Kurskorrekturen und Umbau- oder gar Rückbaumaßnahmen. Dennoch wurden solche Reformen realisiert – oft allerdings mit beträchtlichen politischen Erschütterungen, was CDU/CSU-geführten Regierungen ebenso widerfuhr wie SPD-geführten Koalitionen.

Die Wirkungen von Deutschlands Sozialstaat auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sind Gegenstand des achten und letzten Kapitels. Es zeigt, dass der Sozialstaat nicht nur eine «Erfolgsgeschichte», nicht nur ein «Produktivfaktor» und nicht nur ein zuverlässiger Problemlöser ist, wie seine Fürsprecher sagen. Er kennt auch Misserfolge, kann unproduktiv sein und ist nicht nur ein Problemlöser, sondern auch ein Problemerzeuger.

Bei der Anfertigung des Manuskriptes für dieses Buch wurde mir Hilfe zuteil. Dr. Sebastian Ullrich vom Verlag C.H.Beck danke ich für die vorzügliche Betreuung des Werkes. Für kompetente Unterstützung bei Recherchen, Schreibarbeiten und beim Korrekturlesen gilt mein Dank Ingeborg Zimmermann und Falk Bartscherer. Ich danke auch der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und dem Rektorat der Universität Heidelberg, die mir durch Gewährung eines Forschungssemesters im Winter 2011/2012 die für die Anfertigung des Buchmanuskriptes erforderliche Zeit verschafften.

Der Redaktionsschluss des Buches war Anfang Mai 2012.

Heidelberg, im Mai 2012

II. Sozialpolitik in Deutschland von den Anfängen bis 1949

Das Deutsche Reich von 1871 ist der Pionier der gesamtstaatlichen Sozialgesetzgebung. Den Weg dorthin wies die kaiserliche Botschaft an den Reichstag vom 17. November 1881. Mit ihr kündigte Wilhelm I. Gesetzesinitiativen zur Unfall- und zur Krankenversicherung sowie zur staatlichen Fürsorge bei alters- oder invaliditätsbedingter Erwerbsunfähigkeit an. Der Plan einer reichsweiten Sozialgesetzgebung fußte auf der Überlegung, «dass die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde»[1].

Das Deutsche Reich von 1871 als Pionier der Sozialgesetzgebung

Den Auftakt zur Sozialgesetzgebung gab die Einführung der Krankenversicherung im Jahre 1883. 1884 folgte das Unfallversicherungsgesetz, und 1889 beschloss der Reichstag die Einführung der Alters- und Invalidenversicherung mit Wirkung ab 1891. Die Reichsleitung mit Reichskanzler Bismarck an der Spitze hatte sich mit dem Reichstag nach langem Tauziehen darauf geeinigt, die Sozialpolitik am Prinzip der Sozialversicherung auszurichten. Sozialversicherungen sind kollektive Pflichtversicherungen, die hauptsächlich aus Beiträgen der versicherten Arbeitnehmer und ihrer Arbeitgeber finanziert werden, nicht aus Steuern, wie es der Reichsleitung vorschwebte. Doch für Steuerfinanzierung gab es im Reichstag keine Mehrheit. Sie würde zu viel Zentralismus zur Folge haben und dem Reichskanzler zu viel Macht geben. Bei der Unfallversicherung beschloss der Reichstag sogar, sie allein aus Unternehmerbeiträgen zu finanzieren und auf einen Reichszuschuss, von dem Bismarcks Gegner ebenfalls eine zu zentralistische Lösung befürchteten, zu verzichten.

Die Sozialversicherungen erfassten zunächst hauptsächlich die Arbeiter des gewerblichen Sektors der Wirtschaft. Später wurden sie auf andere Arbeitnehmergruppen ausgedehnt, ab 1913 auch – mit privilegierenden Versicherungsbedingungen – auf die Angestellten.

Die Sozialversicherungen stehen für einen Mittelweg zwischen staatszentrierter und marktliberaler Sozialpolitik. Der Rechtsform nach sind die Sozialversicherungen Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltungsbefugnis. Verwaltungspolitisch handelt es sich um Einrichtungen der mittelbaren Staatsverwaltung. Denen überträgt der Staat öffentliche Aufgaben – im Rahmen gesetzlicher Vorgaben und staatlicher Aufsicht. Die Finanzierung ist größtenteils Sache der Versicherten. Nicht weniges von dieser Konstruktion widersprach Bismarcks ursprünglichen Plänen. Gewiss: Mit der Pflichtversicherung, dem Staatsanteil und der Staatsaufsicht hatte er sich durchgesetzt. Seine Präferenz war aber letztlich «ein Staatsrenten- oder -leistungssystem»[2] mit möglichst weitgehender Finanzierung durch das Reich. Hiervon erhoffte sich Bismarck ein Höchstmaß an politisch nützlicher «Demonstration staatlicher Fürsorge»[3]. Die Reichstagsmehrheit aber folgte Bismarck nur bedingt: Sie war insbesondere «gegen zuviel Staat – bei der Organisation wie bei den Finanzen»[4] und verhinderte somit auch die Entstehung einer hauptsächlich vom Reich finanzierten Klasse von Staatsrentnern.

Die gesamtstaatliche Sozialgesetzgebung wurde in Deutschland früher als in anderen Ländern und auf einem niedrigeren Stand wirtschaftlicher Entwicklung eingeführt als etwa in England, den Niederlanden oder den USA. Obendrein wurde der Einstieg in die Sozialgesetzgebung in Deutschland von einem politischen Regime vollzogen, in dem das obrigkeitsstaatliche, autokratische Moment das demokratische überwog. Es waren konservative, auf Stabilisierung der Monarchie bedachte Ministerialbeamte und Politiker, nicht Revolutionäre, die eine Politik der sozialen Sicherung für die vielen einleiteten – nicht nur für wenige, wie bis dahin die Sozialpolitik beispielsweise für Beamte, Soldaten, Bergleute oder die Armenfürsorge.

Warum wurde das Deutsche Reich von 1871 zum Pionier der Sozialgesetzgebung? Der Schlüssel zur Erklärung liegt im Streben nach «Daseinsvorsorge und Gefahrenabwehr»[5]. Diese sollten Dämme gegen gesellschaftliche Folgeprobleme der Industrialisierung und Urbanisierung errichten und einer Gefährdung der politischen und gesellschaftlichen Herrschaftsordnung im Lande entgegenwirken. Der Handlungsbedarf war groß: Der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft und die Verstädterung hatten nicht nur die Schutzschirme der älteren Fürsorge auf gemeindlicher, kirchlicher und familiärer Basis überlastet. Industrialisierung und Verstädterung hatten auch eine Arbeiterbewegung hervorgebracht, die sich von der liberalen Demokratie trennte und alsbald in Fundamentalopposition zu Staat und Gesellschaft des Kaiserreichs stand. Die frühe Herausbildung einer sozialistischen Arbeiterpartei, die sich 1890 den Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) gab, unterschied Deutschland von anderen sich industrialisierenden Ländern. Auch das bestärkte die im Kaiserreich herrschenden Kreise in ihrer Revolutionsfurcht. Als Heilmittel sollte allerdings nicht nur die Sozialreform dienen, die noch Lorenz von Stein den Monarchien als Mittel zur Revolutionsverhinderung empfohlen hatte.[6] Das Heilmittel sah die Reichsleitung, allen voran Reichskanzler Bismarck, in einer Doppelstrategie. Sie sollte Reform und Repression umfassen – «Zuckerbrot und Peitsche», wie es später hieß. Die «Peitsche» war die Repression, die polizeiliche Überwachung und Unterdrückung auf der Basis des «Gesetzes wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie» vom 21. Oktober 1878, das bis 1890 mehrfach verlängert wurde. Das «Zuckerbrot» sollte die Sozialgesetzgebung sein, das «Komplement für das Sozialistengesetz», so Bismarcks Worte in seiner Reichstagsrede vom 15. März 1884.

Kritiker des Kaiserreiches sahen den Sachverhalt ähnlich, hoben aber das Kalkül der Machtsicherung und der Legitimationsbeschaffung hervor. Letztlich sei es Bismarck «um die Vernichtung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften mit sozialpolitischen Mitteln gegangen»[7], spitzte Volker Berghahn zu. Und die Sozialgesetzgebung sei, so schrieb schon Hans Rosenberg, einer der Wegbereiter der sozialhistorischen Forschung, ein «Kampfmittel im Dienste der Befestigung des aristokratisch-militärisch-bürokratischen Grundcharakters der Hohenzollernmonarchie auf modernisierten Grundlagen»[8] gewesen, das einer «kollektiven Massenbestechung»[9] gleichkam. Doch darin ging die Sozialgesetzgebung des Deutschen Reiches nicht auf. Gewiss sollte sie die Arbeiter in den monarchischen Staat einbinden – «wie Soldaten und Beamte»[10]. Doch damit folgten die Architekten der Sozialpolitik zugleich einer älteren, in Deutschland tief verwurzelten und vom lutherischen Protestantismus bestärkten Herrschaftsphilosophie: Ihr zufolge ist der Herr für den Knecht zuständig – und damit die Obrigkeit für die Wohlfahrt des Landes und die der Untergebenen.

Zu den Motiven der Sozialgesetzgebung gehörte Bismarcks Absicht, die Exekutive des Kaiserreichs zu stärken. Zudem galt es, gesellschaftliche Interessen und ihre Repräsentanten in die Verwaltung der Sozialpolitik einzubinden und mit diesem Korporatismus zugleich das Parlament und die etablierten Parteien zu schwächen. Außerdem wollte die Reichsleitung mit der Sozialgesetzgebung die innere Reichseinheit voranbringen. Die Gegnerschaft zum Liberalismus spielte ebenfalls mit: Die Sozialgesetzgebung stand für eine weitere Abgrenzung von Grundsätzen liberaler Gesellschaftspolitik. Entsprechend barsch fiel auch die liberale Kritik aus. Das Deutsche Reich von 1871 habe, so urteilte einer der intellektuell führenden Köpfe des Liberalismus, einen «autoritären Wohlfahrtsstaat»[11] mit einer sozialen Basis aus «Untertanen» hervorgebracht.

Allerdings war der Weg bis zu einer leistungsfähigen «Daseinsvorsorge» und zur wirkungsvollen «Gefahrenabwehr» durch Sozialpolitik länger und schwieriger als geplant. Nur ein Teil der erhofften Früchte wuchs mit den Sozialgesetzen heran, und auch das nur zögerlich. Noch reichten die Sozialleistungen nur als Zubrot. Niemand konnte von ihnen allein leben. Beispielsweise sah die Alterssicherung bei Erreichen der Altersgrenze von 70 Jahren und 30 Beitragsjahren die Auszahlung einer bescheidenen Rente vor. Diese entsprach etwa einem Sechstel bis einem Fünftel des durchschnittlichen Verdienstes eines Arbeitnehmers in Industrie, Handel oder Verkehr. Sie wurden als Aufbesserung des Arbeitseinkommens verstanden. Auch die Invalidenversicherung bot keinen wesentlich größeren Schutz. Noch trug die Sozialpolitik nur in bescheidenem Maß zur Legitimierung der Herrschaftsordnung bei – zumal die Sozialdemokratische Partei Distanz zur Sozialpolitik des Reiches hielt, weil man in ihr ein Mittel sah, das die Lebenszeit von Kapitalismus und Monarchie womöglich ungebührlich verlängerte und das obendrein finanziell für die Versicherten kostspielig war. Zudem erwies sich, zumindest in den 1880er Jahren, ein anderer Mechanismus als zugkräftiger als die Sozialpolitik des Reiches: «die anonyme Sozialpolitik des Marktmechanismus»[12]. Damit war die beträchtlich wachsende Realkaufkraft der durchschnittlichen Bruttoeinkommen vollbeschäftigter Lohnarbeiter seit dem Ende der 1870er Jahre gemeint. Dieser Zuwachs war vielen wichtiger als die bescheidenen Leistungen der neuen Sozialversicherungen.

Gänzlich fehlgeschlagen war der Plan, mit der Sozialpolitik die Sozialdemokratie zu schwächen. Denn trotz Sozialreform und Repression ging diese gestärkt aus den Reichstagswahlen hervor: Ihr Stimmenanteil lag 1884 bei 9,7 Prozent, 1893 aber schon bei 23,3 und 1912 gar bei 34,8 Prozent.

Auch das Ziel, die Arbeiter in die Monarchie einzubinden, war kurz- und mittelfristig nicht erreicht worden, wenngleich die Sozialpolitik auf lange Sicht doch ein Stück stillschweigender Integration des Proletariats in die Gesellschaft bewirkte. Letzteres hängt auch mit der inneren Dynamik der Sozialpolitik zusammen. Infolge der wirtschaftlichen Entwicklung des Deutschen Reiches wurde das Heer der Arbeitnehmer größer und größer. Mit ihm wuchsen auch die Mitgliederzahlen der Sozialversicherungen – ohne weiteres Zutun des Gesetzgebers. Hinzu kamen vom Reichstag beschlossene Erweiterungen des Versichertenkreises, Leistungsverbesserungen und die Einrichtung neuer Sozialprogramme wie die Hinterbliebenenversicherung, die 1911 die Alters- und Invalidenversicherung ergänzte. Ebenfalls 1911 beschloss der Reichstag eine eigenständige, mit besseren Leistungen versehene Rentenversicherung für Angestellte, die 1913 in Kraft trat. Die Angestellten sollten aus der Masse der Arbeitnehmerschaft angesichts ihres Sonderstatus als «Privatbeamte» und wegen ihrer Distanz zur Sozialdemokratie auch sozialpolitisch hervorgehoben werden. Erwähnenswert sind schließlich – nach Bismarcks Demission und unter der Regentschaft von Kaiser Wilhelm II. – erste Fortschritte im lange vernachlässigten Arbeitsschutz.

Eine weitere Ausdehnung der Sozialpolitik brachte der Erste Weltkrieg. Die «militärische Sozialpolitik»[13] zwischen 1916 und 1918 sollte Hilfen für die not geplagte Bevölkerung bereitstellen, die Arbeitskräfte zu einem Höchstmaß an Leistung anspornen und den Erfordernissen des gemeinwirtschaftlichen «Kriegssozialismus» der Rüstungs- und Rohstoffämter Genüge tun. Zu ihren Instrumenten gehörten die faktische Anerkennung der Gewerkschaften als rechtmäßige Vertretung der Arbeitnehmer, der Koalitionsfreiheit und des Tarifvertrags als zentrales lohnpolitisches Instrument. Hinzu kamen Maßnahmen zur Erwerbslosenunterstützung und zum Arbeitsschutz, sodann ein erweiterter Mutter- und Mieterschutz, ferner die Bewirtschaftung des Wohnraums. In allen Fällen handelte es sich um «alte Forderungen der Arbeiterbewegung, die nun mit kräftiger Förderung durch das Militär verwirklicht oder wenigstens im Ansatz aufgegriffen» wurden.[14]

Mit dem frühen Einstieg in die Sozialgesetzgebung und dem weiteren Ausbau der Sozialpolitik ragte das Deutsche Reich von 1871 auch international hervor. 1915 wurden 57 Prozent der Erwerbspersonen in der Alters- und Invalidenversicherung geführt, weit mehr als in jedem anderen westlichen Land zu diesem Zeitpunkt. Ferner gehörten 43 Prozent der Erwerbspersonen einer gesetzlichen Krankenversicherung an. Hiermit bildete das Deutsche Reich, mit Dänemark und Großbritannien, die Spitze unter den Industrieländern. Und 71 Prozent der Erwerbspersonen waren Mitglieder der Unfallversicherung – um nur einige Beispiele zu nennen.[15]

Auch die Sozialausgaben zeugten vom Ausbau der Sozialpolitik. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg entfielen auf sie 4,9 Prozent des Volkseinkommens und 26,8 Prozent der öffentlichen Ausgaben. Dem Zentralstaat allerdings war in der Finanzierung der Sozialpolitik nach wie vor nur eine Statistenrolle zugedacht. Aus dem ursprünglich geplanten «Staatssozialismus» des Reiches, der eine Versorgungsklasse von Staatsrentnern aus Arbeiterkreisen hervorbringen sollte, war wenig geworden. Zudem waren die Lücken der Sozialgesetzgebung des Deutschen Reiches nicht zu übersehen: Der Arbeitsschutz war schwach, das Arbeitsrecht rudimentär, und es fehlte eine kollektive obligatorische Arbeitslosenversicherung. In diesem Zweig der Sozialpolitik spielte nicht Deutschland die erste Geige, sondern Großbritannien: Die britische Arbeitslosenversicherung wurde 1911 eingeführt, die deutsche erst 1927.

Überdies ist die Kehrseite der «militärischen Sozialpolitik» zu bedenken. Der Erste Weltkrieg verschlechterte die Lebensverhältnisse in Deutschland drastisch. Zeugnis davon geben selbst dürre Zahlen der Wirtschaftsstatistik: Deutschlands preisbereinigtes Pro-Kopf-Sozialprodukt schrumpfte zwischen 1913 und 1918 um 18,3 Prozent.[16] Damit war der mühsam erworbene Wohlstandszuwachs der zwei vorangehenden Jahrzehnte verspielt.

Sozialpolitik in der Weimarer Republik: Ausbau, Stillstand und Rückbau

Nach der Gründung der Weimarer Republik im Jahr 1919 schien viel dafür zu sprechen, dass die Sozialpolitik rasch ausgebaut würde. Die neue Staatsverfassung war demokratisch, gab mithin allen erwachsenen Staatsbürgern das Stimmrecht – auch der großen Mehrheit derjenigen, die wenig oder nichts besaßen und von der Sozialpolitik Vorteile erwarten konnten – und sorgte für die Parlamentarisierung der Reichsregierung. Aufgrund der Größe ihrer Wähler- und Mitgliederschaft konnten sich die Parteien der Linken und die Gewerkschaften zudem mehr Einfluss auf die sozialpolitische Willensbildung und Entscheidungsfindung erhoffen – zumal die SPD nicht länger nur als Oppositionspartei fungierte, sondern auch als Regierungspartei (1919/20, 1921/22, 1923 und von 1928 bis März 1930). Zuspruch bekam die Sozialpolitik auch aus der politischen Mitte, namentlich von der Deutschen Zentrumspartei. Mit ihrem in der katholischen Arbeiterbewegung verankerten Arbeitnehmerflügel rückte die Zentrumspartei in eine sozialpolitisch besonders einflussreiche Position: Mit Heinrich Brauns stellte sie von 1920 bis 1928 den Minister des neu gegründeten, für den Großteil der zentralstaatlichen Sozialpolitik zuständigen Reichsarbeitsministeriums.

Sozialpolitische Nachfrage, sozialpolitisches Angebot

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