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Stefanie Zweig

Heimkehr in die
Rothschildallee

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Im Andenken an meinen geliebten Vater,
der mich früh gelehrt hat, beide Seiten
einer Medaille zu betrachten.

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© für die Originalausgabe: 2010 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© 2012 dieser Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
© für das eBook: 2012 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
unter Verwendung eines Fotos von © akg-images
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7844-8110-4

Verwandtschaft bedeutete den Halt und den
Funken Hoffnung, den der ins Leben
Zurückgestoßene brauchte, um sich nicht
aufzugeben. Nur die eigenen Leute wussten,
wer man gewesen war; sie waren die Brücke
von der Vergangenheit in die Gegenwart.

1
SCHAU DICH NICHT UM!

19. Oktober 1941

Morgennebel umhüllte die Häuser im Frankfurter Ostend. Herbstschwer lag er auf den welkenden Blumen in den kleinen Vorgärten und auf den dichten Hecken, die vor fremden Blicken zu schützen hatten. Im Dunst des beginnenden Tages waren noch nicht einmal die stämmigen alten Eichen und die mächtigen Kastanienbäume am Straßenrand auszumachen, die der Straße ihren beruhigenden, dörflich-behäbigen Charakter gaben. Dann, so plötzlich wie unerwartet, tauchte aus dem erstickenden Nebelgrau die Großmarkthalle auf. Einen Moment schien der Anblick des imposanten Gebäudes die verängstigten und zu Tode erschöpften Menschen, die dorthin getrieben wurden wie das Vieh zum Schlachthaus, zu beruhigen. Ein paar erleichterte Seufzer, ein vereinzeltes »Ach«, sogar das Händeklatschen zweier Kinder, die von nichts wussten, waren zu vernehmen, doch die Gnade, die Wirklichkeit nicht mehr einordnen zu können, währte nicht länger als einen Herzschlag.

»Los, ihr verdammtes Judenpack!«, brüllte die Stimme des Entsetzens.

Die Großmarkthalle, der Stolz der Frankfurter, war in den Jahren 1926 bis 1929 gebaut worden; in den Zwanzigern galt ihre Technik als einmalig und wegweisend. Der Bau machte im ganzen Reichsgebiet Furore und wurde als Sinnbild für eine neue, freie Zeit gefeiert, doch im Herbst 1941 hätten es auch die Mutigsten nicht mehr gewagt, in der Öffentlichkeit an die Zeit von Hoffnung und Aufbruch zu erinnern.

Für die jüdischen Bürger, denen es nicht gelungen war, die Stadt rechtzeitig zu verlassen und Rettung im Ausland zu suchen, war die einst mit Ehrfurcht bestaunte Großmarkthalle zur Endstation aller Hoffnung auf Leben geworden. Obwohl niemand offiziell von den sogenannten »Judenaktionen« und Deportationen wissen durfte, war doch bekannt geworden, was die Unglücklichen dort erwartete. Zunächst wurden sie in den Keller getrieben, zum wiederholten Mal auf Wertsachen untersucht, immer wieder aufs Neue gedemütigt und schikaniert, weder mit Essen noch mit Wasser versorgt, körperlich bestialisch gequält und schließlich in Eisenbahnwaggons nach Osten abtransportiert. Keiner wusste, wohin die Reise ging. Es gab täglich neue Gerüchte, die sich alle widersprachen und die die Menschen nicht glaubten, weil ihnen das Unglaubliche noch nicht begegnet war, und doch spürte ein jeder, dass es von der Großmarkthalle aus keine Rückkehr mehr geben würde. Frankfurt, die heiß geliebte Vaterstadt, hatte das letzte Band zu seinen Juden zerschnitten, hatte sie endgültig aus der Gemeinschaft seiner Bürger gestoßen und sie für vogelfrei erklärt.

Die Großmarkthalle mit ihrer breiten Front und den vielen Fenstern machte den Verzweifelten für einen wunderbaren Moment den Mut, den sie brauchten, um nicht zusammenzubrechen und auf der Straße liegen zu bleiben. Das vertraute Haus zu sehen brachte den Trost, den die Verzweifelten immer noch zuließen. Jenen, die sich trotz allen Leides, das ihnen bereits widerfahren war, nicht vorzustellen vermochten, wie das letzte Kapitel ihres Lebens ausfallen würde, erzählte dieser falsche Trost Geschichten aus der Zeit ohne Demütigung und Verfolgung. Bildhafte Geschichten waren es, die die Seele beruhigten und Ängste linderten.

Das Lauftempo der Geschundenen veränderte sich; die Schritte der Starken wurden länger und selbst die der Schwachen kräftiger und beherzter. Kinder an der Hand ihrer Mütter hoben den Kopf und zeigten ihr Gesicht. Am Ende des Weges wagten sie die Fragen, für die es keine Antworten mehr gab. Eine Frau, obwohl schon grauhaarig und mit altersschwerem Körper, trug mit einem Mal ihren großen Koffer, ohne zu keuchen oder ein einziges Mal stehen zu bleiben. Jeder konnte sehen, dass der Koffer mit mehr als den zugelassenen fünfzig Kilo bepackt war, doch die Grauhaarige hielt das mit einer dünnen Schnur umwickelte Gepäckstück, als wäre es eine kleine, leichte Reisetasche; sie schwenkte den schweren Koffer wie die sorglos reisenden Damen der Gesellschaft in der Vorkriegszeit ihre federleichten Hutschachteln. Einmal lachte die drängelnde Grauhaarige laut auf. Es war ein hysterisches Lachen aus einem weit aufgerissenen Schreckensmund. Die Frau begann zu rennen, sie rempelte einen alten Mann mit Rucksack an, überholte zwei Frauen mit drei kleinen Kindern, zog an einer humpelnden Greisin in abgetragenen orthopädischen Stiefeln vorbei, die ihre Habe in einem alten Kinderwagen schob, und lief eine Zeit lang neben vier bärtigen Männern her, die, ohne ihre Lippen zu bewegen, Gebete an den richteten, an den sie immer noch glaubten. Schließlich erreichte die berauschte Dränglerin die Spitze der Kolonne. Jetzt, am Ziel, schaute sie sich nach den desperaten Menschen um, die hinter ihr waren. Die Frau winkte mit der Linken, von der eine weiße Sommerhandtasche baumelte; sie machte den Eindruck, als wollte sie ihre Leidensgenossen ermutigen, ihrem Beispiel zu folgen. In diesem Augenblick brüllte die peitschende Stimme des Mannes in SA-Uniform: »Los, ihr stinkendes Pack! Oder soll ich euch Beine machen, ihr Itzigs!«

Es war – das wussten schon die Kinder – die Stimme des Teufels. Sie stand für Panik und Todesangst und die Unfähigkeit einst wohlgelittener, selbstbewusster Bürger, zu begreifen, dass für sie nur noch die Hölle offen stand. Mit den Verdammten aus Frankfurt wurden auch die jüdischen Menschen aus dem hessischen Umland abtransportiert; die hatten geglaubt, in der anonymen Großstadt würden sie sicherer vor Verfolgung sein als in ihren Heimatdörfern, wo sie ein jeder kannte. Nach dem Brand der Synagogen am 9. November 1938 waren die Juden aus Kleinstädten und Dörfern nach Frankfurt gezogen. Auch diese Unglücklichen, deren Geschick nun von der Willkür machtbesessener SA-Männer abhing, die den Zug begleiteten, waren vor Morgengrauen in ihren letzten Refugien abgeholt worden. Es waren verheerende Zwangswohnstätten gewesen, in die die Juden vor Kriegsausbruch von den Frankfurter Behörden eingewiesen worden waren. Von Monat zu Monat war die Existenznot dort größer geworden, die Hoffnung auf Entkommen starb täglich ihre tausend Tode. In diesen erbärmlichen Unterkünften, von der offiziellen Sprachregelung als »Judenhäuser« bezeichnet, hatten Polizei und Gestapomänner am 19. Oktober 1941 den Juden das letzte Geld, sämtliche ihnen noch verbliebenen Wertsachen, Kleidung, Geschirr, Besteck, selbst Kochtöpfe und Bettzeug abgenommen – zuletzt die Hausschlüssel. So wurde den Ausgestoßenen das letzte Stück ihrer vermeintlichen Sicherheit entrissen. Sie hatten keine Adresse mehr und keine Identität.

Schon lange wurden die Personalausweise der Juden in Deutschland mit dem Buchstaben J für jüdisch gestempelt. Am 19. September 1941 war dann eine Verordnung in Kraft getreten, die den letzten Akt der Tragödie einleiten sollte. Ab sechs Jahren hatte Juden den »gelben Stern« zu tragen und wurden fortan in der Terminologie der Unmenschen als »Sternträger« bezeichnet. Das schwarz umrandete Stoffstück mit der Aufschrift »Jude« war so auf die Kleidung zu nähen, dass der »Sternträger« auf der Straße sofort und von jedermann als Jude zu erkennen war. So war aus dem sechseckigen Davidstern, jahrhundertelang das Symbol des Judentums, in Deutschland ein Brandzeichen geworden: Es stand für Erniedrigung, Ausgrenzung, Verfolgung und Tod.

Vor einer Telefonzelle mit zersplitterter Tür befahl der SA-Mann: »Marschschritt!« Seine Stimme war Donnerwort und Höllenklang. Die Sklaven hielten den Atem an und starrten auf das Straßenpflaster. Sie spürten, wie ihr Körper starb und dass ihr Kopf leer wurde, doch keiner der Gepeinigten versuchte, sich gegen das Sterben zu wehren. Wem nichts geblieben war als der Koffer in der Hand, der schaute nicht mehr zum Himmel, der erwartete von Gott weder Gehör noch Beistand.

Allein die Stimme des Satans, das Geräusch seiner Stiefel, die Flüche, obszönen Verwünschungen und die Drohungen, die jene, denen sie galten, noch nicht in voller Tragweite verstanden, gaben den bedrängten Menschen die Gewissheit, dass der Tod sie noch nicht erlöst hatte. Der Funke Leben, schon nicht kräftiger als ein glimmendes Kartoffelfeuer, begann zu verlöschen. Es regte sich keine einzige Hand, um den Wehrlosen zu helfen, niemand bot dem Teufel Einhalt, keiner schämte sich, ein Mensch zu sein. Der Satan massierte seine Stirn, weil ihn der Kopf schmerzte, und er dachte dabei an seine Mutter. Für den Sonntagabend hatte sie ihm Wurstgulasch und Kartoffelklöße versprochen.

Ein Säugling wimmerte. Seine Klage war zu dünn, um auf Erden Aufmerksamkeit zu erregen, und zu schwach, um den himmlischen Beschützer der Kinder zu erreichen. Ein alter Mann, der bis dahin das Baby an seine Schulter gedrückt hatte, stopfte es erschrocken unter seinen dicken schwarzen Mantel und bewegte seine Lippen. Die Frau zu seiner Rechten streckte die Hand nach dem weinenden Enkelkind aus, doch ihr Mann, die Augen schon tot und das Herz versteinert, rückte entschlossen von der Gefährtin seines Lebens ab. Er machte seine Ohren taub für ihre Seele, obwohl er sie schreien hörte, und die Augen verschloss er vor ihrer Not, denn ihn hielt immer noch die Hoffnung aufrecht, er und das Kind würden ihrem Schicksal entkommen.

Die Frau begann zu jammern. Zunächst waren nur leise Klagelaute zu hören. Noch kamen sie aus der Welt, in der die Menschen ihre Qual in die Welt der Starken hinausschreien durften. Plötzlich, als sie fast schon verstummt war, wurde die Frauenstimme schrill und hoch. Ihr verhärmtes, blasses Gesicht löste sich auf; es war wie ein Stück weißes Papier, das in einem stillen Wasser treibt. Stirn, Augen und Nase hatten weder Kontur noch Farbe, doch der Mund war vom Schreien übergroß geworden, war ein Loch in einem schäumenden Meer, eine teerschwarze, Angst einflößende Höhle.

Die Greisin flehte in der Sprache ihrer Kindheit um Erbarmen. Mit beiden Händen umfasste sie ihren dürren Hals; sie keuchte, bis kein Atem mehr in ihrem Körper war. Der Knoten ihres grauen Kopftuchs löste sich. Einen Augenblick sah das zu Boden segelnde Tuch wie eine Fahne aus. Es glich einem gleitenden Papierdrachen, der sanft zur Erde zurückkehrt. Das flatternde Tuch fiel in eine Pfütze. Die Alte stellte ihren Koffer ab. Trotz der Schmerzen in ihrem Rücken bückte sie sich, um das kostbare Stück Wärme zu sich zu ziehen. Schon berührte die Hand, die den Koffer gehalten hatte, das nasse Straßenpflaster, doch die alte Frau rutschte aus, ehe sie ihr Tuch zu fassen bekam. Einen Augenblick schwankte sie, als könnte sich ihr Körper nicht entscheiden, wohin er fallen würde. Dann stürzte sie wie ein gefällter Baum zu Boden und konnte nicht mehr aufstehen.

»Das würde dir so passen!«, brüllte der SA-Mann. Sein breites Gesicht war feuerrot. Als er seinen Zorn und den Hass, der jeden Nerv zerfraß, aus dem Körper schleuderte, färbte sich die lange Narbe über seinem rechten Auge violett. Sein gestiefelter Fuß trat auf die Hand am Boden. Weit ausholend versetzte er der Frau zwei Tritte in den Rücken. Sie heulte wie ein Hund auf, der mit einer eisernen Kette geschlagen wird, und konnte sich nicht umdrehen. Ihr Mann, das Baby immer noch unter dem Mantel, versuchte nun doch, seiner Frau beizustehen. Er machte einen kleinen Schritt in ihre Richtung, streckte den linken Arm aus, der Gestiefelte stieß ihn jedoch zur Seite. »Das machst du nicht noch einmal, du verdammte Schlampe«, kreischte er. »Nicht mit mir.«

Er schlug mit einer ledernen Peitsche zu, die er unter seiner Jacke herauszog. Ein einziger Hieb reichte. Die alte Frau, die mit letzter Kraft versucht hatte, wieder auf die Füße zu kommen, fiel endgültig um. Wie ein Stein lag sie auf der Straße, das Gesicht auf das Straßenpflaster gedrückt. Keiner machte eine Bewegung, um zu ihr zu gehen, und keiner wusste, ob sie noch lebte.

»Na also«, sagte der Teufelsjünger. Seine Stimme war ruhig und fest. Sie klang zufrieden und beherrscht; in den Ohren derer, die ihm gleich waren, klang diese Stimme wie die Stimme eines Menschen.

Die Stunden, die vergangen waren, seitdem er begonnen hatte, die Wehrlosen und Verzweifelten in die Hölle zu hetzen, waren ihm lang geworden. Noch am Abend zuvor hatte der Schinder seinem Kumpel aus der Frühzeit der Bewegung erklärt, es müsste »zur Grundausbildung eines jeden deutschen Mannes gehören, den Judde Mores zu lehren«. Jedoch stellte sich die Befriedigung, die der bei seinen Vorgesetzten angesehene SA-Mann beim Kujonieren und Misshandeln erwartet hatte, nicht ein – weder auf den ersten Kilometern des endlosen Marsches noch auf den letzten. Dem willfährigen Verwalter der Unmenschlichkeit machte es viel mehr Mühe als beim erregenden ersten Mal, erschöpfte Frauen, verängstigte Kinder, die stolpernden Greise und die vielen Elendsgestalten, die seine Augen beleidigten, wie Schlachtvieh vor sich herzutreiben. Nicht nur in Nächten, da der Schlaf ihn nicht rechtzeitig erlöste, kam dem SA-Mann der Gedanke, dass Juden aus der Stadt zu prügeln eine Aufgabe wäre, die jeder Dorftrottel und erst recht die Drückeberger aus den Amtsstuben ebenso gut hätten verrichten können wie er. Es empfand es als Zumutung und Hohn, dass ein Mann in SA-Uniform sich mit den Juden abzugeben hatte, »die nicht den Grips gehabt haben, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Die«, beklagte er sich bei seinem Weggenossen, nachdem er den ersten Transport begleitet hatte, »fallen ja schon um, wenn man sie nur anpustet. Auch wenn einer seine Soldatenpflicht nicht mehr so gut erfüllen kann wie ein Mann mit gesunden Gliedern, hat er doch den moralischen Anspruch, dass seine Verdienste um die Sache geehrt werden.«

Der SA-Mann hatte ausgerechnet am ersten Tag des Krieges die Disziplin vergessen, die er Führer und Vaterland schuldete; in seiner Euphorie, dass Deutschland endlich auf dem Kampffeld den Mut und die Kraft der Furchtlosen beweisen durfte, hatte er erst vier Flaschen Bier getrunken und danach eine halbe Flasche Heidelbeerschnaps, die er in die Wirtschaft mitgebracht hatte. Abends um zehn, in dem Moment, da er – aus voller Kehle die alten Kampflieder schmetternd – von der Brücke in den Main pinkeln wollte, war er sämtliche Treppen des Eisernen Stegs hinuntergestürzt. Beide Beine hatte der Siegesberauschte gebrochen und das Jochbein dazu. Nun war das rechte Bein kürzer als das linke, und bei jedem Wetterwechsel pochte es im Schädel.

»Wird’s bald?«, schrie der Kampfesdurstige. »Ihr verlaustes Pack.« Er schubste ein etwa vierjähriges Mädchen, schlug mit der Peitsche auf den Boden und spuckte angewidert aus. Sein Speichel schäumte auf den Lippen. Er spürte einen gallenbitteren Geschmack im Mund und unmittelbar danach ein kaum zu unterdrückendes Bedürfnis, abermals eine Frau zusammenzutreten. »Diesmal eine junge«, schrie die Stimme des Grauens in den nebelschweren Tag.

Er hieß Georg Maria Griesinger. Wenn er morgens in den Spiegel schaute, wich er seinem Blick nicht aus. Es machte ihn immer wieder aufs Neue stolz, dass er nach dem beschämenden Unfall überhaupt noch in der Lage war, seinen Mann zu stehen, und das wahrhaftig nicht schlechter als die glücklichen Leute mit zwei gesunden Beinen. »Dein Sohn braucht keine Front, um seine Soldatenpflicht zu tun«, pflegte Georg seiner Mutter klarzumachen, wenn sein Magen gut gefüllt war und sie wieder einmal von ihrem Onkel in Fischbach eine selbst gebrannte Flasche Kartoffelschnaps hatte ergattern können. »Es ist viel schwerer, zu Hause den Kampf um Deutschlands Zukunft zu führen als im Osten. Das kannst du mir glauben.«

Die Mutter war nicht gewohnt, einem Mann zu widersprechen. Ihrem Jüngsten gab sie meistens aus Überzeugung recht. Nur im Stillen fragte sie sich, weshalb seine Brüder nicht die gleiche Chance bekommen hatten, sich auf sicherem Posten zu bewähren. Herbert, dem keiner widerstehen konnte, hatte es in Polen getroffen. Günther mit den guten Schulzeugnissen und der frisch bestandenen Prüfung als Malergeselle war in Frankreich gefallen. Nun dankte die Mutter jeden Abend und selbstverständlich sonntags in der Kirche, dass der Chirurg, der die gebrochenen Beine ihres Jüngsten versorgt hatte, sich nicht so bewährt hatte, wie man das von einem deutschen Arzt in einem deutschen Krankenhaus hätte erwarten können.

Trotz seines schwerfälligen Ganges und seiner Asthmaanfälle, die ihn schon in der Jugend zu einem Außenseiter gemacht hatten, hatte Georg Griesinger die Körperkraft und die Stimmgewalt, die ein Mann brauchte, um mit Juden umzugehen. »Parasiten und Volksfeinde«, pflegte er der Mutter zu erläutern, »wittere ich wie ein Hund den Hasen. Einen Juden kann ich kilometerweit riechen.«

»Das hast du schon als Kind gekonnt«, bestätigte die Mutter, »ich hab mich immer gewundert.«

Die Vorgesetzten waren sich einig, dass auf Georg Maria Griesinger nach dem Unfall, dessen genaue Umstände nie bekannt wurden, ebenso Verlass war wie zuvor. Für Griesinger legten auch die Kumpel die Hand ins Feuer. Ein jeder von ihnen war bereit zu schwören, dass der »Schorschi« keine weiche Stelle hatte. »Und schon gar nicht, wie so mancher, der sich an der Heimatfront herumdrückt und vom Heldentum schwadroniert wie Münchhausen nach dem fünften Schnaps, hat er eine weiche Birne.«

Dennoch war Griesinger an manchen Tagen, vor allem, wenn ein Gewitter in der Luft lag und die alten Narben brannten, als wären sie frische Wunden, nicht mehr der Mann, der sich das wirklich Große zutraute. In der Dunkelheit konnte er nicht mehr gut sehen, und neuerdings schienen die Bäume bereits in der Dämmerung zu schwanken. Auch dichtes Gebüsch narrte seine Sinne, und manchmal hörte er in der Stille Flugzeuge, die dann nie am Himmel erschienen. In seinen nächtlichen Albträumen war die Welt noch ungebärdiger. Da sah Griesinger Wälder aus Trauerweiden und schwarze Schwäne mit Ketten um den Hals, und immer wieder sah er sich selbst von Brücken ohne Geländer in schwarze Gewässer springen.

Die Menschen, die Griesinger von der Innenstadt zur Großmarkthalle zu treiben und dabei – das war ihm schon bei dem zur allgemeinen Zufriedenheit verlaufenen ersten »Transport« von zwei Vorgesetzten eingetrichtert worden – so wenig Aufsehen wie möglich bei der Bevölkerung zu erregen hatte, erschienen ihm wie die Kühe und Schafe vom Bauern. Mit seinen Tieren konnte ein Bauer ja machen, was er wollte. Die lebten nur so lange, wie er sie am Leben lassen wollte, und ebenso konnte der SA-Mann Griesinger mit den Menschen verfahren, die ihm überlassen wurden. Er durfte sie drangsalieren, bis sie zusammenbrachen, und sich an ihrer Todesangst weiden, er war Sonne und Mond, König und Herrscher der Welt. Ein Mann, den er zusammentrat, eine besinnungslose Frau auf der Straße, ein Kind mit Augen, die den Schrecken nicht fassen konnten, sie alle bereiteten dem SA-Mann Griesinger weniger Unbehagen als eine Nuss, die in den Zähnen steckte. Sein Blut geriet nicht wegen ein paar Juden in Wallung, die er in der Großmarkthalle abzuliefern hatte. Wenn sein Auftrag erfüllt war, wenn er seine Pflicht getan hatte, schmeckte ihm das Essen nicht besser als an den Tagen, da von ihm keine Bewährung verlangt wurde. Wenn er zum Himmel sah, nachdem er die Juden abgeliefert hatte, strahlten die Sterne nicht heller, doch beim Ausziehen seiner Stiefel verfluchte er die Treppen, von denen er gestürzt war. Abends, wenn er im Bett die Decke anstarrte, sah er körperlose Gespenster, die bei Lebzeiten schon tot waren, aber die lange Arme hatten, mit denen sie nach Männern griffen, wie Griesinger einer war, Männer der Pflicht, die keine Fragen stellten und die in Abgründe schauen konnten, ohne zu schaudern.

Der 19. Oktober 1941 war ein Tag wie viele andere – ein Tag mit grauen Gespenstern im grauen Nebel. Für ein paar Sekunden übernahm allerdings eine lähmende Benommenheit die Regie im Leben von SA-Mann Griesinger. Morgens um halb sieben starrte er betäubt die Großmarkthalle an. Ihm war es, als hätte er das mächtige Haus noch nie gesehen. Im Augenblick einer Panik, die seinen Körper steif werden ließ, erschien ihm die Menschenschlange, die er ins Ziel zu treiben hatte, wie ein Ungeheuer mit zwei Köpfen. »Anhalten«, kreischte der Satanische, ehe er die Orientierung endgültig verlor. Er keuchte, weil er wähnte, ein Mann würde Rache nehmen und ihn würgen. »Halt«, brüllte er und fasste sich wie ein Erstickender an den Hals, doch er hörte sich atmen und merkte, dass der Atem seinen Körper erwärmte. Seine Augen wurden von den Bildern erlöst, die einem deutschen Helden nicht zu kommen hatten. Griesinger, der Mann mit dem zu kurzen Bein, wurde wieder der, der er zu sein hatte. Eine Frau lag am Boden. Sie war nur noch ein Bündel aus schäbigem schwarzem Stoff; er wusste nicht, ob es die Greisin war, die er getreten hatte, und spannte sein Knie. Noch traf sein Stiefel nicht wieder, aber Manneskraft und die Lust am Leben kehrten zu ihm zurück. »Deinen Gott«, schrie er einen alten Mann an, der nach dem Retter im Himmel gerufen hatte, »gibt es nicht mehr. Merk dir das, Itzig. Er ist Adresse unbekannt verzogen.«

Erst als er von Gott sprach, fiel Griesinger ein, dass es Sonntag war. Bei der Vorstellung, dass es in der gleichen Welt, in der er lebte, Menschen gab, die am Sonntag ihre Sünden bekannten und um Gnade flehten, lachte er so laut, dass die Narbe über seinem Ohr explodierte und Funken spie. Ein Junge von etwa fünf Jahren starrte ihn an. Der Gottlose machte die gleiche drohende Bewegung, die Vater Griesinger immer gemacht hatte, ehe er den Rohrstock vom Haken genommen und aus Leibeskräften auf seine Söhne eingeschlagen hatte. Das totenbleiche Kind trug eine zu große Schildmütze. Sie rutschte dem Kleinen bei jedem Schritt über die Augen, wurde aber in kurzen Abständen von seiner Mutter nach hinten geschoben.

Die Glocke einer nahen Kirche schlug sieben Mal. Sie verkündete Frieden, Vertrauen, Hoffnung und Zuversicht. Die Luft war feucht und herbstschwer. Die Eichhörnchen schliefen noch in den Bäumen, Tauben hockten auf den Dächern. Die Straßenlaternen brannten nicht. Die erschöpften Menschen, die zur Großmarkthalle getrieben wurden, wussten alle, dass dies der letzte Tag in ihrer Heimatstadt war. Sie wussten auch, dass die Hölle sie erwartete, aber sie gingen vorwärts, als hätten sie eine Zukunft, für die es sich zu gehen lohnte. Den Gott, der sie verlassen hatte, baten sie nur noch um die eine Gnade: Die Kinder, die sie aus dem Leben führten, sollten nicht merken, was mit ihnen geschah. Die Kinder liefen mit gesenktem Kopf. Sie sahen weder Baum noch Haus, noch Strauch, nur Füße und Schuhe, die glänzten, als gingen sie in ihren Festkleidern zur Synagoge.

»Warum?«, hatte die zehnjährige Fanny bemängelt, »warum soll ich denn mitten in der Nacht meine Schuhe putzen? Das hab ich doch noch nie gemusst.«

»Weil man nicht mit ungeputzten Schuhen auf eine Reise geht«, hatte ihre Großmutter Betsy geantwortet, »das hast du doch noch nie gedurft.«

Nun liefen Großmutter und Enkelin mit denen, die nicht mehr an das Leben dachten. Wenn Griesinger und seine Kumpane die Schwächsten der Wehrlosen quälten, weil sie das Tempo nicht halten konnten, drückte sich Betsy Sternberg wie früher an ihren Mann. Jedoch, anders als in den Tagen der Sicherheit, war sie es, die nun tröstete. »Sie wird kommen«, sagte sie leise. »Ich spüre es. Unsere Anna hat immer Wort gehalten.«

»Sie hat es nicht mehr in der Hand, ihr Wort zu halten«, flüsterte Johann Isidor zurück. »Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass sie überhaupt daran denkt. Nicht in ihrem Zustand.«

Vor ihm und Betsy lief Victoria, einst die schönste und schwierigste seiner vier Töchter. Victoria Feuereisen, geborene Sternberg, war dreiunddreißig Jahre alt, nun nicht mehr schön und nicht mehr schwierig; sie war eine Frau ohne Illusionen und ohne Kraft, die seit dem ersten sogenannten »Judentransport« nicht mehr an Rettung glaubte. Trotzdem hatte Victoria für den letzten Tag in ihrer Vaterstadt den schwarzen Mantel mit dem Fuchspelzkragen angezogen. Der Mantel, Anfang der Dreißigerjahre auf einer Reise mit ihrer Schwester Clara in einem bekannten Berliner Modehaus gekauft, spendete keinen Trost und keine Wärme. Er war in Brusthöhe mit dem gelben Stern gekennzeichnet und erzählte nicht mehr vorstellbare Geschichten von einer jungen Träumerin, die zum Himmel hatte fliegen wollen und mit verbrannten Flügeln heimgekehrt war. Nun erbat auch Victoria, die zu eigensinnig, zu töricht gewesen war, die Handschrift an der Wand zu deuten, von Gott nur noch die eine Gnade – ihr Sohn möge auf seinem letzten Weg nicht begreifen, was geschah.

»Zieh ihm die Mütze tiefer ins Gesicht«, flüsterte Betsy, »da sieht er nicht, was hier geschieht.«

Der achtjährige Salo hatte seit dem Aufbruch aus dem Zwangsquartier die Hand der Mutter nicht losgelassen. Er war klein für sein Alter, hatte starkes Untergewicht, hustete seit Monaten und litt seit dem Sommer an Fieberanfällen. Schon immer war er schüchtern und ängstlich gewesen: Er sprach wenig und fragte selten etwas, bekam aber trotzdem mehr vom Geschehen mit, als ein Achtjähriger verkraften konnte. Seit dem Aufbruch war Salo zwei Mal hingefallen, nun stolperte er immer öfter. In dem Flüsterton, den er sich im Zwangsquartier angewöhnt hatte, klagte er über Schmerzen in den Beinen.

»Wir sind bald da«, sagte Victoria, »dann kannst du dich ausruhen. Ganz lange.« Sie schaute aus nach Anna, ihrer verlässlichen, furchtlosen, immer zum Helfen bereiten Halbschwester, doch sie sah nur ihre Leidensgenossen, die ohne Gesicht waren, und sie sah die glühenden Gesichter der SA-Leute, die das Leid der Getriebenen von Kilometer zu Kilometer größer machten. Wie lange noch, fragte sich Victoria, würde sie den Weg aushalten, ohne sich aufzugeben?

Fanny lief hinter Mutter und Bruder her – ohne eine Hand, die ihre wärmte, und schon ohne Kontakt zu den Menschen, die ihrem Leben Wärme gegeben hatten. Sie war zehn Jahre alt und seit drei Jahren, seitdem die Synagogen gebrannt hatten, kein Kind mehr. Niemand brauchte Fanny zu sagen, was sie zu tun hatte, worüber sie reden durfte und dass Schweigen Überleben hieß. Nie erwähnte das Mädchen den geliebten Vater, der die Familie im Schutz der Dunkelheit verlassen hatte, nach Holland entkommen war und bis zum Kriegsausbruch seine Frau erfolglos beschworen hatte, mit den Kindern zu ihm zu kommen.

In der Nacht vor dem Entsetzen hatte es keinen Luftalarm für Frankfurt gegeben. Für die Menschen, die eine Wohnung hatten, ein Bett und Kochtöpfe, die ihren Kindern Märchen vom Glück vorlasen und die kein gelber Stern auf der Kleidung brandmarkte, war es ein Sonntag wie im Frieden. Die Hausfrauen hatten aus Mehl und Haferflocken und einer Sonderzuteilung von Eiern einen Kuchen gebacken. Die Bürgersteige waren ordentlich gefegt, die Haustürklinken blank gewienert, die Hecken geschnitten. Lediglich die verdunkelten Wohnungsfenster und eine Telefonzelle mit einem Aufkleber »Feind hört mit« an der Tür zeigten an, dass Krieg war. In einem Vorgarten tropfte Nebelnässe von einem mächtigen Apfelbaum. An seinen Ästen hingen noch Früchte, rot und prall. Ein Kinderdreirad mit blauem Sattel und ein bunt gestreifter Ball lagen auf einem Rasen, der sich gegen den Winter wehrte.

SA-Mann Griesinger, rot gebrüllt, doch immer noch gut bei Stimme, drängte die erschöpften Menschen, die er sich untertan gemacht hatte, zum schnellen Schritt. »Ihr sollt marschieren, ihr Itzigs, nicht beten«, höhnte er. »Beten hilft nicht mehr. In Deutschland sind die Züge pünktlich.«

»Es soll nach Polen gehen«, murmelte ein alter Mann. »Das sagen alle.«

»Ich hab gehört, nach Theresienstadt«, widersprach die Frau, die neben ihm lief. »Meine Tante haben sie auch dorthin gebracht. Sie hat uns ein Mal geschrieben.«

»Theresienstadt ist nur für Privilegierte«, sagte der Mann, »das hat mir der Mann erzählt, der auf dem Friedhof arbeitet.«

»Ich bin privilegiert. Mein seliger Mann hat im Krieg das Eiserne Kreuz Erster Klasse bekommen. Schwer verwundet worden ist er.«

»Tote Ehepartner nutzen nichts.«

»Keine Volksreden«, brüllte der Herrscher mit Peitsche. »Wir sind hier nicht in der Juddeschul. Hier spricht nur einer, und das bin ich. Verstanden?«

In der Parterrewohnung vom Haus mit dem Apfelbaum wurde der Rollladen hochgezogen. Eine Frau mit einem großmaschigen Haarnetz, das ihr bis zur Stirn reichte, stieß das Fenster auf. Sie fächerte sich mit offenem Mund Luft zu, schaute sich um und verschwand in dem Moment, da sie die Kolonne erblickte, hinter einer Tüllgardine, kam jedoch sofort wieder zurück und lehnte sich dann so weit zum Fenster hinaus, wie es ihr massiger Körper zuließ. Seit die Deportation der Frankfurter Juden begonnen hatte, war die Frau am Fenster zur regelmäßigen Beobachterin des Grauens geworden. Zwar galt sie in ihrer Familie als gutmütig und sehr sensibel, doch wenn sie sah, wie die Menschen mit dem gelben Stern gedemütigt und gequält wurden, tat es ihr gut, genau hinzusehen. Trotzdem keuchte sie, als würde auch sie gehetzt werden, sie legte ihre Hand auf die linke Brust und schüttelte den Kopf.

»Wo die nur alle herkommen in aller Herrgottsfrüh?«, wunderte sie sich. Der Spitz zu ihren Füßen, mit dem sie trotz der immer schlechter werdenden Versorgungslage ihr Leben teilte, bellte zwei Mal hintereinander.

»Psst«, sagte die Frau. Sie zog ihr Haarnetz tiefer in die Stirn und schlurfte in ihren Filzpantoffeln zurück ins dunkle Wohnzimmer, kam mit einem Sofakissen aus weinrotem Samt zurück, schüttelte es auf, als wäre es ein Federbett, und legte es auf die Fensterbank. Gern hätte die Frau in Lauerstellung gewusst, wohin die Juden von der Großmarkthalle aus gebracht wurden. Von ihrer Nichte Luise, die dort arbeitete, hatte sie gehört, die Leute würden in Waggons geprügelt und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Allerdings bezweifelte die Tante, dass Luise, von der alle sagten, sie hätte eine blühende Fantasie, das wissen konnte. Was geschah wohl mit den Wohnungen, die leer wurden? »Wahrscheinlich sind die in bester Lage«, sagte die Frau zu ihrem Hund. Er wimmerte auf dem Sofa im Wohnzimmer, weil er es gewohnt war, mit der Frau im Fenster zu liegen.

»Du bleibst, wo du bist«, befahl sie. »Das hier ist nichts für einen Hund.« Die Frau war zu sehr mit ihrer Nichte und mit den Juden in der Großmarkthalle beschäftigt, dass sie laut sprach. Erschrocken legte sie ihre Hand auf den Mund.

Anna Dietz, die sich Schutz suchend an den Gartenzaun der unverdrossenen Späherin gedrückt hatte, hörte die Frau reden und erschrak so sehr, dass ihr schlecht wurde. Sie fühlte, während sie das Würgen in die Kehle zurückzudrängen versuchte, dass ihre Knie nachgaben. Stirn, Wangen und Kinn begannen zu gefrieren. Sie wagte kaum zu atmen, fürchtete, der Hund würde sie riechen, die Frau die Aufmerksamkeit auf sie lenken. Vor allem fürchtete sie um ihre Kraft, um ihren Mut und um ihr ungeborenes Kind.

Anna, die uneheliche Tochter von Johann Isidor Sternberg, nach dem Tod ihrer Mutter aufgewachsen in seinem Haus in der Rothschildallee 9 und auch von seiner Frau Betsy bald ebenso wie die leiblichen Kinder geliebt, war im siebten Monat schwanger. Nach Tagen ohne Ruhe und einer durchwachten Nacht, trotz Anspannung und Todesangst und trotz des Versprechens, das sie ihrem Mann gegeben hatte, war sie noch immer entschlossen zu dem lebensbedrohenden Versuch, wenigstens ein Leben zu retten, dem der Tod bestimmt war.

Anna konnte die Frau auf dem dunkelroten Kissen und den weißen Spitz, der nun doch mit ihr auf der Fensterbank hockte, mit einem Mal so gut sehen, als würden die beiden auf einer Bühne stehen und von Scheinwerfern angestrahlt werden. Anna hatte die Frau bereits am Dienstag und dann wieder am Freitag am Fenster entdeckt, einmal am frühen Morgen, Freitag spätnachmittags. Anna vermutete, die lauernde Frau würde ebenso wie sie darauf warten, die Juden auf dem Weg zur Großmarkthalle zu sehen. Der Gedanke war ihr schrecklich, die sensationslüsterne Gafferin, deren Reaktionen ja nicht berechenbar waren, könnte sie in dem Moment entdecken, in dem sie zum Handeln gezwungen war. Ihr schienen die langen Stunden des Wartens vertan, die Hoffnung, die sie angetrieben hatte, kindisch und unloyal gegenüber ihrem Mann.

Dann, im schrecklichen Moment der Reue und tiefsten Verzweiflung, wurde ihr bewusst, dass die ersten Unglückseligen an der Großmarkthalle angekommen waren. Ihr Herz raste, sie hatte das Gefühl, ihr schwerer Körper würde sich auflösen, und für einen Moment, den sie ihrer Lebtag nicht vergessen sollte, war sie sich sicher, sie würde umfallen, bewusstlos am Boden liegen bleiben und die SA-Leute würden sie wie einen Lumpensack fortschleifen und in einen der Vorgärten werfen. Für den Bruchteil einer Sekunde erlebte sie ihren eigenen Tod. Sie nahm sich vor, nicht zu schreien, ganz ruhig zu atmen und ihrem Kind das Sterben leicht zu machen; sie hielt sich beide Ohren fest zu, um bei Sinnen zu bleiben, doch die Angst in ihr schrie so laut, dass der Himmel schwarz wurde und die Wolken herabstürzten.

Die Verzweifelte hörte Georg Maria Griesinger, den seine Mutter Schorschi nannte und für den sie das Frühstücksbrot schmierte, brüllen und fluchen. Er bedrohte jene, für die Anna bereit war, durch die Hölle zu gehen, mit dem Tod. Und doch war es Griesingers Feuerstimme, die Anna zurückholte aus der Welt, in der Kinder in den Tod geführt wurden und Mord mit Orden belohnt wurde. Die schreckliche Stimme löschte bei Anna jedes Bedürfnis aus, wegzulaufen und in ein Loch am Ende der Welt zu kriechen. Sie spürte, dass sie Hände hatte, die greifen konnten, und den Mut derer, die nicht fragen, ob Helfen Sinn macht; sie stand da, ohne sich zu rühren, sie verdrängte, dass sie schwanger war und dass sie dabei war, ihr Leben und das ihres Kindes für das Leben eines anderen Kindes zu riskieren – ein Kind, das sie zur Welt hatte kommen sehen und das sie im Arm gehalten hatte, ein Kind, mit dem sie gelacht hatte und das nicht mehr weinte.

Anna hatte am Sonntag vor einer Woche von ihrem Mann Hans erfahren, dass abermals eine Deportation von Frankfurter Juden anstand. »Mehr hat Karl nicht gewusst«, hatte Hans gesagt, »kein genaues Datum und schon gar nicht, wer auf der Liste steht. Man rechnet damit, dass es die Alten und die Kinder sind, die sie diesmal wegschaffen. Ich wollt’s dir erst gar nicht erzählen, aber ich kann es nicht für mich behalten. Wenn ich nur an Vickys Kinder denke und mit wie viel Würde der alte Sternberg alle Demütigungen ertragen hat und dass von seiner Frau noch nicht das erste Wort der Klage gekommen ist, möchte ich mich auf der Stelle aufhängen. Was nutzt mir meine ganze verdammte Anständigkeit? Vor allem wem nutzt es, dass ich mich nicht abfinden kann mit dem, was geschieht?«

Anna hatte umgehend in die Bockenheimer Landstraße 73 gehen wollen, wo die Sternbergs und Victoria mit den beiden Kindern lebten, seit sie das eigene Haus in der Rothschildallee hatten verlassen müssen. Seit über zwei Jahren hungerten und froren sie in der primitiven Unterkunft, die Hoffnung auf Davonkommen hatten sie aufgegeben. Hans und Anna diskutierten die halbe Nacht, ob Anna zum vielleicht letzten Mal den langen Weg zu den Sternbergs wagen sollte.

»Die Gestapo lässt die Judenhäuser nicht aus den Augen«, hatte Hans gewarnt. Schließlich war es ihm doch gelungen, seine schwangere Frau zu überreden, auf den Abschied von ihrer Familie zu verzichten.

»Wenn die Sternbergs wirklich auf der Liste zur Deportation stehen, dann erspar deinem Vater das Letzte, Anna.«

»Und wenn ich ihn nie wiedersehe, habe ich ihm und Betsy und der armen Vicky noch nicht mal mehr Lebewohl gesagt. Ich würde mich mein ganzes Leben schämen.«

»Es ist trotzdem richtig so. Johann Isidor wird es verstehen, glaube mir. Er hat immer nur an seine Familie gedacht. Und wir müssen jetzt an unsere kleine Sophie denken. Wir sind nicht mehr frei, unserem Gewissen zu folgen. Wir können es uns nicht mehr leisten, anständig zu sein und Mut zu haben.«

Noch stand nicht fest, ob das erste Kind der Eheleute Dietz nicht ein Junge sein würde. Hans und Anna, die seit den brennenden Synagogen und der brutalen Behandlung der Juden, die sie an dem Abend von Hass und Entfesselung erlebt hatten, nicht mehr an die Wirkung von Gebeten glaubten, flehten seit Monaten Gott um eine Tochter an – eine Tochter, der niemand ein Gewehr in die Hand drücken würde, die im Feindesland keine Häuser und Höfe brandschatzte und die Müttern nicht ihre schreienden Babys vom Arm riss.

Hans Dietz, der für seine Überzeugung schon 1934 im Konzentrationslager Dachau hatte büßen müssen, wusste, wovon er redete. Im Polenfeldzug, der Deutschland in einen Rausch versetzte wie kein Sieg mehr seit der Schlacht von Tannenberg im Ersten Weltkrieg, hatte der Gefreite Dietz sein linkes Bein verloren. Bis zum Sommer 1940 hatte er in einem Lazarett in Krakau gelegen, hatte Anna lange, sehnsüchtige Briefe geschrieben und nicht mehr geglaubt, dass er sie je wiedersehen würde. Schließlich war er doch nach Frankfurt verlegt und bald danach aus der Wehrmacht entlassen worden.

»Irgendwer, der es endlich gut mit mir meint, hat das letzte Wort behalten«, pflegte er zu sagen, wenn er nun mit Anna im Frankfurter Ostpark spazieren humpelte. Dort konnten sich die beiden vorgaukeln, es sei Frieden und alle, die sie liebten, wären davongekommen. Sie saßen auf Bänken, auf denen nun nicht mehr stand »Für Juden verboten«, weil es kaum noch Juden gab und die verbliebenen nicht in öffentliche Parks durften. Sie fütterten Eichhörnchen und Vögel und träumten von Wohnungen, in denen kein Blockwart in die Töpfe schaute und darauf lauerte, die Mieter wegen kritischer Äußerungen anzuzeigen.

Hans war mit überquellendem Herzen zu seiner Anna zurückgekehrt und mit ebensolcher Dankbarkeit zu den Druckmaschinen des Frankfurter Generalanzeigers. Wegen Annas nicht zu beschaffendem »Ariernachweis« hatte das Paar sich erst in den Wirren des Krieges zu heiraten getraut. Als »Anerkennung für die Verdienste des Antragstellers um das Wohl des Vaterlands« war den Jungverheirateten eine Zweieinhalbzimmerwohnung in der Thüringer Straße zugewiesen worden, wo Anna einst mit ihrer ersten Liebe zu flanieren pflegte. Als ihre Schwangerschaft endgültig feststand, hatten sie und Hans einander feierlich versprochen, sich nie mehr wissend in Gefahr zu bringen und einander nie zu belügen.

Sie waren beide wortbrüchig geworden, doch der Wortbruch war ihnen weder infam noch unloyal, sondern zwingend notwendig erschienen. Für die Lüge aus Barmherzigkeit hatten sie von Anfang an einen Platz in ihrem Leben reserviert. Hans Dietz, der Mann, der sich nicht beugen ließ, hielt weiter Verbindung zu den Genossen der Vorkriegszeit, und die gehörten ausnahmslos dem Widerstand an. In ihren Kellern lagen unter den Kartoffelkisten und Kohlenhaufen die Kampfschriften gegen die Nazis, die sie nachts zu verteilen versuchten. Die Mutigsten von ihnen versteckten auch Menschen, denen die Deportation und der Tod im Konzentrationslager bestimmt waren.

Anna hatte ihrem Mann versprochen, die Sternbergs nicht mehr so regelmäßig in der Bockenheimer Landstraße aufzusuchen, wie sie es während seiner Soldatenzeit und seines Lazarettaufenthalts getan hatte. Trotzdem ging sie so oft hin, wie es ihr nur möglich war. Sie versorgte ihre bedrängte Familie regelmäßig mit Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten. Betsy, die sich mit ihren neunundsechzig Jahren nur langsam von einer Lungenentzündung erholte, verschaffte sie Stärkungsmittel, die sie bei einer Apothekerin gegen Schreibpapier eintauschte, das Hans gelegentlich vom »Generalanzeiger« mitbringen konnte.

Als ihr Mann von der anstehenden Deportation der Frankfurter Juden berichtete, weihte Anna ihren Vater in ihren todesmutigen Plan ein. Johann Isidor war außer sich. Er lehnte schockiert ab und redete den ganzen Abend nicht mehr mit ihr, doch beim Abschied liefen ihm Tränen übers Gesicht und er drückte die Tochter seines Herzens besonders lange an sich.

Am Tag der Entscheidung fiel Anna auf, wie viel Mühe Betsy sich gab, mit ihrem Mann Schritt zu halten und Fanny ständig zu beobachten. Ihr war sofort klar, dass Betsy Bescheid wusste. Ein paarmal schaute sich Betsy um. Sie sagte etwas zu ihrem Mann; Anna schien es, als hätte Johann Isidor seiner Frau zugenickt. Die ging zu Fanny und fasste sie an die Schulter. Fanny, dürr, bleich und schreckensstarr, hatte den Abstand zu ihrer Mutter und dem Bruder immer größer werden lassen. Die Großmutter flüsterte dem Kind etwas zu, ohne sich hinabzubeugen. So unauffällig, dass die SA-Männer nichts bemerkten, schob sie Fanny zur Außenseite der Kolonne hin. Es war das erste Mal, dass Anna die Kleine deutlich sah. Fanny war am Ende ihrer Kraft. Die Zehnjährige stolperte in kurzen Abständen, setzte die Stofftasche mit ihren Habseligkeiten immer wieder ab, schwankte, streckte ihre Arme ins Leere, richtete sich wieder auf und lief doch weiter.

Eine Frau, die die Großmarkthalle schon erreicht hatte, schrie gellend »Feuer« und »Hilfe«. Stöhnend fiel sie um. Noch im Liegen umklammerte sie ihren Koffer mit dem Aufkleber »Europa Hotel, Bad Gastein«. Die, die nicht fallen durften, gerieten aus dem Tritt. Zwei bewaffnete SA-Männer hetzten schreiend nach vorn. SA-Mann Griesinger brüllte so laut, dass sich seine Stimme überschlug. Er trat nach einem Mann, den der »Feuer«-Schrei gelähmt hatte. Ein Junge von etwa sechzehn Jahren bückte sich über die gestürzte Frau. Es war offensichtlich, dass sie Epileptikerin war und einen Anfall hatte.

»Das würde dir so passen«, schrie Griesinger.

In den Fenstern lungerten die Gaffer und wähnten, sie wären Menschen. Um gut sehen zu können, lief eine Frau auf das Haus mit dem Apfelbaum zu. Sie zeigte mit ihrem Finger auf die Verzweifelten und fragte sie im gemütlichen Hessisch, wohin ihre Reise ging. Die Frau mit dem weißen Spitz spuckte die Elenden aus ihrem Wohnzimmer an und brüllte »Pfui«. Ihr Hund bellte und wedelte mit dem Schwanz.

Anna war nun ganz dicht an der Kolonne. Sie wurde noch gewahr, dass ihr schwerer Leib leicht wie der Körper eines jungen Mädchens wurde und dass ein Engel auf sie zuflog. Der Kopf war betäubt vom Willen, der sie trieb. Ihre Schritte waren lang und kraftvoll. Mit einer Hand, die vereiste und doch nicht zitterte, ging sie auf die Sternträgerin Fanny Feuereisen zu, für die der Eisenbahnwaggon in den Osten bereitstand. Anna Dietz, die in ihrem Leben nie ungehorsam gewesen war und der keiner je erklärt hatte, was Menschlichkeit und Herzenspflicht bedeuten, griff nach Fanny. »Schau dich nicht um«, flehte sie.

In einer Seitenstraße, in der die Bewohner ihrem Sonntag entgegenschliefen, zerrte Anna dem schocksteifen Kind den Mantel vom Körper. Den Mantel mit dem gelben Stern, der Retterin und Gerettete dem Tod in die Arme getrieben hätte, stopfte sie in ihre Einkaufstasche. Sie hüllte Fanny in eine braune Strickjacke, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Hand in Hand und ohne ein Wort zu reden, gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen waren.

2
BEDROHUNG UND ERLÖSUNG

März bis April 1944

»Schlimmer kann es weiß Gott nicht mehr kommen«, sagte die noch im fünften Kriegsjahr wohlgenährte Frau Schmand. Sie zeigte mit ihrer Stricknadel in Richtung Kellerdecke, zählte namentlich die Mitbewohner auf, die mit ihr zwischen Kartoffelkisten, Kohlen, Weckgläsern und ausrangierten Decken auf Schemeln, Küchenstühlen und Matratzen hockten, und betonte: »Schlimmer wahrhaftig nicht.« Allerdings lagen zwei Knäuel dunkelblauer Wolle in Frau Schmands Schoß, und die waren ein eindeutiger Hinweis dafür, dass sie mit einem Luftangriff von längerer Dauer rechnete. Um an so schöne Wolle in Vorkriegsqualität zu kommen, hatte sie einen Pullover ihres jüngsten Sohns auftrennen müssen. Hans-Dieter war vor zehn Monaten in Russland gefallen. Nun strickte Frau Schmand warme Socken für ihren Ältesten. Obwohl von Eberhardt, dem fleißigen und mitteilsamen Briefeschreiber, seit vier Monaten keine Nachricht mehr eingetroffen war, glaubte die Mutter ihn wohlauf an der Ostfront. Kleingläubigkeit wäre für sie Verrat an der deutschen Sache gewesen. Sie versäumte keine Gelegenheit, ihrem Lebensmotto zu dienen. In der NS-Frauenschaft und auch in der Gemeinschaft ihrer Kirchenschwestern, zu denen sie weiter Kontakt hielt, wenn auch einen sehr losen, galten ihr Optimismus und ihre Energie als vorbildlich und beispielhaft für die Gemeinschaft. Auch ihr Mann fand es aufbauend, dass seine Gudrun selbst zu Hause, wo sie keiner hörte, nie am glücklichen Ausgang des Kriegs zweifelte.

Die baumstarke Gudrun Schmand mit dem dicht geflochtenen Zopf um den Kopf und einer Vorliebe für Trachtenblusen war die Frau des Blockwarts im Haus Thüringer Straße 11; bei Luftalarm ging sie grundsätzlich mit fünf Scheiben Brot, einem Gläschen Schweineschmalz, Paketschnur, einem kleinen Küchenmesser und Strickzeug in den Luftschutzkeller.

Hinter den eingeweckten grünen Bohnen, die Frau Schmand für Eberhardts Rückkehr von der Ostfront aufbewahrte, denn sie hatte ihm Bohnensuppe mit Speck für den ersten Tag in der Heimat versprochen, hatte sie einen kleinen Schreibblock und einen Bleistiftstumpf deponiert. Es war Frau Schmand viel daran gelegen, Äußerungen von Mietern, die ihr defätistisch und somit staatsgefährdend erschienen, umgehend zu notieren. »Belastende Bemerkungen müssen sofort aufgeschrieben werden, auf das Gedächtnis ist kein Verlass«, hatte sie von ihrem Mann Willibald gelernt. Er war im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden, auf dem linken Ohr taub und hatte nur zwei Finger an der rechten Hand. Seine Pflicht für Führer und Vaterland vermochte er also nur an der Heimatfront zu tun, aber dort stand er seinen Mann wie ein germanischer Recke. Willibald Schmand war ein aufmerksamer, zuverlässiger und harter Streiter für die deutsche Sache. Seine Frau folgte seinem Beispiel.