Cora und Georg Banek leben und arbeiten in Mainz, wo sie Mitte 2009 ihr Unternehmen um eine Fotoakademie (www.artepictura-akademie.de) erweitert haben. Vorher waren sie hauptsächlich im Bereich der Auftragsfotografie für Unternehmen und Privatpersonen tätig und schreiben seit 2004 für Fotofachzeitschriften und Buchverlage.
Im Frühjahr 2010 erschien der erste Band der »Fotografieren lernen«-Trilogie über die technische Seite der Fotografie. Darüber hinaus sind weitere Fachbücher von den beiden zu verschiedenen fotografischen Themen erhältlich.
Der direkte Kontakt mit ihren Lesern liegt den Autoren sehr am Herzen. Wenn Sie also Nachfragen, Rückmeldungen, Anregungen, Verbesserungsvorschläge oder Kritik zu diesem Buch haben, freuen sie sich sehr auf Ihre Nachricht – am besten per E-Mail unter:
kontakt@artepictura.de
Wenn Sie die beiden im Internet besuchen möchten, finden Sie sie unter www.artepictura-akademie.de.
Band 2: Bildgestaltung und Bildsprache
Gestaltungsmittel bewusst und gezielt einsetzen
Cora und Georg Banek
www.artepictura.de, kontakt@artepictura.de
Lektorat: Gerhard Rossbach, Rudolf Krahm
Copy-Editing: Alexander Reischert, Redaktion ALUAN
Layout, Satz: Cora Banek, Mainz
Herstellung: Birgit Bäuerlein, Nadine Thiele
Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de,
unter Verwendung eines Fotos von Cora Banek und einer Grafik von Darja Dewies
Grafiken: Darja Dewies (www.darjart.de) und Cora Banek (www.artepictura.de)
Druck und Bindung: Himmer AG, Augsburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar..
ISBN:
Buch 978-3-89864-699-4
PDF 978-3-86491-145-3
ePub 978-3-86491-146-0
1. Auflage 2011
Copyright © 2011 dpunkt.verlag GmbH
Ringstraße 19b
69115 Heidelberg
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Liebe Leserin und lieber Leser,
achtzig Prozent der Fotografie sind Technik, der Rest ist Bildgestaltung. Wenn man Gespräche unter Fotografen verfolgt, könnte man den Eindruck gewinnen, dass der vorherige Satz so stimmt. Die meisten Gespräche drehen sich um die Technik, wenige um die Gestaltung der Bilder – dabei sollte es genau andersherum sein.
Denn es gibt genug Beispiele dafür, dass Fotografie viel weniger mit Technik zu tun hat, als wir gemeinhin glauben. Generationen von Fotografinnen und Fotografen, Profis wie Amateure, haben mit einfachster Technik herausragende Bilder geschaffen. Bilder, die unseren Blick anziehen, die uns fesseln, berühren, informieren. Bilder, die uns – im besten Fall – für immer im Gedächtnis bleiben. Diese Bilder sind das Ergebnis einer intensiven Wahrnehmung im Augenblick der Aufnahme. Bildgestaltung kann dabei die Anwendung erlernter Regeln sein, die in Bruchteilen von Sekunden intuitiv abgerufen werden. Bildgestaltung kann genauso aber auch Minuten, Stunden, Tage dauern. In jedem Fall ist sie der Moment der Bildentstehung, in der sich der Fotograf aktiv einbringt. Hier wird der Fotograf selbst zu einem Teil des Bildes.
Wenn wir – insbesondere seitdem es die Digitalfotografie gibt – sehr viel über die Technik reden, dann ist das verständlich, denn sie fasziniert ja wirklich. Und sie ist es auch wert, sich intensiv mit ihr auseinanderzusetzen. Wir sollten unser Handwerkszeug gut kennen. Aber mir scheint, dass wir inzwischen an einem Punkt angekommen sind, wo wir uns von der Technik auch wieder etwas lösen können, um den Blick auf das zu richten, was wirklich entscheidend und wichtig ist: das Motiv und die Bildgestaltung.
Cora und Georg Banek verdienen Dank und Anerkennung für dieses Buch und ihre Leistung, die Bildgestaltung als wesentlichen Faktor für die Entstehung herausragender Fotos wieder stärker in unser Bewusstsein zu rücken. Sie werden es an Ihren eigenen Bildern sehen und erleben.
Martin Breutmann
Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift fotoforum
Vorwort von Martin Breutmann
Einführung
Grundlagen der Gestaltung
Von der Idee zum Bild
Der Fotograf gestaltet
Einschränkungen der Gestaltung
Der gestalterische Vorgang
Gewichtung von Inhalt, Form, Technik
Der Einfluss der Bildbearbeitung
Der Wahrnehmungsprozess
Schritte der Wahrnehmung
Wahrnehmung im engeren Sinne
Unterbewusste Bewertung
Schematisches Verstehen
Einstieg ins Bild
Blickverlauf im Bild
Mentale Verarbeitung
Wie Fotos wirken
Speicherung von inneren Bildern
Bilder gezielt gestalten
Motivation
Motive
Wunsch und Wirklichkeit
Einsatzzweck und Ziele
Bildgestaltung als Mittel zum Zweck
Was Sie in diesem Buch finden ...
... und was nicht
Komposition
Bildformat
Seitenverhältnisse
Querformat
Querformatiges Panorama
Hochformat
Hochformatiges Panorama
Quadrat
Formate erzeugen
Formatlimitierungen
Bildausschnitt
Geschichten erzählen
Zeigen und Nicht-Zeigen
Subjektives Kombinieren
Der richtige Standort
Einstellungsgrößen
Wie Bildausschnitte wirken
Zufällige Bildausschnitte
Anschnitt
Vollständige Abbildung
Reduktion optischer Dominanz
Nähe durch Anschnitt
Anschneiden, nicht abschneiden
Gewusst wo
Teilung des Hintergrunds
Anordnung von Bildelementen
Bildelemente
Gestalttheoretische Grundlagen
Anzahl der Bildelemente
Haupt- und Nebenelemente
Der Goldene Schnitt
Gittermethoden
Symmetrie und Asymmetrie
Anordnung eines Hauptelements
Anordnung von zwei Bildelementen
Anordnung mehrerer Bildelemente
»Wimmelbilder«
Bildebenen
Drei, zwei, eine Ebene(n)
Vordergrund
Mittelgrund
Hintergrund
Gewichtung
Bildgrafik
Punkte
Entstehung
Ankerpunkte und Eyecatcher
Mehrere Punkte
Störende Punkte
Unsichtbare Punkte
Linien
Entstehung
Linienführung
Geschlossene Linienführung
Bewegung und Gegenbewegung
Horizontale Linien
Vertikale Linien
Schräge und diagonale Linien
Gebogene Linien
Linienkontraste
Formen
Entstehung
Organische und Symbolformen
Geometrische Formen
Kreise und Ovale
Dreiecke
Rechtecke, Quadrate und Rauten
Sterne und Kreuze
Formen im Bild
Formkombinationen
Strukturen und Wiederholungen
Entstehung
Wirkung von Strukturen
Standpunkt und Blickwinkel
Der Kamerastandpunkt
Wahl des Standorts
Größenverhältnisse
Anordnung und Überlappung
Aufnahmehöhe und Perspektive
Normalsicht
Aufsicht
Untersicht
Eigenschaften von Objektiven
Grundlagen
Bildwinkel
Bildwinkel und Sensorgröße
Gestalten mit kleinen Sensoren
Brennweitenbereiche
Wirkung von Normalobjektiven
Wirkung von großen Bildwinkeln
Sonderfall Fischaugen
Wirkung von kleinen Bildwinkeln
Wirkung von Makroaufnahmen
Wirkung von Tilt-Shift-Aufnahmen
Licht
Beschaffenheit des Lichts
Viel oder wenig Licht
Hartes und gerichtetes Licht
Weiches und diffuses Licht
Qualitäten von Tageslicht
Qualitäten von Kunstlicht
Richtung des Lichts
Frontales oder Mitlicht
Gegenlicht
Seitenlicht
Oberlicht
Unterlicht
Ungerichtetes Licht
Lichtquellen und ihre Farbe
Tageslicht
Kunstlicht
Blitzlicht
Weißabgleich
Mischlicht
Schatten
Schatten sehen
Schatten im Bild
Schatten als Motiv
Lichtführung
Wegweiser Licht
Schatten reduziert
Über- und Unterbelichtung
Farbe und Schwarzweiß
Wirkung einzelner Farben
Der Farbkreis
Der doppelte Farbkegel
Assoziationen und Emotionen
Warme und kalte Farben
Farbhelligkeit
Farbsättigung
Farbtöne und ihre Wirkung
Farbton Rot
Farbton Orange
Farbton Gelb
Mischfarbe Gelbgrün
Farbton Grün
Mischfarbe Blaugrün
Farbton Blau
Farbton Violett
Mischfarbe Rotviolett
Unbunte Farben
High-Key und Low-Key
Metallfarben
Neonfarben
Gedächtnisfarben
Wirkung von Farbkombinationen
Harmonische Farben
Disharmonische Farben
Farbklänge
Musikalische Farbklänge
Kontrastierende Farben
Der Farbe-an-sich-Kontrast
Der Komplementärkontrast
Der Kalt-warm-Kontrast
Der Hell-dunkel-Kontrast
Der Qualitätskontrast
Der Quantitätskontrast
Simultan-, Sukzessiv- und Flimmerkontrast
Wirkung von Graustufen
Realität ohne Farbe
Umwandlung in Graustufen
Kontraststeuerung
Monochrome Bilder und Tonungen
Farben in der fotografischen Praxis
Farbe als Hauptelement
Farbige Eyecatcher
Farbige Nebenelemente
Nachbearbeitete Farben
Schärfe und Unschärfe
Schärfe und Unschärfe erzeugen
Fokussierung
Schärfentiefe
Schärfeeindruck
Unschärfe durch Trübungen
Mit Schärfe und Unschärfe gestalten
Scharf oder unscharf?
Abblendtaste
Große Schärfentiefe
Geringe Schärfentiefe
Schärfe in der Makrofotografie
Bewegung
Verschlusszeiten
Verwacklung
Absichtliches Verwischen
Bewegungsunschärfe
Einfrieren von Bewegung
Bewegung mitziehen
Bilderfolgen und Sequenzen
Video
Gesamtwirkung
Zusammenwirken der Gestaltungsmittel
Das Modell der Bildwirkung
Dimensionen der Bildwirkung
Deutung der Bildwirkung
Aufmerksamkeit vs. Glaubwürdigkeit
Wechselwirkung zwischen Bildern
Wirkung des Umfelds
Rahmen und Passepartout
Bildgröße und Betrachtungsabstand
Präsentationsmedium
Zusatzinformationen
Thematisches Umfeld
Wahrnehmungssituation
Bildgestaltung und -sprache in der Praxis
Bildgestaltung üben
Bildgestaltung gezielt einsetzen
Grundrichtungen der Bildwirkung
Unperfektion und Zufall als Gestaltungsmittel
Der Fotograf und seine Bildsprache
Bildanalyse und -bewertung
Strukturiert analysieren und bewerten
Zielgerichtete Bewertung
Bildanalyse
Das Motiv
Die Zielsetzung
Die Zielgruppe
Die Bildgestaltung
Abgleich als Bewertung
Anwendungsfälle
Nach dem Shooting
Zusammenstellung einer Bilderstrecke
Selbstkritik und Weiterentwicklung
Umgang mit Kritik von außen
Selber konstruktiv kritisieren
Typische Gestaltungsfehler
Verwackelte Bilder
Mittige Positionierung
Motive überdecken sich
Unruhige Linienführung
Zu hartes Licht und störende Schatten
Unruhe im Hintergrund
Zu viele Elemente auf dem Bild
Beispielanalysen
Red Beauty
Ab in die Ecke!
Farbenfroher Verfall
Weibliche Rundungen
Paarweises Miteinander
Etwas Farbe am Rand
Mode-Linie
Erfrischende Farben
Live im Fenster
Spuren von Licht
Anhang
Serviceseiten
Literaturempfehlungen
Danksagung
Über die Autoren
Index
Liebe Leserin und lieber Leser,
wir freuen uns sehr, dass Sie sich für eines der spannendsten, vielfältigsten und kreativsten Themen in der Fotografie interessieren – die Bildgestaltung. Ein Buch über diesen wichtigen, doch leider oftmals stark vernachlässigten Bereich zu schreiben, war uns ein besonderes Anliegen und gleichzeitig eine große Herzensangelegenheit – sehen wir doch unseren fotografischen Schwerpunkt sehr stark in der Gestaltung unserer Bilder. Während es unzählige Bücher zur Fototechnik gibt, wird die Bildgestaltung häufig nur nebenbei in Form von »Fototipps« oder »Bildgestaltungsregeln« abgehandelt. Eine auf das Verstehen der verschiedenen fotografischen Gestaltungsmittel ausgerichtete und gleichermaßen praxisorientierte Übersicht haben wir bisher jedenfalls höchstens in Ansätzen gesehen. Das mag daran liegen, dass bei diesem Thema der persönliche Geschmack immer eine große Rolle spielt, was einen allgemeinen und übergreifenden Ansatz erschwert. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es schwer ist, die Zusammenhänge zwischen dem jeweiligen Bildgestaltungsmittel als Ursache und seiner Wirkung beim Betrachter zu benennen und zu strukturieren.
Vor allem die Schwierigkeiten mit der Strukturierung können wir nur bestätigen. Es hat uns mehrere Anläufe gekostet, einen möglichst konsistenten Aufbau für dieses Buch zu entwickeln. Denn als wir die klassischen Begriffe der Bildgestaltung ordneten, vermischte sich immer wieder Ursache mit Wirkung, tauchten einzelne Themen an mehreren Orten gleichzeitig auf. Das große Themenfeld der Bewegung zum Beispiel ist sowohl ein Stilmittel als auch eine Bildwirkung – und als Bildgestaltungsmittel eigentlich doch nur ein Aspekt des Schärfeeindrucks im Bild. Oder das Thema Kontrast: Während die meisten darunter Helligkeitsunterschiede verstehen, finden wir diesen Begriff auch bei Farben, Formen, Flächen und sogar bei Linien. Deswegen erhielt der Kontrast beispielsweise auch kein eigenes Hauptkapitel, sondern wird an verschiedenen Stellen im Buch in Form von Unterkapiteln behandelt.
Wir starten das Buch mit einem Überblick der Grundlagen: Welche Einflussgrößen auf die Bildgestaltung gibt es, wie wirken diese zusammen, welche Auswirkungen hat die menschliche Wahrnehmung und was hat das mit Ihnen als Fotograf zu tun? Danach haben wir uns an den folgenden sechs Einflussbereichen der Bildgestaltung orientiert: Komposition, Bildgrafik, Standpunkt und Blickwinkel, Licht, Farbe und Schwarzweiß sowie Schärfe und Unschärfe. Jedem dieser Themenbereiche haben wir ein Kapitel gewidmet, in dem wir die Bildgestaltungsmittel detailliert vorstellen, für jedes die möglichen Ausprägungen aufzeigen und dann deren Wirkung auf das Bild und den Betrachter beschreiben. Dieser Dreisprung – Bildgestaltungsmittel, Ausprägung, Wirkung – ist sicherlich etwas komplexer im Aufbau, ermöglicht aber ein einheitliches Vorgehen. Nehmen wir zum Beispiel das gestalterische Mittel des Bildformats mit seinen Ausprägungen Hoch- und Querformat, Panorama sowie Quadrat. Jede dieser Ausprägungen hat ihre eigene Wirkung, zum Beispiel Spannung oder Ruhe erzeugend.
Um die Auswirkung eines jeden Gestaltungsmerkmals deutlicher zu zeigen, gehen wir in diesen sechs Kapiteln davon aus, dass sich ausschließlich das jeweilige Bildgestaltungmittel verändert, während alle anderen unverändert bleiben. Dieser Ansatz ist zwar sehr theoretisch, aber sehr sinnvolle, um den Einfluss der Bildgestaltung auf die Wirkung zu verstehen. Auf die Gesamtwirkung eines Bildes gehen wir in einem separaten Kapitel ein, ebenso darauf, wie sie zu analysieren und zu bewerten ist. Dieses Wissen ist eine wichtige Voraussetzung sowohl für das Fotografieren als auch für die zielgerichtete Beurteilung von eigenen und fremden Bildern.
Bei all diesen Themen zeigen wir Ihnen lediglich die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung auf. Wir behaupten nicht zu wissen, was richtig und was falsch ist. Und wir sagen Ihnen auch nicht: Wenn Sie das so machen, werden Ihre Bilder gut. Da wir weder Ihren persönlichen Geschmack noch Ihr fotografisches Ziel, ebenso wenig Ihre Bildidee oder Ihre Bildsprache kennen, wäre das auch gar nicht möglich. Sie allein müssen für jede Aufnahme aufs Neue entscheiden, welche Bildgestaltungsmittel in welcher Ausprägung einzusetzen sind, um die zu Ihrem Motiv, Ihrer Idee passende Wirkung zu erzielen. Was schwierig und komplex klingt, wird Ihnen mit etwas Übung ganz leicht in Fleisch und Blut übergehen. Und Sie werden belohnt mit stimmig gestalteten Bildern, die den Betrachter aktivieren und überzeugen.
Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen, beim Fotografieren und nicht zuletzt dabei, mit der Zeit Ihre ganz eigene Bildsprache zu entwickeln. Cora und Georg Banek
Ein Letztes noch: Da es in diesem Buch um die Gestaltung der Bilder geht und alle abgebildeten Fotos bestimmte Aspekte der Bildgestaltung unterstreichen sollen, haben wir bewusst auf die Angabe der vollständigen technischen Daten verzichtet. Werden Brennweiten angegeben, sind diese grundsätzlich kleinbildäquivalent zu verstehen. Um die Lesefreundlichkeit zu erhöhen, sprechen wir von dem Fotografen, dem Betrachter, dem Modell etc., meinen damit aber sowohl Männer als auch Frauen.
Haben Sie Fragen? Anregungen? Kritik? Gerne!
Sie erreichen uns unter kontakt@artepictura.de – Danke!
»Sehen verändert unser Wissen. Wissen verändert unser Sehen.« Jean Piaget, schweizer Entwicklungspsychologe
Bevor wir Ihnen die vielfältigen Einflussmöglichkeiten des Fotografen auf die Bildgestaltung aufzeigen und deren Auswirkungen auf das Foto detailliert näher bringen, ist es sinnvoll, sich mit den gestalterischen Grundlagen der Fotografie zu beschäftigen. Das hilft, die Bildgestaltung besser zu verstehen und einzuordnen.
Den prototypischen Ablauf des fotografischen Vorgangs, die einzelnen Stationen und Einflussgrößen auf das Endergebnis haben wir ja bereits in »Fotografieren lernen, Band 1« vorgestellt – dort allerdings mit einer deutlichen Betonung der Fototechnik. Auch aus dem Blickwinkel der Bildgestaltung ist ein ähnlicher Ablauf sinnvoll und zeigt, welche Einflussmöglichkeiten Ihnen als Fotograf zur Verfügung stehen und was Sie berücksichtigen sollten, um beim Betrachter eine ganz bestimmte Wirkung zu erzielen. Dazu ist es nicht nur wichtig zu wissen, wie Bilder wahrgenommen werden, sondern auch, mit welchen Mechanismen sie ihre Wirkung auf den Betrachter ausüben. Deswegen bringen wir Ihnen den gesamten Ablauf der menschlichen Wahrnehmung von Bildern näher und zeigen, warum einige Ausprägungen der Bildgestaltung eine ganz bestimmte, biologisch bedingte Wirkung hervorrufen.
Auch Ihre individuelle Persönlichkeit als Fotograf hat einen großen Einfluss auf die Gestaltung Ihrer Bilder. Denn Sie allein bestimmen, was Sie wie zeigen, welche Wirkung Sie bei welcher Zielgruppe erreichen wollen. Und je bewusster Sie die Entscheidungen treffen, desto gezielter steuern Sie auch die Wirkung auf den Betrachter.
Wenn wir uns den gesamten Vorgang des Fotografierens ansehen, hat der Fotograf Einfluss darauf, was er fotografiert, nachbearbeitet und präsentiert. Er hat also alle Schritte in der Hand, die etwas mit der Produktion eines Bildes zu tun haben – danach allerdings hat er nur noch wenig bis gar keinen Einfluss mehr darauf, wie sein Werk vom Betrachter aufgenommen wird. Deswegen muss er in diesen ersten beiden Schritten – während des Fotografierens und der Nachbearbeitung – alles daransetzen, dass das Endergebnis so wird, wie er es möchte. Ein möglichst breites Wissen um die fotografischen Einflussgrößen und deren Gestaltungsmöglichkeiten hilft dabei, eine Aufnahme so gezielt zu gestalten.
Als Fotograf entscheiden Sie allein im Rahmen der Möglichkeiten, was Sie auf Ihr Foto bannen und wie Sie dies tun. Dabei beeinflussen drei Faktoren, welche Bildgestaltungsmittel Sie – bewusst oder unbewusst – einsetzen: erstens Ihr gestalterisches Wissen, also das grundsätzliche Verständnis für die Bildgestaltung, das sich aus je einem bewussten und einem unbewussten Teil zusammensetzt. Den bewussten nähren Sie dadurch, dass Sie Fotos gezielt analysieren, etwas über Bildgestaltung lesen oder Gespräche mit anderen Fotografen über die Wirkung von Bildern führen. Hier geht es um das Wissen über die vielen verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten, aber auch um das Wissen über die vielfältigen Zusammenhänge zwischen einem beliebigen Bildgestaltungsmerkmal und seiner jeweiligen Wirkung auf den Betrachter. Genau an diesem Punkt setzt das vorliegende Buch an, indem es Ihnen die Zusammenhänge der fotografischen Gestaltung deutlicher vor Augen führt.
Abb. 1.1 In der Fotografie gibt es eine ganze Menge Einflussfaktoren, die das Bildergebnis und dessen Rezeption beeinflussen können – die wichtigsten sind in diesem Schaubild aufgeführt.
Das unbewusste Wissen wiederum basiert auf der großen Zahl von Bildern, die Sie in Ihrem Leben wahrgenommen und im Kopf gespeichert haben. Je mehr und je unterschiedlichere Fotos Sie sich angesehen haben, desto größer wird Ihr gestalterischer Horizont sein. Wenn Sie Fotos vor allem in der Tageszeitung, im Supermarkt und im Fernsehen begegnen, kennen Sie sicherlich andere Bildstile, als wenn Sie häufig auf hochqualitativen Fotoplattformen im Internet unterwegs sind, Modezeitschriften lesen oder sich oft internationale Kunstausstellungen ansehen. Schon die Wahl der gelesenen Zeitschriften beziehungsweise der besuchten Internetplattformen kann eine Auswirkung auf Ihr Bilderwissen haben: Die Bildsprache von View, Merian, Neon, Elle, Gala oder National Geographic ist jeweils sehr verschieden und auch auf fotocommunity.de, 1x.com oder flickr.de werden Sie sich von sehr individuelllen Bildsprachen inspirieren lassen können.
Der zweite Faktor ist Ihr gestalterisches Können, das heißt die Umsetzung dessen, was Ihr Auge in dem jeweiligen Motiv sieht. Dazu gehört vor allem die gezielte Beherrschung der Kamera und der gesamten Aufnahmetechnik. Wenn Sie beispielsweise genau wissen, mit welchen Mitteln Sie die Schärfe selektiv setzen, und diese Wirkung vorher zu beurteilen in der Lage sind (s. Seite 183), dann können Sie sehr viel stärker gestaltend eingreifen, als wenn Sie die Belichtung Ihrer Fotos immer der Kameraautomatik überlassen. Aber auch die jeweilige technische Ausrüstung limitiert Sie oder aber ermöglicht Ihnen erst bestimmte gestalterische Techniken. Ohne Abblendtaste können Sie die gestalterische Wirkung der Blende zum Beispiel nicht schon bei der Aufnahme, sondern erst auf dem Rechner wirklich bewerten.
Den dritten Faktor könnte man als Ihr gestalterisches Wollen bezeichnen. Hier geht es um Ihren ganz individuellen Geschmack, um Ihre bewusst als fotografischen Stil gewählten oder im Laufe der Zeit eingeschlichenen Vorlieben bei der Gestaltung Ihrer Bilder. Denn nicht alles, was Sie gestalterisch umsetzen könnten, möchten Sie auch auf Ihren Bildern sehen.
Neben der Person des Fotografen sind es immer auch äußere Faktoren, welche die Gestaltung des einzelnen Bildes mit beeinflussen. Die Situation vor Ort begünstigt oft ganz bestimmte Formen der Gestaltung oder lässt andere gar nicht zu. Gerade vor bekannten Sehenswürdigkeiten gibt es oft sogar ausgeschilderte Fotopunkte, von denen die meisten Fotografen ihre Bilder machen, da es zu mühsam oder unbequem wäre, sich einen anderen, eigenen Standpunkt zu suchen. Aber auch die Entfernung zum Motiv, Zäune, Verbote oder räumliche Beengtheit lassen oft nicht zu, näher an das Motiv heranzukommen oder einen anderen Standort zu wählen. Viele Fotografen versuchen dann im Nachhinein, die entstandenen, nicht sauber gestalteten Bilder wegen der Gegebenheiten vor Ort zu rechtfertigen, anstatt sich bereits vorher für ein anderes Motiv zu entscheiden.
Manchmal gibt es aber auch explizite Vorgaben für die Bilder, die der Fotograf von außen erhält. Wenn Sie beispielsweise für einen Kalender fotografieren, den Sie im Hochformat und in Schwarzweiß gestalten wollen, sind andere Formate oder Farben keine Option. Aber auch bei Auftragsarbeiten gibt es meist bestimmte Aspekte, die Sie berücksichtigen müssen. Das Aufmacherbild eines Zeitschriftenartikels wird beispielsweise in der Regel als doppelseitiges Querformat verlangt, auf dem eine große, ruhige Fläche Platz für den Titel und den Einstiegstext bietet.
Innerhalb dieser vielen Einflüsse und Einschränkungen von innen und außen haben Sie als Fotograf trotzdem bei jedem einzelnen Bild die freie Wahl der drei zentralen Aspekte der Fotografie: Inhalt, Form und Technik. Mit dem Inhalt ist das jeweilige Motiv gemeint, also das, was auf dem Bild zu sehen ist, die transportierten Emotionen und was Sie dem Betrachter zeigen oder mitteilen (s. Seite 31ff) möchten. Die – meist instinktiv vorgenommene – Auswahl dessen, was mit auf das Bild darf (s. Seite 48ff), die Suche nach einem spannenden Motiv oder aufwändige Inszenierung einer Aufnahme ist die zentrale und sicher auch die wichtigste Aufgabe des Fotografen. Hier entscheidet sich, ob die Geschichte, die der Fotograf mit seinem Bild erzählt, überhaupt interessant und schlüssig sein kann – und für wen sie dies ist.
Die Form ist die Bildgestaltung, also die gesamte Art und Weise, in welcher der Bildinhalt auf dem Foto präsentiert wird. Darunter versteht man die Gesamtheit aller Bildgestaltungsmittel wie Platzierung der Bildelemente, Perspektive, Schärfe und Unschärfe, Linienführung oder Farbgestaltung. Die Gesamtwirkung aller Gestaltungsmerkmale im Bild sollte dabei die Bildaussage des Inhalts unterstützen – auch wenn dies bei vielen Fotos leider nicht der Fall ist. Stellen Sie sich ein ganz sanftes Bild vor, auf dem eine Mutter ihr Baby im Arm hält und es innig anlächelt – da passen knallige Neonfarben, hohe Kontraste oder eine Platzierung ganz am Bildrand nicht wirklich zum Motiv, stattdessen verlangt es vielmehr nach einer ruhigen, zarten Gestaltung.
Um die Fotografie überhaupt erst zu ermöglichen und um die Gestaltung eines Bildes auch gezielt zu beeinflussen, bedarf es immer der fotografischen Technik. Mit ihr lassen sich Bewegungen scharf einfrieren oder unscharf verwischen, lassen sich verzerrte Darstellungen der Realität erzielen oder winzige Details übergroß abbilden. Dabei ist die Technik immer nur ein Mittel zum Zweck und nicht immer findet ein Mehr an Technik auch seine Entsprechung im Bild – etwa durch eine sichtbar bessere Bildqualität oder indem eine besondere Gestaltung erst durch die Technik möglich wurde. Sehr viel häufiger dient ein Mehr an Technik, Qualität oder Preis entweder einem höheren Komfort oder dem emotionalen Wohlbefinden des Fotografen, was sich natürlich indirekt auch auf seine Fotografie auswirken kann.
Diese drei Faktoren stehen natürlich nicht unverbunden nebeneinander, sondern sie bilden starke Beziehungen und Wechselwirkungen untereinander. Generell hat jedoch immer der Inhalt den Vortritt und das stärkste Gewicht, denn mit dem Motiv stehen und fallen die Geschichte, die Idee und die gewünschte Wirkung eines jeden Fotos. Die Gestaltung hingegen sollte auf den Inhalt ausgerichtet werden und diesen passend, stimmig oder kontrastierend begleiten. Die Technik liegt dem ganzen Vorgang zwar zu Grunde, ist aber von diesen dreien sicherlich der austauschbarste Aspekt. Sie ist auf die Gestaltung ausgerichtet, mit ihr wird eine bestimmte Form des Bildes erst ermöglicht.
In jedem dieser drei Felder muss der Fotograf auf dem Weg zu seinem jeweiligen Bild eine ganze Menge bewusster und instinktiver Entscheidungen treffen, wobei diese oft auch an die diversen Automatiken der Kamera oder – zum Beispiel bei Schnappschüssen oder dem Lomografieren (s. Seite 54) – an den Zufall abgegeben werden. Je mehr Sie als Fotograf jedoch wissen und können, desto bewusster und gezielter nehmen Sie Einfluss auf den Prozess, um nicht nur zufällig, sondern jederzeit wiederholbar ein bestimmtes, vorher geplantes Ergebnis zu erreichen.
Das Bild, das die Kamera letztendlich macht, nachdem Sie jeden Aspekt der inhaltlichen, formalen und technischen Gestaltung beachtet und beeinflusst haben, bekommen wir gar nicht zu sehen. Denn es ist immer erstmal ein unentwickeltes Rohbild auf dem Film oder im RAW-Format. Das, was wir (nach dem Scan) dann auf dem Monitor der Kamera oder in unserem Bildbetrachtungsprogramm sehen, ist eine konkrete Entwicklung aus dem Potenzial des RAW-Bildes oder des Negativs. Erst wenn dieses Bild entsprechend den Voreinstellungen entwickelt wurde, bekommen wir es mit deutlich weniger Bildinformationen zu sehen. Dieser Vorgang kann ganz automatisch durch Software erfolgen oder gezielt durch einen Menschen, der dem Bild eine vollkommen neue Richtung geben kann. Denn durch die vielfältigen Möglichkeiten der digitalen oder analogen Nachbearbeitung lassen sich einige Bildgestaltungsmittel wie Farbe, Kontrast, Ausschnitt oder sogar Licht noch nachträglich verändern (s. Band 3). Erst das bearbeitete Bild entfaltet als fertiges Ergebnis seine Wirkung beim Betrachter.
Damit ein Bild auf den Betrachter wirken kann, muss dieser es erst einmal wahrnehmen. Schnell und unbewusst bewertet man eine Aufnahme und kommt so zu einem allgemeinen Bauchurteil im Sinne von »gefällt mir« oder »gefällt mir nicht«. Für eine gezielte und fundierte Aussage über das Bild müssen jedoch weitere Faktoren berücksichtigt werden, anhand derer das Bild einer bewussten und zielorientierten Analyse unterzogen werden kann. Der Vorgang von Wahrnehmung und Wirkung eines Bildes ist recht komplex und wird von vielen Faktoren beeinflusst. Da der Fotograf durch die Gestaltung des Bildes Einfluss auf diese Faktoren nehmen kann, ist es gut für ihn zu wissen, wie genau die Bildwahrnehmung abläuft.
Es gibt sehr viele wissenschaftliche Untersuchungen darüber, wie Menschen Bilder betrachten, verstehen und was die Fotos bewirken. Wissenschaftliche Modelle und Erklärungsansätze verschaffen uns einen recht guten Einblick in diesen Prozess. Wir haben dessen Ablauf in dem nebenstehenden Diagramm übersichtsartig zusammengefasst und besprechen ihn im Folgenden detaillierter.
Der erste Schritt zur Bildwirkung ist die Wahrnehmung im engeren Sinne. Sie erfolgt immer als Reaktion auf einen zentralen oder peripheren Reiz. Nur Bilder, die wir mit unseren Augen überhaupt sehen und ausreichend lange betrachten, können eine Wirkung entfalten – dazu reichen jedoch häufig auch schon wenige Sekundenbruchteile aus.
Der zweite Schritt ist überraschend, irritierend und klingt auf den ersten Blick vielleicht unlogisch. Denn als Nächstes nimmt das Unterbewusstsein eine spontane und unwillkürliche Bewertung des Bildes vor, noch bevor das Gehirn wirklich verstanden hat, was auf dem Bild zu sehen ist. Diese mentale Filterfunktion dient dem Schutz des Gehirns vor Überlastung und wird nicht nur bei Fotos, sondern auch bei allem anderen, was uns in unserem täglichen Leben umgibt, angewendet. Wenn wir nämlich alle auf uns einprasselnden Informationen bewusst verarbeiten würden, wäre unser Gehirn dieser enormen Menge nicht gewachsen. Unser Unterbewusstsein entscheidet also, welche Fotos uns zu interessieren haben und an welchen Bildern wir andererseits getrost vorbeisehen können.
An dieser Stelle wird deutlich, wie schnell unser Hirn Bilder bewertet: Es gibt eindrucksvolle Versuche, bei denen einzelne, inhaltlich stark abweichende Bilder in Filme montiert wurden, so dass sie nur kurz und unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle zu sehen waren. Dennoch lösten sie nachweisbar entsprechende Gefühle bei den Probanden aus, beispielsweise Hunger, Angst, Beklemmung oder Entspannung.
Abb. 1.2 Der stufenweise Ablauf der Bildbetrachtung im Überblick: Nach der eigentlichen Wahrnehmung werden in einer spontanen Bewertung uninteressante Bilder bereits ausgefiltert, bevor sie bewusst wahrgenommen oder sogar erkannt werden. Inwieweit das erkannte Bild zu den bereits vorhandenen Wahrnehmungsschemata passt, bestimmt im Großen und Ganzen, wie das Foto im Weiteren verarbeitet wird. Nur wenn der Wahrnehmungsvorgang nicht abgebrochen wird, kann das Bild assoziativ und emotional wirken und nach der Speicherung den Betrachter dauerhaft verändern.
Erst nach dieser Hürde macht sich das Gehirn daran, das Foto zu verstehen und bewusst zu erkennen, was darauf abgebildet ist. Es schafft ein erstes, schematisches Verständnis, indem es das Bild mit bekannten und gespeicherten Wahrnehmungsmustern abgleicht. Dieser Vergleichsprozess läuft automatisch ab. Die jeweilige Bedeutung des Schemas haben wir entweder bewusst gelernt, indem wir genau dieses Motiv schon einmal gesehen haben – den Eiffelturm oder einen bestimmten Menschen zum Beispiel. Oder wir stellen Analogien zwischen dem Bild und dem gespeicherten Schema her und übertragen das Wahrnehmungsmuster, unser Wissen, auf ein ähnlich geartetes Motiv. Einen Baum, einen Tisch oder ein Tier erkennen wir auch, wenn wir das Exemplar vor uns noch nie zuvor gesehen haben.
Stimmt das, was wir auf dem Bild sehen, vollständig mit unserem bekannten Schema überein, erfahren wir eine Schemakongruenz. Das heißt, alles Gesehene stimmt mit unserer Erfahrung überein, wir können es einordnen und haben keinen Grund, das Bild weiter anzusehen, und schließen die Wahrnehmung hier ab. Die Wirkung solcher Bilder ist eine Verstärkung unseres bestehenden Schemas, so kommen Klischees und Stereotype zustande und auch die erfolgreiche Wirkung von ständig wiederholter – selbst schlechter und lästiger – Werbung basiert darauf. Solche Fotos haben wir schon sehr oft gesehen und wir erinnern uns trotzdem kaum an jedes einzelne.
Wenn das Bild jedoch geringfügig von unserem bekannten Schema abweicht, überrascht und irritiert uns das und führt dazu, dass wir uns bewusster und gezielter mit diesem Bild auseinandersetzen. Diese mentale Aktivierung führt nicht nur dazu, dass wir uns länger mit dem Bild beschäftigen und es dadurch besser behalten, die zusätzliche Information führt in der Regel auch zu einer Erweiterung unseres Schemas. Denn eine kleine, nicht elementare Neuerung begreift das Gehirn als Zusatzinformation.
Anders sieht es bei einer starken Abweichung des Gesehenen von unseren gespeicherten Mustern aus: Das Gehirn hat Verständnisschwierigkeiten, muss sich das Motiv erst mühsam erarbeiten und verwechselt dabei oft etwas. Solche starken Irritationen stellen das eigene Wissen in Frage, können aber natürlich auch dazu führen, dass wir eine Veränderung unseres Schemas vornehmen. Dies ist allerdings nicht die Regel, da wir einen starken Hang dazu haben, unsere Weltsicht zu schützen, wenn wir sie erst einmal ausgeprägt haben. Deswegen können hier auch Ablehnung und Abbruch der Wahrnehmung die Folgen sein.
Wenn das Bild gar keine Entsprechung zu einem unserer Schemata aufweist, wird das als schemairrelevant bezeichnet und führt in den meisten Fällen zu einem Wahrnehmungsabbruch. Das kann zum Beispiel bei völlig verwackelten oder abstrakten Bildern der Fall sein. Lediglich bei besonderer Wahrnehmungsmotivation – wie dem Besuch einer Ausstellung oder weil das Bild von jemand Bekanntem gemacht wurde – schenken wir ihm weiter Beachtung und setzen uns damit auseinander.
Die spontane Bewertung und das erste schematische Erkennen bestimmen also, welche Bilder wir uns genauer ansehen, welche Fotos wir mental verarbeiten oder bei welchen wir die Wahrnehmung abbrechen, also gelangweilt oder verwirrt wegsehen. Auf diese Weise wird das weitere Wahrnehmungs- und Wirkungsverhalten beeinflusst. Diese Funktion führt auch dazu, dass vor allem Neues oder Abweichendes unsere Aufmerksamkeit gewinnt. Aus diesem Grund nehmen wir auch Bilder, die wir schon oft gesehen haben, kaum noch wahr. Unsere Aufmerksamkeit wird von inhaltlich und formal Neuartigem und den Irritationen unserer Sehgewohnheiten geweckt. Das Bekannte nutzt sich mit der Gewohnheit ab und aus einem aufregenden neuen Bildstil wird im Laufe der Zeit ein alter Hut.
Die Geschwindigkeit des schematischen Erkennens ist allerdings enorm und deutlich schneller als beim Lesen eines Textes, weshalb Bilder immer als Erstes wahrgenommen werden. In nur einer Hundertstel Sekunde können wir das Thema eines Bildes erkennen. Und in ein bis zwei Sekunden nehmen wir ein mittelkomplexes Foto umfassend wahr, während wir in der gleichen Zeit gerade einmal fünf bis zehn Wörter lesen können, also wesentlich weniger geschriebene als bildliche Information aufnehmen.
Dieser Vorgang hängt außerdem ganz massiv davon ab, was der Betrachter des Bildes an Vorwissen und Gewohnheiten mitbringt und welche Bilder er bereits gesehen hat. Ein Biologe oder ein Naturfotograf erkennt Insekten auf einem Foto vermutlich deutlich schneller als ein Großstadtbewohner. Aber auch als Fotograf können Sie es dem Betrachter durch die verschiedenen Gestaltungsmittel einfacher oder schwerer machen, ein Motiv zu erkennen und das Bild zu verstehen.
Während das Bild bei der unterbewussten Bewertung eher als Ganzes wahrgenommen und betrachtet wird, erfolgt die bewusste Betrachtung und Entschlüsselung des Bildes schrittweise und nacheinander. Wo der Einstieg ins Bild erfolgt, ist nicht bei jedem Bild gleich, allerdings sind es immer wieder dieselben Faktoren, die diesen Start ins Bild begünstigen oder geradezu erzwingen.
Wenn das Bild keine besonderen Eyecatcher aufweist und eher als einheitliche Fläche wahrgenommen wird, fangen Betrachter in Leserichtung an, das Bild zu erforschen. In unserer westlichen Kultur heißt das, der Einstieg erfolgt links oben und der Blick gleitet von dort nach rechts, zurück nach unten links und nach unten rechts. Oft ist aber auch ein Anziehungspunkt im Bild so auffällig, dass er den Blick des Betrachters sofort auf einen bestimmten Punkt im Bild leitet.
Dieser Punkt kann rein formal bedingt sein: Generell gilt, dass weiße oder sehr helle Stellen im Bild den Blick immer ganz besonders stark anziehen. In einem High-Key-Bild (s. Seite 156f) sind es jedoch die wenigen dunklen Bereiche, die als erster Anlaufpunkt für den Blick fungieren. Aber auch Farben ziehen den Blick auf sich, je leuchtender und gesättigter, desto stärker. Am heftigsten wirken dabei die Neonfarben, wobei auf jeder Sättigungsebene die Signalfarben Rot und Gelb mehr Aufmerksamkeit erhalten als ihre grünen, blauen oder violetten Pendants (s. Seite 150ff).
Bei einem Foto mit einer nur geringen Schärfentiefe und sehr viel Unschärfe, springt das Auge sofort auf das scharfe Bildelement (s. Seite 182ff). Und in sehr kleinteiligen Bildern können bestimmte geometrische Formen (s. Seite 94ff), allen voran der Kreis, ebenfalls sehr blickführend wirken. Kurz, bei den bildgestalterischen Eyecatchern geht es immer um einen möglichst starken Kontrast einer einzelnen, möglichst kleinen Fläche oder eines Punktes zu seiner unmittelbaren Umgebung und zum gesamten Rest der Bildfläche (s. Seite 78ff).
Darüber hinaus gibt es aber auch bestimmte Bildinhalte, die wir ganz unwillkürlich immer zuerst ansteuern, weil wir aus Erfahrung dort die meisten oder die wichtigsten Bildinformationen erwarten. In einer Landschaft, einer Stadtansicht oder einer anderen Szenerie wird unser Blick beispielsweise immer als Erstes von einer oder mehreren Personen angezogen, da der Mensch als soziales Wesen sich sehr stark für andere Menschen interessiert. Besonders interessant sind dabei natürlich die uns bekannten und nahestehenden Personen. Je größer der Mensch abgebildet wird, desto stärker verlagert sich dieses Interesse auf sein Gesicht oder sogar nur auf die Augen, die – bei entsprechender Erkennbarkeit – geradezu ein Magnet für den Blick des Betrachters sind.
Nach dem Einstieg in das Bild bewegt sich das Auge nicht gleichmäßig weiter, sondern der Blickverlauf wird unregelmäßig und sprunghaft. Mit kurzen oder längeren Sprüngen von einem Bildelement zum anderen bewegt sich das Auge über das Bild, oft gelenkt von Linien (s. Seite 82ff) oder angezogen von weiteren, weniger starken Hinguckern. An diesen optischen Haltepunkten verweilt der Blick und tastet die umliegende, kleine Fläche dann intensiver ab, bevor er zur nächsten Bildpartie springt und auch dort wieder etwas verweilt. Dieser Vorgang wird von Wissenschaftlern mit dem Begriff Saccade für den Sprung und Fixation für das Verweilen bezeichnet.
Ziel eines Fotografen ist es zumeist, dass das Bild die Aufmerksamkeit des Betrachters möglichst lange auf sich zieht und dieser sich intensiv mit dem Foto auseinandersetzt. Neben einem spannenden Motiv ist dafür gestalterisch eine geschlossene Blickführung (s. Seite 84f) besonders gut geeignet. Durch den Bildausschnitt (s. Seite 48ff) und die Perspektive (s. Seite 104ff) bestimmen Sie als Fotograf idealerweise selbst, wo die optischen Haltepunkte im Bild liegen und an welchen Linien entlang das Auge durch das Bild wandert. Sie unterstützen den Betrachter damit bei der Wahrnehmung. So kann er sich das Bild besser und schneller erschließen, wird weniger verwirrt und ist eher geneigt, sich das Bild auch länger anzusehen, um es ausführlich zu verarbeiten.
Wenn das Motiv erkannt wurde, beginnt die eigentliche Gedankenarbeit des Gehirns. Jetzt werden die Bildinhalte mit thematisch passenden oder unpassenden, auf jeden Fall aber emotionalen Assoziationen verknüpft, bevor sie im nächsten Schritt gespeichert werden. Auf diese Weise entstehen innere Bilder und die schematischen Wahrnehmungsmuster werden bestärkt, ergänzt oder verändert.
Was der Betrachter aus einem Bild macht, wie er es bewertet und was er damit verknüpft, hängt von vielen Faktoren ab, die nicht nur in seiner Persönlichkeit zu finden sind, sondern auch in der Situation, in der er das Foto gerade sieht. Die folgenden Punkte sind zwar nicht die einzigen Einflüsse, sicherlich aber die wichtigsten.
Erstens können sich die persönlichen Vorlieben des Betrachters auf sehr verschiedene Bereiche des Bildes erstrecken:
Da ist zum einen der Bildinhalt, für den man sich mehr oder weniger interessieren kann, den man mehr oder weniger mag. Nicht jeder interessiert sich beispielsweise gleichermaßen für Architektur-, Blümchen- oder Libellenaufnahmen. Allerdings gibt es bestimmte Themen, die generell einen hohen Aufmerksamkeitswert haben, wie Menschen oder gefährliche Tiere. Hierbei spielt auch der Grad des Interesses eine Rolle.
Wissenschaftler unterscheiden zwischen dem Involvement, einem allgemeinen, aber passiven Interesse, sowie dem Engagement, einem aktiven Suchen und SichBeschäftigen. Wenn ich mir gerade ein neues Auto kaufen will, sehe ich mir entsprechende Fotos weitaus aufmerksamer an, als wenn ich Autos nur generell mag – oder gar ein überzeugter Bahn- oder Radfahrer bin. Und die Babybilder der eigenen Familie haben für uns auch einen ganz anderen Stellenwert als die Fotos völlig fremder Kinder.
Auch wenn eine bestimmte Form der Bildgestaltung bei den meisten Menschen gleich oder ähnlich wirkt, bedeutet das noch lange nicht, dass alle Betrachter diese Gestaltung auch mögen. Der eine mag starke Anschnitte im Bild, der andere nicht, Gleiches gilt für knallige Farben, stürzende Linien oder flächiges Licht. Auch der persönliche Geschmack wird durch die Bilder geformt, die wir im Laufe unseres Lebens sehen.
Und natürlich ist auch die jeweilige Aufnahme- oder Nachbearbeitungstechnik etwas, was verschieden stark gefallen kann. Wenn ich selbst HDR-, Panorama- oder 3-D-Bilder mache, interessiere ich mich auch besonders für Bilder mit entsprechenden Techniken. Oder während den einen die Besonderheiten eines starken Teleobjektivs faszinieren, spricht einen anderen Betrachter eher die Charakteristik eines Weitwinkels an.
Zweitens gibt es über den ganz persönlichen Geschmack hinaus auch jede Menge Faktoren, die sich auf eine soziale Gruppierung beziehen, also von den meisten Menschen, die der Gruppe angehören, gleichermaßen aufgenommen werden:
Schon die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe hat oft sehr direkte Auswirkungen darauf, welche Motive und welche Bildsprache jemand mag. Ein mittig platzierter, röhrender Hirsch im Abendlicht wird die über Sechzigjährigen sicherlich stärker begeistern als einen Teenager. Dafür wird eine düstere Sin-City-Ästhetik bei Comic- und Science-Fiction-Anhängern besser ankommen als bei Esoterik-Fans.
Auch ganze Kulturen haben gemeinsame Besonderheiten. Es beginnt mit der Leserichtung, die dafür sorgt, dass Bewegungen in dieser Richtung als gewohnt, in entgegengesetzter Richtung als irritierend empfunden werden (s. Seite 84).
Aber auch die Wirkung einzelner Farben und Farbkombinationen (s. Seite 146ff, Seite 159ff) ist stark davon abhängig, in welchem Erdteil wir leben. Für uns völlig normale Alltagsszenen in einer deutschen Großstadt, werden einem Reisbauern in Asien sicher fremd und surreal vorkommen. Bilder aus der afrikanischen Wüste, aus dem Regenwald oder einem chinesischen Fischerdorf üben hingegen auf unsereiner die Faszination des Exotischen und Unbekannten aus.
All diese Vorlieben oder Abneigungen können Sie als Fotograf bewusst oder instinktiv beim Aufbau und bei der Gestaltung Ihres Bildes berücksichtigen. Sie erhöhen damit deutlich die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Bild vom Betrachter mit ganz bestimmten Ideen und Vorstellungen assoziiert wird, also ganz bestimmte Wirkungen erzielt. Das wird umso wichtiger, je stärker Sie Ihre Bilder gezielt für eine bestimmte Zielgruppe anfertigen – in der Wettbewerbs-, Werbe- oder Stockfotografie zum Beispiel.