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hedda fischer

naguanagua

ein Kriminalroman aus Venezuela

Zu diesem Buch:

Karl und Clara Heyer leben und arbeiten schon seit einigen Jahren in Venezuela. Beide fühlen sich wohl in diesem Land. Doch eines Nachmittags findet Clara einen Freund ermordet auf. Da es kein Motiv gibt, bleibt der Mord ein Rätsel, bis der nächste Tote gefunden wird … Dann sieht alles anders aus.

Hedda Fischer, 1945 geboren, in Berlin aufgewachsen. Ein paar Jahre im Ausland, aus dessen Erfahrungen dieses Buch entstanden ist …

hedda fischer

naguanagua

ein Kriminalroman aus Venezuela

Copyright © 2012 by Hedda Brinkmann

1. Auflage

Umschlaggestaltung: Hedda Brinkmann nach

einem Bild von Henri Rousseau (aus Wikimedia)

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-7345-0007-7 (e-Book)

ISBN: 978-3-8491-8374-5 (paperback)

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Montag 16. September. Tagsüber.

Sie ging mit dem Hund aus der Wohnung, schloss ab, schaltete ihre Taschenlampe ein und ging das ansonsten unbeleuchtete Treppenhaus hinunter. Der Hund lief voraus. Er brauchte keine Taschenlampe. Ab und zu ein Wispern. Die Kinder der anderen Mieter lauerten auf den Stufen und warfen mit Gegenständen, Papierbällen, die nicht wehtaten, oder Kissen, die ihr das unangenehme Gefühl verschafften, einer griffe nach ihr.

Am unteren Ende der Treppe, nach elf Stockwerken, lag die Eingangshalle. Gleich rechter Hand befand sich die Wohnung der Hausmeisterin, einer dicken freundlichen Frau. Die drei Meter hohen Glastüren zur Straße hin standen offen, die ersten Sonnenstrahlen und die erste Wärme drangen herein. Noch nicht viel, es war erst kurz vor neun Uhr morgens. Später würde es anders sein.

Am Fuße der Treppenstufen nach draußen lag links eine kleine Cafeteria, rechts eine Zahnarztpraxis. In der Cafeteria saßen wie immer einige Leute, aßen Arepas und tranken Kaffee. Im Warteraum des Zahnarztes saßen auch schon einige Leute, aßen oder tranken aber nichts, sondern unterhielten sich – auch wie immer. In der Halle standen einige Mieter des Hauses zusammen und schwatzten.

Clara grüßte im Vorbeigehen, ging die drei Stufen auf die Avenida Montes de Oca hinunter und wandte sich nach rechts. Der Hund lief schon voraus. Die Straßen der Stadt waren schachbrettartig angelegt, das Hochhaus lag an der Ecke Avenida Montes de Oca und Calle Rondón. Die Straßen in Nord-Süd-Richtung wurden Avenidas genannt, die in West-Ost-Richtung Calles. In Größe und Breite unterschieden sie sich hier im Zentrum von Valencia allerdings nicht. Schmale Straßen, schmale Bürgersteige, unebener Belag auf beiden, unvermutete Löcher, weil hier und da Deckel der Kanalisation fehlten. Nur wenige Bäume, die erfreulichen Schatten spendeten, unzählige Kabel von Haus zu Haus gezogen, ab und zu eine Straßenlaterne, einige Geschäfte.

Hier im alten Zentrum der Stadt gab es nur wenige Hochhäuser. Es herrschte die alte Bebauung vor, einstöckige Häuser mit einem kleinen Eingang, dann ein schmaler langer Flur, der am ersten Patio endete, einem meist quadratischen Innenhof mit überdachten Säulengängen, in der Mitte mit Blumen und Palmen bepflanzt. Von den Dächern plätscherte das Regenwasser in die Tonnen und versorgte zumindest die Pflanzen, verbreitete erfreuliche Feuchtigkeit an heißen Tagen. Von diesem Patio gingen Türen zu verschiedenen Zimmern ab. Oft folgten weitere Flure zu den nächsten Patios, viele kleine und größere Räume für die zahlreichen Familienmitglieder, die sich dort zu jeder Tageszeit versammelten, die Kühle genossen und in denen die Kinder unbeaufsichtigt spielen konnten.

Clara ging bis an die nächste Ecke, bog nach links in die Calle Libertad ein und hatte ihren Arbeitsplatz erreicht. Der Hund war schon über die Straße gelaufen. Ein Auto hatte heftig bremsen müssen.

Sie arbeitete normalerweise drei Mal die Woche in einem Reisebüro oder vor den großen Ferien, wenn viel zu tun war, auch durchgehend ein oder zwei Wochen. Das Reisebüro gehörte einem italienischen Ehepaar, Cornelia und Francesco Rivetti, das mit dem Ehepaar Heyer locker bekannt war. Eines schönen Tages vor zwei Jahren war Clara gefragt worden, ob sie mitarbeiten wolle. Die Arbeit brachte nicht viel Geld ein, aber Kontakte zu vielen Leuten, abgesehen von dem Erlernen der Computerprogramme und sonstiger Bürotätigkeiten und dem stetigen Ausweiten der spanischen Sprache, inklusive dieser und jener Schimpfwörter. Konnte man ja immer gebrauchen.

Ihr Ehemann Karl arbeitete ohnehin zu viel, war wenig zu Hause, die 100qm-Wohnung verursachte nicht viel Arbeit, sodass ihr genug Zeit für eine Art Halbtagsjob blieb.

Blacky wartete herumschnüffelnd vor der Bäckerei, in der sie sich an ihren Arbeitstagen einen Kaffee – normalerweise einen »marrón grande« – und ein belegtes Brötchen kaufte.

Den Hund kannte man überall in der Gegend. Er bekam fast immer ein Stück Wurst oder etwas Süßes zugesteckt. Ein Mischlingshund, etwa kniehoch, mit halblangem, schwarzem, wuscheligem Fell, einer spitzen Schnauze und aufgestellten Ohren. Wenn er hechelte, sah man seine weißen Zahnreihen, was die kleine Tochter einer Freundin zu dem Ausspruch »Blacky das Krokodil« veranlasst hatte.

Karl und Clara Heyer war das muntere Tier zum ersten Mal an der Tankstelle am Ende der Calle Rondón aufgefallen. Den Männern dort war er zugelaufen und dann geblieben, weil sie freundlich zu ihm waren und ihn nicht gleich mit Fußtritten verjagt hatten. Eines Tages wurden die Heyers gefragt, ob sie den Hund zu sich nehmen wollten. Es gab an der Straße viel Verkehr und die Angestellten befürchteten, dass er eines Tages überfahren werden könnte, weil er doch immer wieder quer über den Fahrdamm den Hündinnen nachrannte. Soviel Fürsorge für einen Hund war für Venezolaner ziemlich ungewöhnlich.

Karl und Clara überlegten nicht lange, Blacky stieg ohne Zögern ein, fand auch sofort den richtigen Platz auf dem Rücksitz, sozusagen fest eingeklemmt zwischen Vorder- und Rücklehne, meistens in das linke Ohr des Fahrers hechelnd. Ein einziges Mal war er aus dem Wagen gefallen, weil er am offenen Fenster mit den Pfoten auf dem Rahmen gestanden hatte und die Wegstrecke uneben wurde. Gott sei Dank passierte das auf einem sandigen Weg bei langsamer Fahrt. Der Hund war auf dem Rasenstreifen gelandet und hatte sich nicht verletzt. Seitdem blieb das hintere Fenster vorsichtshalber geschlossen. Jedenfalls mochte er Autofahren und vertrug es ohne zu spucken.

Clara konnte das Tier ins Reisebüro mitnehmen, wo er sich unter ihrem Schreibtisch verkroch und sich nicht mehr rührte, bis es Zeit war zum Gehen.

Das Reisebüro „Viajes del Mundo“ lag direkt neben der Bäckerei. Auf der anderen Seite befand sich eine Mischung aus Spielwaren- und Porzellanladen. In den beiden Schaufenstern war ein unglaubliches Durcheinander von rosa gekleideten Puppen, Plüschtieren, Kerzenleuchtern, kitschigen Porzellanfiguren und Geschirr zu sehen, das Ganze abends mit Lichterketten beleuchtet. Wenn sie funktionierten, dann rasten bunte Lichter rund um die Schaufenster, aber meistens funktionierten sie eben nicht. Wie es oft in Venezuela vorkam.

Das Haus selbst war ein zweistöckiges Gebäude mit flachem Dach. Früher hatte dort eins der schönen alten Häuser gestanden, es hatte aber wegen Baufälligkeit abgerissen werden müssen. An seine Stelle trat dieser stinknormale Einheitsbau mit den drei Geschäftsräumen, jeweils mit zwei großen Fenster und einer Tür in der Mitte, sowie drei Wohnungen darüber.

Clara betrat mit dem Kaffeebecher in der Hand das Büro, begrüßte mit einem Kopfnicken ihre Chefin, die gerade telefonierte und dabei wie immer temperamentvoll mit der Zigarettenhand herumfuchtelte, obwohl ihr Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung das doch gar nicht sehen konnte.

Kaffee absetzen, Computer einschalten, sich auf dem Stuhl zurechtsetzen, eine Strickjacke anziehen, das übliche Ritual am Morgen. Dann die Notizen vom anderen Tag durchlesen, E-Mails durchsehen, mit den ersten Telefonaten beginnen. Gott sei Dank funktionierten hier und heute sowohl Telefon als auch Computer, überhaupt gab es Elektrizität, die zwar über die Klimaanlage das Büro in eine Art Kühlschrank verwandelte, aber immerhin vorhanden war. Nicht so wie in ihrem Hochhaus heute Morgen, wo sie gezwungen gewesen war, zu Fuß im Dunkeln hinunterzugehen, weil der Aufzug natürlich nicht lief. Hinunter ging ja noch. Clara hoffte, dass bis zum Abend alles wieder in Ordnung kam. Es war nicht das erste Mal, regelte sich aber immer wieder wie von selbst. Geduld war gefragt, und die war nicht ihre Stärke.

Cornelia Rivetti legte auf und zündete sich eine weitere Zigarette an. Clara rauchte zwar auch ab und an, aber lange nicht so viel wie die Rivettis. An normalen Tagen zogen abends blaue Wolken durch das Büro. Die Klimaanlage kam gar nicht dagegen an. Es gab übrigens zwei Büros, eins hier im Zentrum der Stadt, in dem sich meistens Cornelia aufhielt, zeitweise durch Clara unterstützt, das andere auf der Avenida Bolivar gegenüber von zwei großen Hotels, deren Gäste für gute Kundschaft sorgten. Das betreute Francesco Rivetti, der Besitzer, meistens mit Hilfe eines Neffen. Die eigenen Söhne, 18 und 20 Jahre alt, studierten noch.

Cornelia entsprach den allgemeinen Vorstellungen einer italienischen Frau, gut aussehend, klein und schlank, doch mit durchaus sichtbaren Hüften und Busen, vollen dunklen Haaren, dunklen Augen, immer in chicer Kleidung und Schuhen mit hohen Absätzen, die sie nicht einmal heimlich unter dem Schreibtisch auszog (Clara hatte sie einmal gefragt). Heute trug sie ein dunkelblaues, auf Figur geschnittenes Kostüm, einen tomatenroten Pulli, dazu die schwarzen Haare, ein Bild wie aus dem Barock.

Auch Francesco entsprach dem Klischee eines Italieners: Er war etwas größer als seine Frau, vielleicht 1,75 Meter, wie sie immer elegant gekleidet, er besaß noch immer volles dunkles Haar, hatte dunkle Augen, nur eine Lesebrille brauchte er inzwischen.

Temperamentvoll waren alle beide, beide rauchten wie die Schlote, diskutierten und stritten sich lauthals, aber irgendwie schien das keinem von beiden etwas auszumachen und keiner schien dem anderen etwas übel zu nehmen. Clara hatte in den vergangenen zwei Jahren nie mitbekommen, dass sie nicht miteinander redeten, sich aus dem Weg gingen, dass sich Cornelia über ihn beschwerte.

Wenn sie mit Karl zu heftig redete, zog der sich schweigend hinter seine Zeitung oder seine Papiere zurück und sagte möglicherweise stundenlang kein Wort. Ein Widerwort wäre besser gewesen und hätte die Luft gereinigt.

Heute war ordentlich was los. Meistens handelte es sich um Flüge. Von und nach Venezuela fuhr kaum jemand mit dem Schiff und über Land von Brasilien oder Kolumbien aus reiste überhaupt keiner, es sei denn, er fuhr mit dem eigenen Jeep. Gute Kunden riefen an und bestellten Flüge, neue Kunden betraten das Büro und suchten Auskünfte. Einige waren leicht zufrieden zu stellen, andere meinten, die Fluggesellschaften flögen nur ihretwegen in der Weltgeschichte herum, sozusagen auf Zuruf. Es war schwierig, ihnen klarzumachen, dass das so nicht lief und schon gar nicht zu ihren Preisvorstellungen.

Clara hatte im Laufe der Zeit viel gelernt, sie konnte Flugverbindungen von und nach aller Herren Länder heraussuchen, telefonische Rückrufe in Spanisch, Englisch oder Deutsch erledigen, um sich zwei, drei mal zu versichern, dass alles klappen würde … und dennoch war nichts hundertprozentig. E-Mails waren zwar üblich, aber bei den Problemen mit der Elektrizität war man nie sicher, ob eine ankam. Beim Telefonieren merkte man wenigstens gleich, wenn die Leitung zusammenbrach. Wie überall gab es Tage, an denen alles wie am Schnürchen lief und andere, an denen man besser mit einem guten Buch im Bett geblieben wäre.

Am Nachmittag konnten sich die beiden Frauen eine Pause gönnen. Alle Flüge waren auf den Weg gebracht, diesmal sogar Bustouren für eine amerikanische Gruppe nach Puerto Ordaz und Barquisimeto arrangiert, Mietwagen waren bestellt und würden wohl auch geliefert werden. Und hoffentlich wurden wirklich brauchbare Wagen gebracht und nicht halb verrostete Dinger, die dem Aussehen nach spätestens im nächsten Ort auseinanderzufallen drohten und die die Kunden niemals akzeptieren würden, so dass Clara oder Cornelia erneut die Mietwagenfirma anrufen und andere Wagen bestellen müssten. Was bestenfalls nur ein paar Stunden dauerte, währenddessen die ungeduldigen Kunden im Büro herumsitzen, entweder jammern oder ihre Lebensgeschichten erzählen würden. Oder man musste sie in das beste Hotel am Platze – ins Hotel Intercontinental – verfrachten, wo sie auf Kosten des Hauses, nämlich des Reisebüros, den ganzen Tag essen, trinken und schwimmen würden. Dann musste man sie wieder abholen, sich nochmals ausführlich und wortreich entschuldigen, Ausfahrten erklären, ein weiteres Hotel heraussuchen und konnte froh sein, wenn sie einigermaßen zufrieden am späten Nachmittag von dannen zogen.

Heute lehnten sich Clara und Cornelia zufrieden zurück, zündeten sich Zigaretten an – Clara die erste des Tages, Cornelia schon die zwanzigste – und tauschten die Ergebnisse der Arbeit aus, ergänzten ihre Unterlagen, besprachen, wem noch schriftlich geantwortet beziehungsweise wer noch angerufen werden musste. Das teilten die beiden Frauen ohne Probleme unter sich auf. Immer gab es jemanden, den man besonders mochte oder der besonders schwierig war, jede der Frauen hatte ihre speziellen Fälle.

Man konnte endlich einmal einen Schritt vor die Tür tun und die nachmittägliche Hitze in sich aufnehmen. Blacky tat das ebenfalls. Ein Sandwich und ein Mineralwasser vom Bäcker nebenan konnte man sich holen und verzehren.

Postsendungen waren hereingereicht worden. Verschiedene Boten brachten Briefe und Päckchen, hier in Venezuela die übliche Methode, seine Zustellungen einigermaßen pünktlich zu erhalten. Eine Heerschar motorisierter junger Leute verdiente ihr Geld damit. Clara öffnete die letzte Sendung und entdeckte Flugscheine, die für einen guten Freund bestimmt waren, griff sofort zum Telefon, erreichte ihn noch in der Firma und teilte ihm die gute Nachricht mit: alle Unterlagen in Ordnung und komplett, alle bestätigt.

Manfred hatte noch zu arbeiten und überhaupt nicht die geringste Lust, noch ins Zentrum der Stadt zu fahren und vielleicht für einen Parkplatz fünfmal ums Karree kreisen zu müssen. Er war ein Frühaufsteher und bereits seit sieben Uhr in der Firma. Daher bat er Clara, ihm die Unterlagen nach Hause zu bringen.

Er arbeitete als Ingenieur in einer Fabrik für Plastikfolien im südlichen Industrie-Gebiet außerhalb Valencias, was bedeutete, dass er ungefähr eine halbe Stunde Fahrt von dort bis zu seinem Haus benötigte, wenn alles gut ging. Clara versprach vorbeizukommen, konnte aber noch nicht sagen, wann das sein würde. Das war ihm egal, seine Dienstreise sollte erst in gut zehn Tagen stattfinden.

Clara verließ mit dem erfreuten Blacky das Büro. Die Nachmittagshitze, die zwischen den Häusern hing, traf sie voll, aber es machte ihr nach der Kälte im Büro nichts aus. Sie ging einen anderen Weg zu ihrem Haus zurück, kaufte unterwegs noch Milch, Brot und Butter, fand Zeit für einen kleinen Schwatz mit dem Besitzer des Tante-Emma-Ladens, in dem sie meistens einkaufte. Blacky bekam ein Stück Wurst. Eine Gruppe junger Männer spielte auf dem Parkplatz des Supermarkts gegenüber von ihrem Hochhaus Fußball. Heute war noch fast alles zugeparkt. Die Jungs hatten sich nur eine kleine Ecke erobern können und kickten. Sie grüßten fröhlich, einige wohnten im Haus, man kannte Clara und ihren Hund. Ihren Mann Karl hätte wohl kaum einer erkannt, der ging früh und kam spät. Und unterhielt sich nicht mit den Leuten.

Der Aufzug funktionierte Gott sei Dank. Der Aufzugsführer, ein netter alter Mann, links neben der Tastatur auf einem hohen Stuhl sitzend, begrüßte sie erfreut und streichelte den Hund. Clara brachte ihre Einkäufe in die Küche, öffnete alle Fenster, um Durchzug zu bekommen, goss sich einen kleinen Cuba libre ein (ihre eigene Mischung aus Ron Cacique mit Tonicwasser auf Eis), ließ sich erleichtert in einen Sessel sinken und griff zur Zeitung. Der Hund streckte sich auf dem kühlen Boden aus.

Montag 16. September. Manfred und Luise.

Sie hatten Manfred und Luise Gardener vor etwa vier Jahren kennen gelernt, damals als Manfred seine Arbeit hier in Venezuela antrat. Von irgendeinem Vertreter hatte er Namen und Arbeitsplatz von Karl erfahren, gleich vom Hotel aus angerufen, und Karl hatte Clara mobilisiert. Sie hatte als Einzige Zeit, die beiden oder besser gesagt die vier, denn zwei 14jährige Söhne gab es auch noch, herumzufahren, um Häuser anzusehen.

Ungefähr ein Jahr lang hatten Gardeners zur Miete in El Trigal gewohnt, einer guten Wohngegend im Osten Valencias, hatten sich dann aber doch für den Hauskauf in Naguanagua entschieden. Ein eigenes, nicht zu großes Haus war leicht finanzierbar und hatte verschiedene Vorteile: Es lohnte sich, ein Dach über der Terrasse anbringen, in den Badezimmern gute Fliesen legen zu lassen und vielleicht doch noch ein weiteres Zimmer anzubauen. Diese Investitionen würden sich bei einem etwaigen Verkauf wieder auszahlen.

Die kleine Straße kreuzte die Avenida Bolivar in Naguanagua und fiel leicht zum Fluss Cabriales hin ab. Jeder Ort in Venezuela, der etwas auf sich hielt, hatte zumindest eine Plaza und eine Avenida Bolivar. Am Ende dieser Sackgasse, linker Hand, lag das Haus von Manfred und Luise Gardener. Davor ein kleiner Platz, auf dem Autos bequem wenden konnten. Die Kinder spielten dort, die Nachbarn standen oder saßen abends vor ihren Häusern und schwatzten miteinander. Zwischen den letzten Häusern auf der linken und rechten Seite war ein ungefähr 30 m breites und 1000 m tiefes Feld, nicht bebaut, sondern dicht mit hohem Gras, einigen Sträuchern und Bäumen bewachsen. Ab und zu sah man dort eine Kuh oder eine Ziege, oder auch kleinere nachtaktive Tiere wie Beutelratten herumlaufen.

Etwa einmal im Jahr zündete der Besitzer das ganze Gestrüpp an, es brannte lichterloh und verbreitete Rauch und den Gestank von verendeten Tieren in der ganzen Straße. Rußflocken flogen herum, und alle Anwohner standen mit Wasserschläuchen und Eimern in ihren Patios bereit, weil sie befürchteten, das Feuer könnte über die Mauern, die die Grundstücke umgaben, schlagen und Bäume oder Möbel entzünden.

Es war eine ruhige Straße, jeder kannte jeden. Nachts drehte der alte Nachtwächter seine Runden.

Clara und Luise waren sich gleich sympathisch gewesen, gingen einmal die Woche zusammen einkaufen, danach zur Massage bei Ana oder Schwimmen. Man sah sich ein, zwei mal die Woche abends, guckte bei der anderen auf einen Cuba libre und eine Zigarettenlänge herein. Aber das war nur in den ersten Monaten der Fall, dann fing Luise an zu arbeiten, und es blieb nicht viel Zeit für solche Treffen. Daher vereinbarten die beiden Frauen, mindestens einmal im Monat zusammen auszugehen, ohne Ehemänner. Die beiden Söhne hatten ohnehin ihr eigenes Programm.

Luise war, trotz aller Fähigkeiten im praktischen Leben, eine Träumerin. Der Traum von einem „Märchenprinzen“ war ihr immer geblieben. Sie hatte eine recht heftige Kindheit hinter sich, die Schulzeit war kurz gewesen, zu kurz für ihre Möglichkeiten, die – ausgebaut – eine erstklassige Karriere ergeben hätten. Sie hatte früh arbeiten gehen müssen, eine erste Ehe hinter sich gebracht, aus der die Zwillinge stammten. Als Manfred und sie vor Jahren heirateten, waren Wolfgang und David 8 Jahre alt. Hier in Valencia gingen die beiden Jungen in die Deutsche Schule, kamen gut mit, inzwischen hatte ihr letztes Schuljahr angefangen. Sie unternahmen alles gemeinsam, waren ständig zu allerlei Dummheiten aufgelegt und gehorchten wie ein Dackel, nämlich selten. Berufswünsche waren noch nicht geäußert worden. Führerschein, ein Auto und die damit verbundenen Freiheiten standen momentan absolut im Vordergrund.

So lebte die Familie glücklich bis ans Ende ihrer Tage, hätte man wie im Märchen sagen können, wenn nicht Luise Manuel kennen gelernt hätte. Er war der ältere Bruder von Nelson Espinoza, dem Mann, der als Einziger Claras Range Rover wieder in Gang bringen konnte, wenn der irgendwo stehen geblieben war und nicht wieder anspringen wollte. Nelson besaß zusammen mit seinem Vater eine kleine Werkstatt in der Altstadt. Natürlich war Luise dort schon gewesen, hatte entweder Clara abgeholt oder ihren eigenen Wagen, einen Renault, reparieren lassen. Und so hatte sie Manuel kennen gelernt, der gerade aushalf oder irgendwie herumlungerte. Er war recht gut aussehend mit seinem milchkaffebraunen Teint und dem kleinen Bärtchen, mittelgroß und schlank, vor allen Dingen jung – nicht wie Manfred, schon Mitte fünfzig.

War Manuel der Märchenprinz? In Claras Augen nicht. Aber die meisten Venezolaner sind die geborenen Verführer. Also begann eine Affäre, die so weit ging, dass Luise aus dem Haus in Naguanagua auszog und eine Wohnung für sich und Manuel mietete. Die Söhne waren anfangs geschockt, eine Mutter war aus ihrer Sicht keine Frau, aber sie fanden, sie würden bei Manfred besser leben können, vielleicht auch mehr Freiheiten haben und vor allen Dingen ihre gewohnte Umgebung nicht verlassen müssen. Manfred nahm es einigermaßen gelassen.

Luise hatte vor rund einem Jahr ein eigenes Geschäft eröffnet, in dem wundertätige Dinge verkauft und Beratungen zu allen möglichen und eigentlich unmöglichen Vorhaben und Lebenssituationen getätigt wurden. Es gab Kerzen in allen Farben und Größen, die man genau nach Vorschrift freitags bei Vollmond anzünden musste, Heiligenbilder, Statuen der hier in Venezuela verehrten Personen, sei es nun die Jungfrau Maria oder der Arzt José Gregorio Hernández, Silber- und Goldketten mit Kreuzen verschiedenster Art. Viele andere kleine Dinge, wie Halbedelsteine, silberne Sterne, goldene Monde und Halbmonde, geschnitzte Figuren und Anhänger aus verschiedenen Materialien warteten in unzähligen durchsichtigen Schächtelchen in wandhohen Regalen. Man konnte Beschwörungen bestellen, sich kleine Säckchen mit Düften und Kräutern zusammenstellen lassen, um andere Personen zu betören oder abzuschrecken. Es gab einfach alles, um mit Situationen im Leben fertigzuwerden, die man allein nicht schaffen, aber mithilfe der Götter stemmen würde.

Nun lebte Luise mit Manuel zusammen. Der hatte seine vorübergehende Freundin samt Kind verlassen, auch nur vorübergehend, wie sich später herausstellen sollte; Besuche waren wegen des Kindes immer mal nötig. Er zeigte sich auch im Geschäft, lebte hauptsächlich auf Luises Kosten, fühlte sich aber anscheinend wohl in dieser Rolle.

Alle schienen zufrieden.

Sonntag 8. September. Am frühen Nachmittag.

Der Mann ergriff seine Reisetasche, warf sich den Riemen über die Schulter, zog den Koffer hinter sich her und ging durch die volle Nachmittagssonne ein Stück über das Flugfeld zum Ausgang des Flughafens von Puerto Cabello.

Die kleine Maschine war voll ausgebucht gewesen. Man hatte die Koffer einfach auf einen kleinen Wagen, eine Art größere Schubkarre, geladen und die Passagiere gebeten, sich ihre Gepäckstücke selbst herauszusuchen. In Puerto Cabello stieg etwa die Hälfte der fünfzig Passagiere aus, andere stiegen zu, um weiter nach Maracaibo zu fliegen. Vor dem Flughafen langweilte sich ein einziger Taxifahrer, er hatte nicht einmal Kollegen zum Schwatzen. Also saß er bei offener Tür in seinem heißen, alten Auto und blätterte in einer Zeitung.

Der Mann riss eine der hinteren Türen auf, der Taxifahrer sprang erstaunlich beweglich aus dem Wagen, erfreut, doch noch einen Fahrgast zu bekommen, öffnete den Kofferraum und verstaute Koffer und Tasche.

»Heißer Tag heute«, sagte er und setzte sich hinter dem Steuer zurecht, dabei war es auf Meereshöhe eigentlich immer heiß und schwül.

»Hm«, sagte der Mann. Er hatte es sich, so gut es ging, auf dem Rücksitz bequem gemacht. Das war gar nicht so einfach, mit den alten zerrupften Polstern, die mehr als gut angewärmt waren.

»Na, wohin fahren wir denn?« fragte der Fahrer und versuchte, den Taxameter anzuschalten, was nicht gelang. Wahrscheinlich gelang das nie, weil der Fahrer auf diese Weise bessere Preise aushandeln konnte. Aber das war dem Mann egal.

»Nach Puerto Cabello bitte«, sagte er.

Der Fahrer plauderte vergnügt, guckte ab und zu in den Innenspiegel, um eine Reaktion zu sehen oder Antworten zu bekommen. Es kamen keine. Der Mann hatte eine große Sonnenbrille auf, sah aus dem Fenster, ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht blasen. Den Fahrer störte das Schweigen nicht, er fuhr und redete einfach weiter.

Nach etwa fünfzehn Minuten hatten sie Puerto Cabello erreicht. Die ersten Häuser kamen in Sicht, die ersten Geschäfte, auf der rechten Seite Eisenwaren- und Baustoffhandlungen mit ausgedehnten Lagerplätzen, auf der linken Seite Autohändler mit großen Parkplätzen, alle durch Mauern geschützt. Ein paar Wohnhäuser dazwischen. Die Straße war immer noch doppelspurig. Auf dem Mittelstreifen wuchsen verstaubte Palmen vor sich hin.

Schließlich sagte der Mann zu dem Fahrer, er solle an der nächsten Ecke halten. Er stieg aus, der Fahrer ebenfalls, stellte Koffer und Reisetasche auf die staubige Straße, nannte einen Preis. Der Mann runzelte die Stirn, murmelte etwas Unverständliches, zahlte aber ohne zu handeln. Nachher ärgerte sich der Taxifahrer, nicht mehr verlangt zu haben. Er fragte noch, ob er ihm mit dem Gepäck behilflich sein solle. Sie standen schließlich ohne ersichtlichen Grund an einer Straßenecke. Doch der Mann winkte ab und zündete sich eine Zigarette an.

Ein wenig unmutig stieg der Fahrer in seine alte Karosse und fuhr langsam los, damit der Mann noch die Möglichkeit hätte, ihn zurückzurufen. Aber das geschah nicht. Der Fahrer sah noch eine Weile in den Rückspiegel, der Mann stand im Halbschatten und rauchte, sein Gepäck neben sich.

Als das Taxi schließlich ein ganzes Stück entfernt war, ergriff der Mann sein Gepäck und überquerte die Straße. Auf der anderen Seite betrat er die gläserne Halle eines Ford-Gebrauchtwarenhändlers, bei dem ein Mietwagen für ihn bereitstehen sollte. Es war ein Ford Mondeo, ein älteres Modell, grün, mit wenigen Beulen, sah stabil aus, war angemeldet und voll getankt. Er unterschrieb ein Papier, bekam die Autoschlüssel, sagte, er kenne das Modell, als ihm der Händler eingehend die Handhabung erklären wollte. Ein Pass wurde nicht verlangt. Er verstaute sein Gepäck und fuhr vom Hof.

Nach Valencia fuhr er ungefähr eine Dreiviertelstunde, fast alles Autobahn. Es war ein angenehmes Fahren, die Klimaanlage funktionierte, der Wagen lief tadellos, federte angenehm die Unebenheiten der Straße ab. Er war schon öfter in diesem Land gewesen, meist für kleinere Aufträge. Diesmal war die Sache größer, alles schien gut organisiert, die Bezahlung war gut, er fühlte sich wohl. Er liebte überhaupt das heiße Klima, sprach Spanisch fast ohne Akzent, was wohl den Ausschlag für seine Beauftragung gegeben hatte. Er konnte überzeugend mit Leuten reden, strahlte Sympathie und Ruhe aus. Auch wenn er ziemlich groß war, gut 1,85 m, konnte er sich unauffällig bewegen und sich fast unsichtbar machen.

Bisher war er nur zwei Mal festgenommen worden, einmal in den USA und einmal in Deutschland, die Polizei hatte ihn jeweils ausführlich befragt, es gab aber nur wenige Daten über ihn. Und überhaupt traute er der venezolanischen Polizei nicht viel zu. Die Streifenpolizisten waren ein unorganisierter Haufen, der lieber schwatzte und Kaffee trank oder den Frauen hinterher pfiff. Nur auf die Nationalgarde musste man achten, sie war straff organisiert und galt sogar als unbestechlich. Es gab neben der Kriminalpolizei noch die DISIP, aber von der letzteren hatte er noch nie einen zu Gesicht bekommen. Vermutlich bewegten sich die Angehörigen dieser Truppe eher in Caracas und passten auf den Präsidenten auf.

Er hatte seine Anweisungen erhalten, hatte Namen und Adressen im Kopf, die Straßenkarten und den Stadtplan auf dem Flug aus den USA nochmals ausführlich studiert, sodass er sich ohne nochmals hinzuschauen zurechtfand. Kurz vor Valencia gleich nach der Mautstelle nahm er die Ausfahrt nach Naguanagua, bog dann rechts in die Avenida Bolivar ein und folgte ihr bis zur Calle 188. Direkt an der Ecke befand sich ein Hochhaus, das zwischen den niedrigen, zum großen Teil nur ein- und zweistöckigen Häusern reichlich fehl am Platze war. Dort sollte eine möblierte Wohnung für ihn gemietet worden sein.

Er fand einen Parkplatz fast direkt vor dem Eingang. Kinder spielten Ball, junge räudige Hunde tollten herum, vor dem kleinen Laden standen Leute, unterbrachen ihr Gespräch, beobachteten interessiert seine Ankunft und würden ihn in Kürze vergessen haben.

Die Conserje wohnte gleich unten im Erdgeschoss links. Ihre Wohnungstür stand weit offen, damit wenigstens ein bisschen Durchzug herrschte. Er klingelte, eine Frau erschien in einem geblümten Kittel mit einem Kleinkind auf dem Arm. Er fragte nach der Wohnung. Sie wusste sofort Bescheid, rief ihre ältere Tochter herbei, übergab ihr das Kleinkind und ergriff ein Schlüsselbund. Er wollte die Schlüssel übernehmen, aber die ließ sie nicht aus der Hand, führte ihn zum Aufzug (die Wohnung lag in der siebenten Etage) und fuhr mit ihm nach oben, unablässig redend. Sie erklärte ihm alles und jedes, wie der Aufzug, das warme Wasser, der Küchenherd, die Fenster, die Balkontür funktionierten, es nahm kein Ende. Er musste gar nichts sagen, nur ab und zu murmelnd Verstehen signalisieren. Schließlich erkundigte sie sich nach seiner Arbeit, er war als Berater einer Chemiefirma angekündigt worden, und wollte ihm den Weg in das Industrie-Gebiet erklären. Er dankte und sagte, er kenne den Weg, er wäre schon mehrmals hier gewesen.

- Mehrmals? Na, das wäre ja wenigstens eine Information, wenn er ansonsten ja nicht der Gesprächigste sei …

- Er sei müde vom Flug und der Zeitumstellung, meinte er kurz.

Endlich ging sie, versprach aber noch, ihm eine große Wasserflasche bringen zu lassen. Ihr ältester Sohn würde das gerne tun.

Der Mann sah sich in der Wohnung um. Sie war nicht groß, Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer, Bad, Küche und ein kleiner Flur über etwa 70qm verteilt. Die üblichen Klappfenster, ein Balkon, die hölzerne Wohnungstür machte keinen stabilen Eindruck, natürlich kein Vollholz und nur ein normales Schloss. Ein fester Tritt und sie würde aus den Angeln fliegen. Die Möbel sahen nur wenig gebraucht aus, bequeme Sessel standen im Wohnzimmer, auch ein Esstisch und vier Stühle, in jedem Schlafzimmer ein Bett, eingebaute Schränke wie hier üblich. Das reichte ihm völlig.

Er packte seine Sachen aus, hängte Hosen und Jackett in den Schrank, räumte seine übrigen paar Sachen in die Schubladen. Die Reisetasche enthielt einige Kartons mit Computer-Teilen, die der offizielle Grund seiner Reise waren, im Koffer lagen Pistole, eine Beretta, Schalldämpfer und Munition, auseinander genommen und in Einzelteilen in die Wäsche eingerollt.

Er ging noch einmal nach unten, diesmal über das Treppenhaus, entdeckte dabei einen Hinterausgang, der in einen offenen Hof führte, von dem aus man ungesehen die Straße erreichen konnte. Die Tür war geschlossen, aber nicht abgeschlossen. Ob sie das nachts auch war, würde er noch in Erfahrung bringen müssen. Er schlenderte zur nächsten Ecke, sah sich um, kaufte etwas zum Essen ein, Brot, Käse, Schinken und Obst, auch einige Dosen des guten Biers. So versorgt ging er zu seiner Wohnung zurück und setzte sich mit einer Dose Bier und Zigaretten auf den Balkon.

Der Balkon lag nach Osten. Direkt neben dem Hochhaus befand sich eine kleine Siedlung aus etwa 50 Einfamilien-Häusern. Er konnte auf einem Stuhl sitzend, in die Patios und Gärten der Häuser sehen, zumindest in die auf der rechten, der südlichen Seite der Straße.

Er nahm ein Fernglas aus dem Koffer und suchte damit die Gegend ab. Keiner konnte ihn sehen, so gut gedeckt saß er hinter der Balkonbalustrade. Die untergehende Sonne berührte das Fernglas nicht, so dass nicht einmal aufblitzende Gläser ihn verrieten. Das Haus, das er suchte, musste in dieser Sackgasse liegen. Er würde sich in den nächsten Tagen unauffällig umsehen, damit er in Bezug auf die Lage des Hauses und seine Bewohner sicher sein konnte.

Die Sonne ging schnell unter, die Straßenlaternen leuchteten auf, und um den Lichtschein begannen Mücken und Fledermäuse ihren Tanz …

Montag 9. September. Tagsüber und gegen Abend.

Der Mann hatte gut geschlafen, wanderte jetzt geruhsam die Treppe hinunter, verließ das Haus durch den Hof und wandte sich auf der Avenida Bolivar nach links. Eine Straßenecke weiter fand er ein kleines Café, in dem er ein Frühstück, bestehend aus Kaffee und belegten Brötchen, bekam. Er blieb eine Weile sitzen, bestellte einen zweiten großen Kaffee, rauchte und beobachtete die vorübergehenden Leute. Lebhaftes Treiben. Die Leute gingen mit ihren Einkäufen vorbei, blieben auf einen Schwatz stehen oder traten ein und tranken einen Kaffee. Niemand beachtete ihn.

Schließlich bezahlte er, kaufte nebenan eine Zeitung und schlenderte zurück, ging aber an dem Hochhaus, in dem er wohnte, vorbei und bog nach rechts in die kleine Straße, die Calle Cabriales, ein. Hier fand er schon mehr Beachtung. Die kleinen Häuser rechts und links waren ausschließlich von Familien bewohnt. Es gab keine Büros oder Geschäfte. Die Familienmütter waren mit den kleineren Kindern zu Hause, standen in den Vorgärten und plauderten über Mauern und Zäune hinweg mit den Nachbarinnen, während die Kinder herumwuselten. Da fiel schon einmal dieser und jener Blick auf den hochgewachsenen Mann.

In einem Auto wäre es vielleicht unauffälliger, dachte er, aber nun war es zu spät. Jetzt schnurstracks umzudrehen, wäre noch auffälliger gewesen. Also ging er langsam in der Mitte der Straße weiter, mal einen Blick nach links und einen nach rechts werfend. Dabei versuchte er, die Hausnummern zu entdecken, die auf den üblichen kleinen schwarzen Metallschildern meist ziemlich hoch an den Hauswänden angebracht und leider schlecht zu entziffern waren. Einige Häuser schienen gar keine Nummern zu haben. Zu dicht an die Gartenzäune herangehen mochte er auch nicht, das hätte noch mehr neugierige Blicke und womöglich Fragen hervorgerufen. Aber da er zumindest an jedem dritten Haus die Nummern sehen konnte, reimte er sich rasch die Reihenfolge zusammen.

Die Nummern bestanden aus zwei Ziffern, die erste gab die Straße an – hier also die Nummer 188 – und die zweite die eigentliche Hausnummer, getrennt durch einen Bindestrich. Linker Hand lagen die Häuser mit den ungeraden und rechts die mit den geraden Zahlen. Als er die Straße ganz hinunter gegangen war und den kleinen Platz am Ende erreicht hatte, zündete er sich in aller Ruhe eine Zigarette an. Die meisten Leute waren inzwischen ohnehin durch den Eiswagen abgelenkt worden, der klingelnd die Calle Cabriales herunterkam und auf die Rufe der Bewohner hin anhielt.

Das gesuchte Haus musste also das letzte auf der linken Seite sein. Eine Nummer konnte er zwar nicht recht sehen, da es fast vollständig von einer Bougainvillea überwuchert wurde, die ihre leuchtend rot-lila Blüten übermütig herumwarf. Da das letzte Haus auf der rechten Seite die Nummer 188-88 trug, musste gegenüber 188-89 liegen. Er setzte sich auf die niedrige Mauer, die das Feld begrenzte, und sah sich um.

Vorgarten und Wagenabstellplatz wurden nach vorne zur Straße hin durch ein solides Gitter eingefasst, dessen kleine Tür selbstverständlich abgeschlossen und dessen großes Tor noch zusätzlich durch eine Kette gesichert war. Links schloss das nächste Haus direkt an. Erfreulicherweise waren hier alle Häuser nur einstöckig mit einem Flachdach.

Rechts neben und hinter dem besagten Haus lag ein Feld mit fast hüfthohem, halb vertrockneten Gras und allerlei Sträuchern, aber Haus und Patio waren seitlich und hinten von hohen Mauern umgeben, die oben mit Glassplittern ausgiebig bestückt waren. Na, das Problem ließe sich wohl lösen, sollte er über die hintere Mauer steigen müssen, was durchaus noch nicht sicher war.

Es schien niemand im Hause zu sein, die Fenster waren geschlossen, man hörte keine Musik, auch ließ sich kein Dienstmädchen blicken, das etwa Lappen ausschüttelte, Müll heraus trug oder den Boden wischte. Ein Auto stand auch nicht da. Er wusste nicht genau, wie viele Personen das Haus bewohnten, das musste er noch herausfinden. Ebenso wie das Kommen und Gehen. An sich hatte er Zeit genug für seine Beobachtungen. Aber er wollte seinen Auftrag schnell erledigen, damit die Leute in der Umgebung sich seiner nicht zu gut erinnerten. Also galt es, in seine Wohnung zurück zu gehen und sich mit dem Fernglas auf die Lauer zu legen.

Als am Ende des Tages die Dunkelheit hereingebrochen war, hatte er herausgefunden, dass drei Personen in dem Haus aus- und eingingen. Zwei halbwüchsige Jungen waren am frühen Nachmittag aufgetaucht. Andere Jungen waren gekommen, und alle zusammen waren schwatzend und lachend wieder weggegangen. Das mussten die Kinder sein. Eigentlich komisch, von Kindern war die Rede gewesen, von Halbwüchsigen nicht. Aber darüber konnten die Ansichten verschieden sein. Der Hausherr war erst am späten Nachmittag angekommen, nach 18 Uhr. Der Mann sah ihn Einkäufe vom Auto ins Haus tragen und den Vorgarten sprengen. Wo war die Frau?

In der Straße wurde es lauter, die Geräusche drangen bis zu ihm in die siebente Etage. Die Bewohner kamen von ihrer Arbeit zurück, Musik spielte, die Leute standen vor ihren Häusern (jetzt auch die Männer), tranken Bier und unterhielten sich. Erneut kam der Eiswagen, dann das Drei-Rad-Gefährt mit den Perros Calientes. Die Straßenbeleuchtung war so hell, dass er die Menschen auf der Straße gut beobachten konnte, er selbst stand im Dunkeln. Nur vom letzten Haus, das ihn als einziges interessierte, konnte er nicht viel sehen. Auf der ihm zugekehrten Vorderseite tat sich nicht viel. Ab und zu gingen die Jungs zwar hinaus und ein paar Häuser weiter zu Freunden, aber das hauptsächliche Leben spielte sich wohl im Patio ab und der lag nach der hinteren, der nördlichen Seite.

Wie auch immer, er würde an einem der nächsten Tage die Mauer näher untersuchen. Aber dazu brauchte er eine Machete, um sich den Weg an der Mauer entlang frei schlagen zu können.

Dienstag 10. September. Tagsüber.

Der Mann betrat die Eisenwarenhandlung auf der Avenida Constitución. Die Verkäufer waren alle beschäftigt, daher betrachtete er erst einmal die unzähligen Gegenstände, die angeboten wurden. Die Wände des Ladens waren mit alten hölzernen Regalen und Schubfächern bedeckt, in denen Schrauben, Nägel, Haken und Ösen, Muffen und andere unzählige Kleinteile lagerten. Von der Decke hingen an Haken und Ketten größere Handwerkszeuge wie Spaten und Sägen. Der Laden war von oben bis unten voll gestopft, man musste den herunterhängenden und den auf dem Boden stehenden Teilen ausweichen, stolperte über Handwasch- und Toilettenbecken, in denen sich Dichtungen und anderes Zubehör stapelten. Dazwischen standen Metall- und Plastiktonnen, die man sowohl für den Abfall als auch als Wassergefäße nutzen konnte.

Er verlangte eine Machete, ihm wurden mehrere gebracht, kurze und lange, mit breiten und mit eher schmalen Klingen, und sofort äußerten sich sämtliche Anwesende über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Modelle. Diese konnte man leichter schwingen, jene eignete sich eher für feste Äste und kleinere Bäume, die andere hatte einen besseren Schwerpunkt, eine weitere einen längeren Griff … Er nahm eine Machete mit langer Klinge. Er war nicht geübt in der Handhabung dieses Werkzeugs, meinte aber instinktiv, die längere Klinge würde ihm bessere Dienste leisten. Sie wurde in Zeitungspapier eingewickelt, und er verließ zufrieden den Laden, um gleich nebenan einen weiteren Kaffee zu trinken und eine weitere Zigarette zu rauchen.

Langsam ging er wieder die kleine Straße hinunter, die Sonne schien noch nicht so heftig, es wehte eine leichte Morgenbrise. Am Feld angekommen, wickelte er die Machete aus, ging wie selbstverständlich außen an der Mauer entlang und versuchte, hohe Grasbüschel und Sträucher aus dem Weg zu räumen. Es ging besser, als er gedacht hatte. Die Machete war gut geschliffen, Kraft hatte er auch, so schlug er sich einen kleinen Pfad direkt an der Mauer entlang. Die Mauer machte eine leichte Biegung nach links, der Boden stieg an, so dass er aufgrund seiner Größe mit den Händen die Mauerkrone erreichen konnte. Das nutzte ihm momentan aber gar nichts, da sie mit Glassplittern besetzt war und er nichts bei sich hatte, was er darüber hätte werfen können, um sich dann hochzuziehen.

Hier bewegte sich kein Lüftchen, der Schweiß lief ihm schon herunter, als er einen kleinen Baum erreichte, der gut einen Meter entfernt von der Mauer wuchs. Er hatte sich vorgenommen, zumindest einen Blick in den Patio zu werfen. So erkletterte er den leicht schwankenden Baum, schob sich vorsichtig an die Mauer heran (die eher schmalen Äste hielten ihn Gott sei dank aus) und warf einen Blick hinüber. Der Patio war recht groß, zwei Palmen spendeten reichlich Schatten, verschiedene Pflanzen in Töpfen breiteten verschwenderisch ihre grünen Blätter aus, links standen eine Werkbank und ein Grill, Wäsche hing auf der Leine, es gab ein Dach über der Terrasse, schöne Korbmöbel um einen Holztisch luden zum gemütlichen Sitzen ein, und dann sah er die Treppe. Sie führte vom Patio auf das Dach. Was für ein Glücksfall! Er brauchte sich also nur von der Seite her auf das Dach zu schwingen und konnte über die Treppe in den Patio gelangen. Ein Papagei, ein Ara, saß frei auf einer Stange, legte den Kopf schief (wie Vögel es nun einmal tun), sagte aber nichts. Aber selbst wenn er kreischen würde, hielte man das in dieser Gegend vermutlich für normal. Es war nicht zu erwarten, dass die Leute deswegen zusammenlaufen würden.

Zufrieden kletterte er wieder hinunter und ging zurück zu dem kleinen Platz. Seine Kleidung sah etwas mitgenommen aus, das Hemd war verschwitzt, seine Hose hatte Flecke, aber so, mit der Machete in der Hand und der Zigarette im Mund, sah er fast aus wie ein Einheimischer. Jedenfalls fiel er weniger auf als mit diesen ordentlich gebügelten Sachen, auf die er so großen Wert legte.

Es war Zeit für eine Pause, auch um die Mittagshitze zu überbrücken. In der Wohnung nahm er erst einmal eine Dusche, trank ein Bier und blickte noch einmal mit dem Fernglas zu dem Haus. Der obere Teil des Treppengeländers war von dieser Seite aus kaum zu entdecken, außer wenn man von seinem Vorhandensein wusste. Auf dem Dach befanden sich eine große Antenne, verschiedene Kabel und ein Regenwasserabfluss, die den Einstieg halbwegs verdeckten.

Dann suchte er die Kartons mit den Computerteilen zusammen und packte sie wieder in die Tasche. Die musste er noch abliefern, eine Empfangsbestätigung bekommen und damit seine Anwesenheit in dieser Stadt rechtfertigen. Er suchte schon mal die Adresse des Computergeschäfts und einen Stadtplan hervor. Das Geschäft befand sich in einem der Einkaufszentren von Valencia und war über eine der großen Avenidas leicht zu erreichen.

Da die meisten Geschäfte eher eine lange Mittagspause abhielten und dafür abends geöffnet hatten, blieb ihm reichlich Zeit. Er bereitete sich eine Mahlzeit aus Fleisch und Salat zu, versuchte, amerikanische Nachrichten im Fernsehen zu finden, was ihm nicht gelang, und legte sich für eine halbe Stunde aufs Sofa. Später setzte er sich wieder mit dem Fernglas auf den Balkon und beobachtete das Kommen und Gehen in der kleinen Siedlung. Unterschiedlich angestrichene Häuser, unterschiedlich gestaltete Patios und Vorgärten, aber das gleiche Bild wie gestern: die Frauen und kleineren Kinder waren zu Hause, die älteren Kinder (auch in diesem Land mit Schuluniformen bekleidet) stiegen nach und nach aus ihren Schulbussen und eilten nach Hause. Hunde bellten. Der Eiswagen fuhr die Straße hinunter. Musik ertönte.

Im vorletzten Haus auf der linken Seite regte sich das ältere Ehepaar, das dort wohnte. Der Mann rangierte den Wagen mühsam aus dem Vorgarten, die Frau stieg ein, dann fuhren sie weg. In dem letzten Haus auf der rechten Seite hingegen gab es offenbar nur kleine Kinder, die noch gar nicht zur Schule gingen, sie planschten friedlich im Patio in einem kleinen Becken. Die Frau kam ab und zu heraus, warf einen Blick auf ihre Sprösslinge und beschäftigte sich mit der Wäsche.

Zwischen den einzelnen Patios hinter den Häusern lagen mehr als mannshohe Mauern, so dass die Nachbarn sich nicht sahen, sondern allenfalls hörten. Das bedeutete, dass sie ihn nicht beobachten konnten, wenn er dort auf den Hausherrn wartete. Sie konnten höchstens seine Gänge die Straße hinunter und hinauf beobachten, aber je öfter er das tat, umso selbstverständlicher würde das aussehen und umso weniger würde er auffallen.

Am Abend stellte er fest, dass der Tag in dem bewussten Haus wie immer verlaufen war: die Jungs waren wieder am frühen, der Hausherr am späten Nachmittag zurückgekommen, eine Frau war nicht zu sehen.

Er nahm sich noch einige Beobachtungstage vor, bis er sicher sein konnte, dass dies wirklich der normale Ablauf war. Nur, wenn die Jungs im Hause waren, musste er damit rechnen, dass auch sie im Patio saßen, dass Freunde kamen und gingen, dass mehr Leben herrschte. Wohl kaum der Moment, ein bis zwei Schüsse abzugeben und sich schnell zurückzuziehen. Vielleicht fuhren die Jungs am Sonnabend oder Sonntag den Tag über an die Playa. Aber an den Wochenenden arbeiteten die Leute nicht, so dass mehr in der Straße los sein würde. Das konnte ein Vorteil sein oder auch nicht.

Daher war es besser, die Computer-Teile am nächsten Tag abzugeben, Vorräte einzukaufen und sich auf dem Balkon einzuigeln, um in Ruhe abzuwarten. Schließlich war er erst zwei Tage da.

Außerdem sollte er vielleicht doch noch einen Besuch bei seiner Großtante Hedwig machen, die seit über 45 Jahren in Valencia wohnte, seitdem sie damals nach dem Krieg mit ihrem Mann hierher ausgewandert war. Soweit der Mann informiert war, lebte der Großonkel nicht mehr und es war auch nicht sicher, ob die Idee überhaupt gut war. So würde er noch bei weiteren Personen im Gedächtnis bleiben. Andererseits war ein Familienbesuch unauffällig, und das Alter der Großtante gab ihm einen guten Grund, in dieses Land gereist zu sein, sollten da jemals Fragen auftauchen.