image

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

1.

Die australische Küste lag querab: eine unregelmäßige grünlich-braune Linie über dem weißen Strich der Brandung.

Die „Isabella VIII.“ rauschte mit halbem Wind unter Vollzeug westwärts. Das Wasser war fast so blau wie der makellose Himmel. Eine handige Brise wehte und ließ das lange schwarze Haar des Seewolfs flattern. Philip Hasard Killigrew stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells, kniff die eisblauen Augen zusammen und versuchte zu ergründen, was ihm an diesem Bilderbuch-Wetter nicht gefallen wollte.

Die paar fedrigen, geblich-weißen Wölkchen im Süden?

Er kannte das Wetter in dieser Gegend nicht besonders gut, aber er hatte ein Gespür für Wind und Wellen, für den Geschmack der Luft und die unmerklichen Veränderungen der Atmosphäre, die sich nicht mit dem Verstand, sondern nur instinktiv erfassen ließen. Er war nicht der einzige. Neben ihm starrte sein Bootsmann Ben Brighton ausdauernd die fedrigen Gebilde über der Kimm an. Old Donegal Daniel O’Flynn rieb an seinem Beinstumpf herum und schimpfte brummelnd über die Gegend, die er als gewissen edlen Körperteil der Welt bezeichnete. Unten auf der Kuhl fluchte Edwin Carberry, der eiserne Profos, daß es nur so rauchte. Aber das besagte nicht viel, da er es immer tat, und außerdem einen guten Grund hatte.

Philip und Hasard, die neunjährigen Söhne des Seewolfs, waren nämlich wie die Kastenteufel aus dem Kombüsenschott geflitzt und ihm genau vor die Füße gelaufen.

In der Kombüse schepperte etwas. Im nächsten Augenblick sauste auch der Kutscher, Koch und Feldscher auf der „Isabella“, aus dem Schott – mit einem langen Holzlöffel in der Rechten.

Er rannte genau in den Profos hinein.

Da Edwin Carberry einen Brustkasten wie ein Bierfaß und die Standfestigkeit des Londoner Towers hatte, prallte der Kutscher drei Schritte zurück und wäre fast wieder in der Kombüse gelandet. Im letzten Moment fing er sich und holte tief Luft. Gegen den eisernen Profos nahm er sich eher mickrig aus: ein mittelgroßer, etwas schmalbrüstiger Mann mit dunkelblonden Haaren. Bevor ihn eine Preßgang des damaligen Kapitäns Francis Drake kurzerhand zum Seemann befördert hatte, war er Kutscher bei Doc Freemont in Plymouth gewesen. Kutscher wurde er immer noch genannt. Ansonsten verstand er heute nicht mehr so recht, wie es ein vernunftbegabter Mensch länger als ein paar Tage an Land aushalten konnte.

„Du Holzklotz!“ fauchte er jetzt. „Mußt du unbedingt im Weg herumlatschen, wenn ich …“

„Sagtest du Holzklotz, du mißratener Kochlöffel-Schwinger?“ raunzte der Profos. „Überhaupt, was soll der verdammte Kochlöffel? Willst du damit vielleicht das Bilgewasser umrühren, was, wie?“

„Nein, aber diesen beiden Teufelsbraten den Hintern verdreschen! Verdammt, wo sind sie denn jetzt schon wieder?“

Von den Zwillingen war keine Spur mehr zu sehen. Philip Hasard Killigrew kratzte sich am Kopf, weil er mal wieder väterliche Pflichten auf sich zurücken sah.

„Was ist los, Kutscher?“ fragte er knapp.

„Deine Söhne klauen Rosinen, Sir!“ meldete der Kutscher erbost.

„Dann verdrisch sie“, erklärte Hasard gelassen.

„Aye, aye, Sir. Aber dazu muß ich sie erst finden, und inzwischen brennt mir die Suppe – die Suppe …“

Das letzte war ein Schreckensschrei.

Wie von einem Marlspieker gepiekst fuhr der Kutscher herum und raste in seine Kombüse, aus der feine weiße Rauchschwaden drangen. Das Schott knallte zu. Hasard grinste, denn im selben Augenblick erschienen seine Söhne wieder auf der Bildfläche. Sie kauten noch. Ausgerissen waren sie nämlich nicht, weil sie sich einbildeten, der gerechten Strafe entgehen zu können, sondern weil sie neben dem Schaden wenigstens auch den Genuß haben wollten.

Vorerst allerdings wurde das Donnerwetter aufgeschoben.

„Deck!“ erklang Bills Stimme aus dem Großmars. „Mastspitzen Backbord voraus!“

Und das führte dazu, daß sich in den nächsten Minuten niemand mehr um die wenig zerknirschten Missetäter kümmerte.

Der Seewolf enterte ein Stück in die Besanwanten und setzte das Spektiv an. Mastspitzen waren in dieser Gegend äußerst selten. Ob sie etwas Gutes bedeuteten, durfte bezweifelt werden. Gespannt schwenkte Hasard die Kimm ab – und dann mußte er kräftig schlukken, um den Anblick zu verdauen.

Mastspitzen, ja, aber ein ganzer Wald davon.

Mindestens vier Schiffe, vielleicht noch mehr. Sie kamen von Südwesten und liefen mit raumem Wind Nordost-Kurs. Ein Kurs, der – falls er beibehalten wurde – den der „Isabella“ kreuzen würde.

Hasard runzelte die Stirn und ließ das Spektiv sinken. Mit einem Sprung stand er wieder auf dem Achterkastell.

„Bill!“ rief er. „Behalte die Schiffe im Auge und melde jede Veränderung ihres Kurses! Außerdem will ich wissen, wie die Kähne aussehen.“ Und zu seinem Bootsmann: „Wir machen gefechtsklar, Ben. Stückpforten bleiben vorerst geschlossen. Wenn die Burschen friedliche Absichten haben, soll es an uns nicht liegen.“

„Aye, aye, Sir! Klar Schiff zum Gefecht überall! Kugeln, Kartuschen und Sandsäcke an Deck! Al, laß die Kanonen bemannen.“

„Aye, aye! Klar bei Culverinen und Drehbassen! Smoky, Stenmark, ihr lahmen Rübenschweine …“

Der schwarzhaarige Stückmeister war in seinem Element, strich wie ein grollender Geist über das Geschützdeck und überzeugte sich, daß alles in Ordnung war. Er wußte, daß er keinerlei Grund zu Beanstandungen finden würde. Aber der ruhige, stämmige Al Conroy war ein Mann, der einer Sache grundsätzlich erst traute, wenn er sie mit eigenen Augen untersucht hatte.

„Deck!“ tönte Bills Stimme aus dem Großmars. „Ich kann sechs Schiffe erkennen, in Kiellinie gestaffelt. Ein Viermaster als erstes Schiff. Der sieht – eh – irgendwie komisch aus.“

Ed Carberry, der gerade Blacky anbrüllte, die gottverdammten Kettenkugeln gefälligst schneller zu mannen, hielt verblüfft inne.

„Komisch?“ röhrte er. „Sagtest du komisch, du halbflügge Bettwanze? Ist das vielleicht eine anständige Meldung, was, wie?“

„Weiß ich nicht“; sagte Bill aus seiner sicheren Höhe ziemlich trocken. „Aber der Viermaster ist nun mal komisch.“

Dem Profos blieb die Luft weg.

Hasard schüttelte den Kopf. „Dan!“ schrie er.

„Sir?“

Der schlanke, blondhaarige junge Mann tauchte neben ihm auf. Donegal Daniel O’Flynn junior gehörte zur Schiffsführung und befaßte sich vorwiegend mit navigatorischen Aufgaben. Aber er hatte immer noch die schärfsten Augen an Bord, und die wurden jetzt gebraucht.

Der Seewolf drückte ihm das Spektiv in die Hand. „Enter auf und wirf mal einen Blick auf den ‚komischen‘ Viermaster!“

„Aye, Sir.“

Dan flitzte den Niedergang hinunter und enterte geschickt wie eine Katze in die Wanten. Hasard beobachtete ihn und dachte flüchtig an die Zeiten, als der junge O’Flynn noch das sechzehnjährige Bürschchen mit dem unschlagbar frechen Mundwerk gewesen war. Jetzt hatte sich auch Bill, der frühere Moses, zum Mann entwickelt. Und auf der „Isabella“ wuchsen gleich zwei Schiffsjungen heran, die das Zeug hatten, einmal ausgezeichnete Seeleute zu werden.

Auf der Plattform im Großmast warf Dan O’Flynn einen langen Blick durch das Spektiv.

Als er es wieder sinken ließ, stand eine steile Falte auf seiner Stirn. Reichlich verblüfft blickte er nach unten.

„Sir!“ rief er. „Der ganze Verband ist komisch.“

„Himmelarsch!“ brüllte Carberry auf der Kuhl. „Willst du Stint uns auf den Arm nehmen? Du glaubst wohl, der alte Carberry kriegt es nicht fertig, dir eigenhändig die Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch abzuziehen, was, wie?“

„Komm doch ’rauf, du karierter Affe!“ forderte Dan. „Oder hast du Angst, du fällst aus dem Mars – was, wie?“

Der Profos holte Luft, daß sich sein breiter Brustkasten dehnte.

Nur Hasards scharfer Zuruf hinderte ihn daran, ebenfalls aufzuentern, was für den Großmars entschieden zuviel Betrieb ergeben hätte. Dan flitzte schon wieder die Wanten hinunter. Schweigend drückte er Carberry den Kieker in die Hand, und der stand mit drei Schritten am Backbord-Schanzkleid.

Er spähte nach Südwesten – eine volle Minute lang.

Und danach schnitt er das Gesicht eines Mannes, der die Angel nach einem Hering ausgeworfen und einen Hai an den Haken bekommen hat.

„Sir“, sagte er erschüttert. „Ich will meine Seestiefel fressen und die Sokken als Nachtisch, wenn das nicht wirklich die komischsten Waschzuber sind, die ich je gesehen habe.“

Ein paar Minuten später konnte auch der Seewolf erkennen, was Ed Carberry meinte.

„Komisch“ war vielleicht nicht das richtige Wort – „fremdartig“ hätte es besser getroffen. Fremdartig auf eine irgendwie sonderbare, verquere Weise, denn mit Ausnahme des Viermasters bestand der Verband aus ganz normalen Galeonen und einer Karavelle. Schiffe, die in allen Regenbogenfarben schillerten, an deren Toppen yardlange Banner flatterten, deren Aufbauten verändert worden waren, als hätte ein verrückter Schiffbauer ihnen Pagodendächer aufgesetzt. Auf sämtlichen Segeln prangten leuchtende Bilder. Nach einer Weile konnte Hasard durch das Spektiv erkennen, daß es sich um Tigerköpfe mit aufgerissenen Rachen handelte.

„Grundgütiger Himmel“, murmelte er ergriffen.

„Sir?“ fragte Ben Brighton neben ihm.

Der Seewolf reichte ihm schweigend das Spektiv.

Das führende Schiff des fremden Verbandes war jetzt auch mit bloßem Auge schon recht gut zu sehen. Ein Viermaster, der entfernt an den Schwarzen Segler erinnerte. „Eiliger Drache über den Wassern“ sah nach einhelliger Meinung der Crew wie eine gelungene Kreuzung zwischen Dschunke und Galeone aus. Wollte man bei dem Vergleich bleiben, mußte man das Flaggschiff der Fremden allerdings als mißglückte Kreuzung bezeichnen. Zum Teil mochte das daran liegen, daß es Aufbauten an Stellen hatte, wo keine hingehörten, zahllose Türmchen und Zierdächer, vergoldete Schnörkel, wo immer sie sich denken ließen, Baldachine als Schattenspender, geschnitzte, bemalte Figuren im Überfluß. Das ganze Schiff sah aus, als habe ein verwöhntes Kind seine Phantasie ausgetobt. Oder ein größenwahnsinniger Irrer, der seinen kostbaren Fuß nicht auf eine gewöhnliche Galeone, sondern nur in einen schwimmenden Palast setzen wollte.

„Heiliger Bimbam“, sagte Ben Brighton, während er das Spektiv sinken ließ.

„Wenn da ein harter Brecher dazwischenschlägt, haben sie die schönste Wuhling an Deck“, ließ sich Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann, fachmännisch vernehmen.

„Ein Tiger!“ schrie der kleine Philip begeistert. „Schau, Hasard, ein Tiger!“

In der Tat: die Galionsfigur des Viermasters war der Bewunderung wert. Ein lebensgroßer springender Tiger, schwarz und golden glänzend, mit grünglitzernden Augen, in denen der Seewolf aus der Entfernung Smaragde vermutete. Hirnrissig, dachte er. Der Tiger ging ja noch an. Aber wenn die Burschen mit ihrem Viermaster in einen kräftigen Sturm gerieten, würde ihnen garantiert die Dekoration um die Ohren fliegen.

Hasard wandte sich ab und überzeugte sich durch einen Blick, daß die „Isabella“ gefechtsklar war.

Noch blieben die Stückpforten geschlossen. Doch im Notfall würde es nur ein paar Handgriffe kosten, sie zu öffnen und die schweren Culverinen mit den überlangen Rohren auszurennen. Sechs Gegner stellten zwar eine gefährliche Übermacht dar, doch die Seewölfe waren schon mit ganz anderen Situationen fertig geworden.

„Sten, Smoky – sind die Brandsätze klar?“

„Klar, Sir“, bestätigte Smoky, der Decksälteste, der mit dem blonden Schweden Stenmark neben den Bronzegestellen zum Abschießen der chinesischen Raketen kauerte.

„Brandpfeile klar?“

„Klar!“ dröhnte die Stimme Big Old Shanes vom Bug her.

„Batuti auch klar“, ließ sich der schwarze Herkules aus Gambia von achtern vernehmen.

„Deck!“ schrie Bill im selben Augenblick aus dem Großmars. „Viermaster luvt an! Der Verband dreht parallel zu unserem Kurs!“

Das tat er wirklich. Was allerdings nicht bedeutete, daß er auswich – im Gegenteil. Der Viermaster war kurz davor gewesen, den Kurs der „Isabella“ zu kreuzen. Jetzt lief er, ebenfalls mit halbem Wind, über Backbordbug auf die Galeone zu – und hinter ihm fielen die drei letzten Schiffe wieder etwas ab und scherten aus der Kiellinie.

Philip Hasard Killigrew lächelte hart und zeigte die kräftigen weißen Zähne, die ihm bei jener legendären Straßenschlacht vor der „Bloody Mary“ in Plymouth den Kriegsnamen Seewolf eingetragen hatten.

Was die Fremden planten, war nicht schwer zu durchschauen. Die drei ausgescherten Schiffe – zwei Galeonen und eine Karavelle – luvten wieder an, kaum daß sie den Kurs der „Isabella“ gekreuzt hatten. Auch sie staffelten wieder in Kiellinie, und damit glich die Formation des Verbandes jetzt einer weit offenen Falle.

„Die haben Nerven, haben die“, sagte Ferris Tucker erschüttert.

„Hirnamputierte Hammel sind das!“ fauchte Ed Carberry aufgebracht. „Denken die vielleicht, wir haben die Seefahrt im Nachttopf gelernt, was, wie? Na wartet, euch ziehe ich die Haut in Streifen von euren verdammten Affenärschen!“

Daß die „hirnamputierten Hammel“ ihn nicht hören konnten, schien ihn wenig zu stören. Die Zwillinge lauschten hingerissen, wie immer; wenn der Profos fluchte. Hasard junior legte den Kopf schief und spähte zu Hasard senior hinauf.

„Gibt’s gleich Zunder, Dad, Sir?“ fragte er.

„Zunder kriegt ihr vom Kutscher“, versprach der Seewolf. „Später! Was es vorher gibt, müssen wir erst mal abwarten. Ich denke …“

Er unterbrach sich.

Aus den Augenwinkeln hatte er die ganze Zeit über den fremden Verband beobachtet. Was er jetzt sah, ließ ihn überrascht die Stirn runzeln, und im nächsten Augenblick meldete es auch Bill aus dem Großmars.

„Deck!“ rief er. „Auf dem Tiger-Schiff geht ein weißer Fetzen am Flaggenstag hoch. Ich nehme an, daß das eine Friedensfahne sein soll.“

Sekundenlang blieb es still.

Tatsächlich: der Viermaster mit dem Tiger als Galionsfigur hatte, vermutlich mangels anderer Verständigungsmöglichkeiten, eine weiße Flagge gehißt. Damit signalisierte er friedliche Absichten – so weit, so gut. Aber signalisieren konnte man viel. Der Seewolf kniff skeptisch die Augen zusammen.

„Komm heraus, ich bin dein Freund – sagte der Fuchs, als ihm das Kaninchenloch zu eng war“, murmelte Ben Brighton zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Hasard grinste. „Klar bist du mein Freund, sprach das Kaninchen und kam heraus, aber nicht aus dem Loch, vor dem der Fuchs lauerte.“ Er warf das Haar zurück und hob die Stimme: „Klar zum Anluven! Sobald wir an dem Viermaster vorbeigelaufen sind, gehen wir an den Wind und brechen durch die Linie. Das muß schneller gehen, als die Burschen denken können. Wenn sie mit uns reden wollen, reden wir, aber aus der Luvposition, ob es ihnen paßt oder nicht.“

Die Männer feixten.

An den Culverinen hielten sich die Geschützmannschaften bereit, um notfalls blitzartig die Stückpforten zu öffnen und die Kanonen auszurennen. Zwei Raketen mit dem unlöschbaren chinesischen Feuer steckten bereits in den Abschuß-Gestellen. Diese verheerenden Brandsätze verwendeten die Seewölfe nur, wenn es gar nicht anders ging, schon weil die Dinger nicht unbegrenzt zur Verfügung standen. Aber wenn eine Übermacht von sechs schwer bewaffneten Schiffen angriff, mußte sich die „Isabella“ natürlich mit allen Mitteln wehren.