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Herausgegeben von Arne Stollberg, Jana Weißenfeldund Florian Henri BesthornRESONANZEN 3DirigentenBilderMusikalische Gesten – verkörperte Musik
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ResonanzenBasler Publikationen zur Älteren und Neueren MusikHerausgegeben vom Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität BaselBand 3
DirigentenBilder Musikalische Gesten – verkörperte Musik Herausgegeben von Arne Stollberg, Jana Weißenfeld und Florian Henri Besthorn unter Mitarbeit von Alexandra Gronwald und Madita Knöpe Schwabe Verlag Basel
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Publiziert im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung getragenen Projektes Hörbare Gebärden – Der Körper in der Musik. Die dem Band vorausgegangene Ringvorlesung am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel fand mit freundlicher Unterstützung der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel statt.Abbildung auf dem Umschlag:Gestaltung und Foto: Annette Ahrend, Weil am Rhein, www.wortbildbuero.deCopyright © 2015 Schwabe AG, Verlag, Basel, SchweizDieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden.Copyright © 2015 Abbildungen, Notenbeispiele und Filmausschnitte vgl. Bildlegenden und Angaben zu den Filmausschnitten. Wir haben uns bemüht, sämtliche Rechtsinhaber der im Werk enthaltenen Abbildungen, Notenbeispiele und Filmausschnitte ausndig zu machen. Sollte es uns in Einzelfällen nicht gelungen sein, werden berechtigte Ansprüche selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.Umschlaggestaltung: Thomas Lutz, SchwabeGesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel, SchweizISBN Printausgabe 9783796534782ISBN EBook (EPUB) 9783796535093rights@schwabe.chwww.schwabeverlag.ch
InhaltsverzeichnisVorwort ....................................................................................9IntroduktionArne Stollberg«Mimische Ausdruckshandlungen». Der Dirigentenkörperim anthropologischen Musikdiskurs des 19. und 20. Jahrhunderts ................15HistorischesStefan MorentKörper, Geste, Gebärde in der Musik des Mittelalters ..............................51Jörg-Andreas BötticherBloß des Takts wegen dastehen. Rhythmische Orientierung und Ausdruck in Dirigiergesten des 17. und 18. Jahrhunderts ....................73Christoph Riedo«La main doit [] representer aux yeux une image de la cadence que l’oreille doit entendre». Das Taktschlagen und seine klanglichen Auswirkungen auf die Aufführung in der Barockzeit ................................95Nina NoeskeSteuermänner versus Ruderknechte. Franz Liszt als Pultvirtuose .................123Hans-Joachim Hinrichsen«Dirigentenpantomimik» Hans von Bülow als erster Dirigent der Moderne? ..................................147Lena-Lisa WüstendörferGelebte Klänge Gesten im Spannungsfeld von Chor und Orchester .................................1695
SystematischesNepomuk Riva«Buhm, buhm, buhm! Nicht so leichtsinnig: bah, bih …» Lautmalereien und Gestik von DirigentInnen in Orchesterproben ......................................................................185Clemens WöllnerInnere Bilder. Handlungsrepräsentation und Wahrnehmungskompetenz in der Orchesterleitung ................................213Hartmut Hein«Jedes Notenzeichen ist das Bild eines Schlages». Zur Gestik der musikalischen Schrift in Adornos Interpretationstheorie ......................233Nicola GessZur Geste bei Mahler. Unterbrechungen mit Benjamin ............................255Florian Henri Besthornvisible music – Dirigent und Publikum als vermeintlich stumme ‹Klangspieler› .................................................................291Kulturwissenschaftliche PerspektivenCornelia Bartsch«Pultvirtuose» und «Lady of the bâton»Vergeschlechtlichte Körperbilder des Dirigierens ...................................311Arne StollbergKlang-KörperAuf der Suche nach einer musikalischen Physiognomik ............................347Jana WeißenfeldVon sichtbaren Schöpfungsakten und archivierten GestenBewegte Dirigentenbilder im Konzertlm ...........................................385Peter MoormannGustavo Dudamel – Maestro Estatico? ...............................................419Mariama DiagneKlang-Körper dirigieren. Gesten der Vermittlung im zeitgenössischen Tanz bei Xavier Le Roy und Jonathan Burrows & Matteo Fargion ..................................................435Inhaltsverzeichnis6
CodaPeter Gülke / Ulrich Mosch«Die Musik ist aus, eure Pfoten haben gefälligst unten zu sein!»Ein Gespräch zwischen Peter Gülke und Ulrich Mosch ............................463Autorinnen und Autoren ...............................................................485Filmausschnitte und digitalisierte Abbildungen ....................................490Siglen .....................................................................................498Personen- und Werkregister ...........................................................499Inhaltsverzeichnis 7
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9VorwortBemüht, sich nicht zu zerstreuen und sich den Eindruck weder durch die Armbewegungen des befrackten Kapellmeisters in weißer Krawatte, die die Aufmerksamkeit immer so unangenehm abzulenken pegen, noch durch die Hüte der Damen, die sich bei allen Konzerten ihre Ohren vorsorglich mitbreiten seidenen Hutbändern zubinden, verderben zu lassen, schaute er [] gesenkten Blicks vor sich hin und war ganz Ohr.1Diese Haltung des Gutsbesitzers Konstantin Lewin, wie sie Lew Tolstoi in seinem Roman Anna Kareninaanlässlich der Schilderung eines Konzertes be-schreibt, lässt die Figur des Dirigenten in schlechtem Licht erscheinen. Die «Armbewegungen des befrackten Kapellmeisters» lenken den um Konzen-tration bemühten Connaisseur ebenso vom Eigentlichen – der Musik – abwie die «Hüte» jener Damen, die offenbar gerade wegensolcher optischen Eindrücke das Konzert besuchen, haben sie ihre Ohren doch «vorsorglich mit breiten seidenen Hutbändern» zugebunden. Die Sichtbarkeit des Maestro als Störfaktor einerseits, als eigentlicher Attraktionspunkt für die Unmusikalischen (genauer gesagt für die unmusikalischen «Damen») andererseits: Höhnischer kann man die negativen Klischees über den «Luftsortierer» am Pult,2dessen Eitelkeit – manifestiert in Frack und «weißer Krawatte» – sich umgekehrt proportional zu seiner tatsächlichen Relevanz für das Klangereignis verhält, kaum in Worte fassen. Aus der Perspektive der Musikerinnen und Musiker sieht es mitunter nicht besser aus. «Vor dem Konzert unter einem namhaftenDirigenten antwortet auf die Frage: ‹Waswird er denn dirigieren?› ein Aus-führender: ‹Was er dirigieren wird, weiß ich nicht, wir spielen die Achte von Beethoven.›»3Dies ist allerdings nur eine Seite der Medaille. Dass ‹hauptberuiche› Dirigenten, also nicht etwa dirigierende Komponisten, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wegweisende Bedeutung für die Geschichte der 1Lew Tolstoi, Anna Karenina [1877/78], aus dem Russischen übersetzt von Bruno Goetz, Zürich 2003, Bd. 2, S. 516.2Peter Gülke, «Der Luftsortierer. Wie aus Stockstampfern Schlagästheten wurden.Eine kurze Geschichte des Dirigierens», in: Partituren. Das Magazin für klassische Musik Nr.13 (November/Dezember 2007): «Mythos Dirigent», S. 20–23 (online verfügbar unter: http://www.kultiversum.de/Musik-Partituren/Essay-Der-Luftsortierer.html; zu-letzt eingesehen am 26. Januar 2015).3Hans Diestel, Ein Orchestermusiker über das Dirigieren. Die Grundlagen der Dirigiertechnik aus dem Blickpunkt des Ausführenden.Mit einem Vorwort von Richard Strauß, Berlin1931, S. 27, Anm. 1; Hervorhebung im Original gesperrt.
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Vorwort10musikalischen Interpretation erlangten, und zwar bis zur Rückwirkung in das Methodenarsenal der Musikwissenschaft hinein,4verleiht dem stummen ‹Luftsortieren› einen Status, der sich mit Anekdoten nicht länger einfangen lässt. Den daran geknüpften Herausforderungen begegnet die Forschung auf dem weiten Feld der Interpretationsanalyse, zumeist durch die Auswertung schriftlicher Quellen, theoretischer Texte, annotierter Partituren usw., oderdurch immer elaboriertere ‹Vermessung› und Exegese der überlieferten Ton-aufnahmen, wobei sich die Tempogestaltung, naturgemäß am besten quanti-zierbar, als Hauptkriterium herauskristallisiert hat.5Der Fokus des vorliegenden Bandes ist jedoch ein anderer. Er folgt, pro-vokativ gesagt, der Blickrichtung von Tolstois «Damen» und somit der Frage, ob der Dirigent tatsächlich auch aus einem anderen Grund vonnöten sein könnte, nämlich um die unsichtbaren Töne und Tonfolgen durch seine Gestensichtbar zu machen, ihnen buchstäblich einen Körper zu leihen: nicht nur als ‹Regisseur› musikalischer Verläufe, sondern auch als ihr ‹Darsteller›.6Diri-gieren wäre in diesem Fall immer zugleich ein theatraler Akt, ein Tanz amPult, der selber ästhetische Qualität besitzt und sich nicht auf bloße Funktio-nalität reduzieren lässt (was natürlich die Frage einschließt, in welchem Ver-hältnis die Gestik des Dirigenten tatsächlich zu jener ‹Interpretation› steht, die ihr als hörbares Resultat entspringt).Dass die These des performativen Eigenwerts dirigentischer Bewegungen nicht unumstritten ist, wird dabei keineswegs verschwiegen. Historische Rekonstruktionen entsprechender Theorien, kulturwissenschaftliche Denk-guren und Ergebnisse empirischer Forschung stehen der aus reichhaltigerPraxiserfahrung gespeisten Skepsis Peter Gülkes gegenüber, der im abschließen-den Interview klar und deutlich darauf beharrt, «kein Vortänzer» zu sein.7 Die Vielfalt der Ansätze, die in den Beiträgen ihren Niederschlag ndet, spannt sich zu einem Panorama auf, das der historischen Diversität des Phänomens in möglichst umfassender Weise Rechnung trägt.Die titelgebenden DirigentenBilder implizieren eine doppelte Perspektive. Auf der einen Seite stehen die vom Dirigenten selbst hervorgerufenen Bilder:Welche kinetischen Visualisierungen von Musik sind mit deren gestischerUmsetzung beim Dirigieren verbunden, und wie gestaltet sich die Beziehung 4Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, Musikalische Interpretation. Hans von Bülow,Stuttgart 1999 (= Beihefte zum AfMw 46); ders., «Musikwissenschaft: Musik – Interpretation – Wissenschaft», in: AfMw 57 (2000), S. 78–90. 5Stellvertretend sei hier auf eine der jüngsten und umfassendsten Publikationen zum Thema verwiesen: Lars E. Laubhold, Von Nikisch bis Norrington. Beethovens 5. Sinfonie auf Tonträger.Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer techni-schen Reproduzierbarkeit, München 2014.6Vgl. Hans-Klaus Jungheinrich, Der Musikdarsteller. Zur Kunst des Dirigenten,Frankfurt am Main 1986.7Siehe das Gespräch zwischen Peter Gülke und Ulrich Mosch, «Die Musik ist aus, eure Pfoten haben gefälligst unten zu sein!» (im vorliegenden Band, S. 463–483, hier S. 477).
Vorwort11zwischen dem Körper des Dirigenten und dem ‹Klangkörper› des Orchesters? Auf der anderen Seite sind aber auch diejenigen Bilder – ‹Images› – relevant, die sich von der traditionsreichen Figur des Maestro im kulturellen Gedächtnis gespeichert haben: Welche Funktionen wurden dem Dirigenten zugesprochen,wie haben sich die Vorstellungen und Klischees über ihn im Laufe der Zeitgewandelt (auch hinsichtlich der zunehmenden Transformation einer früherenMännerdomäne durch Dirigentinnen), und inwieweit sind diese Vorstellungenund Klischees dem Modus ihrer medialen Inszenierung verpichtet, von der Karikatur bis zum Film?Die nachfolgenden Aufsätze thematisieren den Dirigenten als ‹Verkör-perungsmedium› immaterieller Klänge in einem breiten Kontext an der Schnittstelle verschiedenster Disziplinen zwischen Musik-, Theater-, Kultur-und Medienwissenschaft sowie Aufführungs- und Musizierpraxis. Sie gehen zum größten Teil auf die Vorträge einer Ringvorlesung zurück, die im Herbst-semester 2013am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel stattfand. Einzelne Texte (von Christoph Riedo, Nepomuk Riva und Mariama Diagne sowie Arne Stollbergs Aufsatz Klang-Körper. Auf der Suche nach einermusikalischen Physiognomik) wurden eigens für die Buchfassung ergänzt. DieRingvorlesung war Teil des vom Schweizerischen Nationalfonds nanziertenund mit einer Förderungsprofessur verbundenen Forschungsprojektes Hörbare Gebärden – Der Körper in der Musik,angesiedelt am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel (seit April 2015 federführend am Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin). Spezielle Unterstützung erhielt sie darüber hinaus durch die Frei-willige Akademische Gesellschaft Basel, der für den Zuschussan dieser Stelle ebenso herzlich gedankt sei wie dem Schweizerischen Nationalfonds für die großzügige nanzielle Ausstattung des Projektes insgesamt.Last but not leastgilt unser Dank allen Autorinnen und Autoren, den bei-den studentischen Mitarbeiterinnen im Projekt Hörbare Gebärden,Alexandra Gronwald und Madita Knöpe, für ihren unermüdlichen Einsatz bei der Redaktion des vorliegenden Buches sowie dem Schwabe-Verlag Basel, nament-lich Erika Regös, für die sehr gute und produktive Zusammenarbeit.Basel und Berlin, im Juli 2015Arne Stollberg, Jana Weißenfeld und Florian Henri Besthorn
Introduktion
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15«Mimische Ausdruckshandlungen» Der Dirigentenkörper im anthropologischen Musikdiskurs des 19. und 20. JahrhundertsArne Stollberg‹Showman› oder ‹Statthalter›? Perspektiven auf ein umstrittenes MetierThe cult of the great conductor tends to substitute looking for listening, moreover, so that to conductor and audience alike []the important part of the performance is the gesture. If you are incapable of listening, the conductor will show you what to feel. Thus Mr. Bernstein will act out a life of Napoleonin «his» Eroica,wearing an expression of noble suffering on the retreat from Moscow [], and one of ultimate triumph in the last movement, during which he even dances the Victory Ball.1Diese Worte schleuderte Igor Strawinsky einem Phänomen entgegen, das erwie kein zweites verabscheute und dem er zeitlebens unzählige Polemiken widmete: der angeblichen Selbstherrlichkeit des modernen Dirigenten und seinem Anspruch, als verkappter Schöpfer der von ihm geleiteten Werke aufzu-treten, somit dem Komponisten gleichsam die Autorschaft streitig zu machen.2 Im Mittelpunkt der Invektive steht die Verlagerung der Aufmerksamkeit vomHörbaren auf das Sichtbare (‹the important part of the performance is the gesture›) – das genaue Gegenteil dessen, was Strawinsky vorschwebte, dass nämlich der Dirigent nur ein «time-beater» sein solle, «who res a pistol at the beginning []but lets the music run by itself».3Die geforderte Redu-zierung des Kapellmeisters auf eine Art menschliches Metronom nimmt sich zwar radikal aus, steht jedoch in einer langen Tradition der Kritik an dirigen-tischer Selbstdarstellung, etwa bei Felix Weingartner, einem von Strawinsky 1Igor Strawinsky, «On Conductors and Conducting», in: ders., Themes and Conclusions, London 1972, S. 223–231, hier S. 224.2Vgl. hierzu beispielsweise Volker Scherliess, «‹Je déteste l’Ausdruck› – Über Stra-winsky als Interpreten», in: Traditionen – Neuansätze. Für Anna Amalie Abert (1906–1996),hg. von Klaus Hortschansky, Tutzing 1997, S. 475–492; Arne Stollberg, «‹sim not dim›: Exécutionand Interprétationin Recordings of The Ritesince 1929», in: Avatar of Modernity.«The Rite of Spring» Reconsidered,hg. von Hermann Danuser und Heidy Zimmermann, London 2013, S. 263–283.3Igor Strawinsky und Robert Craft, Expositions and Developments [1962], London 1981, S. 145.
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Arne Stollberg16explizit als positives Gegenbeispiel genannten Zunftvertreter.4Dieser hatte schon 1895 in seiner Schrift Über das Dirigiereneine Art Blaupause der Auf-führungsästhetik Strawinskys geliefert5und sich noch 1935 gegen «effekt-hascherische Strampelei» am Pult ausgesprochen, mit dem Argument, dass die Gestik des Dirigenten nur Mittel zum Zweck sein dürfe, im Hinblick auf das gewünschte akustische Resultat, aber niemals ästhetischen Eigenwert bean-spruchen könne:Musik wird nicht geseufzt, nicht geflirtet, nicht geschmachtet, nicht gestampft, nicht getobt, nicht geschüttelt und nicht geschwitzt, sie wird gespielt,und ist es Orchestermusik, so muß der Leiter diejenigen Bewegun-gen machen, die notwendig sind, damit gut gespielt wird.6Hauptangriffspunkt Weingartners waren in diesem Zusammenhang Hansvon Bülow und die durch ihn begründete Tradition der «Bülowiaden»,7 verstanden – ganz im Sinne Strawinskys – als extravagante Überpointierun-gen von Details und Nuancen, aber auch als Auswüchse einer entsprechend manieriert wirkenden, fast tänzerischen Gestik, bei der «jedes Motiv mit einer Geberde» begleitet wird,8wie wenn es tatsächlich die Aufgabe des Dirigenten wäre, die Musik zu irten, zu schmachten, zu stampfen, zu toben, zu schütteln und zu schwitzen, sie gleichsam mit seinem Körper darzustellen und den Orchestermusikern pantomimisch vorzumachen.4 Vgl. I. Strawinsky, «On Conductors and Conducting», S. 225.5Entscheidend ist die von Weingartner ins Zentrum seiner Kritik an Bülow gestellte«geistlose Nuancierungswut», die übertriebene Neigung zu «gekünstelten Nuancen» in Form von accelerandi, ritardandi,dynamischen Schattierungen usw., anstatt «eineinheitliches Tempo durch einige Zeit festzuhalten» (Felix Weingartner, Über das Dirigieren [1895], Leipzig 51920, S. 14, 19, 27). Ähnlich sah auch Strawinsky gerade die Nuance als Tummelplatz subjektiver Interpretenwillkür an; vgl. etwa seine 1942erschienene Poétique musicale sous forme de six leçons(hg. von Myriam Soumagnac, Paris 2000, S. 145), wo es heißt: «On rafne sur le superu; on recherche délicatement lepiano, piano pianissimo;on se fait gloire d’obtenir la perfection des nuances inutiles – souci qui va généralement de pair avec un mouvement inexact …». Siehe hierzu aus-führlich A. Stollberg, «‹simnot dim›», bes. S. 272–282. Hervorhebungen innerhalbder Zitate entsprechen jeweils dem Original und werden durchgehend kursiv wieder-gegeben.6Felix Weingartner, «Without Showmanship», in: Wiener Musik-Zeitung1 (1935), H. 10, S. 2. Wiederabdruck in: Im Mass der Moderne. Felix Weingartner – Dirigent, Komponist,Autor, Reisender,hg. von Simon Obert und Matthias Schmidt, Basel 2009, S. 283–284, hier S. 283.7Felix Weingartner, «Der Dirigent», in: ders., Akkorde. Gesammelte Aufsätze,Leipzig 1912, S. 112–119, hier S. 118.8Arthur Laser, Der moderne Dirigent,Leipzig 1904, S. 14; siehe hierzu auch den Beitrag von Hans-Joachim Hinrichsen, «‹Dirigentenpantomimik›. Hans von Bülow als erster Dirigent der Moderne?» (im vorliegenden Band, S. 147–168).
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«Mimische Ausdruckshandlungen»17Ob freilich dieses pantomimische Vormachen der Musik, das sich, wennman an Strawinskys Bemerkung über Leonard Bernstein denkt, sogar bis zum ‹Vortanzen› steigern kann (‹he even dances the Victory Ball›) – ob also diesespantomimische Vormachen nur dem Bedürfnis nach eitler ‹Showmanship›entspringt, steht auf einem anderen Blatt. Carl Dahlhaus hat in seinem knap-pen, aber grundsätzlichen und bis heute immer wieder zitierten Essay Der Dirigent als Statthaltervon 1976 die «beredte Gestik» und «Pantomime» des Dirigenten als etwas gedeutet, das aus der Sache selbst im Sinne einer ästhe-tischen Notwendigkeit erwachse.9Nach seiner Ansicht gehört die «Fiktion eines Subjekts», auf das die diskontinuierlichen Formverläufe bezogen und da-durch erst zusammengehalten beziehungsweise verknüpft werden, spätestens seit Beethoven zum Wesensmerkmal reiner Instrumentalmusik.10Aus den Klängen spreche ein «ästhetisches Ich», das nicht mit dem «empirischen [Ich]» des Komponisten zu verwechseln sei und in der Figur des Dirigenten zu jener «Sichtbarkeit» gelange, derer es bedürfe, um die Konzentration des Pu-blikums auf die Musik zu fokussieren, anstatt sie bloß als «Stimulans für Wachträume zu mißbrauchen».11Die Akzentverschiebung gegenüber den zitierten Äußerungen Strawinskys und Weingartners ist deutlich: Der Diri-gent wird bei Dahlhaus aus der Gebundenheit rein funktioneller Aufgaben hinsichtlich des Orchesterspiels befreit und zu einer Instanz erhoben, die – mindestens teilweise – eigentlich für das Publikum da ist und diesem als Objekt «ästhetische[r]Identikation» dient.12«Conductors perform (his-torically at least since Franz Liszt) as much for the audience as they do for the orchestra.»13Im Grunde kann man sagen, dass Strawinsky genau den von Dahlhaus angesprochenen Aspekt ex negativobenennt, wenn er polemisch ausführt, dass Bernstein beim Dirigieren der Eroica,als imaginärer ‹Held›, gleichsam wie Napoleon Bonaparte agiere: Der Dirigent wäre damit buchstäblich ‹Statthalter› 9Carl Dahlhaus, «Der Dirigent als Statthalter», in: Melos/NZfM2 (1976), S. 370–371. Wiederabdruck in: ders., Gesammelte Schriften in 10 Bänden,hg. von Hermann Danuser, Bd. 1: «Allgemeine Theorie der Musik I. Historik – Grundlagen der Musik – Ästhetik», Laaber 2000, S. 571–574, hier S. 574.10 Ebd., S. 573.11 Ebd., S. 573–574.12 Ebd., S. 574 – jenseits der durch Peter Gülke formulierten Einschränkung, dass das «vom Dirigenten repräsentierte ästhetische Subjekt und das der jeweiligen Musik Gehörige []nicht voll zur Deckung» kommen können, da «das letztere []jenes vermöge der musikeigenen Pluralität der Ereignisse» überfordere (Peter Gülke, «Taktschlag und musikalischer Atem», in: ders., Auftakte – Nachspiele. Studien zur musi-kalischen Interpretation, Stuttgart u.a. 2006, S. 50–53, hier S. 51).13Andreas Dorschel, «Aesthetics of Conducting: Expression and Gesture», in: Expression et geste musical.Actes du colloque des 8 et 9 Avril 2010 à l’Institut National d’Histoire de l’Art de Paris, hg. von Susanne Kogler und Jean-Paul Olive, Paris 2013, S. 65–73, hier S. 70.
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Arne Stollberg18jenes ‹Subjekts›, dessen Geschichte den roten Faden der Symphonie bildet. Dies würde nicht nur mit Adolf Bernhard Marx’ wirkungsmächtiger Eroica-Deutung kompatibel sein,14sondern auch und vor allem mit neueren Theorien zur Funktionsweise musikalischer Narrativität, zu denen sich von Dahlhaus her ein plausibler Bogen schlagen lässt. Andeutungen müssen hier freilich genügen, da es nachfolgend eher darum gehen soll, die Vorgeschichte der entsprechenden Denkguren zu beleuchten.15Verwiesen sei vor allem auf das 1974 erschienene und – zumindest für die angelsächsische Forschung – über-aus einussreiche Buch The Composer’s Voicevon Edward T. Cone, in dem dieThese entwickelt wird, dass ein klanglich ausgebreitetes Geschehen in der Hörwahrnehmung als Aktivität imaginärer Protagonisten erscheine, distink-ter «virtual characters» oder «virtual agents», die mit bestimmten Instru-menten oder Instrumentengruppen assoziiert werden könnten, aber auch mit jeder anderen «distinctively articulated component of the texture».16 Unter einem musikalischen Motiv versteht Cone dementsprechend – und hier nähern wir uns bereits dem Aspekt des Dirigierens – «a gesture conveying an idea or image in the‹mind› of an agent», wobei es für ihn keinen substan-tiellen Unterschied macht, dass in Werken ohne Programm, also bei ‹absolu-ter Musik›, «agent [] and idea are verbally unspecied».17Noch weiter an das Dirigieren heran führen die Arbeiten des Musiktheo-retikers Robert S. Hatten, der musikalische Themen – ähnlich wie Cone – als Gebärden eines «virtual, experiencing body» begreift, und zwar dergestalt,dass klangliche Verläufe in der Matrix des Gravitationsfeldes von Tonalität undMetrum die körperlichen Bewegungen eines «implied agent» evozierten, genauer gesagt das Äquivalent einer «embodied gesture that we can recognize as expressive of an imagined agent (whether or not we co-body it experien-tially)».18The qualitative character of a musical gesture, and its continuities, typically enables us to infer a precise (if unnamable) expressive motivation or modality,and thus, in many cases, an implied agency (or in special cases, a persona, or actant, or character) in an enacted (or in special cases narrated) drama or «story».1914Vgl. Adolf Bernhard Marx, Ludwig van Beethoven. Leben und Schaffen, Berlin 1859. Reprint Hildesheim u.a. 1979, Bd. 1, S. 255–274.15Vgl. ausführlich Arne Stollberg, Tönend bewegte Dramen. Die Idee des Tragischen in derOrchestermusik vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, München 2014.16Edward T. Cone, The Composer’s Voice,Berkeley u.a. 1974 (= The Ernest Bloch Lectures),S. 88, 95.17 Ebd., S. 112, 94.18Robert S. Hatten, Interpreting Musical Gestures, Topics, and Tropes. Mozart, Beethoven,Schubert, Bloomington/IN 2004 (= Musical Meaning and Interpretation), S. 116,117, 132.19 Ebd., S. 233.
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«Mimische Ausdruckshandlungen»19Diese dezidiert gestische Fundierung der potentiellen ‹Story› eines Musik-stücks erinnert sofort – was Hatten erstaunlicherweise nicht ausführt – an einen Dirigenten, der mit seinen Bewegungen gewissermaßen die ‹implied agency› der Partitur explizit macht.Noch interessanter ist der beiläuge Hinweis darauf, dass wir beim Mu-sikhören die Gestik des ‹implied agent› unter Umständen auch durch kör-perlichen Mitvollzug erfassen (‹co-body it experientially›) – ein Phänomen, das Arnie Cox als «mimetic participation» bezeichnet.20Nach seiner Theorie überträgt sich die expressive Bedeutung einer akustischen Gebärde dadurch auf den Zuhörer, dass dieser sie im Akt der Wahrnehmung selber ausführt, sei es durch innerliches Mitsingen oder Mitsummen («subvocalization»), sei es durch Transformation der zu hörenden Tonfolge in eine – wenn auch nur vor-gestellte – Körperbewegung, die mit der Musik korrespondiert («is somehow isomorphic with the music»): «it is as if we are acting».21Die Musik werde solchermaßen zu einer eigenen physischen Erfahrung, die das Verständnis derausgedrückten Emotion ohne reexiven Zwischenschritt gewährleiste, mit dem Körper als unverzichtbarem Medium:«[M]elodic sighs» and «musical gestures» feellike gestures and sighs. Accord-ing to the mimetic hypothesis, events that we call «gestures» and «sighs» not only sound alike, but they also feel alike because they are all comprehen-ded in part via mimetic participation.22Seine unbewusst geleistete, körperliche Selbstidentizierung mit der Musik («mimetic musical agency») projiziere der Hörer dann wiederum auf die Klang-verläufe zurück und schreibe diese einem imaginären, gleichsam handlungs-tragenden Subjekt zu, einer «musical persona».23In Cox’ Theorie kommt nicht nur die Imitation der musikalischen Gesten alleine zum Tragen, sondern ebenso die Variante, dass diese Imitation teilweise auch «the sound-producing actions of the performers» betreffen könne,24was exemplarisch anhand von Violine, Oboe und Klavier mit Blick auf die ent-sprechenden Spielgebärden demonstriert wird – allerdings wiederum nicht, erstaunlicherweise, in Bezug auf die Rolle des Dirigenten. Dabei liegt der Gedanke eigentlich nahe, dass sich die ‹mimetic participation› kaum an die Bewegungen einzelner Orchestermusiker heften kann, sondern eher an diejeni-gen des Mannes (oder der Frau) mit dem Taktstock, gemäß der Feststellung 20Vgl. Arnie Cox, «The Mimetic Hypothesis and Embodied Musical Meaning», in: Musicae Scientiae5 (2001), S. 195–209; ders., «Hearing, Feeling, Grasping Gestures», in: Music and Gesture,hg. von Anthony Gritten und Elaine King, Aldershot 2006, S. 45–60.21 A. Cox, «Hearing, Feeling, Grasping Gestures», S. 49, 53.22 Ebd., S. 52.23 Ebd., S. 53–54.24 Ebd., S. 53.
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Arne Stollberg20von Carl Dahlhaus, es sei unmöglich, «eine Symphonie ästhetisch als Kollektiv-äußerung eines Orchesters zu begreifen»: «Ein ganzes Orchester []taugt schlecht dazu, als Person aufgefaßt zu werden, die sich musikalisch ausdrückt.»25 Die Frage wäre demnach, ob der Dirigent das ‹ästhetische Subjekt› der Musik weniger abstrakt darstellt, als vielmehr buchstäblich ‹verkörpert›, und weiter-gehend, obdie expressive Wirkung nicht nur den Klängen allein geschuldet ist, sondern auch auf der mimetischen Teilhabe des Publikums an den Dirigier-bewegungen und Dirigiergesten beruht.Letzteres – so viel sei vorweggenommen – wurde von einigen deutsch-sprachigen Autoren bereits des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit einerKlarheit verfochten, die es einmal mehr erstaunlich wirken lässt, wie wenig man sich seitens der ‹music theory› um mögliche historische Vorläufer küm-mert und jede Hypothese folglich mit dem Aplomb völliger Neuheit ver-künden kann.26Ähnliches gilt für die – eben schon am Rande eingeführte – Kategorie der ‹Verkörperung›, die im aktuellen Theoriediskurs, vor allemder Theaterwissenschaft, bekanntermaßen eine wichtige Rolle spielt. Hierbei geht es vornehmlich um die Verwandlung des «semiotischen Körper[s]», wie ihn das 18. Jahrhundert mit Bezug auf den Schauspieler als leibgewordenen«Zeichenträger» gefordert habe,27in den Körper des avantgardistischen und postdramatischen Theaters, emanzipiert vom «Signikantendienst»28und da-durch frei gewordenfür ein «energetisches Wirkpotential»,29dessen schiere 25C. Dahlhaus, «Der Dirigent als Statthalter», S. 574; vgl. hierzu auch A. Dorschel,«Aesthetics of Conducting», S. 66–69.26Eine Ausnahme bildet der in Wien geborene und bis 2011 an der Yale Universitytätig gewesene Psychologe, Sprachwissenschaftler und Kognitionsforscher Bruno H. Repp, der Anfang der 1990er Jahre auf das hier später zu besprechende, 1938 er-schienene Buch Gestaltung und Bewegung in der Musikvon Alexander Truslit aufmerksammachte («Truslit’s ideas []antedate by several decades modern developments in psychology and psychomusicology») und diesen Hinweis mit der folgenden ironischen Bemerkung verknüpfte: «Historical consciousness is limited in today’s science, par-ticularly in the fast-moving United States. Apart from a few classics that are cited (though perhaps not read) by everyone, literature that goes back more than a few decades is commonly ignored, particularly if it is in a foreign language.» Siehe Bruno H. Repp, «Music as Motion: A Synopsis of Alexander Truslit’s (1938) Gestal-tung und Bewegung in der Musik», in: Haskins Laboratories Status Report on Speech Research 111/112 (1992), S. 265–278, hier S. 277, 265 (www.haskins.yale.edu/sr/SR111/sr111_21.pdf; zuletzt eingesehen am 3. Januar 2015). Auch erschienen in: Psychology of Music 21 (1993), S. 48–72.27Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen,Frankfurt am Main 2004 (= edition suhrkamp 2373), S. 132.28Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater [1999], Frankfurt am Main 42008, S. 362.29 E. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 138–139.
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«Mimische Ausdruckshandlungen»21«Materialität»30und «Präsenz»31über die hermeneutische Sinnproduktion hinausschießen. Dies scheint auf den ersten Blick tatsächlich scharf abzu-stechen von jenem rhetorisch geprägten Körperbild, das Dahlhaus für den Dirigenten reklamiert und in dem die Gestik gerade darauf verpichtet wird, Ausdruck eines «redenden Subjekts» zu sein,32was eher an den ‹semio-tischen Körper›, den Körper als ‹Zeichenträger› im Sinne der Ästhetik des 18. Jahrhunderts denken lässt.Doch so einfach ist die Sache nicht. Denn die Notwendigkeit des Dirigen-ten als ‹Statthalter› bildet bei Dahlhaus gerade eine ästhetische Konsequenz der ‹absoluten Musik›, deren Expressivität über die Zeichenrelation der Wort-sprache hinausführt, in dasjenige, was die Frühromantik zum Reich des Un-sagbaren erklärte und wo eben eine Übersetzung des ‹Sinns› in eindeutige Begriffe nicht mehr möglich ist, die Tonkunst gleichsam vom ‹Signikanten-dienst› befreit wird. Statt des Wortes kann ihr dort allein noch die Geste zur Seite stehen, aber nicht als «Zeichen» für eine in der Musik niedergelegte,rationalisierbare «Bedeutung», sondern als sichtbares Äquivalent dynamischer klanglicher Prozesse, beides verbunden durch «körperliche Sinnlichkeit» und «Nonverbalität», und zwar unter dem Primat des «Ausdrucks», der Zentral-kategorie anthropologischer Ästhetik seit dem späten 18. Jahrhundert, mitJohann Gottfried Herder als entscheidendem Impulsgeber.33So weit, bis zu Herder, soll aber im Folgenden nicht zurückgegangenwerden.34Das Ziel des vorliegenden Textes ist, drei spätere Etappen anthropo-logischer Ausdruckstheorie im Hinblick auf die Bestimmung der Funktion des Dirigenten Revue passieren zu lassen, nämlich die Theorien Friedrich von Hauseggers, Helmuth Plessners und Alexander Truslits, und sie mit historischrekonstruierbaren Innovationen der Dirigierästhetik im 19. Jahrhundert,namentlich bei Franz Liszt, Richard Wagner und Hans von Bülow, zu ver-knüpfen. Seitenblicke sollen der energetischen Musikbetrachtung Ernst Kurths, dem Tanzideal Isadora Duncans und der auf die Cheironomie bezogenen Auf-fassung des Gregorianischen Chorals bei André Mocquereau gelten – scheinbar disparate Bezugspunkte, die aber, wie zu zeigen sein wird, verschiedene Aus-prägungen ein und desselben Grundgedankens darstellen.30Vgl. die Beiträge des Sammelbandes Materialität der Kommunikation,hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt am Main 1988 (= suhrkamptaschenbuch wissenschaft 750).31Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Production of Presence: What Meaning Cannot Convey, Stanford 2004; deutsch: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz,übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 2004 (= edition suhrkamp 2364).32 C. Dahlhaus, «Der Dirigent als Statthalter», S. 574.33Vgl. Andreas Käuser, «Der anthropologische Musikdiskurs. Rousseau, Herder unddie Folgen», in: Musik & Ästhetik 4 (2000), H. 16, S. 24–41 (Zitate S. 27, 29).34Vgl. ergänzend Arne Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form. Facetten einer musik-ästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder,Richard Wagner und Franz Schreker, Stuttgart 2006 (= Beihefte zum AfMw 58).
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Arne Stollberg22Verkörperung des Orchesters: Das Dirigentenbild Friedrich von HauseggersFriedrich von Hauseggers Schrift Die Musik als Ausdruck –zunächst 1884 fort-setzungsweise in den Bayreuther Blätternund ein Jahr später als selbständiges Buch publiziert35– entfaltet eine unter anderem durch die Evolutionsbiologie Charles Darwins inspirierte Musikauffassung,36in der die Tonkunst von ihren archaischen Ursprüngen her, aber noch in den kompliziertesten künstlerischenAusformungen, als Mittel zur Empndungsäußerung über den Körper begrif-fen wird. Wiesich jede Emotion gleichsam an der Außenseite des Menschen naturnotwendig abzeichne, in mimischen und gestischen Merkmalen, in Ver-änderungen der Haltung, der Muskelspannung oder der Gesichtsfarbe, so würden auch Töne und Laute dem entsprechenden Gefühl aufgrund psycho-physiologischer Wechselwirkungen unmittelbar Ausdruck verschaffen, nur eben akustisch – als «hörbar gewordene Muskelbewegungen, hörbare Ge-berden».37Dieses Zusammendenken von Musik und Körper in einer einzigen, visuell und akustisch ausgeprägten Gebärde, die aber in allen Formen letzt-lich demselben Ausdrucksbedürfnis des ‹ganzen Menschen› entspringe,38führt Hausegger zu der Überlegung, dass wir beim Musikhören nicht darauf ver-zichten können, den musizierenden Körper optisch wahrzunehmen oder uns zumindest das «Walten menschlicher Bethätigung» als Ursprung der Klängevorzustellen (weshalb er jede rein maschinelle oder «elektromotorische» Ton-erzeugung verwirft, weil sie unlebendig und bestenfalls «komisch» sei): «Es ist []ein Erforderniß der musikalischen Kunstübung, daß sich dabei Menschen in sinnlich wahrnehmbarer Weise bethätigen.»39Hieran aber knüpft 35Friedrich von Hausegger, «Die Musik als Ausdruck», in: Bayreuther Blätter7 (1884), S. 9–15, 37–48, 78–82, 107–113, 142–152, 175–184, 214–219, 242–253, 305–316, 356–367, 381–393. Buchfassung: Wien 1885. Hier zitiert nach der kritischenNeuausgabe der zweiten, vermehrten und verbesserten Auage (Wien 1887): Die Musik als Ausdruck, hg. von Elisabeth Kappel und Andreas Dorschel, Wien u.a. 2010 (= Studien zur Wertungsforschung 50).36Vgl. Arne Stollberg, «Mozart durch Darwins Brille. Friedrich von Hauseggers Anthro-pologie derMusik und ihre Perspektiven für die Opernanalyse», in: Dialoge und Resonanzen – Musikgeschichte zwischen den Kulturen. Theo Hirsbrunner zum 80. Geburtstag, hg. von Ivana Rentsch u.a., München 2011, S. 75–91.37 F. v. Hausegger, Die Musik als Ausdruck, S. 37.38Zur Formel vom ‹ganzen Menschen› als Emblem anthropologischen Denkens vgl. exemplarisch die folgenden Sammelbände: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert.DFG-Symposion 1992, hg. von Hans-Jürgen Schings, Stuttgart u.a. 1994 (= Germanistische Symposien. Berichtsbände 15); Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte,hg. von Bernd Janowski, Berlin 2012.39 F. v. Hausegger, Die Musik als Ausdruck, S. 107, 106.
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«Mimische Ausdruckshandlungen»23Hausegger – offenbar angeregt von Wagners Oper und Drama40– einen weiteren Gedankengang, der aufhorchen lässt. Er argumentiert nämlich, dass eigentlich nur der vom Körper unmittelbar hervorgebrachte Gesang die Einheit dersichtbaren und hörbaren Gebärde in ursprünglicher Weise garantiere, währendjedes Instrument bereits eine gewisse Entfremdung bedeute, am wenigsten im Fall der Streichinstrumente, bei denen sich die «durch das Ausdrucks-bedürfniß des Körpers hervorgerufenen Muskelbewegungen []zum großen Theile» direkt «auf die Saiten» und damit auf die «Empndlichkeit und Elasticität ihres Tones» übertragen würden, stärker hingegen bei den Blas-instrumenten:Das vornehmste Organ des Ausdruckes, der Mund, muß da eine seiner natür-lichen Ausdrucksweise widerstrebende, ihm aufgedrungene Arbeit leisten; die Athmungswerkzeuge sind einer übermäßigen Thätigkeit preisgegeben; daß [sic!]dabei mehr oder weniger hervorgetriebene Auge verliert seineFähigkeit, feinere Empndungsnüancen zu vermitteln; aber auch dem her-vorgebrachten Tone selbst vermögen sich wirkliche Ausdrucksbewegungen der Muskulatur nur in beschränktem Maße zu überantworten.41Als guter, wenn auch gedanklich eigenständiger Wagnerianer zieht Hauseggerhieraus die Konsequenz, den verdeckten Orchestergraben im Bayreuther Fest-spielhaus als Lösung des Problems anzupreisen, da solchermaßen die Aufmerk-samkeit allein auf den «darstellenden Sänger» gelenkt werde.42Für Konzerte hingegen schwebt ihm etwas anderes vor, auch wenn er es nur beiläug er-wähnt und lediglich en passantdie allerdings zentrale Formulierung fallen lässt vom «Orchester, als dessen Verkörperung der Dirigent erscheint».43Dabei liegt dies genau auf der Linie seiner Argumentation: Wenn die technischen Zwänge des Instrumentalspiels die Ausdrucksgesten der Musiker entstellen und verzerren, so dass hörbare und sichtbare Gebärden auseinanderklaffen, muss eine Instanz einspringen, die beides wieder zusammenführt – in WagnersMusikdrama der ‹darstellende Sänger›, im Konzert der Dirigent als «Musik-darsteller».44Hausegger führt diesen Gedanken, wie gesagt, nicht weiter aus, vor allem wohl deshalb, weil er es seinem Leitstern Wagner schuldig zu sein glaubt, sichganz auf das Musikdrama in Bayreuth als Zielpunkt der Kunstentwicklung zu konzentrieren, was die Gattung des Konzerts – mit sichtbarem Orchester und sichtbarem Dirigenten – ohnehin zur Nebensache macht. Ein anderer Autor aber hat später, erstmals 1923 und danach im Verlauf seines langen Lebens40Vgl. Richard Wagner, Oper und Drama [1850/51], hg. und kommentiert von Klaus Kropnger, Stuttgart 1984 (= Reclams Universal-Bibliothek 8207), S. 130–132.41 F. v. Hausegger, Die Musik als Ausdruck, S. 106–107.42 Ebd., S. 107.43Ebd.44Vgl. Hans-Klaus Jungheinrich, Der Musikdarsteller. Zur Kunst des Dirigenten,Frankfurt am Main 1986.
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Arne Stollberg24immer wieder, zuletzt 1970, die Rolle des Dirigenten genau in HauseggersSinne konzeptualisiert, offenbar ohne dessen Schriften zu kennen. Die Rede ist von Helmuth Plessner, Philosoph und Soziologe, Hauptvertreter der philo-sophischen Anthropologie neben Max Scheler und Arnold Gehlen – ein Den-ker,der bis heute, als Einzelgänger und Grenzgänger zwischen den Diszipli-nen, keiner Schule wirklich zugehörend, häug durch das Raster selektiver Rezeptionsmechanismen hindurchfällt,45auch im Bereich der Musikwissen-schaft.46Dabei enthält sein frühes, 1923 erschienenes Buch Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistesnichts weniger als eine «konzen-trierte Philosophie der Musik»,47die in vielerlei Hinsicht interessant ist und eigentlich noch niemals so gewürdigt wurde, wie es ihrer Originalität ent-sprochen hätte. Wobei der Begriff ‹Originalität› allerdings relativiert werden muss, denn wie allein schon die erwähnte Nähe zu Hausegger zeigt, steht Plessner in einer Tradition anthropologischen Musikdenkens, die auch diePraxis einbegreift, nämlich die ‹Erndung› des modernen Dirigenten bei Franz Liszt, Richard Wagner und Hans von Bülow. Dazu später mehr.45Vgl. Hans-Ulrich Lessing, Hermeneutik der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer «Ästhesiologie des Geistes» nebst einem Plessner-Ineditum,Freiburg im Breisgau u.a. 1998 (= Phänomenologie. Texte und Kontexte II/5), S. 16–37.46Als Ausnahmen seien genannt: Volker Kalisch, «Körpergefühl und Musikwahrneh-mung. Musik in anthropologischer Perspektive», in: Festschrift Christoph-Hellmut Mahling zum 65. Geburtstag,hg. von Axel Beer u.a., Tutzing 1997, Bd. 1, S. 641–655 (Wiederabdruck in: Soziale Horizonte von Musik. Ein kommentiertes Lesebuch zur Musik-soziologie, hg. von Christian Kaden und Karsten Mackensen, Kassel u.a. 2006 [= Bären-reiter Studienbücher Musik 15], S. 203–216); Hans Ulrich Gumbrecht, «Mozarts ‹Präsenzen›. Ist es möglich, Hörvergnügen zu beschreiben?» Deutsch von Joachim Lüdtke, in: Mozarts Klavier- und Kammermusik,hg. von Matthias Schmidt, Laaber 2006 (= Das Mozart-Handbuch 2), S. 483–498, bes. S. 486–489; Andreas Käuser, Schreiben über Musik. Studien zum anthropologischen und musiktheoretischen Diskurs sowie zur litera-rischen Gattungstheorie,München 1999 (= Figuren 6), bes. S. 107–119, 177–178. Zur Plessner-Rezeption im Bereich der Musikpädagogik vgl. Christoph Richter, «Über-legungen zum anthropologischen Begriff der Verkörperung. Eine notwendige Ergän-zung zum Konzept der didaktischen Interpretation von Musik», in: Anthropologie der Musik und der Musikerziehung. Referate des Symposions vom 24.–25. Oktober 1986 an der Pädagogischen Hochschule Flensburg, im Auftrag der Gesellschaft für Musik-pädagogik hg. von Reinhard Schneider, Regensburg 1987 (= Musik im Diskurs 4), S. 73–120.47 H.-U. Lessing, Hermeneutik der Sinne, S. 248.
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«Mimische Ausdruckshandlungen»25Ausdruckstanz am Pult: Zur Rolle des Dirigenten in Helmuth Plessners Anthropologie der MusikDie Komplexität von Plessners Buch macht hier eine Beschränkung auf das Musik-Kapitel notwendig, natürlich um den Preis, dass dessen Einbettung in das Gedankengebäude der Ästhesiologie des Geistesetwas unscharf bleibt. Die zusammenfassende Darstellung soll aber ohnehin vor allem auf das Phänomen des Dirigenten hin zugespitzt werden, auch unter Einbeziehung späterer Schriften Plessners bis 1970, die in musikästhetischen Fragen eine bemerkens-werte Konstanz aufweisen und daher, trotz des langen Zeitraums, als kohären-ter Gesamtentwurf betrachtet werden können.Ganz in der Tradition der etwa bei Herder im späten 18. Jahrhundertentwickelten und von Hausegger fortgeschriebenen Ausdruckskategorie setzt Plessner als Prämisse voraus, dass Musik einen «Sinn» offenbart und kommu-niziert, dass dieser «Sinn» aber nicht mit zeichenhafter «Bedeutung» ver-wechselt werden dürfe, da es für ihn keine «wortsprachliche[n]Äquivalente» gebe,48er also stets «atheoretisch, außerbegrifich» zu denken sei.49Musikali-scher «Sinn» manifestiere sich, wie Plessner wörtlich sagt, als «Ausdrucks-sinn», und diesem entspreche nur eine einzige «Adäquation», nämlich die «Ausdrucksbewegung» im «reine[n] Tanz und [im] wahre[n] Dirigieren».50Reine Musik stellt nichts dar, sagt nichts aus, illustriert nicht, symbolisiert nicht. []Deshalb ist die eigentümliche Leere des Bewußtseins bei voller Anregung aller innerlichen Kräfte der ganz adäquate Zustand zum themati-schen Verstehen []. In der Erregung und Auockerung des sonst durch Anschauung und Bedeutung an Gegenstände gebundenen Bewußtseins weckt Musik in jedem Falle ein psychisches Echo, um schließlich im TanzHaltungen des Leibes hervorzurufen, die den psychischen Spannungen kon-form sind.51Von dieser Beobachtung aus legt sich Plessner die Frage vor, wieso eigentlichnur die Musik die Fähigkeit besitze, im Tanz oder im Dirigieren «Einuß auf Haltung und Bewegung des Leibes» auszuüben,52während optisch Wahrnehm-bares unsere Motorik niemals aktivieren könne, sei es auch – wie in manchen Versuchen der abstrakten Malerei, etwa bei Kandinsky – der Musik vorgeb-lich angenähert. «Und wenn man von einer rhythmisch gegliederten Fassade 48Helmuth Plessner, «Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie desGeistes» [1923], in: ders., Gesammelte Schriften,hg. von Günter Dux u.a., Frankfurt am Main 1980–1985, Bd. 3, S. 7–315, hier S. 179.49H. Plessner, «Zur Phänomenologie der Musik» [1925], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 59–65, hier S. 63.50 H. Plessner, «Die Einheit der Sinne», S. 222, 228.51 Ebd., S. 187–188.52 Ebd., S. 228.
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Arne Stollberg26spricht: tanzen kann man sie nicht.»53Die naheliegende Erklärung, dass Musik und Tanz Künste der Bewegung seien, hält Plessner für ungenügend, da auchdie Poesie eine «rhythmisch gegliederte Bewegung» aufweise.54Das «Versmaßeines Gedichts» aber transportiere an sich keinen Sinn beziehungsweise ‹Aus-druckssinn› – ebenso wenig wie der «bloße Takt eines Musikstückes». Und hier wird es für unseren Zusammenhang besonders interessant:Einfach den Takt schlagen wie der Metronom, ergibt keine innere verständ-liche Verbindung zum musikalischen Sinn. Bülow wehrte die Beschränkung des Dirigierens auf solche Tätigkeit mit dem Worte ab: wir sind keine Ruder-knechte.55Zwar war es Franz Liszt, nicht Hans von Bülow, der das Diktum prägte, Diri-genten seien «Steuermänner und keine Ruderknechte».56Aber dass Plessner gerade diese – wenn man so will – ‹neudeutsche› Dirigiertradition als An-knüpfungspunkt wählte, spricht für sich. Vonihr scheint er seine musika-lische Phänomenologie wesentlich abgeleitet zu haben – ein Konnex, der gleich näher betrachtet werden soll.Vorher sei jedoch kurz noch der Faden von Plessners Frage wieder aufge-nommen, warum nur Musik die Motorik des Körpers unmittelbar beeinusse, im Gegensatz zu Poesie, Malerei oder Architektur. Die Ursache hierfür siehtPlessner – wie gesagt – nicht allein im Aspekt der Bewegung, schon gar nicht, wenn sich diese als Takt oder Metrum manifestiert, sondern im «Stoff» derMusik: im spezischen Wesen der Töne und des Schalles.57Die Töne selbst, soPlessner, seien gewissermaßen etwas Leibliches, Dreidimensionales, erkennbarschon durch die Tatsache, dass die «Notenschrift», obwohl «bloßes Zeichen-system», «vertikal und horizontal» gleichzeitig funktioniere, in einem imagi-nären Raum also tiefe Töne unten, hohe Töne oben abbilde,58während alles Optische immer dem Zweidimensionalen der Fläche verhaftet bleibe. Nicht physikalisch ist dies freilich begründet, sondern eben aus der Qualität der Sinneswahrnehmung heraus: Töne werden nach Plessner «phänomenal räumigerlebt» (terminologisch nicht gleichzusetzen mit ‹räumlich›).59Sie bewirken 53H. Plessner, «Anthropologie der Sinne» [1970], in: ders., Gesammelte Schriften,Bd. 3, S. 317–393, hier S. 349.54 H. Plessner, «Die Einheit der Sinne», S. 225.55 Ebd., S. 225–226.56Franz Liszt, «Ein Brief über das Dirigieren. Eine Abwehr» [1853], in: ders., Gesammelte Schriften,hg. von L[ina]Ramann, Bd. 5: «Streifzüge. Kritische, polemische und zeit-historische Essays», Leipzig 1882. Reprint Hildesheim u.a. 1978, S. 227–232, hier S. 232.57 H. Plessner, «Die Einheit der Sinne», S. 229.58 Ebd., S. 238.59Ebd., S. 233; eine gewisse Parallele ergibt sich von hier zu Ernst Kurths Reexionenüber die «Masseempndungen in Tönen und Klängen», also über den mit akustischerWahrnehmung verbundenen Eindruck von «Gewicht, Schwere», aber auch von