Land

Lolitas späte Rache

Quer-durch-Europa-Krimi mit Rezepten

Ulrich Land

Lolitas späte Rache

Quer-durch-Europa-Krimi mit Rezepten

1.

Berliner Philharmonie.

28. März 1922.

Der große Saal vollbesetzt. Die Luft stand. Die Herrschaften gähnten. Erst verstohlen in den Frack, in die Stola. Dann erhobenen Hauptes, aber mit vorgehaltener Hand. Schließlich nicht mal mehr das. Unverhohlen wurden klaffende Löcher in die Luft gebohrt. Die Einladung der barock überladenen Wände, den Blick schweifen zu lassen, hatte man bis zum Gehtnichtmehr ausgekostet. Säulen und Säulenheilige, Balkone und Stuckschnörkel, Engel, Schwäne, Elefanten und geflügeltes Wolfsgetier – nichts, was der Konzertsaal aufzubieten vermochte, um die Tentakel der Tristesse zu vertreiben, konnte die tödliche Langeweile auflösen.

Miljukow blickte, wenn er kurz von seinem Redemanuskript aufsah, in eine Galerie schlafstarroffener Mäuler. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Obwohl er genau wusste, lange konnte er auch die letzten paar aufmerksamen Figuren im anderthalbtausend Köpfe zählenden Publikum nicht mehr binden. Unversehens wurde seine Stimme brüchig, dabei musste sie doch wenigstens laut sein, energisch. War sie aber nicht. Umso weniger, je mehr er sich dessen bewusst wurde. Er musste einen Schluss finden, den Punkt setzen. Wenn er nur wüsste, wie!

»Ein monarchistisches Russland aber«, rief Miljukow ins vor sich hindämmernde Auditorium, »ein monarchistisches Russland wird ebenso wie ein bolschewistisches von Amerika nicht die geringste Unterstützung zu erhoffen, geschweige denn zu erwarten haben. Und nicht zuletzt deshalb, verehrte Freunde Russlands, geben Sie der Welt durch Ihren Applaus zu verstehen, dass Sie gleich meiner von der baldigen Wiederherstellung einer demokratischen Republik Russland felsenfest überzeugt sind!«

Worauf die ganze angestaute Trägheit explodierte, sich in tosenden Applaus entlud. Miljukow verneigte sich artig und wusste doch, dass die stürmischen Ovationen weniger seiner Rede, ihrem Inhalt, ihrer Rhetorik huldigten, als dem Umstand, dass er, der politisch ehrenwerte Redner, ein Ende gefunden hatte. Mit einer durchaus passablen Conclusio, wie er selbst befand.

Plötzlich jedoch hörte er – unverkennbar – Misstöne zwischen Händeklatschen und Bravo-Gebrüll, das jetzt nahtlos in panisches Kreischen überging. Kein Zweifel, was da aus dem Publikumsgetöse herausgestochen hatte, waren Schüsse!

Zwei, drei Revolverschüsse Richtung Bühne. Aus einer der vordersten Reihen. Wo jetzt einer der Attentäter auf seinen Stuhl sprang und, während er noch zwei Schüsse über die Köpfe des aufgewühlten Publikums hinwegzischen ließ, nach Leibeskräften schrie: »Für die Zarenfamilie und Russland!« Zur Bekräftigung feuerte er eine weitere Kugel ziellos Richtung Bühne ab.

Kein Halten mehr! Wirre Panik schwirrte durchs Publikum, breitete sich rasend wie ein Lauffeuer aus bis zu den hintersten Reihen und zu den obersten Rängen. Frauen mit angstgeweiteten Augen kreischten und erbrachen über die Ausbuchtungen der erlesenen Abendgarderobe den Krimsekt, den sie soeben in der Pause unter Abspreizen des behandschuhten kleinen Fingers zu sich genommen hatten. Männer brüllten und fuchtelten mit den Fäusten. Kerle in feinem Zwirn droschen aufeinander ein und versuchten, sich zu den Saaltüren durchzuschlagen, ihre schreckgöbelnden Weibchen im Schlepptau.

Doch wieder schaffte es der Attentäter, den Tumult zu übertönen, indem er eine Kugel zum Kronleuchter schickte, der zwar klirrend antwortete, eine Glassplittersalve abwärts schickte, bedrohlich schaukelte, aber hängen blieb. »Das ist die Rache für die Ermordung des Zaren, die Sie mitverschuldet haben!«, rief der Schütze mit sich überschlagender Stimme und unterstrich sein Vermächtnis mit einem weiteren Schuss.

Miljukow stand stocksteif da. Unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Während unmittelbar vor ihm am Bühnenrand Senator Nabokov – der Vater des später in Rede stehenden Romanciers Vladimir Nabokov –, während also Senator Nabokov, die eine Hand auf die Brust, die andere auf den Magen gepresst, einknickte, entsetzt zusah, wie das Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll, und mit letzter Kraft ein »Verblendete Idioten ihr!« herausbrachte. Um anschließend kopfüber vom Bühnenpodest herabzustürzen und schließlich, gebogen wie eine Sichel, liegen zu bleiben. Regungslos. Die »verblendeten Idioten« sollten die letzten Worte seines 52 Jahre jungen Lebens sein, bevor er unter einem stoßweise ausgeworfenen Blutschwall leise röchelnd aufgab. Eine für alle Beteiligten rätselhafte Aktion: Schien es doch so, als sei der Senator mit zwei, drei Schritten gradewegs in die Schussbahn gehastet. Wirklich selbstloser Schutzreflex, um den politisch eine minimale Rangstufe höher stehenden Kollegen Miljukow zu retten, wie die Presse vermeldete, Märtyrertum für den Sieg des russischen Liberalismus? Oder waren es die dramatischen Umstände, die den Senator in den letzten Wochen überrannt und übermannt hatten und die ihn nun diesen Schritt in den Tod hatten gehen lassen? Oder war es beides?

»Du musst sterben, Schurke!«, sekundierte jetzt der zweite Attentäter seinem Kollegen. Ebenfalls auf den Stuhl gesprungen, bedachte er den Leib des Senators mit zwei weiteren Kugeln. Mit einem akrobatischen Satz schwang er sich auf die Rückenlehne zweier Stühle, suchte und fand mit gespreizten Beinen eine wacklige Balance. Stabil genug jedenfalls, um etliche Schüsse über die Köpfe der letzten noch verbliebenen und um so entsetzter schreienden Zuschauer hinwegjagen zu lassen, bis schließlich sein Magazin leergeknallt war. »Ihr habt die Monarchie vernichtet, jetzt vernichtet unsere Rache euch!«

Plötzlich jedoch zischte sein Kompagnon: »Der Falsche! Wir haben den Falschen getroffen.« Zu spät. Die beiden Attentäter wurden unter Lynchgebrüll überwältigt.

Ein Abend jäh erwacht aus dem öden Gleichmaß des Einverständnisses.

Ein Abend, der eine Vorgeschichte hatte, ähnlich turbulent wie sein todbringendes Ende.

Ein Abend, der eine Nachgeschichte hatte, die den Bogen über sieben Jahrzehnte spannen sollte, bevor er dem Vergessen anheim fiel und untergepflügt wurde vom Rad der Geschichte.

2.

Montreux, Schweiz. Dachsuite im Palace-Hotel.

In den ersten Tagen des Jahres 1991.

Sie strahlte eine unglaubliche Stille aus. Versunken, nicht abgesunken. Trotz des plüschigen Sessels mit durchgedrücktem Rücken, mit hochgerecktem Kopf. Mit punktgenau ausgerichteten Augen. Den See im Visier. Sie hatte sich den Sessel vor Urzeiten in ihre Lieblingsposition am Fenster gezogen, ungeachtet der Schrammen, die die Sesselfüße ins uralt-würdige Parkett treiben mochten. Hatte Position bezogen, sich niedergelassen im viel zu weichen Polster, leicht nachgewippt, dann zur Ruhe gekommen. Ihr Gesicht glättete sich, die Stirn ohne jede Falte. In den Lachkerben rund um den Mund glitzerte ein feiner Schweißfilm. Der langsam über den See und die drüben, weit hinterm andern Ufer, emporwachsenden faltigen Schneeberge wandernde Blick. Selbstvergessen.

Am Ufer hatte sich, vor allem im Röhricht, Eis gebildet. Zerbrechliches Milchglas noch, das nicht mal einen Meter vom Ufer weg in einen hauchdünnen Eisfilm auslief, bevor es ins schwarzgrüne Seewasser überging. Jeden Tag, so stellte sie beruhigt fest, wagte sich die Eisfolie ein bisschen weiter auf den See hinaus. Und so war dieser Eishauch geeignet, sie an ihre ferne Heimat zu erinnern. Obwohl sie nunmehr schon dreißig Jahre, davon vierzehn verwitwet, hier oben in der wohltemperierten Dachsuite mit der atemberaubenden Aussicht zubrachte, trug sie der Blick aufs behutsam wachsende Seeeis bis rüber in die geliebte russische Winterwelt. Das knisternde Kaminfeuer, das der eifrige Page in aller Frühe entfacht hatte, und die in der Wärme knackende Kirschholzvertäfelung der Wände taten ein Übriges.

Doch plötzlich – unerklärlich und unerheblich, wie diese Person sich Zutritt verschafft haben konnte –, plötzlich stand, ohne angeklopft zu haben, eine Frau mitten in ihrem Zimmer und sprach sie hinterrücks an: »Frau Nabokov, Véra Nabokov?«

Véra Jewsejewna Nabokov strich ihr silbergraues Haar zurück und antwortete, ohne den See aus den Augen zu lassen, geschweige denn sich aus dem Sessel zu erheben: »Wie wäre es mit einem Wort des Grußes?«

Worauf die Person trotz der Aufforderung verzichtete, seis, weil sie nicht wusste, was sich gehörte, oder weil sie es in diesem Fall auf einen Affront anlegte und die gebotene Höflichkeit bewusst nicht zur Anwendung brachte. Sie zog es stattdessen vor, mit der Tür ins Haus zu fallen: »Tun sich noch erinnern?: 28. März ’22! In Berlin. Een Jahr vor Ihrer Nabokov-Ära. Deshalb nehm ick ma an, Se war’n nich höchstpasönlich selbs’ dabei. Aba de Presse – da muss et ja mächtich jerauscht ham in unsam Balina Blätterwald, wa?«

»Wollen Sie mir nicht verraten, mit wem ich das Vergnügen habe?«, bestand Véra so höflich wie beharrlich auf die, wie sie fand, grundlegendsten Regeln zivilisierter Gesprächseröffnung.

»In ’er Philamonie«, kam es unbeirrt von hinten, »wie wer Ihr’n Schwiejervata abjeknallt hat. Se wer’n sich erinnern.«

Jetzt drehte Vera doch den Kopf, und als sie begriff, dass ihr das nicht half, bog sie ihren Oberkörper so weit aus dem Sessel, dass sie um die Rückenlehne herumschielen und die dreiste Person in der Mitte der Suite in Augenschein nehmen konnte. Wie sie da stand, frech breitbeinig, die Füße gespreizt, als ginge es darum, von möglichst großer Standfläche aus ihre Geschütze abzufeuern. Vielleicht zwanzig, eher dreißig Jahre jünger als sie selbst. Also auch längst nicht mehr die Jüngste. Unverschämt angriffslustige Augen über energisch breiten Backenknochen funkelten sie an. Glasblau, die Augen. Als könnten sie durch einen hindurchblicken, ihre eigene Transparenz in den bohrenden Blick legen.

Véra Nabokov wandte sich eilends ab, ließ den Kopf wieder ins Rückenlehnenpolster sinken und starrte auf den See, das dunkle, beruhigende Trauertuch, ohne irgendetwas zu sehen. Sie kam jedoch nicht umhin zuzuhören. Und was sie zu hören bekam, riss und zerrte an ihr.

»Wie der Kumpel von Ihr’n Schwiejervata – Miljukow hieß der, gloob ick –, wie der ’ne Rede jeschwungen hat üba Russland oda wat«, rief diese Person die Ereignisse des unseligen Abends vor siebzig Jahren wieder auf den Plan. »Un ’er Applaus soll noch jedröhnt haben, da knallts. Aba die Chose jeht in die Hose. Den Miljukow jedenfalls habn se nich umjenietet. Keen bissken. Aber dafür lag Ihr’n Herrn Schwiejerpapa schon uff de Krepierseite! Jott noch ma, mit ’n Dämelsack jepudert, der Blödmann! Wat muss er ooch sofort uffspringn?! Direkt in de Schusslinje rinn, Väterchen Nabokov. Der war doch jenau wie der Miljukow son Oberindiana von diese Zarengegners, diese liberalen, wa?«

»Danke der Belehrung, ich bin durchaus im Bilde über die damaligen politischen Aktivitäten meines Schwiegervaters«, versuchte die alte Nabokov es auf die forsche Tour.

Aber die untersetzte Endsechzigerin ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, spulte grinsend ihre Geschichte ab. »Wie unsern Nabokov senior zusammenklappt, padauz de Bühne runta, Ihrer Frau Schwiejermutta direktemang vor de Füße. Un dem Miljukow, um den’s doch eijentlich jing, ma ehrlich, dem hat keener keen Härchen jekrümmt, wa? Und wie dann – wie dann eener von die Attentäters uff de Bühne jesprungn sein soll un soll jroße Töne jespuckt ham. Aba da ham se ’n schon in Schwitzkasten drin. – Na jedenfalls, der Sohn von diesen mausetoten Senator, wa, is een jemeinsamen Bekannten von uns.«

»Wer zum Teufel sind Sie?«

»Belinda, meen Name«, lautete die Antwort, »jedenfalls für Sie: Belinda. Könn wir uns dadruff ein’jen?«

»Und was geht Sie mein verstorbener Mann an?«

»Wat sach ick: Bekannter? – Verwandter!«, drehte Belinda auf.

»Verwandt? Das wird ja immer schöner!«

»Da spricht allet dafür. Meene Olle is sich da absolut sicher. War. War sich sicher.«

»Nun los, reden Sie, mein Gott, Sie machen einen ja völlig verrückt!« Während die alte Nabokov ihren Satz noch verklingen hörte, keimte in ihr das Gefühl, als würde sich Belinda in Bewegung setzen. Sie zwang sich, nicht hinzusehen. Und merkte doch und hörte jetzt auch die näher kommenden Schritte. Bis schließlich die kugelrunde Gestalt wie eine grellbunt gewandete Königin auf kurzen Teckelbeinen in ihr Sichtfeld tänzelte. Plötzlich hatte sie sich ganz vor sie geschoben, stand breitbeinig im Seeblick. Keine Waffe gezückt. Was Véra Nabokov irgendwie wunderte. Keine Waffen, doch Worte. Forscher noch als eben. Tiefer dringend. Starrte einfach. Starrte sie einfach an.

Und grinste ihr frontal ins Gesicht: »Na, rechnen wir ma!: Ick bin jetzt 69, wo ick hier antanze bei Sie; schon bissken wat her, wie mir meene Mudda in der Ehestandslokomotive alleene, muttaseelenalleene durch ’n Wedding jeschoben hat. Also nehm wir ma bloß die ersten zwanzich Jahre. Zwanzich ma zwölfe macht nach olle Adam Riese 240 Monate. Un halten wir uns an die Preise von heute und schraubens or’ntlich bissken runta, sagn wir: dreihundertfuffzig Mark, ach nee, hier sind ja Schweiza Frankens anjesagt, sagn wir – ick weeß den Wechselkurs nich – sagn wir: zweehundertzwanzig pro Monat. Macht 52.800 Schweizer Franken. Oder Dollars? Wollen Se’s in Dollarsse berappen? Amerika liegt Sie vielleicht näher, ick meen, all die Jahre drüben. Mir ooch recht. Wärn det runde 36.000 Dollarsse. Jetzt für mich schon ma. Zuzüglich …«

»Wovon reden Sie?« Véra Jewsejewna Nabokov merkte, wie sich ihr Gesicht in Falten legte, wie sich in den Kerben Pfützen bildeten, wie sich ihr dünnes Haar an die Kopfhaut klebte.

»… zuzüglich, sagn wa: det Doppelte an nich jeleisteten Unterhaltszahlungen für meene Olle, Jott hab se selig. Sind wir bei hunderttausend Dollarsse.« Belinda, das Luder, bekam die ganze Rechnerei ohne Stift und Papier hin. Die Zahlen purzelten nur so aus ihr heraus. Offensichtlich hatte sie das alles schon lange mit sich rumgeschleppt, hin- und hergewälzt, abgewägt und von allen Seiten betrachtet. Sie hatte gerechnet. Im Vorfeld. Hatte sich vorbereitet. Ohne Frage. »Un außerdem wegen den Bestseller: ›Lolita‹, Sie wissen schon«, kartete sie nach, »da muss schon noch ’n ordentliches Sümmchen oben druff als Entschäd’jung, wa? Weil, also ick meene, ohne uns – den hätt Ihr Jötterjatte nie hinjekriegt, den Roman. Ohne uns.«

Belinda warf der alten Dame noch einen Blick vor den Bug, drehte dann ab und rauschte mit geblähten Segeln aus dem Zimmer.

Véra Nabokov war sich sicher, dass dieser ganze Auftritt ein abgekartetes Spiel war. Auch jetzt, dass sie jetzt hier allein saß, völlig aufgewühlt, Jahrzehnte Zurückliegendes wieder hochgespült, dass ihr der Schädel dröhnte, als stünde sie mitten im Maschinenraum eines Ozeanriesen, auch das war glasklar kalkuliert. Zusätzlich befeuert durch diesen steilen Abgang. Mittendrin gewissermaßen. Mitten in der Aufrechnung der Abrechnung. Mitten in der Aufregung.

Und Véra wusste, das Spiel würde seine Fortsetzung finden.

Aber warum um Himmels willen kam diese Belinda mit der uralten Philharmonie-Mord-Geschichte an? Wo sie doch genau wusste, dass sie, Véra, nicht dabei war, dass das Schicksal sie erst ein Jahr später auf den Plan gerufen hatte, dass sie mit dem ganzen Nabokov-Clan und seiner Vor- und Frühgeschichte, mit den Ereignissen des Jahres ’22 nicht das Geringste zu schaffen hatte.

Auch wenn Véra die Antwort nicht wusste, so wusste sie doch: Das würde sich aufklären – schneller, als ihr lieb sein konnte.

3.

St. Petersburg.

1906.

Die Mutter wars, die ihn wieder dabei ertappte. Und sie hatte es doch so oft schon gesagt. Aber so sehr er sich dagegen wehrte, das Zimmer seiner kleinen Schwester – es war wie ein Magnet. Nicht wie! Es war ein Magnet. Er musste, konnte nicht anders, er musste die Tür aufmachen. Am besten, wenn sie mit Mademoiselle Cécile, der Gouvernante aus dem fernen, fernen Lausanne, wenn sie mit Mademoiselle unterwegs war. Dann hatte er freie Bahn. Konnte sich in aller Ruhe an diesem verbotenen Dunstkreis weiden.

Und heute waren sie losgezogen, die Schwester und Mademoiselle, das wunderbare Sonntagsballett anschauen, hatte es geheißen. Langweilig, zum Kotzen langweilig. Aber konnte ihm nur recht sein. Hoffentlich zog es sich, dauerte ewig. Bis Salewski den Gong fürs Abendessen schlug. Am besten so lange.

Vladimir drückte behutsam, unendlich behutsam die Klinke runter, als fürchte er, sie, die er in dieser Schatz- und Wunderkammer wusste, aus dem Schlaf zu reißen und eine Geplärrelawine loszutreten, die selbstredend sofort die Mutter auf den Plan rufen würde. Leise gab die Tür nach, lautlos glitt er hinein. Begrüßte ohne ein Wort, nur kurz mit den Augen zwinkernd, die süße Dreierbagage. Aber jetzt galt es erst mal, die Tür genauso behutsam wieder zu schließen. Was genauso, was mindestens so schwer war wie vorhin das Reinkommen. Diese fiebrige Ungeduld in den Knochen. Wenn man so nah davor war. Auch jetzt aber verhielt die Tür sich mucksmäuschenstill, legte sich sanft ins Schloss. Wie geschmiert.

Die süßen drei sahen ihn mit großen Augen an. Er sog ihren Duft ein, den er bis hierher zur Tür roch. Den Duft der Seife, mit der die Waschmamsell die Kleider der Süßen auf Vordermann gebracht haben musste. Oder hatte sie sie gleich ganz, mit Haut und mit Haar ins Seifenbad getaucht? Zuzutrauen wars ihr. Ein Duft jedenfalls, der ihn an die Blüten erinnerte, die am Ufer in Wyra immer und immer von den schönsten Schmetterlingen umschwirrt und umschwärmt wurden. Nein, keine Erinnerung, es war der Duft selbst! Der Duft der Schmetterlingsweide. Der das Fieber sprunghaft ansteigen, den Schweiß zwischen den Fingern sprudelnd hervorquellen ließ.

Vladimir zwang sich, noch einen Moment zu verharren. Und zu lauschen. Er legte das Ohr ans alte Holz der Tür: kein noch so leiser Laut im Korridor. Nichts. Das schönste Stillschweigen. Die Stille, die die kleinsten Geräusche erst möglich machte, die einen den Flügelschlag der Falter hören ließ.

Noch einen kleinen Sicherheitsdoppelmoment.

Dann wagte Vladimir ein paar erste Schritte in Richtung der kleinen Truhe, auf der die drei zwischen allerlei Getier, Spitzentüchern, hölzernen schnörkelverzierten Matrjoschkas saßen. Stillstarr und brav. Wie sie ihn voller Erwartung ansahn. Und lächelten. Dieses selige, dieses lautlose, nach Schmetterlingsblütenseife duftende Lächeln lächelten!

Das war der Moment. Der, auf den er so sehnlich gewartet hatte. In dem ihn diese unglaubliche Glückswallung überkam. Die ihn erbeben ließ, am ganzen Leib zittern. Ein warmes, ein heißes Zittern.

Jetzt hielt ihn nichts mehr. Alle Vorsicht und Rücksicht weggefegt. Jetzt rannte er die letzten Schritte zur Truhe. Nahm die erste, Annabelle, wie er sie getauft hatte, französisch elegant chique, nahm sie auf den Arm, wiegte sie, hob sie noch schnell, bevor sie glücklich einschlafen würde, hoch vor sein Gesicht, dass sie sich ansehn konnten. Ja, sie war glücklich, die Kleine. War überglücklich in seinen Armen. Das sah Vladimir. In Annabelles Augen. Er küsste sie vorsichtig auf die nach Wolle schmeckende Wange, drückte noch vorsichtiger seine Zungenspitze, nur die allervorderste winzige Spitze, nur ganz kurz, einen winzigen Moment nur zwischen die roten Lippen. Flink, vorwitzig wie das Rüsselchen des Hauhechel-Bläulings auf der Suche nach Nektar. Das erste Mal, er wagte es zum ersten Mal, ihren Mund zu küssen. Auf den Mund! Nicht bloß sittsam auf die Wange.

Dann legte er Annabelle wieder in seine Arme, wiegte sie noch mal, sanft, sang ihr ein »Baju, bajuschki, baju». Sang. Und sang. Ging zwei, drei Schritte im Zimmer, drehte sich im Kreis, ging weiter, wiegte sie, sang, bis sie eingeschlafen war. Sie konnte die gestickten Augen nicht schließen, das wusste er. Aber sie schlief, auch das wusste er. Schlief glücklich, träumte bereits. Ihren Blütentraum. Er sah es. Und nur er konnte es sehen, konnte es ihr ansehn. Nur er. War und blieb Annabelles und sein Geheimnis, wie er es sah, woran er es sah.

Er legte sie in die Wiege, die Salewski gebastelt hatte. Vor drei Jahren oder wann. Als Olga geboren wurde. Der winzigen, unförmigen Schwester als Geschenk zur Geburt. Ein Unsinn! Die konnte überhaupt nichts damit anfangen. Die konnte überhaupt nichts. Nur schreien. Man musste, um eine Puppe, drei Puppen samt Wiege zu ergattern, offenbar nur laut genug schreien. Und ausdauernd genug. Ewig. Aber davon wusste Annabelle nichts. Rein gar nichts. Sie schlief friedlich in Olgas Puppenwiege. Zudecken. Aber Vorsicht! Nicht, dass sie wieder aufwachen würde. Endlich nahm er Olgas blau gemustertes Halstuch und legte es auf Annabelles offene Augen, damit sie Ruhe finden würde.

Er umschloss ihr Glück mit seinem Glück. Mit seinem Blick. Bevor er sich abwandte, um sich Daschjenka zu widmen.

Daschjenka ließ sich ebenfalls bereitwillig auf den Arm nehmen. Strahlte ihn an – aber –, aber dieses Lächeln war anders. Es lag etwas Angestrengtes darin. Etwas vielleicht, vielleicht sogar Gequältes. Als wäre es der armen Daschjenka irgendwie peinlich. Doch Vladimir wusste, was zu tun war. Er hielt Daschjenka, ohne dass sie es würde bemerken können, etwas, nur etwas auf Abstand und ging mit ihr rüber zum kleinen Ikonen-Altar. Genau die richtige Arbeitshöhe für ihn. Er blinzelte den Ikonenheiligen, der Mutter Gottes, Sophia, dem Heiligen Georg ein »Pardon. Pardon, aber es lässt sich nicht ändern« zu. Worauf er die Ikonenflügel zuklappte, das Laternchen beiseiteschob und die verschämt lächelnde Daschjenka rücklings auf das Spitzendeckchen legte, das Großmutter zu Ehren der Heiligen geklöppelt hatte.

Vladimir atmete kurz durch. Noch einmal. Saugte so viel Luft an, wie die Lungen aufnehmen konnten. Kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, entschuldigte sich durch ein kurzes Kopfnicken bei Daschjenka und versicherte ihr, dass ihr Lächeln schon gleich wieder das alte Leuchten auf ihr Gesicht zaubern würde, bevor er ihr nun endlich das Leibchen nach oben und das übervolle Höschen nach unten zog, um ihr …

»Was machst du da?«

Die Mutter! Sie musste sich reingeschlichen haben. Sich in seinem Rücken aufgebaut, um ihn von hinten zu überfallen. Um ihn zu überführen und vorzuführen wie einen miesen Schurken, der nicht in der Lage ist, den Rückraum des Tatorts abzusichern. Aber all der Ärger übers hinterlistige Anpirschen der Mutter half nicht: Vladimir schoss das Blut ins Gesicht. Er spürte, wie es im Hals pochte, hinter der Stirn, in den Schläfen, in den Ohren trommelte.

»Ich hab dir schon hundertmal gesagt, du sollst nicht mit Puppen spielen. Du bist ein Junge! Ein Nabokov. Geh, hol dir zehn Hiebe bei Salewski ab!«

4.

Montreux, Dachsuite des Palace-Hotels.

Mitte Januar 1991.

Sie schwieg. Und schweigend ging sie die paar Schritte zum Fenster. Nahm sich in ihrer unnachahmlichen, in ihrer unerreichten Impertinenz den Teewagen, der aus gutem Grund, Himmel noch mal, aus sehr gutem Grund direkt neben Véras Sessel postiert war. Zog das Tischchen mit seinen quietschenden, eiernden Rädern irgendwo nach hinten. Richtung Kommode. Véra konnte es nicht sehen – abgeschirmt durch die Rückenlehne ihres Sessels –, nicht sehen, aber hören.

Offenbar am Ziel angekommen, räumte Belinda all die sieben Sachen, die sich in den letzten Tagen dort angesammelt hatten, vom Teewagen und überantwortete sie irgendeiner Ablagefläche, ja, das musste die Kommode sein. Stillschweigend. Auch die Frage, die selbstredend keine Frage war: »Was fällt Ihnen ein?!«, beantwortete sie nicht. Es war nicht zu fassen!

Dann kam diese unmögliche Person mit dem Teewägelchen, das wie ein ausgehungertes Katzenmädchen jaulte, wieder nach vorn geholpert, schob es vorm Fenster ein paarmal vor und zurück, bis sie offenbar die geeignete Position gefunden hatte. Augenscheinlich darauf bedacht, dass Véra nur mit Mühe würde daran vorbeisehen können.

»Sie können doch nicht einfach meine ganzen Utensilien – die brauche ich! – die können Sie doch nicht einfach mir nichts, dir nichts sonstwohin verfrachten! Außerhalb meiner Reichweite.« Véra Jewsejewna schleuderte giftige Blicke in Richtung Belinda. Blicke, die sie ebenso gut hätte nicht schleudern können. Die hinausschossen in den Kosmos, ohne noch das Mindeste auszurichten.

Belinda jedenfalls war mit ihrer Eigenmächtigkeit scheints noch nicht zu Ende. Sie machte sich an diesem Rokokostuhl zu schaffen, der eigentlich Gästen, gebetenen Gästen vorbehalten war. Schob ihn rüber, baute ihn neben dem Teewagen auf, um sich endlich mit einigem Gepolter darauf niederzulassen. Dann kramte sie in der ungestalten Reisetasche, die sie eben neben den Teewagen geknallt hatte. Zerrte mit virtuoser Umständlichkeit, als ginge es ihr in erster Linie darum, Véra auf die Folter zu spannen, ein Seil aus der sofort in sich zusammenfallenden Tasche. Zog, wickelte, zog. Bis der Strick, wie ein überdimensionales, komplett aus den Fugen geratenes Wollgewirr halb auf ihrem Schoß liegend, halb um die Arme geschlungen, aber in ganzer Länge ans Tageslicht gefördert war.

Véra Jewsejewna Nabokov hatte noch nicht ganz aufgegeben, diese Belinda als ein sprach- und sprechbegabtes Wesen zu betrachten. »Was machen Sie da, um Gottes willen? Soll das – soll das ein Häkelstündchen werden?«

Keine Antwort. Natürlich keine Antwort. Oder doch.

»Ruhe ma! Ick muss mir konzentriern.«

Und sofort hüllte sie sich wieder in jenes unerbittliche Schweigen, das sie für den Rest des Nachmittags nicht mehr brechen sollte. Diese Belinda hatte erstaunlich geschickte Finger, dass musste man ihr lassen, befand Véra. Jedenfalls hatte sie binnen kürzester Frist das Hanfseilgewirr so weit aufgelöst, dass sie es nach Seemannsart auf dem Tischchen aufwickeln konnte, um sich nunmehr das Ende des Seils vorzuknöpfen.

Véra fuhr der Schreck in die Glieder, unwillkürlich schob sie den Kopf weiter vor, stellte die entsetzt aufgerissenen Pupillen scharf: eine Schlinge! Grässliche Schlinge. Mit einem dieser sattsam bekannten Knoten. Der sich unter dem Windung für Windung herumgeschlungenen Seilende verbarg, jetzt aber unter Belindas Gefinger Zug um Zug freigelegt wurde. Ein – Véra versuchte, sich das Wort zu verbieten, aber es half ja nichts –, ein Galgenstrick! Ihr stürzte ein kalter Wasserschwall den Rücken hinab.

In ihrem Alter, an ihrem Alterssitz ein Galgenstrick!

Dem Staub nach zu urteilen, der aufstieg und flügge wurde – winzige Lichtgriesel, die in der Wintersonne glitzernd vorm Fenster auf und nieder tanzten –, dem Staub nach zu urteilen, musste das Seil Jahre, Jahrzehnte alt sein.

Eilends nahm Belinda ihre Handarbeit auf. Indem sie sich daranmachte, die Windungen, den Knoten, die Schlinge aufzulösen. Ihre zusammengekniffenen Augenschlitze verrieten, dass sie dergleichen filigrane Arbeiten eigentlich nicht mehr ohne Brille erledigen konnte. Blinzelnd und mit unendlicher Geduld aber friemelte sie das Seilende auf. Faden für Faden, Franse für Franse zerlegte sie den ganzen Strick in seine Einzelteile. Vollzog die Verflechtung der Hanfstränge gewissermaßen in umgekehrter Richtung. Versuchte, die verdrehten, verdrillten Härchen des Seilzopfes auseinanderzuzwirbeln. Versuchte, so weit es irgend ging, bis in die Tiefe der feinsten Zaseln vorzudringen. Eine Prozedur, die sich über Stunden hinzog, den kompletten Kreisbogen überdauerte, den die Wintersonne übers Firmament schlug. Und Belinda schwieg.

Dieses grauenhafte Schweigen als Begleitmusik einer so stumpfsinnigen wie schauerlichen Tätigkeit machte Véras Puls rasen, die ganze Ewigkeit dieses Nachmittags lang. Abschreckend, rätselhaft, angsteinflößend. Irgendwie bedrohlich. Das Einzige, was Véra wenigstens phasenweise beruhigte, war die Tatsache, dass dieses merkwürdige Teufelsweib die Schnur auffädelte, nicht zu einem Strick zusammenflocht. Kaum aber hatte sich Véras Blutdruck wieder ein bisschen gemäßigt, schoss ihr auf ein Neues durch den Kopf, was für eine Art Seil Belinda da zwischen den Fingern hatte. Und der offensichtlich steinharten Verschränkung der Fasern nach zu urteilen, mit der sich die entrückte Fadenzieherin unter Aufbringung einer Engelsgeduld redlich abmühte, der Härte des Seils nach zu urteilen, war es keineswegs jungfräulich. Hatte mit Sicherheit einen Hals geknickt, ein Genick gebrochen, einen Kehlkopf zum Schweigen gebracht. War ein Todesstrick.

Véra warf einen verstohlenen Blick auf die Armbanduhr.

Und prompt, wenige Augenblicke, bevor der Page klopfen und sie zum Abendbrot geleiten würde, raffte diese Hexenwalküre den ganzen Gefledderberg aus zerzupften und zerzausten Hanffäden vom Teewagen, vom Boden, aus ihrem Schoß und stopfte alles mit theatralischem Schwung in die Reisetasche. Und verschwand.

5.

St. Petersburg.

1908.

Auch ein Neunjähriger – zumal der Sohn eines stadtbekannten Juristen, sollte man meinen – wusste, was Recht und was Unrecht war. Wusste zu unterscheiden zwischen Für und Wider. Zumindest in etwa. Dass hier was nicht mit rechten Dingen zuging, das jedenfalls war ihm klar.

Herr und Frau Nabokov widmeten sich ›Repräsentationsgeschäften‹, wie der Senator sich auszudrücken pflegte. Will meinen: Sie trafen sich mit seinen Kollegen, um zu besprechen, wie sich das Protokoll fürs gemeinsame Erscheinen der renommierten Juristischen Gesellschaft beim Petersburger Opernball gestalten solle, und – lächelten sie vielsagend – sie mussten sich endlich mal wieder blicken lassen. Was wohl bedeutete, dass Nabokov ungezügelt mit den Kollegen fachsimpeln konnte, während seine Frau mit Ihresgleichen allerhand Neuigkeiten auszutauschen hatte. Worüber das Repräsentationsgeschäft Opernball womöglich in Vergessenheit geraten würde. Aber egal.

Die kleine Olga war mit der Gouvernante unterwegs, um ihre allerersten Gehversuche beim Ballettunterricht zu absolvieren. Und Vladimir Vladimirowitsch war ganz früh als Allererstes zur Schule gebracht worden. Salewski kam soeben zurück und spannte die dampfenden Rösser aus, befreite sie von Geschirr und Halfter und brachte sie in den Stall. Die nächsten paar Stunden würden sie ihre Ruhe haben. Die Pferde. Und Salewski.

Was er nicht wusste, nicht wissen konnte, war, dass Vladimir einen plötzlichen Anfall von Übelkeit erlitten hatte. Irgendwas war ihm auf den empfindlichen Magen geschlagen. Irgendwas hatte ihm binnen Sekundenfrist die Farbe aus dem Gesicht gezogen. Irgendwas hatte ihn in die Knie und seinen Kopf über den Eimer des Pedells gezwungen, über den Eimer mit graumilchigem Tafelputzwasser. Irgendwas hatte er aus sich herausschütten müssen. Und dann – unter Missachtung der Anweisungen von Mathematiklehrer Chlestakov und des Verbleibs seines Schultornisters – hatte der Junge die Beine unter die Arme und den nicht grade kurzen Heimweg in Angriff genommen.

Speiübel wie ihm war, einen beißenden, irgendwie stachligen Geschmack im Mund, vom schlechten Gewissen wegen des zurückgelassenen Ranzens und der zeternd stehngelassenen Mathe-Vogelscheuche geplagt, stapfte er mit seinen kurzen, aber flinken Beinen durch die regennassen Straßen der Stadt. Die endlos lange Ausfallstraße längs, durch die würdevoll stillen Seitenstraßen mit ihren schnörkelschmucken Villen der Industriellen- und Handelsunternehmerfamilien, bis er schließlich die Fassade des Nabokovschen Hauses aufleuchten sah. Und oben unterm Dach, zwischen den über der Traufe thronenden Türmchen das strahlende Fries: grünrote Blumenranken auf goldenem Grund. Das Haus mochte vielleicht etwas ungelenker und kleiner sein als die Prachtbauten im vorderen Teil des Viertels, dafür aber war es frisch angestrichen. Rotbraun das Erdgeschoss, strahlend grau die beiden oberen Stockwerke. Sogar Salewski – obwohl es definitiv unter der Würde eines Dieners in gutem Hause war, dafür aber entsprach es seinem Faible für alles Handwerkliche –, sogar Salewski war auf den Leitern und Gerüstbohlen herumgeturnt, hatte den Pinsel geschwungen und den Malern an Ort und Stelle Anweisungen erteilt, ebenso überflüssige Vorsichtsmaßregeln aufgestellt und deren Einhaltung gewissenhaft überprüft.

Aber dafür hatte Vladimir jetzt keinen Kopf. Nach einer halben Ewigkeit endlich schwankte er die Eingangstreppe hinauf, schepperte den Schlüssel ins Schloss, stieß die wuchtige, aber mit filigranen Barock-Arabesken verzierte Eichentür auf und schmiss seine tropfnasse Wolljacke über den unteren Garderobenhaken, der ihm zugedacht war. Und – blieb stehn. Vom Schlag gerührt. Natürlich war ihm klar, was es bedeutete, wenn sowohl der Überwurf des Vaters als auch der hermelinbesetzte Sonntagsmantel der Mutter nicht an der Garderobe hingen. Die Welt hatte sich gegen Vladimir verschworen. Die Welt seines Innendrin: seiner Magenwände, Speiseröhren, Speichelflüsse, was wusste er denn. Und die Welt des Außendraußen: derer, die seinen Kosmos ausmachten, die ihre Planetenbahnen um ihn zogen, die ihn einnordeten. Beschirmten und beschützen. Drechselten und formten. Zurechtwiesen und zurechtrückten. Die ihm Recht und Unrecht lehrten. Die ihm ›gedeihliche Genickschläge‹, wie sich der Vater ausdrückte, verpassten.

Regungslos bohrte der Knirps die kurzen Beine ins vornehme Parkett des viel zu großen, kalten Vestibüls. Die Arme hingen kraftlos an ihm herunter. Gänsehaut am ganzen Körper. Weil der Septemberregen natürlich nicht nur die Jacke, sondern auch die Weste und das Hemd, das Unterhemd durchtränkt hatte. Alles, eigentlich war alles klatschnass. Und jetzt fingen auch noch seine Augen an, nass zu werden.

Bevor sich Sturzbäche lösen und ebenfalls über seine kaltnasse Kledage ergießen würden, machte Vladimir einen Schritt. Machte zwei Schritte. Es ging noch. Er war nicht festgefroren. Er ging vorwärts. Keine Ahnung, wohin es gehn sollte, aber er ging. Leise. So leise sich seine quotschenden Schuhe auf dem quietschenden, nach frischem Bohnerwachs riechenden Holzboden fortbewegen konnten.

Schleichen, um des hohen Himmels willen schleichen! Nicht, dass er die finstren Geister weckte, die zwischen den Flügeln der Engelsputten oben unter der hohen Decke auf der Lauer lagen und unter Garantie hämisch grienten! Bloß, um sich im nächsten Moment auf ihn, den pitschnassen Vladimir mit dem aufgebrachten Magen, zu stürzen. Die sich mit der hölzernen Schlange da vorn verbünden und unsichtbar mit ihr um den Treppengeländerknauf kringeln mochten. Die garantiert hinterm Rücken des Pans lauerten, der den Eckpfeiler des Handlaufs beim ersten Treppenabsatz abgab, unbeweglich vor sich hinflötete und versonnen-versponnen lächelte. Die als grau wuselnde Plage in den Fuß- und Zierleisten komplizierte Gangsysteme anlegten, im Verborgenen bohrten und wühlten, das Mauerwerk durchlöcherten und ausmergelten.

Vorwärts schleichend – und schleichen konnte er, der gewiefte Schmetterlingsforscher – durchmaß er den großen Salon, umkurvte immer noch planlos den schwarzglänzenden Konzertflügel, blieb nicht wie üblich vorm Nymphen-Glaskasten des Vaters stehn, nahm keine Notiz von der Porzellanvogelvitrine der Mutter, bestaunte nicht zum abertausendsten Mal die Gemälde-, noch weniger die Fotogalerie der Altvorderen im Durchgang zum kleinen Salon, wo selbst der Samowar zum kalten Stillstand gekommen war. Er blieb nicht still stehn vorm Altar mit den drei Marien-Ikonen, den Großmutter aufgestellt hatte und Tag für Tag umsorgte. Huldigte nicht mit kontemplativer Andacht der Mutter Gottes; bemerkte bloß, dass die Kerze erloschen war. Womöglich grade erst. Der Docht bog sich kohlrabenschwarz auf dem leeren Teller des bronzenen Kerzenständers und schien noch leise zu schmauchen. Allüberall der Tod. El Dorado der quälenden, schwarzen Boten. So tot, bis in den letzten Winkel von niederträchtigen Gestalten der Unterwelt bevölkert, war Vladimir das ansonsten so pulsierende, das – bei aller elterlichen Strenge – immer irgendwie warmherzige Haus noch nie erschienen.

Er fror. Zitterte am ganzen Leib. Fror unter der eigenen Haut.

Als er plötzlich etwas hörte.

Ein Geräusch, das nicht passte. Nicht hierhin gehörte, nicht in diese moribunde Kälte einer Aussegnungshalle, in die sich das ganze Haus verwandelt hatte. Und wieder. Wieder das Geräusch. Knisterte, knackte, raschelte von oben aus dem Bibliothekszimmer, jener Terra incognita, jenem bei derber Prügelstrafe verbotenen Reich, jener versiegelten Geheimniswelt des Vaters. Dieses fremde, ungebührliche Knurpseln: Verlockung und Schrecken! Maßlos anziehend und brutal abstoßend. Zug und Schlag zugleich.

Nie, niemals hätte Vladimir nachgegeben und wäre dem Klang der Versuchung gefolgt, wenn nicht plötzlich dieses metallene Lispeln dazugekomen wäre. Ein eisernes Girren, das sich offensichtlich selbst zu verheimlichen trachtete: das winzige Klirren eines Schlüssels. Vladimir konnte nicht, konnte einfach nicht widerstehen. Die Gänsehaut zog sich augenblicklich glatt. Vergessen waren die überall herumlungernden Herolde des eisigen Jenseits, das hundsgemeine Frösteln unter den klatschnassen Kleidern, das dummdämliche Grinsen der speckigen Putten in ihren Stuckecken da oben, das in Wahrheit doch nichts als sündige Gelüste vertrat. Vergessen all das. Das Blut schoss zurück in Vladimirs Gesicht. Der Magen hielt sich geschlossen. Alle Sinne fixiert.

Und plötzlich bewegten sich seine Füße, die Beine. An unsichtbaren Fäden gezogen. Die Kunst des Schleichens, ohne drüber nachzudenken. Wohlwissend, wo auf der kurzen Treppe zum Erkerzimmer, zum Bibliothekszimmer die knarzenden Schwachstellen waren, wo er um alles in der Welt auf keinen Fall hintreten durfte. Die sechste Stufe ganz vermeiden! In Teufels Namen. Auf dem Treppenabsatz die scharfe Wende nach links. Von der Treppe abbiegen, wo er nicht abbiegen durfte. Noch nie abgebogen war. In drei Teufels Namen. Noch nie. Oder? Mit den Augen hatte er sich vielleicht, vielleicht mal vorgewagt, allenfalls mit den Augen, als man vergessen hatte, auch den letzten Türspalt noch zuzuziehen. Diese respekteinflößenden, lückenlosen Bücherwände, das bunte Glitzern der sonnendurchfluteten Erkerfenster: leuchtendes Rot, Heiligenscheingoldgelb, preußenfürstliches Blau, das auf den Buchrücken, auf dem Schreibtisch, dem plüschigen Lesesessel spielte. Die geheimnisvolle Glut des geweihten Refugiums, ›meines blauen Bernsteinzimmers‹, wie der Vater es zu nennen pflegte.

Vladimir fand die Tür nur angelehnt, öffnete sie einen winzigen Schlitz. Unternahm noch einen Versuch, sie einen Millimeter oder zwei weiter zu öffnen. Würde sie knarren, würde sie kreischen, wenn er sie so weit öffnete, dass er sehn konnte, woher dieses befremdliche Geräusch kam? Nein. Die Tür schwieg. Ließ es willenlos geschehn, gab stillschweigend nach, ging höchst geschmeidig sogar viel weiter auf, als Vladimir es mit seinem leichten Stubser beabsichtigt hatte. Als wollte sie bereitwilligst ihr streng gehütetes Geheimreich preisgeben, glitt die Tür auf und bot Vladimirs fiebernden Blicken den Hort der kirchenfensterbunten Traumwelt dar. Und gewährte ihm doch gleichzeitig ein Schutzschild, hinter dem er sich beim verbotenen um die Ecke Lugen verbergen konnte.

Doch alles – das Spiel der Erkerfenster, die geschlossenen Reihen der ledernen Bücher, der goldbrokatbezogene Schreibtischstuhl, das Hochheiligste des Vaters –, all das war es nicht, was Vladimirs Blicke magisch anzog, magnetisch auf einen Punkt bündelte, fixierte. – Salewski!

Salewski, der eben etwas in der Tasche seiner Livree-Weste verschwinden ließ, kurz, scheints irgendwie von irgendwem aus dem Konzept gebracht, schnelle Blicke nach rechts, nach links warf, dann die Tür des kleinen, tabernakelgleichen Wandtresors wieder schloss und den Schlüssel dreimal im Schloss kreisen ließ. Bevor er ihn schließlich wieder dem Versteck unterm doppelten Boden der untersten Schreibtischschublade anvertraute. Doch das sah Vladimir schon nicht mehr. Hatte sich – Kunst des Schleichens, ohne drüber nachzudenken – davongestohlen. Vollkommen aufgewühlt, nicht nur der Magen. Aber hartnäckig schweigend. Allenfalls mit Annabelle und Daschjenka ließ sich über dieses Ereignis reden.

6.

Wyra, 50 Werst südlich von St. Petersburg.

Landsitz der Nabokovs.

Sommer 1911.

Die alte Kiefer unten am Seeufer. Musste vor Jahrzehnten ihre Wurzeln in die Felsritze gebohrt haben. Anfangs nur ein vorsichtiges Abtasten, ein zufälliges Fingern, ein winziges Ausschlagen der Wünschelruten auf der Suche nach frischen Bodensäften. Dann das Verankern der haarfeinen Wurzeln, die in die Tiefe des Felsens wuchsen. Weiter wuchsen. Und mit jedem Millimeter, den sie ins Gestein vordrangen, wurden weiter oben aus den winzigen Kapillarwurzeln Finger, wurden Daumen, wurden Oberarme. Mit ungeheuren Bizepskräften. Drängend, pressend. Und ächzend antwortete der Fels. Wohlwissend, wer hier als Sieger vom Platz gehen würde. Trotzdem kämpfte er, hielt dagegen. Bis er dann irgendwann doch ermüdete. Der Riss vertiefte sich, weitere hauchdünne Wurzeln fassten sofort nach, saugten die Säfte aus dem Fels. Wodurch oben die Oberarme noch mehr anschwollen. Der Fels hielt stand. Noch. Bot Halt. Noch. Selbst wenn sich die Kiefer unter der Knute Boreas’, des eiskalten, brettharten Nordsturms, bog und beugte.

Jetzt im Juli hatten sich am Fuß des Baums Preiselbeersträucher emporgezweigt, blühten und verblühten, wechselten sich ab mit Blaubeer- und Trunkelbeersträuchern, spotteten über die beerenlosen Wollgrasbüschel, die aus der Felsritze ans Licht kümmerten. Unten im wurzelaufgepressten Granitklotz waren Regen und Laub zu einer braunen Brühe verschmolzen, die auch dieser Handvoll zerzauster Wollgrashalme als Lebensborn diente. Und Scharen bunter Schmetterlinge anlockte, die mit ausgebreiteten Flügeln die Farbenpracht der Sommerblüten in den Schatten stellten.

Geschüttelt von einer wüsten Lachsalve hobelte der Senator über den Einwand seines Sohnes hinweg und setzte noch mal an: »Flankiert von einem flatternden Spalier aus Kohlweißlingen und Golddickköpfchen. Und nächtens überschattet von Schwalbenschwanzschwärmen, von Perlmutter- und Satyrnymphchen, von Moorbunt- und Höckereulen, und was der im Mondlicht schillernden Nachtfalter mehr sein mögen. – Gott selbst möge sich der beiden Herren …«

Jetzt aber erhob der kleine Nabokov noch mal seine Stimme und schrillte dazwischen: »Wenn du so laut redest – du vertreibst sie ja! Sieh dir das an! Weidenbohrer und Grüner Birkenspanner, Kopf an Kopf! Traumschön.«

Der Senator grinste seinen vom Jagdfieber vollkommen elektrisierten Sohn an, klatschte plötzlich donnernd in die Hände und fuchtelte – die edle Haltung des vitruvianischen Menschen völlig missachtend – mit allen zur Verfügung stehenden Extremitäten durch die Luft. Sofort erhoben sich ganze Geschwader von Schmetterlingen und taumelten eilends davon ins Dunkel des Kiefernwaldes. Vladimir traten die Tränen vor Wut und Enttäuschung in die Augen, und, um nicht losheulen zu müssen, stieß er »Warum machst du das?« hervor.

»Es gibt Falter, mein Sohn, die muss man fliegen lassen. Um ihre Schönheit zu retten«, grinste der Vater.

»Aber ich wollte sie doch gar nicht fangen. – Nun sag schon! Du hast sie vertrieben, damit ich sie nicht angucken kann … du bist gemein … Warum gönnst du mir diesen wunderbaren Anblick nicht!?«

Vater Nabokov schüttelte sich vor Lachen. Schüttelte sich vor Lachen.