Die Schweizer Popmusik ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen und seit einigen Jahren feiern jüngere Musikerinnen und Musiker auch international Erfolge, etwa Sophie Hunger, Bonaparte und Valeska Steiner von Boy. Und seit Ende der Neunzigerjahre hat sich eine kreative Umgebung entfaltet, zu der neben den Musikern auch Clubs, Festivals, Labels, Radiostationen, Szenenmagazine und anderes mehr gehören.

Und doch gelten Popmusiker in der Schweiz noch immer als Amateure. Dass ihre Erfolge Resultat harter Arbeit, einem breiten Networking und auch jahrelanger Förderung sind, wird kaum wahrgenommen.

«Time Is Now» thematisiert diese Situation mit Hilfe von Geschichten und Analysen und will das Bewusstsein für die Vielfalt, die Professionalität, aber auch für die Herausforderungen der Popszene fördern.

Time

Is

Now

Popmusik in der
Schweiz heute

Limmat Verlag

Zürich

Pop Music Culture

Eine Reihe des Migros-Kulturprozent

Band 1

www.popmusicculture.ch

E­di­­to­­ri­­al

Bestandesaufnahme zur Popmusik in der Schweiz.

Von Hedy Graber, Dominik Landwehr und Philipp Schnyder von Wartensee

Popmusik ist mitten in der Gesellschaft angekommen. Sie tönt aus dem Kinderzimmer, dröhnt vom Pausenplatz und hat die Altersheime erreicht. Sie füllt Stadien, Lifte, Autos, Kopfhörer, Clubs, Wohnzimmer, Shops, Übungsräume. Wir hören Englisch, Mundart oder Bum-Tz-Bum-Tz. Wenn sie nicht schon da ist, tragen wir sie mit dem Smartphone hin. Erstaunlicherweise lieben wir sie immer noch.

Wir bewundern Beyoncé auf Youtube, hören Bob Dylan auf Vinyl und kaufen Tickets fürs Montreux Jazz Festival. Derweil heisst der Deutschschweizer Star der Gegenwart Bligg. Er ist zum Musikprofi geworden in einer Zeit, die inhaltlich wenig, aber technisch viel Neues gebracht hat. Die digitale Revolution hat in Form von MP3, illegalen Tauschbörsen wie Napster und Streamingdiensten die Popmusik als erste Kultursparte durchgeschüttelt und entmaterialisiert. So ist die Innovation der Musik treu geblieben, auch wenn keine neuen Akkorde und identitätsstiftenden Frisuren erfunden worden sind. Den Ton gibt heute nicht mehr das kritische Musikgenie, sondern das verknüpfende Internet an. Und das Netz ist noch nicht fertig gewoben.

Vor zwanzig Jahren haben wir beim Migros-Kulturprozent begonnen, das Popmusikfestival m4music auszuhecken. Es sollte ähnlich dem Internet ein Treffpunkt sein, der Grenzen überwindet, Wissen verbreitet, zum Networking einlädt und Bands eine Plattform bietet. Wir haben bei ausländischen Festivals spioniert, Brücken in die Romandie geschlagen und 1998 das erste «M for Music» in Zürich auf die Beine gestellt. Inzwischen ist m4music zum Zentrum unserer Förderaktivitäten im Bereich Pop geworden. Wichtigstes Ziel damals wie heute: die fortschreitende Professionalisierung der Schweizer Popmusikszene mit Projekten und Finanzierungsbeiträgen zu unterstützen. Einige Themen haben uns immer besonders interessiert: der Wandel, den die Musik durch das Internet erfährt, die Förderung von Strukturen bei den Indielabels oder der Zugang zu neuem Publikum dank Videoclips und dem Vermittler Swiss Music Export. Dieses Interesse spiegelt sich auch in der vorliegenden Publikation «Time Is Now», die wir nicht nur als handfestes Buch veröffentlicht haben, sondern auch als frei zugängliche Website.

Obwohl Popmusik auch in der Schweiz im Leben so vieler Menschen eine wichtige Rolle spielt, existieren zum Thema erstaunlich wenig Publikationen mit hiesigem Absender. Das hat uns motiviert, einige der führenden Popmusikjournalistinnen und -journalisten anzufragen, ausgewählte Themen zu beleuchten und dabei folgende Fragen im Hinterkopf zu behalten: Wie ist der Zustand der Schweizer Popmusikszene? Was zeichnet sie aus? Wo liegen Potenziale und Chancen? Was braucht es, damit sich diese entwickeln können und besser wahrgenommen werden?

Die Leserin oder der Leser vermisst vielleicht den einen oder anderen grossen Namen. Das hat drei Gründe. Erstens: Diese Publikation fokussiert auf die Gegenwart – Darstellungen zur Geschichte der Schweizer Popmusik existieren ja bereits einige. Zweitens: Der Förderschwerpunkt des Migros-Kulturprozent liegt auf einheimischer Musik, neuen Talenten und unabhängigen Strukturen – und damit also auf Künstlern ausserhalb des breiten Mainstreams. «Time Is Now» ist kein Verzeichnis von Schweizer Popbands, sondern eine reflexive Momentaufnahme, wobei auch Musikerinnen und Musiker so oft wie möglich selber zu Wort kommen, so in den beiden längeren Interviews mit Fabian Chiquet, Jimi James und Brandy Butler. Joy Frempong, Marcel Blatti und Tobias Jundt leben in Berlin und im Gespräch erzählen sie, was es für Vorteile hat, ausserhalb der Schweiz zu leben. Und wie erging es der Nachwuchshoffnung Faber auf seiner Tour durch Deutschland? Carole Gröflin hat den Sänger begleitet. Adrian Schräder schliesslich leuchtet in eine weitgehend unbekannte Nische des Schweizer Pops und zeigt, welche Rolle Rap bei Künstlern mit Migrationshintergrund spielt. Pop wird hier zu einem Medium der Identitätsstiftung. Dass diese Szene noch nicht auf dem Radar der Integrationsförderung aufgetaucht ist, macht sie erst recht authentisch.

Doch wie wurde Pop überhaupt allgegenwärtig in der Schweiz? Christoph Fellmann beschreibt diese Transformation der Popmusik von der Subkultur zur Volkskultur. Der Preis: Eine gewisse Gleichförmigkeit. Medien haben in der Geschichte der Musik immer eine entscheidende Rolle für die Verbreitung gespielt, angefangen von der Erfindung der Schallplatte über die ­­­­­­­­45er-Single und die CD bis zum Siegeszug des Internets. Drei Medienthemen werden in diesem Buch vertieft: Ane Hebeisen spricht die veränderte Rolle des Radios an, das auch heute noch eine wichtige Rolle für die Promotion von Pop spielt. Martina Kammermann beschreibt den Siegeszug der digitalen Musik, die angesichts der kleinen Einnahmemöglichkeiten heute vor allem die Konsumenten und Plattformbetreiber glücklich macht. Mehr denn je ist der Videoclip ein zentrales Marketinginstrument. Lena Rittmeyer zeigt in ihrem Beitrag, wie souverän Bands dies heute pflegen. Die Bedeutung von professionellen Videoclips ist auch ein Beispiel, das zeigt, wie stark die Popmusik heute Teil eines kreativen Netzwerkes ist. Zu diesem zählen neben Grafikern und Webdesigner auch die Veranstalter und Vermittler, beispielsweise Clubverantwortliche und Festivalorganisatoren. Sie kommen im Text von Renzo Wellinger zu Wort.

In kaum einer Kultursparte ist der Graben zwischen der deutschen und der französischen Schweiz kleiner als in der Popmusik – auch wenn die Dynamik zur Zeit vor allem in eine Richtung geht: Christophe Schenk zeigt, wie Popmusiker aus der Romandie ihren Blick nach Aussen richten müssen; Auftritte in der deutschen Schweiz stehen ganz oben auf der Prioritätenliste. Eine Aussenperspektive ganz anderer Art nimmt der Auslandschweizer Hanspeter Künzler ein, der seit den Siebzigerjahren als Musikjournalist in England lebt: London ist trotz der Attraktivität Berlins weiterhin das Traumziel vieler Schweizer Popmusiker. Dabei dürfte sich die eine oder andere Band aber überschätzen, denn wer jenseits des Kanals bekannt werden will, muss zu härtester Knochenarbeit bereit sein.

«Time Is Now» ist auch keine Enzyklopädie des Schweizer Pop. Die Texte im Anhang sollen das Buch dennoch zu einem kleinen Nachschlagewerk machen mit einem Glossar, das die wichtigsten Begriffe erklärt, den wichtigsten Zahlen und Fakten zum Schweizer Popmarkt, einem Literaturverzeichnis sowie kurzen Abriss des Musikfestivals m4music, dessen Geschichte zusammenfällt mit der Professionalisierung der Schweizer Popszene und ihrer Transformation durch die Digitalisierung.

Die Autorinnen und Autoren von «Time Is Now» sind alle Kenner der Schweizer Popszene. Ihre Beschreibungen und Analysen fallen meist kritisch, sicher erfrischend aus. Kritik, mitunter auch heftig vorgetragen, hat die Popmusik bis heute begleitet. Kaum ein Argument, das nicht gegen sie vorgebracht wurde. Waren es zunächst ästhetische Argumente, so wurden es später ökonomische: Hat eine Band Erfolg, so ist der Vorwurf, «kommerziell» zu sein, nicht weit. Kontroversen zeugen aber von Leben, und sie sind allemal besser als Gleichgültigkeit. Ja, wir wünschen uns manchmal gar, dass ein solch kritischer Geist die gesamte Kulturberichterstattung durchfliessen würde.

Das Migros-Kulturprozent fördert Popkultur seit Langem als wichtige Kultur- und Lebensform in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen. Mit dieser Publikation dokumentieren wir Haltungen, die in der heutigen Zeit massgebend und relevant sind. Als privater Kulturförderer sehen wir uns durchaus in einer Vorreiterrolle, wenn es darum geht, Themen, die das gesellschaftliche Miteinander betreffen, zu fördern und – wie die vorliegende Publikation zeigt – zu dokumentieren.

An wen richtet sich «Time Is Now»? Ganz einfach, an alle Musikinteressierten. An jene, die täglich Popmusik hören ebenso wie jene, die das nicht tun. «Time Is Now» will auch mehr sein als ein Buch zur Schweizer Popmusik: Es ist eine Momentaufnahme einer Szene, die in der heutigen Gesellschaft eine tragende Rolle spielt: vielfältig und kontrovers, leidenschaftlich und poetisch, grenzüberschreitend und vital, utopisch und zukunftsweisend. Kurz, let the music play!

Zürich im Sommer 2016

Die neue Folk­lo­re

Aus­flug in die Ba­sis­­gi­tar­­ren­­de­mo­­kra­­tie

Sechzig Jahre nach seiner Entstehung in den USA ist Pop auch bei uns zur Musik geworden, die unseren Alltag begleitet und in der wir unser Leben wiedererkennen. Die Bandprobe ist gesellschaftlich nicht weniger akzeptiert als der Jassabend. So verwandelt sich Pop – abseits der glitzernden Kulissen des Starsystems – zurück in eine folkloristische Kultur, in ein riesiges, unerforschliches Hinterland.

Von Christoph Fellmann

Eine beliebige Bushaltestelle im Schweizer Mittelland zu einem beliebigen Zeitpunkt. An der Seitenwand hängen Plakate, die für Veranstaltungen werben. Für eine klassische Soiree, ein Kindertheater, ein Musical, drei Popkonzerte und vier Partys, auf denen DJs ebenfalls Popmusik auflegen. Vor den Plakaten warten acht Personen auf den Bus, und sechs davon hören Musik. Gefragt, was das ist, was sie hören, antworten alle sechs mit Namen von Popmusikern. Es ist offensichtlich: Pop ist, sechzig Jahre nach seiner Entstehung in den USA, auch bei uns zur Musik geworden, die unseren Alltag begleitet und in der wir unser Leben wiedererkennen. Pop ist unsere Volksmusik, und ebenfalls so gut wie an den Bushaltestellen des Mittellandes erkennt man das am Programm der kommerziellen Radiosender, die eben nicht Ländler spielen oder volkstümlichen Schlager, sondern internationalen Pop.

Es heisst, die Nachfrage bestimme das Angebot, aber da wird die Sache kompliziert. Klar, das Publikum hat heute mehr Musik zur Verfügung denn je, und es war auch noch nie so einfach, ein Lied zu produzieren und zu veröffentlichen. Bei Soundcloud etwa, einem Streamingdienst mit Sitz in Berlin, gibt es über hundert Millionen Titel gratis, und jede Minute wird nach Angaben des Dienstes von den vierzig Millionen registrierten Usern zwölf Stunden neue Musik hochgeladen. Doch all diese Musik wird von kaum jemandem gehört. Eine Studie über den Onlinehandel mit Musik im Jahr 2008 unterstreicht den Befund: Damals standen rund dreizehn Millionen Songs im Internet zum Verkauf. Zehn Millionen wurden kein einziges Mal verkauft, und 0,4 Prozent der Songs sorgten für über achtzig Prozent der Einnahmen. «Das Internet hat nichts daran geändert, dass die meisten Leute das hören wollen, was alle anderen auch hören», schreibt John Seabrook in «The Song Machine», seiner Recherche über die Massenproduktion von Hits in der Musikindustrie: «Die Hits sind grösser denn je.»

So mag es eine erfreuliche Nachricht sein, dass die Musikbranche zuletzt ihren fünfzehnjährigen Niedergang stoppen konnte – dank des Streamings, aber auch dank eines enormen Booms im Konzertgeschäft. Weniger erfreulich ist, dass davon, in den virtuellen Musikshops wie auch auf der Bühne, letztlich nur ein kleiner, exklusiver Kreis von Künstlern profitiert. Und dahinter verwandelt sich Pop zurück in eine folkloristische Kultur, in ein riesiges, unerforschliches Hinterland. Weitab der glitzernden Kulissen des Starsystems dienen die Lieder hier dem Alltagsgebrauch ganz gewöhnlicher Menschen. Hier spielen die Sänger, DJs und Bands eine meist gewöhnliche, vertraute Musik; eine Musik, die ihnen mehr ein sozialer Zeitvertreib ist als eine künstlerische Ambition. Verdienen werden sie damit nie viel mehr, als ein rühriges Profil auf Bandcamp, ein schmales Konto bei der Urheberrechtsgesellschaft und die Hutkollekte hergeben. Diese Musiker führen ein Künstlerleben mehr oder weniger innerhalb der eigenen Community – zwischen den immer gleichen Clubs, Kaffeehaus- und Wohnzimmerkonzerten sowie, wenn es hochkommt, der Main Stage am lokalen Open Air.

Das klingt und ist nicht glamourös. Wie viele Leute aber an diesem Leben trotzdem teilhaben wollen, zeigt sich auch in der Schweiz immer wieder. Für die «Demotape Clinic» etwa, einen Nachwuchswettbewerb des Migros-Kulturprozents, bewerben sich jedes Jahr rund siebenhundert Bands. Und im Rockförderverein Basel sind über fünfhundert Acts aus der Stadt und Region angeschlossen. Der Verein ist einzigartig in der Schweiz, aber in anderen grossen Agglomerationen des Landes wie in Zürich, Genf, Lausanne oder Bern dürfte die Dichte an aktiven Popmusikern genauso gross sein. Sie alle bilden eine Volkskultur auch darum, weil sie seit den Neunzigerjahren keine Subkultur mehr sind. Die Bandprobe ist gesellschaftlich nicht weniger akzeptiert als der Jassabend, und längst spielt Pop in einem politisch breit abgestützten Netzwerk von professionell oder auch ehrenamtlich geführten Bühnen. Ob nun die Schülerband im Jugendhaus vor den Peers aufspielt, oder ob fünf Mittvierziger das Stadtfest mit alten und neuen Hits von Pearl Jam bis Adele beschallen: Die meisten dieser Konzerte locken nicht eingeweihte «Fans» an, die mit einer bestimmten Band auch an einem bestimmten Lebens- oder Gesellschaftsentwurf riechen wollen. Pop fördert nicht mehr die Distinktion, sondern führt die unterschiedlichsten Leute zusammen.

Bezeichnend ist, dass die Sprache dieser neuen Volkskultur global ist. Klar, da sind lokale Dialekte vernehmbar, doch auch sie ruhen jederzeit griffbereit im grossen und ganzen Archiv der Cloud und sind damit nur noch als Tradition lokal, nicht mehr in der handlichen Anwendung per Klick. So hat, mit einigen Ausnahmen, auch der Schweizer Mundartpop aufgehört, über die Schweiz zu erzählen, und dekliniert die gleichen Befindlichkeiten durch, wie sie auch ein Justin Bieber verhandelt. Das ist ein bemerkenswerter Widerspruch: Pop bringt als Volkskultur zwar sehr viele Leute zusammen, aber nicht dadurch, dass er von einem «Wir» erzählt, sondern immer wieder von einem «Ich». Aber dieses «Ich» ist wiederum eingeschrumpft auf den kleinsten globalen Nenner: Es ist nämlich gerade glücklich oder – häufiger – unglücklich verliebt und geht durch melancholische Phasen. Es will aber trotzdem nicht die Welt verändern, sondern sich selbst treu bleiben.

Aber haben das Volkslieder nicht schon immer geleistet, einfach nicht auf globaler, sondern auf lokaler Ebene? Wer sich in einem solchen Global-Ich wiedererkennt, drückt sich mit einem Lied von Justin Bieber oder Rihanna genauso aus, wie es unsere Vorfahren mit einem Volkslied wie «Stets i truure» taten. Und tatsächlich werden ja alle diese Lieder im Augenblick ihres Erscheinens zum Allgemeingut: Die einschlägigen Seiten im Internet bunkern ihre Akkordfolgen und Texte, und auf Youtube gibt es die Tutorials, in denen man lernen kann, wie man sie richtig spielt. Zum Beispiel «Hello», den Welthit von Adele vom Herbst 2015. Es gibt auf Youtube mehrere hundert Versionen des Songs, es gibt ihn auf Spanisch, auf Russisch und auf Suaheli. Es gibt «Hello» als Pianosolo und auf der ukrainischen Laute. Es gibt «Hello» als Reggae, als Metal und als Rap. Es gibt «Hello» in der geschmeidigen Soulversion eines Leroy Sanchez, die von 29 Millionen Menschen angesurft wurde, oder von Jessica Muniz, deren melodramatisch vor einer Holzbrücke eingesungene Version zum guten Glück nur 108 Mal gesehen wurde.

Das Internet gleicht hier einem virtuellen Hootenanny, an dem alle zusammenkommen, um ein paar Lieder zu singen, die jeder kennt. Und niemand hat diesen Sachverhalt so liebevoll und ironisch auf den Punkt gebracht wie der US-Songwriter Beck Hansen, als er 2012 seinen «Song Reader» veröffentlichte. Denn dieses Album gab es nicht als LP oder CD oder Download, sondern nur als Notenbuch, und die erste Single war eine vierseitige Partitur in G-Dur. Ein nostalgisches Unterfangen, gewiss, doch gab es zum sorgfältig manufakturierten Büchlein auch eine gleichnamige Website, auf der Hansen nun die Videoclips mit all den Versionen veröffentlichte, die bald aus aller Welt bei ihm eintrafen. Und was für ein wunderbarer Einblick das war in die Küchen und Stuben der weltweiten Basisgitarrendemokratie! Die neueste Single von Beck direkt vom Stubenklavier in Rümmelsheim oder aus der Einbauküche in
St. Petersburg. Der stromlose Weltpop vor der Digicam als Hausmusik der digitalen Nomaden.

All diese Direktverschaltungen einer neuen Heimeligkeit mit dem World Wide Web passen gut zum Phänomen, dass Folk seit einigen Jahren auch als musikalischer Stil boomt. Bands wie die Fleet Foxes, Bon Iver oder Mumford & Sons verkaufen ihre Lieder in millionenfacher Auflage und spielen in grossen, ausverkauften Sälen. Zu ihrem halb akustischen Hymnensound tragen sie Bart und Bauernhemd und zitieren damit jene regionale, ländliche Verwurzelung herbei, die ihr globalisierter Folkpop nicht mehr hergibt. Aber das ist natürlich kein Widerspruch, sondern ein Erfolgsrezept: Folk erreicht die Massen darum, weil er eine Gegenerzählung zur Globalisierung schreibt, die global lesbar ist. Der «Song Reader» von Beck war der perfekte Kommentar dazu: Denn der neuen Folkbasis genügt es eben nicht, zu Hause auf dem Sofa diese Lieder zu singen; die Welt soll auch sehen, wie das Sofa aussieht, und hören, wie schön das Lied nun klingt. Das also ist Pop als Volkskultur, und vice versa. Das ist Cocooning als Castingshow, ein Rückzug ins Private, der wahrgenommen und bewertet werden will. «Thanks for sharing», schreiben noch die verschupftesten der Adele-Adepten zu ihrer Version von «Hello».