44

Ich machte meine Lohnsteuererklärung. Der Brief vom Finanzamt, den Oma Scheible mir geöffnet auf die Tasten meines Computers gelegt hatte, enthielt ein Mahnung, meine Umsatzsteuer zu zahlen. Dafür gab es aber keinen Grund, denn weder hatte ich eine Umsatzsteuererklärung gemacht, noch hatte ich eine zu machen. Der Finanzbeamte, bei dem ich anrief, um das Missverständnis zu klären, hieß auch Abele. Warum ich mich nicht schon vor zwei Wochen gemeldet hätte? Die Umsatzsteuer wurde mir erlassen, aber die Mahngebühr, die müsse ich jetzt zahlen. Himmel!

Ende Juli rief Bodo Schreckle an, um mir mitzuteilen, dass es am Samstag so weit sei. Hark Fauth werde seinen Archäopteryx zu einem ersten Testflug starten lassen. »Wenn Sie dabei sein wollen, müssten Sie allerdings früh aufstehen.«

Die Sonne spickte über die Albkante am Drackensteiner Hang und verhieß einen weiteren heißen Tag, als ich Brontë bei Kirchheim unter Teck von der Autobahn lenkte. Der Kegelberg mit der Burg Teck reckte seine dunkle Silhouette in den Morgenhimmel.

Selbst Cipión war es noch zu früh. Er schlief auf den Knien von Richard, der ungebührlich missmutig dreinblickte. Gestern Abend noch hatte er sich rundheraus geweigert mitzufahren. »Hark Fauth, das ist deine Baustelle, Lisa«, hatte er bemerkt.

Ein rosiger Hauch lag über der Hahnweide, dem Segelflugplatz von Kirchheim unter Teck zwischen Albtrauf und Autobahn. Von hier aus starteten die Segelflieger und umrundeten bei guter Thermik wie die Schmeißfliegen die Burg Teck. Jetzt am frühen Morgen war alles still und ruhig.

Bodo und Hark hatten den aus Aramid gegossenen Archäopteryx mit seinen vier Metern Spannweite bereits vom Gepäckträger des Cherokee gehoben und auf die Wiese hinübergetragen. Hark kniete unter dem keck in die Höhe gereckten Kopf mit dem eigenartigen Fortsatz am Hinterkopf und dem Schnabel voller Zähne und brachte ein Griffstück am Rumpf an.

Gerrit trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen, den schwarzen Kasten der Fernsteuerung in den Händen. Laura stand bei ihm und hätte zu gern auch einmal den Kasten wenigstens gehalten. Aber wie es aussah, blieb Gerrit hart.

Etwas abseits standen Janette und Hildegard Obermann und winkten uns zu. Janette hatte ihre Fototasche über der Schulter hängen, Hildegard steckte in Wanderstiefeln und Rock. Im Gegenlicht sah sie aus wie aus einem der alten Wanderparkplatzschilder entsprungen.

Da Cipión sich andernfalls an seiner Leine stranguliert hätte, ließ ich ihn frei. Er rannte los, was die Stummelbeine hergaben. Das verschaffte uns die Aufmerksamkeit der vier am Flugdrachen.

»He, ihr auch?«, rief uns Hark lächelnd zu. »Woher wisst ihr das denn? Ihr wollt euch wohl unbedingt alle an meiner Niederlage ergötzen. Ich habe doch keine Ahnung, ob das Biest auch wirklich fliegt.«

»Wetten, dass doch!«, knurrte Richard.

Die Strahlen der steigenden Sonne pickten sich in der schattigen Wand des Albtraufs die ersten Bergnasen und Muschelkalkfelsen heraus. Hark nahm den Drachen mithilfe des Griffstücks am Rumpf auf seine Hand. Das fünf Kilo schwere Modell in halber Lebensgröße über den Kopf gehoben, marschierte er damit auf die Hahnweide, gefolgt von Gerrit mit der Fernsteuerung.

Auch Bodo ging mit Hut, aber ohne Stock und Rucksack im Wanderschritt hinterher. Die Art, wie Hildegard ihm mit dem Blick folgte, ließ darauf schließen, dass er ihr gerade so ganz gut gefiel.

»Du bleibst hier, Laura«, sagte Janette. Die Art, wie sie ihre Tochter gängelte, verriet, dass sie mit Hark nicht ganz so weit gediehen war. Mich schaute sie auch nur schräg an.

Hark drehte sich und den Urzeitvogel in den kaum spürbaren Wind. Dann fehlte doch noch etwas, und er senkte den Vogel wieder. Gerrit legte die Funksteuerung im Rasen ab und kam herbeigelaufen. Cipión mit fliegenden Ohren hinterher. Gerrit rannte an uns vorbei zum Wagen seines Vaters, dessen Heckklappe offen stand, zog seinen Rucksack hervor und begann wild zu kramen. Dann hatte er sein altes Schweizer Messer mit Schraubenzieher gefunden und rannte wieder zurück, hinaus auf die Hahnweide. Cipión kam ebenfalls mit einer Beute, die ihm links und rechts aus dem Maul hing. Er schüttelte sie so leidenschaftlich, dass er sich verhedderte und auf die Schnauze purzelte. Eine gute Gelegenheit für mich, ihn einzufangen, ehe er erneut das freie Feld gewann, um den Männern mit ihrem kostbaren Ultraleichtplastikmodell vor die Füße zu wuseln. Cipión fand das lustig, knurrte, wich mir aus und schlug Haken, doch fiel er dabei Richard in die Hände, den er in den Wochen, die ich den Hund jetzt zu erziehen versuchte, mehr respektieren gelernt hatte als mich.

»Aus!«, sagte Richard sanft, aber gebieterisch und fasste nach dem fasrigen Zeug in Cipións Maul. Nur ungern löste der Kleine die Kiefer und gab es her, während ich ihn schnell anleinte.

Richard richtete sich auf. Er war auf einmal totenblass.

In seiner Hand krümmte sich ein Seil, das etwa armlange Stück eines Kletterseils, zum Achterknoten mit Schlaufe geknüpft. Von beiden Enden, die unten aus dem Knoten herauskamen, war das eine verschweißt und das andere glatt durchgeschnitten, bis auf das letzte Kardeel. Es war gerissen und faserte. Und das Seil war schwarz.

Mir flimmerte es vor den Augen. Mit einem Schlag fügte sich zusammen, was ich als disparaten Kinderkram missachtet hatte. Lauras allererste Frage, als Janette und ich nach Julians Bergung von der Mondscheinhöhle kamen, ob die Leiche schon verfault gewesen sei. Gerrits Fragen, als wir zum Lippertshorn aufbrachen, um mit der Kamera in den Spalten zu suchen, was denn mit der Leiche geschehe und ob sich beweisen lasse, wer den Toten ermordet hatte. Das ausgiebige Spiel von Laura, Julian, Volker und Gerrit unterm Nussbaum auf der Wiese, bei dem sie sich auf alle erdenkliche Weise ermordet und auf unaussprechliche Art ihr Leben ausgehaucht hatten. Richards leichthin gemachte Erklärung, es sei ihre Art, die Geschehnisse zu verarbeiten, bei der ich nur daran gedacht hatte, dass die Kinder spielten, was wir Erwachsene miteinander berieten, wenn wir meinten, sie kriegten es nicht mit.

»Gerrit war es«, entfuhr es mir, aber so wisprig, dass es selbst Richard nicht verstanden hätte, hätte er nicht denselben Gedanken gehabt. »Er hat das Seil durchgeschnitten, an dem Achim Haugk in der Höhle hing.«

Dann hatte er Karabiner und Seilrest vom Sicherungsbolzen am Höhlenmund entfernt und in den Rucksack gesteckt, aufgehoben und vergessen. Wobei der Achterknoten ihn mehr interessiert haben mochte als der Karabiner. So musste es gewesen sein.

»Weiß er, was er getan hat?«, flüsterte ich. »Wird er sich später erinnern und es begreifen? Mit aller Wucht! Oder wird es sich in den düsteren Schichten seines Unterbewusstseins als vage Angst festsetzen?«

»Ich kann es dir nicht sagen, Lisa«, antwortete Richard tonlos.

Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Gerrit mit dem Schweizer Messer, das er zum sechsten Geburtstag bekommen hatte, ein Seil ansäbelte, bis aufs letzte Kardeel. Eine für einen Sechsjährigen beachtliche feinmotorische Leistung. Auch das blaue Kletterseil hatte er fast durchtrennt. Wahrscheinlich hatte Gerrit gewusst, dass seine Mutter beim Klettern mit dem Vater immer das blaue Seil nahm. Blau, die Lieblingsfarbe seiner Mutter, die ihn nicht mehr haben wollte, wie er sehr wohl gespürt hatte mit dem feinen Sinn der Kinder für alles, was aus den Fugen geriet.

Den Achim hatte Gerrit auch gekannt. Wohl nicht als Liebhaber seiner Mutter, aber als Bedrohung für seine Welt. Er hatte Achims Namen genannt, obgleich Richard und ich ihn nicht ausgesprochen hatten, als wir über seinem schaurigen Poesiealbum saßen, das, ehe Graf Huckebein sein segensreiches Werk tat und den Brief stahl, für Gerrit den Beweis enthalten hatte, dass seine Mutter mit Achim ausgemacht hatte, ihn an einen Ölscheich zu verkaufen.

Und als schon lange alles wieder gut war und einigermaßen im Lot, da war Achim erneut aufgetaucht. So große Mühe sich Hark gegeben haben mochte, vor Gerrit zu verbergen, was der Frechling forderte, nämlich seinen Sohn, hatte Gerrit es mitbekommen, wie Kinder alles mitbekommen, was ihre Welt bedroht. Womöglich war Achim so forsch gewesen, sich dem Jungen selbst als künftigen Vater vorzustellen.

Was hatte Abele erzählt? Achim Haugk habe in der Gegend zu tun gehabt an jenem Freitag, als er für immer in der Höhle verschwand. Das Rabenhaus lag in dieser Gegend. Was auch immer Achim von Hark gewollt hatte, wahrscheinlich war, dass Hark ihn ausgelacht und rausgeworfen hatte. »Das hat doch alles keinen Wert, du Simpel! Gerrit ist mein Sohn. Ich hab’s schriftlich!«

Und draußen war Achim dann auf Gerrit gestoßen und hatte ihm erzählt, wie Onkels das so tun, dass er auf dem Weg zur Mondscheinhöhle sei. »Na, hast du nicht Lust mitzukommen? Ich zeige dir auch, wie das alles geht. Hark kann es ja nicht mehr. Der hat Schiss!«

Und Gerrit war umgedreht und ins Haus gelaufen, beschämt, verwirrt und zornig. Und dann hatte er seinen Rucksack genommen und sein Fahrrad bestiegen und war, ohne dass der Vater es mitkriegen durfte, zum Lippertshorn gefahren und hatte sich ins Gebüsch gelegt und zugeschaut, wie dieser Mann, der ihm den Vater wegnehmen wollte, im Höhlenmund verschwand. Er hatte sich herangerobbt und das Seil durchgeschnitten. Viele Seile hatte er schon auf diese Weise angeschnitten, immer bis aufs letzte Kardeel, damit sie nicht gleich auseinander fielen und alle sahen, was er angerichtet hatte. Es war wie eine Übung. Er schnitt nur ein Seil durch, und das nicht einmal ganz. Dass es schließlich riss, das war nicht mehr seine Sache. Aber Achim kam nie mehr wieder.

So oder so ähnlich konnte es gewesen sein. Dann hatte Gerrit in der lähmenden Langeweile eines Pfingstmontags auf der Alb, an dem Julians Mutter sich betrank, sich Florian am Computer betäubte, Heinz Rehle Dienst schob und Janette Bereitschaft hatte und sich mit mir traf, seinen Freunden erzählt, dass in der Mondscheinhöhle einer liegen müsse, ein Toter. Sie hatten sich gefragt, wie er wohl aussehe. Halb verfault, ganz verfault, bloß noch Knochen. Kurzerhand hatten sie den Entschluss gefasst nachzuschauen. Volker, Laura und Julian unbefangener als Gerrit.

»He!«, rief Janette und riss die Kamera hoch. »Jetzt hätten wir den Abflug fast noch verpasst.«

In der Tat, Hark stand mit erhobenem Arm auf dem grünen Platz, drehte die Nase des Archäopteryx erneut in den Wind, warf den kleinen Elektromotor an, der im Hals untergebracht war, und blickte sich nach Gerrit um, der die Hand an der Fernsteuerung hatte.

Gerrit nickte.

Hark setzte sich in Bewegung, lief ein paar Meter und übergab den Flugsaurier den Lüften. Das Griffstück löste sich, wie es sollte, und der Drache nahm den Flug auf, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt.

»Er fliegt!«, jubelte Gerrit.

In weiten Kreisen stieg der Archäopteryx empor, gewann Höhe vor der schattigen Kulisse der Alb, strich an der Sonne vorbei und eroberte den blauen Himmel über dem Bergkegel mit der Burg Teck.

Bodo Schreckle beschattete seine Augen mit der Hand und jubelte: »Dass ich das noch erleben darf! Die Rückkehr der Flugsaurier auf die Schwäbische Alb.« Hildegard Obermann lachte. Janette fotografierte.

»Komm, Lisa! Gehen wir«, sagte Richard leise. »Weißt du«, fügte er nach ein paar Schritten hinzu, »ich wollte es nicht wahrhaben, aber eigentlich wusste ich es schon länger.«

Ich zerrte Cipión quer hinter mir her. »Wieso?«

»Das Handy, Lisa.«

»Wie gut, dass wir uns immer die Wahrheit sagen, ganz offen und ehrlich!«

»Stimmt. Nachdem ich dir gegenüber behauptet hatte, ich hätte es auf dem Truppenübungsplatz verloren, musste ich dabei bleiben.«

»Und wo hast du es tatsächlich verloren?«

»Gar nicht. Ich habe es Gerrit gegeben.«

»Was?«

»Es war an dem Freitag, als ich in Steinhilben vor dem Schul- und Rathaus auf Hildegard wartete und vorhatte, sie kalt damit zu überraschen, dass ich für ein paar Tage ihr Gästebett belegen würde. Ein paar Buben waren dabei, ein Handy zu Schrott zu kicken. Sie lachten dabei einen schmalen, dunkeläugigen Jungen aus, der beschämt herumstand.«

Ich blieb stehen. »Richard!«

Er lächelte schief. »Ja, ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Der Junge tat mir halt Leid. Wobei ich wohl vor allem mir selbst Leid tat. Ich war vor meiner Unfähigkeit davongelaufen, mit dir zu reden, war voller Ungewissheit, ob Hildegard mich aufnehmen würde, und ratlos, wohin ich mich sonst wenden sollte. Ich fühlte mich verstoßen und einsam. Ich sah in dem unglücklichen Buben mich selbst und wollte wenigstens ihm was Gutes tun.«

Deshalb also hatte Gerrit nicht gefremdelt, als ich mit Richard ins Rabenhaus kam. Sie waren gewissermaßen alte Bekannte gewesen.

»Aber warum hast du mir das nicht einfach erzählt?«, fragte ich sanft.

»Es war mir peinlich, Lisa. Ich fühlte mich nicht in der Verfassung, mich von dir auslachen zu lassen.«

»Aber ich hätte dich doch nicht …« Ich musste lachen. »Doch, allerdings. Du überlässt einem fremden Jungen dein Handy samt Vertrag! Und dann taucht es bei einer Leiche wieder auf. So was kann auch nur dir passieren!«

»Ich habe es ihm nur geliehen«, stellte Richard richtig. »Er musste seinen Vater anrufen, wegen irgendeiner Nachmittagsunternehmung, die er vergessen hatte ihm mitzuteilen. Es war ihm ganz arg, dass sein Vater erfahren könnte, dass seine Klassenkameraden ihm die Sachen kaputtmachen. Da habe ich gesagt, er soll meines nehmen, bis er ein neues hat. Ich habe ihm sogar angeboten, mit ihm ein neues Kartenhandy zu kaufen.«

Ich lachte. »Oh, Richard!«

»Aber das wollte er nicht. Er meinte, eine Woche würde er es noch brauchen, solange Schule sei. Und am Pfingstmontag sei er mit seinem Vater auf dem Pfingstmarkt in Laichingen, und da würde er es mir zurückgeben. Wir haben einen konspirativen Treffpunkt ausgemacht, bei einem Café in einem Hinterhof. Hildegard hat mir dann gesagt, wo Gerrit wohnt. Ich hätte mir also mein Handy jederzeit wiederbeschaffen können. Aber was sie mir sonst noch über Gerrit und Hark erzählte, zwei Außenseiter hier heroben, das hat mich mit meiner sentimentalen Aktion dann versöhnt.«

»Verdammt, Cipión, zieh doch nicht so!« Der Hund röchelte, so stemmte er sich auf seinen Stummeln mit Pfoten in die Leine. Richard verschaffte ihm Erleichterung, indem er sich und mich wieder in Marsch setzte.

»Leider«, fuhr er fort, »hat Gerrit mein Handy verloren. Er hat mir am Montag auf dem Pfingstmarkt eine ziemlich wilde Geschichte erzählt. Sie hätten die Hosen aneinander binden müssen, weil ein Kumpel in eine Höhle gefallen sei. Und er hätte vergessen gehabt, dass mein Handy in seiner Hosentasche steckte.«

»Aber wenn es immer unten in der Höhle lag und du wusstest, wieso, warum bist du dann überhaupt zu Winnie gegangen? Was sollte der dir erzählen?«

»Ich hatte gehofft, dass er mir ein bisschen was über Hark und Gerrit erzählt und über deren Beziehung zu Haugk. Aber ich war ihm wohl nicht geheuer. Er hat abgeblockt, und da habe ich mir aufzeichnen lassen, wo er das Handy gefunden hat. Und dann bin ich zu euch in den Kletterpark gefahren, in der vagen Vorstellung, die eigene Anschauung werde meinen Verdacht entkräften, dass einer von den beiden Haugk umgebracht hat.«

»Und Hildegard? Wusste sie, wo du dein Handy gelassen hattest?«

»Nein. Als sie herunterkam, waren die Kinder schon lange weg. Ich habe ihr nur erzählt, dass ein paar Buben Gerrits Handy kaputtgemacht haben.« Er fuhr sich über die Haare. Dann hob er seinen asymmetrischen Blick in meinen. »Gott, Lisa, hatte ich eine Angst, dass Gerrit den Mord an Achim Haugk zugibt, als wir uns sein schreckliches Poesiealbum anschauten. Er war dicht davor, als ich ihn mit meiner ganz anderen Interpretation des Briefs konfrontierte. Erinnerst du dich?«

Ich erinnerte mich nur an Richards plötzlich ernste Miene.

»Doch ich habe es dann wieder vergessen oder verdrängt, in meiner Angst um dich, als Janette beim Gedanken hysterisch wurde, dass du mit Hark im Todsburger Schacht stecken könntest.«

Ich nahm Cipión hoch, der im Bestreben, auf die Wiese zu kommen, erneut anfing sich im Halsband aufzuhängen. Untern Arm geklemmt, blickte er friedlich zwischen seinen Schlappohren in die Welt. Doch sobald er Boden unter seinen vier Pfoten spürte, machte ihn sein Jagdinstinkt kopflos und hektisch.

»Gehen wir«, sagte Richard noch einmal mit einem letzten Blick auf den Archäopteryx, der in den Himmel überm Albtrauf kreiste.

 

 

Sie möchten wissen, wie es mit Lisa Nerz weitergeht? Einfach umblättern zur Leseprobe von »Allmachtsdackel. Der 6. Fall für Lisa Nerz«.

 

Christine Lehmann

 

Allesfresser

 

Der 5. Lisa-Nerz-Krimi

 

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

cover

 

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Argument Verlag 2005

Lektorat: Iris Konopik

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 17.05.2016

ISBN 978-3-95988-048-0

Über das Buch

Die Abgründe Schwabens. Tief und dunkel sind die berühmten Höhlen der Schwäbischen Alb. Doch das kann eine Journalistin vom Kaliber der narbengesichtigen Lisa Nerz nicht schrecken – wenn Gerüchte von Mord und Korruption umgehen, steckt sie ihre Nase auch ins finsterste Fledermausnest. Auf der Suche nach einem Staatsanwalt, einer Leiche, die eben noch da war, und ein bisschen Liebe nimmt Lisa Nerz waghalsige Klettertouren auf sich und entreißt dem unterirdischen Labyrinth die Wahrheit.

 

Die Stuttgarter Journalistin Lisa Nerz ist frisch gefeuert. Mehr Sorge allerdings bereitet ihr das kommentarlose Abtauchen ihres Freundes Richard Weber, seines Zeichens Staatsanwalt für Wirtschaftsstrafsachen. Was hat Richard auf die Schäbische Alb verschlagen? Vielleicht die Mauscheleien bei der Umstellung des ehemaligen Truppenübungsplatzes Münsingen auf zivile Nutzung? Doch diverse Störfaktoren behindern Lisas Suche: der knackige Hintern ihrer Jugendfreundin Janette, die Tragödie des Höhlenforschers Hark Fauth, dessen Frau unter ungeklärten Umständen im Todsburger Schacht starb, das Verschwinden eines kleinen Jungen ...

 

»Christine Lehmann ist den meisten deutschen Krimischreibern stilistisch haushoch überlegen. Man kann sich diesen Sound nicht antrainieren. Bei Lehmann beruht er auf Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Selbstironie und Belesenheit.« Perlentaucher

 

»Einsam, aufsässig und notorisch respektlos – ein klarer Fall von hard-boiled woman.« Konkret

 

»Christine Lehmann schreibt mit Herz und, eine Rarität im D-Krimi, (Wort-)Witz.« Tobias Gohlis, Die Zeit

 

Über die Autorin

Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR tätig und schreibt Romane, Kurzkrimis, Kriminalhörspiele (Radio Tatort) und Glossen. Mehr Informationen finden Sie auf ihrer Homepage.

 

Weitere Lisa-Nerz-Krimis finden Sie auf CulturBooks.

 

 

1

Es fing nicht harmlos an. Ich fuhr die Haarnadelkurven in der Gebirgsfalte des Albtraufs unterhalb der Märchenburg Lichtenstein hinauf. Dabei nahm Brontë fast den Radfahrer auf die Schnauze, der die Kurven hinaufochste. Brontë gehorchte mir immer noch nicht so recht, mein hochzeitsweißer Porsche 356 B 1600 Super 90 mit nuttenroten Ledersitzen und gut vierzig Jahren auf den Zylindern.

Trochtelfingen fachwerkelte im Tal auf der Alb an einem Bach zwischen bewaldeten Schenkeln. Es besaß eine Hauptstraße mit Giebelrathaus und einem gestauchten Wehrturm mit quer liegenden wulstigen Schießscharten. In der pfingstfeiertäglichen Einöde saß Janette an einem der beiden Tische vor dem Café Hanner. Die Sonne herzte ihr dunkeläugiges Gesichtchen mit den wie mit spitzem Bleistift gezeichneten Mundwinkeln, aus denen sich ehrgeizige Lippen aufwarfen. Noch hatte sie das biegsame Figürchen einer Siebzehnjährigen, das sie mit einem wuchtigen Gürtel betonte.

»Schick siehst du aus.« Ich beugte mich zum Küsschen.

Sie wich aus. »Und du hast dich immer noch nicht entschieden, ob du ein Bue bisch oder ein Mädle.«

»Zu meiner Narbe im Gesicht passt Rosa einfach nicht.«

»Ach ja, dein Unfall. Wie lange ist das her? Meine Laura ist jetzt auch schon neun. Wie geht es deiner Mutter?«

»Sie betet, also lebt sie.«

Sechs Jahre lang hatten Janette und ich in der Schule nebeneinander gesessen, in meinem Kaff unterhalb der Schwäbischen Alb. Janette kam eigentlich »von der Alb ra«, wie man so sagte, aus Laichingen. Die Karriere ihres Vaters als Rathausangestellter hatte sie zuerst hinunter nach Vingen in meine Schulbank geführt und sie mir dann, als wir vierzehn waren, nach Reutlingen entführt, nur ein paar Kilometer weiter, aber aus der Welt.

Im Spätsommer vergangenen Jahres hatte ich ihre Stimme wiedergehört, als ich beim Reutlinger Tagblatt anrief, um mir von den Kollegen die Einzelheiten über den Großeinsatz der Höhlenrettung an der Falkensteiner Höhle bei Bad Urach erzählen zu lassen. Fünf Stuttgarter Jugendliche hatten nach einem Regenguss zwei Tage lang in der Reutlinger Halle hinter dem ersten Siphon ausharren müssen, bis Taucher sie holten.

»Ich hätte nie gedacht«, sagte sie, »dass du wirklich kommst.«

Ich bestellte erst einmal Kaffee und Herrentorte, ehe ich sie enttäuschte. »Ich brauche deine Hilfe.«

»Als Kollegin?«

»Nein. Ich bin nicht mehr beim Stuttgarter Anzeiger. Sie haben mich rausgeworfen.«

Janette zog die Bögen gezupfter schwarzer Brauen hoch. »Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Sitzt deinetwegen nicht der Chefredakteur in U-Haft?«

»Kann sein. Aber das ist Schnee von gestern. Jetzt suche ich einen Staatsanwalt aus Stuttgart, der seit einer Woche hier oben auf der Alb verschwunden ist. Offiziell hat er drei Wochen Urlaub genommen.«

Janette blickte mich interessiert, aber verständnislos an.

»Das kann aber nicht sein«, fuhr ich fort, »denn die Pfingstferien sind den Kollegen mit Kindern vorbehalten. Und ich kann ihn auch nicht auf seinem Handy erreichen.«

Janette verdrückte mehr Enttäuschung in ihre Mundwinkel, als ihr zustand. »Was interessiert dich dieser Staatsanwalt?«

»Ich denke, er hat Vorermittlungen aufgenommen. Und da er ein ziemlich hohes Tier ist, muss es um etwas Hochbrisantes gehen.«

»Um den Truppenübungsplatz Münsingen, würde ich sagen«, platzte es aus Janette heraus. »Der wird nämlich dichtgemacht zum Jahresende.«

Herrentorte und Kaffee kamen. Janette steckte sich eine Zigarette an und blickte diätscheu über die Glut hinweg auf meine Gabel, die knackend in den Schokoguss einbrach.

»Und was passiert da?«, fragte ich. »Die Soldaten ziehen ab …«

»Die sind schon weg. Seit anderthalb Jahren. Bis auf ein paar Hanseln.«

Janette versuchte woandershin zu paffen, aber der Wind drehte routiniert auf mich. Die Herrentorte bestand aus unsüßem Schokoplüsch mit Schichten von Kaffeecreme und Träublesgsälz.

»Und nun?«, fragte ich weiter.

»Das Gelände geht ans Finanzministerium, und unser neuer Ministerpräsident will daraus ein Biosphärengebiet machen. Stand aber alles in der Zeitung.«

Ich kaufte mir keine mehr, um meinen früheren Arbeitgeber zu strafen. Ich hatte aber den Verdacht, dass er das gelassen sah.

»Nun tobt natürlich der Kampf zwischen Naturschutz und Wirtschaftsinteressen. Die IHK Reutlingen glaubt, man könne vierzig Millionen Euro Kaufkraftvolumen aus dem Gelände herausholen, wenn man regionale Firmen ansiedelt.«

»Aber liegen da nicht Blindgänger und so?«

»Wovon du ausgehen kannst. Aber das Finanzministerium hat schon abgewinkt. Denen ist das Gutachten zu teuer. Fünf Millionen würde es kosten.«

»Das heißt, man schickt die Schäfer vor und schaut, wo die Schafe in die Luft fliegen.«

Janette verzog keine Miene. »Schafe weiden dort schon immer. Es ist ein einmaliges Biotop. Da hat niemals eine Flurbereinigung stattgefunden. Es gibt seltene Tiere wie Steinschmätzer, Ameisenbläuling – ein Falter, der sich in Ameisennestern verpuppt – und die Kreuzkröte. Der Naturforschende Verein Schwäbische Alb fordert deshalb die Ausweisung eines Naturschutzgebiets, in das man auch gleich die Uracher Spinne einbeziehen könnte.«

»Igitt!«

Wieder blickte Janette mich tadelnd an, aber auch schon ein wenig mütterlich. »Das ist ein Hang- und Schluchtwald im Albtrauf, Lisa, nordwestlich des Truppenübungsplatzes.«

»Also Deckel drauf, Minen drum herum, Wanderer raus und alle Biker abschießen, damit der Ameisenbläuling überlebt.«

»Der Zug ist leider längst abgefahren.« Janette löffelte den erkalteten Cappuccino aus ihrer eigentlich leeren Tasse. Ein Schäumchen blieb auf ihrer Oberlippe. »Der Alte hat nämlich dem Königsmörder noch ein Ei ins Nest gelegt.«

»Der alte Ministerpräsident dem neuen?«

Janette nickte. »Er, also der Alte, hat kurz vor der Stabübergabe an den Jungen noch schnell eine GmbH ins Leben gerufen, die sich um die Erschließung des Truppenübungsplatzes kümmern soll. Zum Geschäftsführer hat er seinen ehemaligen persönlichen Referenten bestimmt. Erich Schorstel.«

Kannte ich nicht.

»Der Königsmörder hatte keine andere Wahl, als ein Biosphärenprojekt zu verkünden: Die Natra, so heißt die GmbH, soll eine Mischung aus Schafbeweidung, mäßigem Tourismus und kleineren Betriebsansiedlungen ausloten und Investoren an Land ziehen.«

Ich spaltete den Rand der Herrentorte. »Und wo ist da der Skandal?«

Janette drückte mit lackierten Fingernägeln ihre lippenstiftgetränkte Kippe aus. »Beispielsweise bekommt Erich Schorstel ein Jahresgehalt von 305.000 Euro.«

»Das ist doch nicht viel! Und krimineller, als Politik üblicherweise ist, auch nicht. Deshalb fährt kein leitender Oberstaatsanwalt der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftsstrafsachen beim Landgericht Stuttgart auf die Alb.«

»Mehr kann ich euch Stuttgartern leider nicht bieten«, spitzte Janette.

»Wo sitzt denn die Natra?«, erkundigte ich mich friedlich.

Da düdelte das Handy los, das vor Janette auf dem Tisch lag. Mein unmusikalisches Gehör erkannte Miss Marple. Janette klebte es sich ans Ohr und krauste die Nasenwurzel. »Ja … Mhm … Oh! … So? … Keine Ahnung … Hoffentlich nicht! Danke, Frau Kerner. Ja … Ja.« Janette beendete das Gespräch und tippt sich ins nächste weiter. »Florian, ich bin’s. Du, Laura ist daheim, oder? … Dann schau doch mal bitte … Ja, ich warte.« Janette drehte hektisch die schwarz gefärbte Strähne vor ihrem Ohr zu einer Locke. »Ah, Gott sei Dank! … Nein … Weiß ich nicht.« Sie klappte das Handy zusammen. »Sorry, Lisa, aber aus unserem Wiedersehenskaffeeklatsch wird nun doch nichts. Ich muss weg. Ich habe dir ja gesagt, dass ich Bereitschaft habe.«

»Was ist denn?«

»Scheint’s ist ein Kind in einer Höhle. Julian, ein Klassenkamerad von Laura. Die Klassenlehrerin hat gerade angerufen, Frau Kerner. Der langen Rede kurzer Sinn: Man hat Julian, Laura, Gerrit und Volker zusammen nach Steinhilben radeln sehen. Aber Laura ist zu Hause.«

»Und die anderen?«

»Das kläre ich jetzt. Verdammt, wo bleibt denn die Kellnerin? Ich kann nicht länger warten. Zahlst du für mich?«

Sie stand schon, die Handtasche unter den Arm geklemmt.

Ich kippte den Kaffee, schob einen viel zu großen Schein unter die Kaffeetasse und lief ihr hinterher.

3

Hilfe! Ein letzter Blick in die blendenden Lichter der Lampen, dann schlug der Stein über mir zusammen. Loslassen! Rums. Ich baumelte am Seil. Wenn ich es recht überlegte, war ich bisher nur in der Bärenhöhle gewesen. Da ging es ebenerdig hinein, und es gab hübsche Tropfsteine. Aber hier ging es senkrecht in die Tiefe. Kantiger gelblicher Fels leuchtete im Schein meiner Helmlampe. Die Wand rückte von allen Seiten an mich heran. Ich angelte nach dem Seil, das unter mir baumelte, und umfasste erneut den Abseiler.

Hark hatte mir im Schnelldurchlauf den Schacht beschrieben, aber mein Hirn hatte alles rausgesiebt bis auf das Wort »Perlsinter«. Das war wohl das, was einige Meter weiter unten aus der Wand knopfte, glasierte Kügelchen wie Streuselkuchen. Die Herrentorte versinterte in meinem Magen.

»Wo bist du?«, sprotzte das Funkgerät an meinem Brustgurt. Harks Stimme war kaum zu erkennen.

»Am Streuselkuchen.«

»Dann … sprotz … drei Meter bis … knatter … Engstelle.« Unter mir eierte in feuchten Felsringen das Loch der Röhre. Die Wände trieften, der Sinter schillerte. Ich klammerte und ratschte im freien Fall abwärts. Loslassen! Aber die Hand am Abseiler gehörte nicht mehr zu mir. Mich rettete nur die Notwendigkeit, mich mit den Händen abzustützen, um nicht gegen die Wand zu pendeln. Als mein Herzklopfen und Blutrauschen nachließen, hörte ich das Funkgerät brodeln.

»Ich bin am Muttermund«, sagte ich in der Hoffnung, dass mein Babyphon besser funktionierte als mein Empfang.

Gleich unter dem Durchschlupf bekam ich rutschigen Boden unter die Schuhe. Der Knick bildete einen abschüssigen und schmierigen Rastplatz. Ein Stück weiter pulsierte der zweite senkrechte Schlund und hauchte feuchte Finsternis herauf. Der Blick in eine außerdem halbwegs waagerecht abzweigende Röhre verlangte, dass ich auf Knie und Hände ging.

Unter dem Handschuh fühlte ich beim Vorrücken zum Röhrenmund einen Fremdkörper im Schmodder. Eine Uhr! Es müllten auch noch andere Dinge auf dem Absatz im Knick, eine Glasflasche, Stöcke und Steine. Offenbar konnten viele auf dem Grillplatz der Versuchung nicht widerstehen, die Tiefe des Schachts mit Einwürfen auszutesten. Die Uhr mochte jemand bei diesem wenig naturschützerischen Tun verloren haben. Ich zog mir den Handschuh aus, knüpfte sie mir ans Handgelenk und zog den Handschuh wieder an.

Eigentlich hätte Julian hier im Müll landen müssen, wenn er im Schacht hinuntergerutscht war, weil das Seil sich gelöst hatte. »Erst in die horizontale Röhre schauen!«, hatte Hark Fauth mir eingeschärft. »Wenn Julian im Toten Ende steckt, ist eh alles zu spät.« In den für einen erwachsenen Menschen unzugänglichen Spalten des zweiten Schlunds würde ich ihn nicht einmal sehen können.

Ich suchte für mein Seil einen Ring, den Vorgänger am Knick in die Wand gedübelt hatten, und hängte es mit einem Karabiner dort ein.

»Julian!«, rief ich aus beengter Brust. »Wo bist du?«

Täuschte ich mich, oder hörte ich tatsächlich ein Wimmern?

Das Klirren meines Geschirrs störte die Peilung. Die horizontale Röhre schluckte das Licht meiner LED-Lampe in die Endlosigkeit weg. »Julian!«, rief ich hinein. Stille kam zurück. Ich hielt meinen Atem an, bis mir die Lunge zu den Ohren herauskam. Immer noch Stille.

»Ich gehe zum Toten Ende hinunter«, meldete ich über mein Babyphon nach oben, egal, ob es ankam. Hark hatte mir auf seine sprücheklopfende Art versichert, dass er die Hand immer am Seil haben werde. »Das Seil spricht zu mir. Ich spür das, wenn du dich bewegst. Und wenn sich zehn Minuten nichts tut, dann komm ich runter.«

Wie tief es hinunterging, weiß ich nicht. Im Gedärm der Erde relativierte sich die Zeit. Aus Spalten quoll Sinter, Wasser tropfte und rann. Dann bog sich der Schlund unters Geschiebe verkanteter Schichten. Das Licht meiner Helmlampe knallte gegen Flächen und verfing sich in Ritzen und Spalten.

»Julian?« Eigentlich hatte ich rufen wollen, aber meine Stimme kam über ein Flüstern kaum hinaus.

»Hierbinnich!« Ein dünner Schrei aus einem Spalt. Der Schacht hatte sich zu einer Rutsche verbreitert, war aber gerade mal noch einen flachbrüstigen Atemzug hoch.

»Ich komme!«

Am blockierten Abseiler drehte ich mich wie eine Spinne mit dem Kopf nach unten. Da, endlich! Im Geschiebe der Schatten ein weißes Gesichtchen mit weit aufgerissenen Augen, zwei weiße Hände am Stein.

»Nicht bewegen, Julian!« Dass er mir bloß nicht vor der Nase vollends abrutschte in die unzugänglichen Falten des Schlunds! »Warte, bis ich dich habe! Hörst du?«

Ich zog meinen Handschuh aus und stopfte ihn in den Gurt. Denn krebste ich seitwärts an ihn heran, verankerte die Fußspitzen in den Schründen und streckte den Arm. »Rühr dich nicht, Julian! Warte, bis ich dich habe!« Die Hand des Jungen war steif und kalt. »Hab dich!«

Und jetzt? Vierzig Kilo halb gefrorenes Fastfood mit einem Arm hochziehen. Man kann, wenn man muss. Julian klammerte sich wie ein Affe in meine Gurte. Ich ließ mich rückwärts gegen die Rampe fallen und schlang eine Leine um ihn.

»Ich habe ihn!«, teilte ich meinem Babyphon mit. »Ihr könnt mich raufziehen!«

Keine Antwort. Na ja, einen Versuch war es wert gewesen. »Hallo, Julian«, sagte ich. »Ich bin die Lisa. Alles okay?«

Der Junge nickte mit dem Kopf an meiner Brust. Ich ertastete ein Seil, das ihm noch um die Hüfte geschlungen war, ein blaues Plastikseil der Marke Dachbodengerümpel. Wenn Julian unterkühlt war, durfte er sich nicht bewegen. Als Journalistin liest man ja so allerlei, was man nie im Leben braucht, auch über den so genannten Bergungstod.

»Deine Mama wartet oben«, plauderte ich, während ich den Jungen in Leinen schlug und an eine Bruststeigklemme hängte und danach die Handsteigklemmen ins Seil einbaute.

Dabei verlor ich den Handschuh.

»Wenn du in eine Höhle gehst, nimm nichts mit, lass nichts zurück, mach nichts kaputt und schlag nichts tot«, spülte mir mein spätpubertäres Studium von Harks Höhlenbilderbuch ins Gedächtnis.

Ich nestelte die Handlampe vom Gurt. Hätte ich nicht noch einmal ins Geschiebe des Toten Endes geleuchtet, dann hätte wohl niemand jemals erfahren, welche Beute die Mägen des Bergs soeben zu verschlucken und zu verdauen im Begriff standen.

Er pfropfte bis zu den Schultern im Spalt. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, denn der weiße Helm war mit dem erloschenen Auge der Helmlampe gegen die Schachtschräge gesunken. Die Arme lagen über die Schultern geknickt. Der Schlaz, in dem er steckte, leuchtete, wo kein Schlamm ihn verkrustete, orangerot. Auf ihm ringelte sich wie eine satte Mamba nach dem Biss ein schwarzes Seil.

Vermutlich hatte er Julian das Leben gerettet, denn er hatte verhindert, dass der Junge auf Nimmerwiedersehen ins Tote Ende rutschte.

Julian wandte den Kopf, und ich schwenkte das Licht schnell weg von der Leiche. Das Nachbild brannte sich durch die Netzhaut ins Gehirn. Trotzdem hätte ich mir Janettes Kamera gewünscht.

Mein Handschuh war verloren.

Außerdem wurde es Zeit, das Unmögliche zu versuchen und mit den Steigklemmen klarzukommen. Sie bildeten eine Art Kletterverbund. Man schob die Klemme mit der Hand am Seil empor, samt Fuß, der in einer Schlinge steckte, die mit ihr verbunden war. Nach wenigen Metern glühten mir die Knie, und am Knick war ich völlig außer Atem. Mit Julian im Bauchbeutel kroch ich vor zum Einstiegsschlot. Der Muttermund wollte uns schier nicht durchlassen. Am Perlsinter hatte ich wieder Sprechkontakt mit der Oberwelt.

»Mama!«, schrie Julian.

Scheinwerferlicht schrägte über mir in den Schachtmund und warf krautige Schatten an die Wände. Der Sinter blieb zurück, der Stein wurde rauer. Ich ächzte mich bis zur süßen Nachtluft hinauf. Hark streckte seine langen Arme herein, packte Julian – »Hab ihn! Mach ihn los!« – und zog ihn raus.

Dann erlitt ich eine Kurzamnesie. Als ich meine Umwelt wieder wahrnahm, kroch ich unter dem Felsüberhang hervor in eine von Scheinwerfern durchgeisterte Waldnacht. Am Hohlweg stand ein Krankenwagen. Julian lag schon auf der Trage.

Ich fiel Janette und einem weiteren Sanitäter in die Hände.

»Und wo ist Hark?«