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Stefan Keller

Stirb, Romeo!

Kriminalroman

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Ricarda Dück

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – ullstein bild,

© michael715 / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5210-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Teil 1: Wenn die Welt zusammenbricht

1

Die Haustür stand sperrangelweit auf. Im Flur brannte Licht und fiel hinaus auf die Stufen, auf denen zwei Buchsbäumchen thronten. Junge Triebe lugten verstohlen hervor. Vera Marx hatte gehofft, an diesem vertrauten Ort ein Gefühl von Sicherheit wiederzuerlangen. Schutz zu finden. Die offene Tür zerstörte diese Hoffnung wie die kleinen Triebe die akkurate runde Form der Bäumchen. Sollte sie trotzdem hineingehen?

»Was ist jetzt?«, fragte der Taxifahrer und sah sie an. Ungeduldig tippten seine Finger auf dem Lenkrad. Das Autoradio spielte leise Michael Sembellos »Maniac«: »Just a steel town girl on a Saturday night, looking for the fight of her life …« Sie hatte einmal zu diesem Lied getanzt. Jetzt zitterten ihre Knie.

Im Scheinwerfer des Taxis glitzerten die Regenfäden. Sie suchte in ihrem Portemonnaie nach dem Geld für den Fahrer. Dann stieg sie aus. Herzklopfen. Mit ängstlichen Schritten lief sie über die Straße. Hinter ihr brauste das Taxi davon.

Auf dem Treppenabsatz blieb Vera stehen und lauschte. Sie war Sekretärin im Bundesverteidigungsministerium, eine ganz normale Frau. Vielleicht zurzeit in einer ungewöhnlichen Situation. Aber sie war niemand, der mitten in der Nacht einfach so ein Haus betrat, dessen Tür sperrangelweit offen stand. Andererseits war es ihr Haus. Sie hatte über sieben Jahre darin gelebt.

Nichts war zu hören. Kein Laut. Nur der Kühlschrank brummte in der Küche. Noch eine Weile verharrte Vera auf der Treppe.

Hörte sie vielleicht ein Stöhnen aus dem Keller?

Nein, nichts.

Klirrte Glas im Obergeschoss?

Nein. Auch nicht.

Sie drückte die Klingel. Der Gong ertönte.

Sie wartete. Niemand reagierte.

Vorsichtig trat sie ein.

»Bernd!«, rief sie, nachdem sie hinter sich zugesperrt hatte. »Ich bin’s, Vera!«

Keine Antwort. Nur der Kühlschrank brummte weiter.

»Bist du zu Hause?«

Leise schlich sie in die Küche, wagte kaum zu atmen. Auf der Anrichte ragte ein Messer aus dem Messerblock. Sie griff danach. Jetzt fühlte sie sich ein bisschen sicherer.

Vorsichtig näherte sie sich dem Wohnzimmer, felsenfest überzeugt, gleich auf dem niedrigen Glastisch eine Rotweinflasche und zwei Gläser zu sehen, dahinter Bernd mit der rothaarigen Hexe auf dem Sofa. Aber der Raum war leer. Keine Flasche, keine Gläser, kein Bernd, keine Rothaarige.

Vera ging hinüber zur Couch, deren Leder furchtbar quietsche, wenn man sich daraufsetzte. Die Fernsehzeitschrift auf dem Tisch war von letzter Woche. Sie kannte sie. Sie hatte sie selbst gekauft. In einem anderen Leben.

Sie trat ans Fenster und blickte hinaus in den Garten, erkannte die kahlen Äste der Sträucher in der Dunkelheit. Sonst nichts. Hinter sich meinte sie ein Geräusch zu hören, ein leises Rascheln. Erschrocken fuhr sie herum, das Messer fest umklammert. Doch niemand stand hinter ihr.

Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Dämmerlicht im Raum. Durch die Küche kehrte sie zurück in den beleuchteten Flur. Vorsichtig, den Rücken an der Wand, das Messer mit der Spitze nach vorne gerichtet, tastete sie sich die Kellertreppe hinunter. Hier unten war es finster. Alle Türen zugeschlossen. Sie kehrte um, froh, nicht in der Sauna nachschauen zu müssen.

Im ersten Stock sah sie einen Lichtschein durch den Schlitz unter der Schlafzimmertür schimmern. Vera zögerte, traute sich nicht, sie aufzureißen. Stattdessen öffnete sie die Tür zum Gästezimmer, das irgendwann einmal ein Kinderzimmer hätte werden sollen, danach betrat sie das Bügelzimmer, in dem sich ihr Plattenspieler und die Mappen mit den Singles befanden, die sie gekauft hatte. Die würde sie irgendwann mitnehmen, beschloss sie.

Auch im Bad fand sie niemanden. Falls sich jemand im Haus versteckte – Bernd, die Rothaarige oder gar ein Einbrecher –, musste er im Schlafzimmer sein. Leise lief sie dorthin. Der graue Veloursteppichboden im Flur verschluckte das Geräusch ihrer Schritte. Noch einmal hielt sie inne, das Ohr an die Tür gepresst, die Hand auf der Klinke. Im Schlafzimmer war nichts zu hören. Nicht einmal Bernds unvermeidliches Schnarchen. Vielleicht war er ausgegangen und hatte nicht richtig hinter sich zugesperrt?

Sie drückte die Klinke hinunter und streckte vorsichtig den Kopf ins Zimmer. Sie erstarrte. Bernd saß auf dem Bett, das Laken bedeckte zur Hälfte seine Beine. Er war nackt, sein Oberkörper lehnte gegen die gepolsterte Rückwand des Bettes, ein Kissen im Kreuz. Sein Kopf war leicht nach hinten geneigt, die Augen blickten über Vera hinweg auf das Kruzifix über der Tür, das ihre Mutter ihr geschenkt hatte. Sie hatte nach Veras und Bernds Hochzeit darauf bestanden, es im Schlafzimmer der Jungvermählten aufzuhängen. Vera hätte es am liebsten direkt verschwinden lassen, aber sie hatte gewusst, dass ihre Mutter es bei jedem Besuch kon­trollieren würde.

Jetzt schaute der Herr Jesus hinab auf ihren Mann, als wolle er ihn bei sich willkommen heißen. Während der eine am Kreuz eine Wunde unter dem Herzen trug, hatte der andere auf dem Bett eine Wunde quer über den Hals. Jemand hatte Bernd die Kehle aufgeschlitzt. Ein tiefer, weit auseinanderklaffender Schnitt. Das Blut war ihm über die Brust gelaufen und hatte auf dem weißen Laken dunkelrote Flecken gebildet. Seine Hände waren blutverschmiert. Auf seiner Brust entdeckte Vera drei Einstichwunden.

Entsetzt ließ sie das Messer zu Boden fallen. Fast geräuschlos landete es auf dem weichen Velours. Dann rannte sie hinüber zu ihrem Mann. Lebte er noch? Konnte sie ihn retten? Als sie sich mit einem Knie auf dem Bett abstützte und zu ihm beugte, ihm die Hand auf die Schulter legte und ihm in die leeren Augen sah, musste sie einsehen, dass für Bernd jede Hilfe zu spät kam.

Mehr aus Schamgefühl, ohne es sich wirklich bewusst zu machen, zog Vera die Decke etwas höher. Dabei bemerkte sie, dass das zweite Bettzeug benutzt worden war. Als sie zu der Seite des Bettes hinüberging, die einmal ihre gewesen war, klingelte es an der Haustür. Sie erstarrte. Wer trieb sich um diese Zeit draußen herum?

2

… 6 Tage früher …

»Das können wir nicht machen!«

Vera Marx zupfte am Ärmel ihrer Komplizin. Sie versuchte sie festzuhalten, aber Magda drückte die Klinke herunter und ging in den dunklen Raum hinein. Vera fürchtete, die Bluse ihrer Freundin zu zerreißen, wenn sie sie nicht losließ.

»Natürlich können wir das! Es war offen!« Magda griff ihrerseits nach Veras Arm und zog sie hinein. Vera stolperte ihr hinterher.

Ihre Kollegin schloss die Tür hinter ihnen und tippte mit dem Zeigefinger gegen die Lippen. »Leise jetzt«, raunte sie Vera zu, deren Herz bis zum Hals pochte.

Zu ihrem Glück waren die Jalousien der Fenster hinuntergelassen. Im Halbdunkel des Zimmers fand sich Magda erstaunlich gut zurecht. Sie ging um den Schreibtisch herum, der doppelt so groß war wie Veras drei Räume weiter. Dafür nicht einmal halb so voll. Hier stand keine elektrische Schreibmaschine, die zu schwer war, um sie wegzuschieben, musste man einmal Papiere durchgehen. Keine vollen Ablagefächer, beschriftet mit »Eingang«, »Ausgang«, »Vorlage« oder »Wichtig«, stapelten sich auf der glatt gebohnerten Tischplatte. Nur ein Telefon stand neben einer ledernen Schreibmappe, auf der ein bestimmt sündhaft teurer Füllfederhalter lag. Auf einem kleinen Schrank hinter dem Schreibtisch thronten in goldene Rahmen gefasste Fotos einer Frau und dreier Kinder, die breit grinsten. Die Kinder. Nicht die Frau. Die lächelte, als habe sie eigens dafür einen mehrwöchigen Kurs besucht.

An der Wand gegenüber hingen ebenfalls Bilder. Sie zeigten den Mann, dem dieses Büro gehörte. Meist stand er neben anderen Herren, denen er die Hand schüttelte, während sie gemeinsam in die Kamera schauten. Er mit stolzgeschwellter Brust, seine Begleiter wirkten, als müssten sie eine unvermeidliche Prozedur über sich ergehen lassen. Vera erkannte den französischen Präsidenten François Mitterand und sein amerikanisches Pendant Ronald Reagan. Anders als dem besonders schmallippigen Franzosen war dem Amerikaner als Einzigem für die Aufnahme ein Lächeln gelungen. Als habe er noch nie jemanden so Bemerkenswertes getroffen wie Doktor Alexander Hildebrandt, Ministerialdirektor im Bundesministerium für Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland, Abteilung 23. Allerdings war Reagan auch einmal Schauspieler von Beruf gewesen.

Schritte auf dem Flur rissen Vera aus ihren Gedanken. Sie hielt den Atem an. Selbst Magda stand still, starrte mit ihren großen, kräftig geschminkten Augen zur Tür. Vera schielte vorsichtig zu ihr hinüber, den Kopf nach unten gesenkt. Sie traute sich nicht, den Blick zu heben. Als gäbe es eine Chance, unerkannt zu bleiben, sollte urplötzlich Doktor Hildebrandt oder jemand vom Sicherheitspersonal hereinstürmen. Ein kindischer Gedanke, schalt sie sich. Als würde man sie nicht erkennen mit ihren schmalen Schultern unter der weißen, seidig glänzenden Bluse, deren Schulterpolster dieses Defizit nicht ausreichend kaschierten. Mit ihrer kräftigen Hüfte, die sie selbst viel zu ausladend fand, in ihrem Rock mit dem grün karierten Schottenmuster. Mit ihren braunen Haaren, dem unverkennbaren Schnitt, mittellang, praktisch.

Die Schritte verhallten, Vera schaute ihre Kollegin an. Magdas Augen leuchteten abenteuerlustig. »Siehst du? Alles kein Problem!«

Als gehöre er ihr, ging Magda um den Tisch herum, ignorierte die einzelne Mappe, die neben der schwarzen ledernen Schreibunterlage lag und auf der in gestempelten Buchstaben »Stufe II – streng geheim« zu lesen war. Stattdessen ging sie in die Hocke und öffnete den niedrigen Schrank, auf dem die Fotos standen. Licht leuchtete auf und erhellte ihr Gesicht.

»Wusste ich’s doch!« Sie nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank und hielt sie Vera hin. »Bester Champagner! Die Fete kann weitergehen!«

Sie schloss die Tür der versteckten Minibar, das Licht erlosch.

»Aber wir können doch nicht …?«, warf Vera ein.

»Hildebrandts Champagner klauen? Natürlich können wir das!«

»Er wird es merken! Er steht draußen und feiert mit!«

Magda grinste. Diebisch, fand Vera. »Ja, und? Glaubst du, er wird uns eine Szene machen, wenn wir mit seinem Büro-Champagner erscheinen? Damit alle wissen, dass er immer eine Flasche bereitstehen hat?«

Entschlossen ging Magda zur Tür, drückte mit der rechten Hand die Klinke herunter, hielt die Flasche wie eine Waffe in der linken, und schaute kurz hinaus. Vera konnte es kaum erwarten zu verschwinden. Über den Flur schallte lautes Lachen aus dem Sekretariat, ihrem Büro, wo die Kolleginnen und Beamten den Arbeitstag ausklingen ließen und den Abschied von Hildebrandts Chefsekretärin feierten. Gäbe es noch Sekt, würde Vera das Klirren von Gläsern hören. Stattdessen waren nur Gesprächsfetzen und Gelächter zu vernehmen.

Vera schloss die Tür, wischte gedankenlos mit dem Ärmel über den Knauf, als wolle sie Fingerabdrücke verwischen. Ihr Herz klopfte immer noch bis zum Hals. Die Aufregung allerdings ließ nach. Erleichterung machte sich langsam breit. Erleichterung und ein leichtes Kribbeln, von dem sie nun meinte, es sei vielleicht eben schon da gewesen, nur habe sie es nicht bemerkt, weil ihre Angst alles überlagert hatte. Ein Kribbeln, das ihr gefiel.

Dummes Huhn, tadelte sie sich, während sie hinter Magda den Flur hinunterlief. Es war nur das Büro vom Hildebrandt, nichts sonst. Und es ging nur um eine Flasche Champagner, damit sie weiterfeiern konnten. Kein Grund, sich vor Angst fast in die Hose zu machen!

Selbstbewusst hielt Magda die Flasche wie eine Trophäe in die Luft, als sie ins Sekretariat zurückkehrten. Woher hatte sie eigentlich gewusst, wo Hildebrandt seinen Champagner versteckte? Vera ging fast täglich bei ihrem Chef ein und aus, öfter als Magda, aber die Minibar hatte sie noch nie bemerkt …

»Da seid ihr ja wieder!«, begrüßte sie Hedwig, mit der Vera sich das Büro teilte. Alle drehten sich zu ihnen. Vera versteckte sich ein bisschen hinter Magda. Sie beobachtete Hildebrandt, der sie wie alle anderen anschaute. Der Knoten seiner bordeauxroten Krawatte saß locker, der oberste Hemdknopf war geöffnet, eine Einladung an die Mitarbeiter, die Fete nicht als formellen Termin zu betrachten. Er schaute kurz auf Magda und die Flasche in ihrer Hand, sein Gesicht zeigte keinerlei Regung.

»Sie sind ja wirklich fündig geworden, Frau Scherf! Wie schön!« Er streckte die Hand aus, nahm Magda die Flasche ab. Sie zu öffnen war Männersache. Seine Adern am Handgelenk traten leicht hervor, als er den Korken herausdrehte, die goldene Rolex jedoch saß fest. Zwanzig nach vier, las Vera. Um sechs Uhr musste sie zu Hause sein, Bernd wartete auf sein Essen. Musste sie sonst noch etwas erledigen?

»Plopp!« Der Champagner schäumte über und ergoss sich in einen schmalen Sektkelch, den Magda ihrem Chef hinhielt. Er grinste sie anzüglich an. Magda blickte mindestens ebenso lasziv zurück.

»Der Hildebrandt tät’ dir auch gefallen, was?«, flüsterte ihr Hedwig ins Ohr.

»Der ist verheiratet!«

»Als ob das ein Grund wäre! Ist doch ein schöner Mann!« Sie stieß Vera mit dem Ellbogen an. »Und er mag dich! Hat dich ja nicht ohne Grund zur Nachfolgerin von der ollen Schmetz gemacht.« Sie lachte laut auf. Vera sah einen Rest Salat zwischen den Schneidezähnen ihrer Kollegin.

»Selbst wenn! Ich bin ebenfalls verheiratet!«

»Na und? Magda etwa nicht?«

»Was …?« Perplex blickte sie Hedwig an. Die schüttelte nur den Kopf und hielt Hildebrandt nun ihrerseits das Glas hin.

Als es voll war, wandte sich der Chef Vera zu: »Was ist mit Ihnen, Frau Marx? Noch ein Schlückchen?«

Vera winkte ab. »Nein, danke! Ich merk schon das eine Glas von eben.«

Hildebrandt zögerte, als überlege er, wie er Vera doch noch überreden könne.

»Ich trink lieber noch ein Wasser«, kam sie ihm zuvor und griff nach einer Flasche Mineralwasser, die jemand achtlos im Aktenregal hinter ihr abgestellt hatte.

Instinktiv legte Bernd Marx seine rechte Hand auf die linke, um seinen Ehering zu verdecken.

»Brauchen Sie Hilfe?«, erkundigte er sich.

Eigentlich eine überflüssige Frage, schließlich streikte das kürzlich aus Bundesmitteln angeschaffte Xerox-Kopiergerät im Schnitt alle zwei Tage, weil sich Papier in den Walzen verfing. Musste viel kopiert werden, verweigerte es den Dienst im Stundenrhythmus. Bernd wusste das.

Die Frau, die vor dem Gerät hockte, drehte sich zu ihm um, sah aus grauen Augen zu ihm auf. Ihre Bluse war ein Stück hochgerutscht, ein Streifen sonnengebräunter Haut blitzte hervor. Die Hand mit dem Ring verschwand in der Hosentasche von Bernds Versace-Anzug.

»Ja, gerne. Ich bin neu und kenne mich mit dem Gerät nicht aus«, antwortete die Frau. Ihre Wangen erröteten leicht. Das stand ihr gut, ließ sie weniger streng wirken. Weicher. Unwiderstehlicher.

Bernd ging in die Hocke, wippte lässig auf seinen Valentino-Schuhen mit den schicken Troddeln. Hoffentlich bemerkte sie seine eleganten Seidensocken, die er schon Ende März zu tragen wagte. Er war eben mehr als ein langweiliger Regierungsbeamter! Ein extravaganter Charakter! Einer, auf den die Mädchen flogen.

»Wollen wir mal sehen«, sagte er und lächelte.

Sie erwiderte sein Lächeln, strich sich eine dichte, leuchtend rote Locke aus dem Gesicht. Der weite Ärmel ihrer Bluse gab einen Blick auf ihren weißen Spitzen-BH frei, der sich auf der gebräunten Haut abzeichnete.

Er zog an dem Papier, das den Stau verursachte. Die Walzen schienen zu knurren und weigerten sich, ihre Beute freizugeben. Bernd kämpfte mit ihnen. Das Blatt zerriss. Er verlor das Gleichgewicht und plumpste mit einem Fetzen in der Hand auf den Hosenboden.

»Lassen Sie mich doch machen, wenn es Ihnen zu anstrengend ist.«

»Nein, nein, nein!« Entschlossen beugte Bernd sich wieder nach vorn. Den Kampf mit dem Kopierer würde er nicht verlieren. Nicht vor dieser Frau. »Das krieg ich hin, Fräulein …?«

»Moreno! Ich bin die neue Praktikantin.« Sie hielt ihm die Hand hin, lange schlanke Finger, drei Ringe. Am Zeigefinger einen breiten silbernen, verziert mit einem viereckigen Muster, am Mittelfinger eine Art Stoffband mit einem kleinen, in Gold gefassten Brillanten und am Ringfinger einen großen bronzefarbenen Ring mit einem kräftig schimmernden grünen Stein. Nichts davon sah wie ein Ehe- oder Verlobungsring aus.

»Bernd!«, erwiderte er und griff nach ihrer Hand. Sie fühlte sich wundervoll an, die Haut war noch weicher, als er es sich erhofft hatte.

»Isabelle!«

»Na, dann wollen wir doch mal schauen, was los ist, Isabelle!« Bernd rückte näher an den Kopierer heran, ein paar rote Haare strichen über seine Schulter. Sie rochen leicht nach Lavendel. Er liebte Lavendel! Zu Hause musste er Vera unbedingt sagen, dass sie ihm Lavendelseife kaufen sollte.

Endlich gaben die Walzen nach. Er zog den übrig gebliebenen Fetzen zwischen den Trommeln hervor. »Hier haben wir den Übeltäter«, verkündete er und hielt das zerknitterte, mit schwarzer Tinte verschmierte Blatt hoch. Isabelle wollte es ihm abnehmen. Er zog es weg. »Na, das schmeißen wir lieber gleich in den Müll.«

Nachdem er es zerknüllt hatte, warf er es – lässig, wie er fand – in den Korb, der extra für diesen Zweck neben dem Kopiergerät aufgestellt worden war. Seine Finger waren mit schwarzer Druckerfarbe befleckt. Er würde sie gründlich sauber machen müssen, bevor er den Staatssekretär traf.

»Oh je, Sie haben sich schmutzig gemacht!« Isabelle griff nach seinen Händen, sprang auf und zog ihn zu der kleinen Teeküche am Ende des Ganges.

Rasch drehte sie den Wasserhahn auf und hielt einen Finger in den Strahl, um die Temperatur zu überprüfen. Anschließend schob sie sanft die Ärmel seines Sakkos und seines Hemdes nach oben. Mit ihrer rechten Hand, an der die Ringe prangten, griff sie nach der Seife und begann seine Finger zu schrubben. Die Druckerfarbe war hartnäckig. Doch Isabelle ließ nicht locker. Ihre Finger waren glitschig, voller Seifenschaum. Es dauerte mehrere Minuten, ehe sie befand, dass seine Hände nun sauber genug waren. Bernd konnte keinen einzigen schwarzen Punkt mehr sehen. Er bedankte sich lächelnd und kehrte wie in Trance in sein Büro zurück.

Die Gläser auf dem Tablett klirrten, Vera trug es dennoch sicher zu der kleinen Küche am Ende des Flurs. Im Sekretariat hatte inzwischen jemand das Radio angedreht. Die Musik schallte bis zu ihr hinüber. »Neue Heimat & Purple Schulz«, wusste Vera. »Wenn die Welt zusammenbricht«, lautete der Titel.

Sie stellte das Tablett ab, ließ Wasser in das Spülbecken laufen. Die Gläser sollten zumindest eingeweicht werden, und wo sie gerade dabei war, konnte sie sie sofort abwaschen. Leise summte sie den Text mit. »… Sie fühlt sich hilflos und schwach und obendrein noch so klein. Dabei hat sie vom Leben noch nicht viel gesehen …«

In ihre Arbeit vertieft, zuckte sie zusammen, als ihr jemand auf die Schulter tippte. Sie fuhr herum, ein nasses Glas noch in der Hand. Wasser tropfte auf den Teppichboden. Man sollte den Küchenbereich wirklich fliesen, dachte sie, als sie den dunklen Fleck zu ihren Füßen sah.

Der Mann, der ihr gegenüber stand, achtete nicht darauf, sondern schaute ihr direkt ins Gesicht. Breithofer, Chef der Sicherheitsabteilung des Ministeriums.

Sie nickte ihm zu, stellte das Glas ab. »Was kann ich für Sie tun, Herr Breithofer?«, fragte sie ihn freundlich, unterdrückte die leichte Beklemmung, die dieser kräftige Mann mit dem dichten, dunklen Vollbart und den buschigen Augenbrauen immer in ihr hervorrief.

»Ich wollte noch einmal mit Ihnen reden, bevor Sie Ihre neue Aufgabe antreten.«

Vera meinte, in seinem Blick Zweifel erkennen zu können. Zweifel, ob sie dieser Herausforderung gewachsen war. Doch wenn er das wirklich glaubte, behielt der Sicherheitsbeamte es zumindest für sich.

»Ah, Breithofer!«, ertönte Hildebrandts Stimme. Sie sah den Ministerialdirektor aus dem Sekretariat auf sie zukommen, einen Sektkelch in der Hand. Es schien, als höbe Breithofer leicht kritisch die Braue, als er das Glas sah. Aber wer konnte das bei diesem Gestrüpp über den Augen schon genau sagen?

»Feiern Sie mit uns?«, fragte Hildebrandt den Sicherheitschef.

»Leider habe ich keine Zeit zu feiern, Herr Doktor. Ich wollte mit ihrer neuen Chefsekretärin ein paar Worte wechseln. Es ist wichtig, dass sie sich der großen Verantwortung bewusst ist, die sie nun trägt.« Er blickte sie an. Zweifelnd. »Und der Sicherheitsaspekte, die mit dieser Tätigkeit in Verbindung stehen.«

»Die Sicherheitsaspekte, natürlich, natürlich!« Der Chef stand mittlerweile neben ihnen, schüttelte Breithofer die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. »Prächtige Idee! Gehen Sie in mein Büro, dort können Sie in Ruhe reden.« Er deutete mit ausgestrecktem Arm den Flur hinunter.

Nicht dahin, betete Vera im Stillen. Der Sicherheitschef stapfte bereits los. Er hatte O-Beine, stellte sie fest, als sie ihm hinterherlief. Hildebrandt zwinkerte ihr kurz zu.

Breithofer öffnete die Tür zu Hildebrandts Büro und ließ Vera eintreten, bevor er sie hinter ihnen schloss. Vera blieb mitten im Raum stehen. Sie fühlte sich ertappt. Roch es im Zimmer nicht nach ihrem Parfüm?

Der Sicherheitschef ging um sie herum. »Setzen Sie sich doch«, sagte er und deutete auf einen der beiden Stühle neben dem kleinen Tisch, an dem Hildebrandt gelegentlich Gäste empfing.

Vera setzte sich, zupfte den Rock zurecht. Breithofer blieb stehen und blickte auf sie herab. »Morgen beginnt für Sie ein neues Arbeitsleben, das einige Veränderungen mit sich bringen wird.«

»Frau Schmetz hat mich gut eingearbeitet, und ich bin ja bereits mit allen Abläufen in der Abteilung vertraut.«

Breithofer ignorierte ihren Einwand. Er klemmte die Finger hinter die zu breiten Sakkoaufschläge. »Sie sind nun in einer deutlich verantwortungsvolleren Position, haben Zugang zu Papieren, die – so möchte ich sagen – in höchstem Maße Sensibilität verlangen.«

»Auch darüber habe ich mit Frau Schmetz und Doktor Hildebrandt bereits gesprochen. Sie haben mir eindringlich vor Augen geführt, was auf mich zukommen wird.«

Breithofer schüttelte kurz den breiten Schädel. »Über Ihren Schreibtisch gehen nun Dokumente und Akten der allerhöchsten Geheimhaltungsstufe. Stufe II! Streng geheim!«, rief er.

»Das ist mir bewusst.« Vera presste die Knie enger zusammen. Allmählich fragte sie sich, worauf Breithofer hinauswollte.

»Papiere, die die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und der gesamten westlichen Welt betreffen«, fuhr er fort. »Unterlagen, nach denen die andere Seite lechzt!« Während sich Vera über seine Wortwahl wunderte, redete Breithofer weiter: »Sie werden Kenntnisse besitzen, die Sie zum Ziel potenzieller Spionageversuche machen!«

»Ich werde schweigen wie ein Grab!« Vera lächelte den Sicherheitschef an. Kurz. Sehr kurz. Ihre Hoffnung, ihr kleiner Scherz würde Breithofer besänftigen, wurde umgehend zunichtegemacht.

»Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter!«, bellte er. »Sie wären nicht die erste Mitarbeiterin, die sich plötzlich in den Fängen des Feindes wiederfindet!« Leichte rote Flecken bildeten sich auf seinen Wangen.

»Sie können mir vertrauen, Herr Breithofer. Ich bin mir meiner Verantwortung sehr bewusst und werde mich entsprechend verhalten.« Vera stand auf, hoffte, dass das Gespräch damit vorbei sein würde. Zu Hause wartete der Herd auf sie.

»Sie wären nicht die Erste, die einem Stasi-Spion auf den Leim geht. Denken Sie an den Fall Junkers!«

Margarete Junkers war eine ehemalige Sekretärin im Außenministerium, deren Liebhaber von der Stasi auf sie angesetzt worden war, um sie auszuhorchen. Der Fall war unter den Teppich gekehrt worden, unter Regierungsmitarbeitern jedoch bekannt.

»Wie Sie wissen, bin ich verheiratet.«

»Unter anderem deswegen haben Sie diese Stelle bekommen. Es könnte dennoch sein, dass die andere Seite an Sie herantritt. Vielleicht sogar mit einem Romeo wie bei Margarete Junkers, um sich über ein vorgetäuschtes Liebesverhältnis Zugang zu geheimen Informationen zu verschaffen! Informationen, die die Sicherheit der Bundes…«

»Wie ich bereits sagte: Ich bin verheiratet, Herr Breithofer«, wiederholte Vera bestimmt. Sie wollte ihre Empörung nicht verbergen. Welches Bild hatte Breithofer von ihr?

Der Sicherheitschef hob abwehrend die Hände, dann zog er einen Schlüssel aus der Tasche und hielt ihn vor Vera in die Luft. Er wirkte nun ein wenig kleiner als zuvor und leicht verlegen. »Es ist meine Pflicht, Sie über die Gefahren in Kenntnis zu setzen, die Ihnen drohen, Frau Marx.«

»Ich weiß, Sie machen nur Ihre Arbeit. Aber Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen.«

Breithofer nickte, zog einen Schlüssel aus der Tasche und hielt ihn vor Veras Gesicht in die Luf. »Hiermit erhalten Sie Zugang zu den Ablagen mit den geheimen Unterlagen! Geben Sie gut darauf acht!«

Er wirkte alles andere als überzeugt, als er ihr den Schlüssel in die Hand drückte.

3

»Entführung ins Happy End«, las er auf dem Umschlag des himmelblauen Heftromans, als sie die Seite mit dem Zeigefinger umblätterte. Auf ihrem Schoß lag ein Walkman, dessen Kopfhörer sie sich zu Beginn der Busfahrt über die Ohren gezogen hatte. Er hatte eine ungefähre Vorstellung, welche Art von Musik sie mochte. Regelmäßig kaufte sie in einem Schallplattenladen in der Altstadt, meist Singles aus dem Regal mit den Liedern aus den internationalen Hitparaden. Langspielplatten leistete sie sich selten, eher Musikkassetten, die preiswerter waren. Obwohl sie die Preise ohne Weiteres bezahlen könnte. Den Kontostand des Ehepaares Marx kannte er ziemlich genau. Vermutlich wollte ihr Mann nicht, dass sie zu viel Geld für ein Hobby ausgab, selbst wenn sie nur wenige besaß.

Er stand etwa zwei Meter von ihr entfernt, hielt sich an einer Stange fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die andere Hand steckte in der Manteltasche. Er betastete das Feuerzeug und die Zigaretten ebenso wie das kleine Messer, das er immer bei sich trug, und einige der anderen Gegenstände, die er öfter brauchte. Öfter als normale Menschen.

Busse waren keine Verkehrsmittel, die er schätzte. Sein Zielobjekt allerdings schon. Kaum war sie eingestiegen und hatte sich auf den Platz hinter dem Busfahrer gesetzt, hatte sie das Heftchen aus ihrer Handtasche gekramt und das Papier glatt gestrichen. Anschließend hatte sie das Lesezeichen herausgezogen, es sorgfältig in der Tasche verstaut und zu lesen begonnen. Seitdem hatte sie ihre Position nicht verändert, den Kopf nach unten, völlig in die Welt ihres billigen Kitschromans versunken, und ihn nicht registriert. Allerdings bemerkten ihn die wenigsten Menschen, und das war gut so.

Vera Marx. 32 Jahre alt. Verheiratet. Sekretärin im Bundesverteidigungsministerium. Nach allem, was er wusste, bestand ihre Ehe nur noch auf dem Papier. Aber er war sich nicht sicher, ob sie das genauso sah. Das musste er herausfinden, bevor er aktiv werden konnte.

Der Bus bremste quietschend. Die stehenden Fahrgäste klammerten sich an ihre Griffe, wankten. Vera Marx schrak auf, schaute sich um. Für einen Moment sah sie zu ihm herüber. Er wandte sich den drei Jugendlichen zu, die gerade einstiegen. Zwei geschniegelte Typen mit Lacoste-Shirts und Föhnwelle, in ihrer Mitte ein Mädchen mit einem zu dick aufgetragenen Lippenstift und einem bunten Tuch im toupierten Haar. Immerhin besaß sie hübsche Beine. Sie stellten sich vor ihn.

Er rutschte ein Stück zur Seite, um sein Zielobjekt im Auge behalten zu können. Nicht, dass er fürchtete, sie würde etwas Außergewöhnliches tun. Zum Beispiel eine Haltestelle zu früh aussteigen. Vera Marx tat seiner Erfahrung nach nie etwas Außergewöhnliches. Im Grunde führte sie ein langweiliges Leben. Anders als er.

Eilig schloss Vera die Haustür auf. Der Bus hatte ein paar Minuten Verspätung gehabt, weil drei Teenager angefangen hatten, mit Popcorn um sich zu schmeißen. Der Fahrer hatte auf freier Strecke gehalten und sie hinausgeworfen.

Sie hängte den Schlüssel an den Haken des Schlüsselbrettchens neben der Tür. Vor über 25 Jahren hatte sie es im Kindergarten gebastelt. Mit einer Handsäge aus einem Fichtenholz ausgeschnitten, angemalt und mit eigens dafür gefertigten Blumenstempeln bedruckt. Stolz hatte sie es ihrer Mutter geschenkt, als Ersatz für die schmucklosen Nägel neben dem Eingang. Doch die hatte es nur verächtlich angeschaut, in der Hand gedreht und ihr mit den Worten zurückgegeben: »Das taugt nichts. Wirf es weg!« Vera hätte es wahrscheinlich tatsächlich weggeworfen, hätte sie nicht so viel Arbeit hineingesteckt und sich beim Sägen in den Finger geschnitten. Noch heute konnte man rechts unten in der Ecke des Brettchens eine dunkle Verfärbung schimmern sehen, wo ihr Blut auf das Holz getropft war. Deshalb hatte sie es in ihren Schrank gelegt, versteckt unter ihren Kleidchen, damit die Mutter es nicht finden konnte. Heute war dieses Brettchen eines der wenigen Dinge im Erdgeschoss ihres Hauses, die von ihr stammten, mit ihr zu tun hatten.

Ihre Absätze klapperten auf dem Marmorboden. Noch bevor sie aus dem Mantel schlüpfte, zog sie die Schuhe aus, weil sie das Geräusch als viel zu laut empfand. Manchmal glaubte sie, dass die Leute im Nachbarhaus sie hören mussten, wenn sie über den Marmor lief, der das gesamte Erdgeschoss bedeckte.

Auf Socken lief sie ins Wohnzimmer, nahm im Vorbeigehen eine Flasche Fanta aus dem Kühlschrank in der offenen Küche. Eine Bar trennte sie vom restlichen Raum ab, der sowohl eine Essecke als auch den Wohnbereich umfasste. Sie hätte eine geschlossene Küche bevorzugt. Allein schon wegen des Geruchs. Aber Bernd hatte sich durchgesetzt. »Supermodern! Amerikanisch! Wie in New York!«, so hatte er es genannt. Drei Hocker mit Lederbezügen und chromglänzenden Füßen standen vor der Bar, Bernds Cocktailshaker auf der Ablagefläche. Nur die Blumen hatte sie ausgewählt. Der erste Flieder. Der Raum roch danach. Sie liebte den Duft.

Mit einem Glas Limonade ließ sie sich auf das Sofa fallen, das aus der gleichen Serie stammte wie die Hocker. Leder, Stahl. Bernd hatte das Erdgeschoss vor zwei Jahren renovieren und komplett umbauen lassen. Sie hatte sich vorher wohler gefühlt. Ihr Mann hatte gemeint, nun sei es repräsentativer. Vermutlich hatte er recht.

Nur wenig interessiert blätterte sie in der Fernsehzeitung, las einen Bericht über die angeblich unmittelbar bevorstehenden Dreharbeiten zu dem Film »1984«, in dem Richard Burton eine der Hauptrollen spielen sollte. Die »Eurythmics« sollten den Soundtrack beisteuern. Darauf war sie gespannter als auf den Film, dessen Thema, die Maschinerie eines totalen Überwachungsstaats, ihr eher Angst machte.

Sie drückte die »2« auf der Fernbedienung. Mit einem leichten Klacken schaltete sich das Gerät an. Der Vorspann ihrer Lieblingsserie war bereits gelaufen. Herr Rossi fuhr mit seinem Hund Gaston im Auto nach Hause. Die meisten fanden diese Serie kindisch. Ihr war das egal. Sie liebte sie.

Nach der Sendung schaltete sie den Fernseher aus. Die Nachrichten würde sie gemeinsam mit ihrem Mann um acht Uhr schauen. Sie stand auf, räumte ihr Glas in die Spülmaschine. Ein Luxus, den sie liebte und auf dem sie bestanden hatte, als Bernd die Grundrenovierung angekündigt hatte. Er hatte dagegen argumentiert. Sie hatte dieses Mal nicht locker gelassen.

Vera setzte das Nudelwasser auf und begann mit der Zubereitung des Abendessens. Um Viertel vor sieben war Bernd noch immer nicht zu Hause. Vera beschlich ein schlechtes Gewissen. Bestimmt musste er länger im Büro arbeiten. Als Ministerialdirektor des Finanzministeriums kam das öfter vor. Unter der neuen Regierung, die seit zwei Jahren im Amt war, hatte seine Karriere mächtig Fahrt aufgenommen. Sie sahen sich immer seltener. So war das, wenn man mit einem erfolgreichen Mann verheiratet war. Doch eigentlich rief er immer an, sollte es später werden. Fast immer.

Sie hielt die Nudeln warm, so gut es ging. Vera beschloss, weiter in ihrem Roman zu lesen, eines der Hefte, für die Bernd nur Spott übrig hatte. Zu ihrem Geburtstag schenkte er ihr meist ein Buch. In der Regel eines über Politik oder Geschichte. »Für deine Bildung!«, pflegte er zu sagen. Sie hatte keines davon gelesen. Er hatte nie danach gefragt. Sie verkroch sich unter den Kopfhörern ihres Walkmans und schlug ihr Romanheftchen auf. Paul Youngs samtweiche Stimme lullte sie ein und sang »Come back and stay«.

Als Bernd um halb acht immer noch nicht zu Hause war, zog sie sich um und schob eine Videokassette in den Rekorder. Eine Viertelstunde turnte sie die Aerobic-Übungen nach, die die amerikanische Schauspielerin Jane Fonda auf dem Bildschirm vormachte. Am Anfang hatte sie sich dämlich gefühlt und die Jalousien vor den Wohnzimmerfenstern heruntergelassen. Doch nach ein paar Trainingsstunden hatte sie sich daran gewöhnt und irgendwann die Jalousien oben gelassen. Wer sollte sie auch schon vom Garten aus beobachten?

Sie wartete. Das Licht ihrer Schreibtischlampe fiel auf einige belanglose Unterlagen über Fragen der Mehrwertsteuerbelastung für Gartenbetriebe, die sie nicht im Geringsten interessierten, sondern als Vorwand dienten, um als Praktikantin noch nach sechs Uhr im Büro zu bleiben. Nachdem die ältliche, nach Patschuli riechende Sekretärin aus dem Saarland, mit der sie Büro und Schreibtisch teilen musste, endlich gegangen war, hatte sie die Heizung aufgedreht.

Er kam gegen zwanzig nach sechs, klopfte zweimal an den Türrahmen und lächelte, als er sich lässig dagegen lehnte. Die Krawatte, die er am Nachmittag vor dem Kopierer noch getragen hatte, war verschwunden. Die oberen beiden Knöpfe seines Hemdes waren geöffnet. Vera konnte sein Brusthaar sehen.

»Am ersten Tag noch spät im Büro? Na, Sie zeigen ja Engagement!«, begann er mit seinem belanglosen Geschwätz.

Sie erwiderte das Lächeln, blickte ihm direkt in die Augen. »Ich habe wohl das Zeitgefühl völlig verloren. Das ist alles so spannend! Wie spät ist es denn?«

Er trat an den Schreibtisch, legte die Hand lässig auf die Kante. »Nach sechs!« Sie wusste, was er sah, als er zu ihr hinunterschaute. Sie wusste, was er sich erhoffte. Er würde kriegen, was er wollte. Sie ebenfalls. Später.

»Oh!« Sie schaute ihn mit großen Augen an.

»Haben Sie denn zu Hause niemanden, der auf Sie wartet?« Er räusperte sich. Seine Stimme klang heiser.

Sie schüttelte den Kopf. Anschließend strich sie sich eine Haarsträhne beiseite und senkte betont langsam die Lider. Legte Traurigkeit in ihren Blick.

»Und dann …«, er kam um den Tisch herum, stellte sich hinter sie, beugte sich nach vorn und deutete auf die Papiere, die vor ihr lagen, »… vertreiben Sie sich die Zeit mit der Mehrwertsteuerbelastung für Gartenbetriebe?«

Sie blinzelte zu ihm hinauf. Auf seinem Gesicht war aufrichtige Fassungslosigkeit abzulesen. Tröstend legte er die Hand auf ihre Schulter. Machte sie es ihm zu leicht?

»Warm haben Sie es hier«, krächzte er.

»Finden Sie?«

»Sie nicht?«

»Jetzt, wo Sie es sagen! Soll ich lüften?« Eilfertig sprang sie auf und lief hinüber zum Fenster.

»Nein! Lassen Sie nur.« Er lächelte – ein klein wenig verschwörerisch. »Es ist wie in einer Sauna. Nicht unangenehm …«

»Vielleicht mag ich es deswegen.«

»Saunieren Sie gerne?«

»Ich liebe es!« Sie strahlte ihn an. »Nach meinem Abitur war ich einige Monate in Helsinki. Dort haben alle eine Sauna. Das ist toll.«

»Ich habe auch eine. Bei uns … bei mir im Keller.«

»Oh, ich beneide Sie! Das muss wunderbar sein, jeden Tag in die Sauna zu können. Immer wenn man Lust hat.« Amüsiert registrierte sie, wie ihm die Gesichtszüge beim Wort »Lust« fast entgleisten. »Ich könnte Tage damit verbringen.«

»Soll ich sie Ihnen einmal zeigen, Isabelle?«

»Das wäre toll!«

»Haben Sie was zu trinken?«

»Ich weiß nicht …« Ratlos sah sie sich um, ließ ihren Blick nur kurz zu dem Schrank mit den Getränkevorräten wandern. »Ich kenne mich noch nicht aus.« Verlegen schaute sie ihn an. »Wie Sie wissen, ist das ist mein erster Tag!«

Er zögerte einen kleinen Moment. Fast fand sie das süß. »Wir können irgendwo etwas trinken gehen. Was meinen Sie?«

Sie meinte, dass das gar nicht zu ihren Plänen passte, behielt das jedoch für sich. Stattdessen lief sie zu der Spüle hinter der Tür, nahm ein Glas und hielt es unter den laufenden Wasserhahn. Unschuldig hielt sie es ihm entgegen. »Ich kann wirklich das Fenster aufmachen.«

Er kam auf sie zu und nahm ihr das Glas ab. Nachdem er es abgestellt hatte, zögerte er einen Augenblick. Sie öffnete leicht die Lippen. Dann küsste er sie. Endlich kam er zur Sache. Sie drängte ihn zum Schreibtisch, hockte sich auf die Platte und achtete darauf, dass sie sich – und vor allem ihn – vor der kleinen Kamera im Lampenschirm gut in Positur brachte.

Mit Schwung lenkte Bernd seinen goldmetallic lackierten Porsche 928 in die überdachte Parkbucht, die er im Vorgarten hatte anlegen lassen. Nun musste er nicht mehr in den Garagenhof hinter dem Haus fahren und von dort um den Block zurück oder durch den Garten zur Veranda laufen. Zwar warf das Dach Schatten auf das ohnehin zu kleine Küchenfenster, aber für ihn und seinen Sportwagen war der neue Stellplatz nur von Vorteil.

Er kletterte bester Stimmung aus dem tief liegenden Auto. Als er sah, dass im Haus noch Licht brannte, verflog seine gute Laune. Nachdem er die Praktikantin auf dem Tisch der alten Martenstein flachgelegt hatte, war er erst einmal essen gegangen und anschließend eine Weile über die Autobahn gebrettert. Er liebte das nach dem Sex. Vor allem aber hatte er gehofft, Vera würde dann schon schlafen, wenn er nach Hause kam.

»Tut mir leid, Schatz!«, rief er, noch bevor er die Haustür hinter sich zuzog. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Er ging hinein. Vera lag in eine Wolldecke eingewickelt auf dem Sofa und schlief.

Leise schlich er nach oben ins Badezimmer, putzte sich die Zähne, kontrollierte, ob irgendwelche verräterischen Spuren auf Hemd, Gesicht und Hose zurückgeblieben waren. Sicher war sicher.

Leise Schritte auf der Treppe. Im Badezimmerspiegel mit den verspiegelten Glühbirnen, der an die Garderobe eines Filmstars erinnern sollte, tauchte das verschlafene Gesicht seiner Frau hinter ihm auf.

»Du bist spät«, murmelte sie.

Er drehte sich zu ihr um und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Tut mir leid, Besprechung mit dem Staatssekretär. Dieser Volland kommt einfach nie zu einem Ende.«

Sie schmiegte ihre Wange an seine Schulter. Er widerstand dem Reflex, sie in den Arm zu nehmen. Sie schnupperte an ihm. »Du riechst nach Lavendel.«

Mist! Er war nicht vorsichtig genug gewesen.

»Volland hat wieder zu viel geraucht, und die Martenstein hat üppig mit ihrem neuen Parfüm herumgesprüht, bevor die Sitzung zu Ende war. Tut mir leid. Findest du den Geruch auch so schrecklich wie ich?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich mag Lavendel.« Sie stellte sich neben ihn, nahm ihre Zahnbürste.

Beobachtete sie ihn im Spiegel? Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Ahnte sie etwas?