Danke

Marion, für die Inspiration zu dem Ganzen und die schöne Zeit;

Claudia und Eva, für Ermutigung und dran Glauben;

- Stip und Carola, für Friendship & Food;

Day, für die lange Zeit und Zuverlässig-beste-alte-Freundin-Sein;

meine Mama, weil sie immer zu mir gehalten hat;

Marlon und Dennis, weil ich ihr Papa sein darf;

alle Freunde & die alten Jungs in Berlin - ich drück euch;

Manfred Nestler fürs schnelle Zeichnen;

das Amt Treene für Unterstützung;

Dusty, Lizzy und Meatz für Wieher, Wau & Miau;

die Hühner für die Eier...


...und ganz besonders an Manfred Jelinski, für Euphorie, ‚Machenwa, Alter’; dafür, dass er es so schnell möglich gemacht hat, fürs Gegenlesen und für gute Ideen...


- und auch an alle die, die nicht dran geglaubt, es in schweren Zeiten noch schwerer gemacht haben; alle Anwälte, Bürokraten und Phantasielosen -


Marius del Mestre



When there’s no way to keep on, you gotta keep on! -


Disclaimer


Die folgende Handlung und ihre Protagonisten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit noch lebenden oder schon toten Personen ist rein zufällig.




Das Gedicht

In der Gruft bei alten Särgen

Zu des Klosters kühlen Stufen

Ein vergessenes Geheimnis

Das niemand sollte jemals suchen

Hüte, hüte Fuß und Hände

Eh sie berühren das ärmste Ding

Denn du zertrittst eine hässliche Raupe

Und tötest den schönsten Schmetterling


Spielregeln für ‚Albanisches Poker'

alban poker

Das im Krimiteil erwähnte Spiel ‚Albanisches Poker’ stammt eigentlich aus Spanien. Es eignet sich aber unabhängig von seiner Herkunft sehr gut zum Spielen am Strand, an Regentagen in Hotel, Pension, Fremdenzimmer, Wohnmobil oder Zelt oder auch an geselligen Abenden in gemütlicher Runde wo auch immer.

Gespielt wird es ähnlich wie das Kartenspiel Poker.

Ein Würfelbecher oder etwas Ähnliches ist unbedingt notwendig, weil immer einige der fünf Würfel, die man zum Spielen braucht, verdeckt werden müssen. Es gibt die oben gezeigten sechs Würfelsymbole, die in verschiedenen Kombinationen verschiedene ‚Werte’ ergeben. Die verschiedenen Würfelkombinationen sind ihrer Wertigkeit entsprechend unten aufgeführt. Die Anzahl der Mitspieler ist im Prinzip unbegrenzt – ideal sind aber zwischen drei und acht. Das Spiel lässt sich entweder mit den oben gezeigten Pokerwürfeln spielen, die es im einschlägigen Fachhandel zu kaufen gibt, es geht aber auch mit ganz normalen Würfeln.

Pro Runde darf jeder Spieler fünfmal ‚verlieren’ – danach ‚schwimmt’ er und scheidet, wenn er ein weiteres Mal verliert, aus. Es gibt zwar noch eine letzte Rettung für den Verlierer – dazu aber später. Um diese fünf ‚Leben’ zu zählen, zeichnet man für jeden Spieler ein Kreuz auf ein Blatt Papier. In die entstehenden vier Felder wird, jedes Mal wenn der entsprechende Spieler verloren hat, ein Kringel gezeichnet. Der letzte Kringel kommt in die Mitte, auf den Schnittpunkt der Kreuzachsen.

Natürlich kann man das Spiel auch, wie in Durak Bybars Club ‚Rote Laterne’, um Geld spielen, wobei für jeden Kringel ein frei verhandelbarer Betrag vereinbart wird. Der Spieler, der am Ende übrig bleibt, erhält den Pott. Es versteht sich von selbst, dass an dieser Stelle keinesfalls zum Glücksspiel aufgerufen werden soll, denn das ist illegal.


Ablauf des Spiels:

Es wird reihum gewürfelt; jeder Spieler hat drei Würfe. Der erste Spieler würfelt zwei Würfel offen und drei mit dem Würfelbecher, sieht sich die verdeckten an und entscheidet, welche Würfel er ‚behalten’ möchte. Diese bleiben offen auf dem Tisch liegen. Die Übrigen kommen zurück in den Becher. Er darf nun maximal zwei weitere Male würfeln (muss aber nicht). Kann er aus diesen Würfen weitere Würfel gebrauchen, legt er sie zu den anderen offen auf den Tisch, oder er lässt sie verdeckt und ‚behauptet’ ganz einfach eine Würfelkombination und sagt diese laut an. Dann schiebt er den umgedrehten Becher mit den Würfeln darunter dem Spieler links oder rechts von sich zu. Daraus ergibt sich dann auch die Reihenfolge der weiteren Spieler.

Dieser nächste Spieler deckt die Würfel auf und muss dann grundsätzlich etwas Höheres Würfeln. Gelingt ihm das nicht, bleibt ihm nichts anderes übrig, als es einfach dem wiederum Nächsten gegenüber zu ‚behaupten’. Hier zeigt sich, wer gut lügen kann.

Das Problem des folgenden Spielers ist nun, herauszufinden, ob der, von dem er den Becher zugeschoben bekommen hat, wirklich die angegebene Würfelkombination hat, oder nur blufft. Glaubt er ihm, so hat er eventuell das Problem aus einem erlogenen ‚Gar nichts’ einen brauchbaren Wurf zaubern zu müssen, den er dem nächsten Spieler glaubwürdig ‚verkaufen’ kann. Glaubt er ihm nicht, wird aufgedeckt.

Hat der vorhergehende Spieler die Wahrheit gesagt, verliert der ‚Ungläubige’ und zahlt (mit einem Kringel, oder, wie bei Durak Bybar, indem er den entsprechenden Betrag in den Pott legt).

Jeder Spieler darf alle Würfel neu würfeln oder nur einen Teil und die, die er gebrauchen zu können glaubt, offen auf dem Tisch liegen lassen. Dies ist bei allen drei Würfen erlaubt. Man kann sich also bei jedem Wurf neu entscheiden und zum Beispiel, wenn man die Nerven und die Chuzpe hat, beim dritten Wurf alle Würfel würfeln, kurz gucken (ohne dass andere Mitspieler die Würfel sehen), sie unter dem Becher liegen lassen und dreist eine unverschämt hohe Kombination ansagen (die man eventuell tatsächlich unter dem Becher hat). Das herauszufinden ist die Aufgabe des nächsten Spielers und darin liegt der Reiz, denn je weiter das Spiel fortschreitet, desto schwerer wird es, den Wurf des vorherigen Spielers tatsächlich zu überbieten.



Die Würfelkombinationen in der Reihenfolge ihres Wertes:


GARTEN                         - Fünf verschiedene Symbole - nur beim ersten Wurf des ersten Spielers

PÄRCHEN - Jede beliebige Zweierkombination. 

DOPPELPÄRCHEN - Zwei Pärchen 

TRIO - Drei gleiche Würfelsymbole

FULL IN         - Kombination aus einem hohen Pärchen und einem niedrigen Trio

FULL ON - Kombination aus einem hohen Trio und einem niedrigen Pärchen

POKER zum...         - Vier gleiche Würfelsymbole plus der Wert des fünften Würfels

REPOKER - Fünf gleiche Würfelsymbole



Grundsätzlich gilt, dass eine höhere Variante derselben Kombination den vorangegangenen Wurf schlägt. Beim Poker zum Jack beispielsweise reicht es also, aus dem Jack eine Queen zu machen, um weiterzukommen.

Ein REPOKER kann nur geschlagen werden, wenn der nächste Spieler in fünf Würfen einen gleichwertigen oder höheren Repoker erreicht. Bei den ersten drei dieser Würfe können ‚Asse’ (Sechsen) als Joker gesetzt werden (und gelten dann weiterhin als das Symbol, für das sie gesetzt wurden). Ein Repoker mit Assen muss sofort aufgedeckt werden und beendet das Spiel – alle übrigen Spieler zahlen.

Verliert ein Spieler, der ‚schwimmt’, so kann er sich als letzte Chance wieder hereinwürfeln, indem er in drei Würfen eine Kombination offen vorlegt, die ein anderer Spieler seiner Wahl dann schlagen muss. Gelingt diesem das nicht, so bekommt er einen Kringel und der Herausforderer schwimmt weiter. Diese Option gibt es nur ein Mal für jeden Spieler! 



VIEL SPASS!!

wünscht


Durak Bybar  

Inhaltsverzeichnis
Königsmord
Widmung
Disclaimer
Das Gedicht
eins
zwei
drei
vier
fünf
sechs
sieben
acht
neun
zehn
elf
zwölf
dreizehn
vierzehn
fünfzehn
sechzehn
siebzehn
achtzehn
neunzehn
zwanzig
einundzwanzig
nachwort
Spielregeln für ‚Albanisches Poker'
Danke

Marius del Mestre

Königsmord

Print 5. Auflage 2016

E-Book 1. Auflage 2016


© Ahead and Amazing Verlag, Ostenfeld 2003

erschienen in der Edition Leuchtfeuer


Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.


Titelseite:

Zeichnung: Manfred Nestler

Gestaltung: Sundance


Layout: Indigo Kid


Druck und Bindung: PRESSEL Digitaler Produktionsdruck, Remshalden


ISBN (Print): 978-3-933305-51-8

ISBN (E-book): 978-3-933305-42-8


Ahead and Amazing Verlag, Jelinski GbR, Magnussenstr. 8, 25872 Ostenfeld

www.aheadandamazing.de

Widmung


Für Schneckelein, auch

wenn sie leider nicht mehr mein

Schneckelein ist

acht

Kalte, klamme Nässe mäanderte zeitlupengleich in die Dunkelheit meines Unterbewusstseins, stieg und stieg, flutete gleichsam mein Gehirn. Ganz nahe brannte ein Feuer. Ich versuchte, es zu erreichen, um der klammen Kälte zu entkommen, aber die Feuchtigkeit, die mich umfing, war wie Schlamm, der meinen Körper festhielt; wie ein Sumpf, der mich in die Tiefe zog.

Das Feuer loderte auf und brannte mir in den Augen, was seltsam war, weil ich glaubte, sie seien geschlossen, und je höher die Flammen schlugen, desto unerreichbarer schien ihre rettende, wärmespendende Nähe zu werden. Ich versuchte verzweifelt, mich freizukämpfen und der lähmenden Feuchtigkeit zu entkommen, aber es war vergeblich. Langsam sickerte mir aus stillgelegten Regionen meines Gehirns die Erkenntnis ins Bewusstsein, dass dies ein Alptraum sein müsse; aber das Feuer brannte weiter und die Nässe blieb. Ich musste mich zwingen, die Augen zu öffnen, bevor mich der feuchte, schmatzende Sumpf dieses Traumes völlig verschlingen würde. Es kostete eine ungeheure Anstrengung. Meine Augenlider waren wie zugetackert. Aber schließlich gelang es mir. Ich riss die Augen auf und ...

... mich umfing völlige Dunkelheit, tiefste neblige Schwärze. War ich wach oder schlief ich immer noch? – es dauerte einen Moment, bis ich mir über diese Frage klar geworden war. Ich fasste an meine Augen und überzeugte mich davon, dass sie wirklich offen waren. Meine Hand war nass. Ich war nass. ES war nass. Und das Nasse schmeckte salzig und sandig. Das Feuer war verschwunden und einem pochenden Schmerz in meinem Kopf gewichen. Ich lag auf etwas Nassem, Glitschigem, Schlammigem, Sandigem. Es war dunkel, kalt und neblig und es war kein Traum. Ich versuchte, mich aufzurichten, aber dabei schoss mir sofort ein stechender Schmerz durch den Schädel. Wo zum Teufel war ich? Ich bemühte mich, die Ereignisse zu rekonstruieren. Mein Gehirn kam langsam wieder in Gang. Mühsam rappelte ich mich hoch, betastete vorsichtig meinen Hinterkopf und fühlte eine blutverkrustete Beule. Gleichzeitig füllte sich meine Erinnerung widerstrebend mit Inhalt, und dann wusste ich mit einem Schlag, was passiert war und wo ich mich ganz offensichtlich befand. Ich wehrte mich noch ein paar Augenblicke gegen die ebenso überraschende wie niederschmetternde Erkenntnis, aber es gab keine andere Erklärung: Ich war im Watt!


Jeder Besucher der nordfriesischen Nordseeküste sollte die Gelegenheit wahrnehmen, eine Wattwanderung zu machen und sich dem unvergleichlichen Zauber dieser weltweit einmaligen Landschaft zwischen Ebbe und Flut hinzugeben, denn sie ist wunderschön. Das Watt ist allerdings genauso tückisch und gefährlich wie zauberhaft. Es ist ziemlich groß (etwa sechsunddreißigtausend Quadratkilometer am deutschen Teil der Nordseeküste), auf den ersten Blick ziemlich gleichförmig und wenn man erstmal den Deich aus den Augen verloren hat, ist es ziemlich schwer, sich zu orientieren. Es gibt tiefe, reißende Priele, durch die gezeitengetrieben Nordseefluten strömen, die einen mühelos mitreißen und in denen man ertrinken kann; tückische Schlicklöcher, in denen man versinken kann und perse andere für den Unkundigen meist tödliche Gefahren.

Deshalb sollte, wer die faszinierende Natur des Wattenmeeres genießen will, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen, unbedingt folgende Regeln beachten:


Niemals eine Wattwanderung beginnen, wenn man nicht weiß, wann die nächste Flut kommt;

Wattwanderungen niemals bei Nacht machen und selbstverständlich auch nicht bei Nebel;

Und man sollte niemals eine Wattwanderung ohne einen qualifizierten Führer unternehmen.


Ich war im Watt. Es war Nacht. Es war neblig. Ich hatte keinen qualifizierten Führer. Ich wusste weder, wann die nächste Flut kommen würde, noch wo ich in etwa war. Ich war nass, schlotterte vor Kälte und mein Kopf schmerzte, als würde mir jemand von innen mit einer Flex die Schädeldecke ausfräsen.

Man hatte mich niedergeschlagen, das war klar. Wer mich niedergeschlagen hatte, war nicht ganz so klar, aber ich würde nicht viel Zeit haben, darüber nachzudenken – jedenfalls weniger als sechs Stunden – wahrscheinlich viel weniger. Jetzt verstand ich, was Durak Bybar gemeint hatte, als er sagte: „Wenn wir jemanden umbringen, machen wir das anders.“

Es musste schon Niedrigwasser gewesen sein, als man mich hierher geschleppt hatte. Wie lange ich im Schlick gelegen hatte, wusste ich nicht, aber derjenige, der das getan hatte, wollte mich nicht nur kurzzeitig außer Gefecht setzen, sondern für immer, und das Ganze würde wie ein Unfall aussehen. Geradezu unausweichlich klar wurde mir nämlich, dass meine Chancen mehr als gering waren. Sehr bald würde hier wieder die Nordsee sein. Ich stand mitten im Meer, es war nur gerade nicht zu Hause. Vielleicht war ich nur ein paar hundert Meter vom Ufer entfernt, aber selbst das hätte nicht viel geholfen. Irgendein archaischer Instinkt sagte mir zwar, dass ich viel weiter von der Küste weg war, aber selbst wenn das Land ganz nahe wäre – drei von vier Richtungen, in die ich gehen konnte, waren mit Sicherheit falsch. Genau genommen gab es noch viel mehr Richtungen, in die ich gehen konnte und von denen waren fünfundneunzig Prozent mehr oder weniger falsch. Ich würde der Flut und damit meinem nassen Grab unausweichlich entgegenspazieren. Wenn das Wasser kam, würde ich die Richtung wissen – zu spät leider. Und selbst wenn ich durch einen aberwitzigen Zufall, Instinkt oder Gottesfügung die einzig richtige träfe, würde mich die Flut immer noch von hinten einholen können.


Während ich all das fröstelnd vor mich hin dachte, begann sich ein alles überdeckendes Gefühl in meiner Magengegend breit zu machen: Angst. Ich merkte wie Adrenalin und ein Haufen anderer Stresshormone durch meine Nervenbahnen gepumpt wurden und meinem Denken Flügel verliehen. Aber diese Flügel schlugen nicht koordiniert, sondern flatterten wild herum. Ich zwang mich, ruhig nachzudenken und vernünftig zu bleiben: Das rettende Ufer, der Deich, musste im Osten sein, denn dies war die Westküste – nur wo war Osten? Ich starrte angestrengt in die neblige Finsternis, um vielleicht ein Licht zu erspähen, nach dem ich mich hätte richten können, aber um mich herum war nur Nebel und Dunkelheit. Ich sah weder Mond noch Sterne. Es gab absolut nichts, woran man sich hätte orientieren können. Ich war verloren.

In diesem Moment fiel mir mein Handy ein. Natürlich! Das Handy! Ha! Ein Gefühl großartiger Erleichterung machte sich breit. Über das Handy würde man mich orten können! Wie oft hatte ich es verflucht, wenn es in den unpassendsten Momenten losjaulte – jetzt würde es meine Rettung sein. Man würde mich orten, man würde Hilfe schicken, man würde mich retten! Hastig tastete ich in den Taschen meiner halb durchweichten Jacke. Wo war das Ding? Mir schoss der angstvolle Gedanke durch den Kopf, wer immer mich niedergeschlagen hatte, könnte es mir abgenommen haben – dann fand ich es. Es war da. Wundervoll. Aber es war nass. Schlecht. Mit einem Stoßgebet zu dem Gott, an den ich bis heute nicht zu glauben behauptet hatte, drückte ich eine Taste – das Display leuchtete auf. In meinem Innern jubilierte ein tausendköpfiger Engelschor. Wen anrufen? Feuerwehr? Polizei? Küstenwache?? Unsinn – Küstenwache! Ich entschied mich für die Polizei. Die würden von ihrer Funkzentrale aus alles zu meiner Rettung Notwendige in die Wege leiten: eins-eins-null – ohne Vorwahl. Das Display zeigte an, dass die Verbindung aufgebaut wurde. Der Engelschor hob zu einem jubelnden Crescendo an. Da erschien das drohend blinkende ‚Akku leer’-Symbol. Gleichzeitig gab das Handy einen warnenden Piepton von sich. Der Engelschor hielt erschreckt inne. ‚Bitte!’, dachte ich, ‚Bitte, bitte!’ Ich presste das Handy ans Ohr und drehte mich so, dass der Wind nicht direkt ins Mikrofon blies. Es rauschte und klingelte am anderen Ende. Ich konzentrierte mich, vergaß die Nässe, vergaß die Kälte und den Kopfschmerz und legte mir genau die Worte zurecht, die ich sagen wollte. Weit entfernt erklang eine Stimme: „Polizei-Notruf ...“

Der Engelschor jubilierte wieder.

„Ich bin im Watt ...“, begann ich, „... alleine. Ich weiß nicht wo, aber ...“ Wieder das hässliche Warnpiepen des Handys.

„Sprechen Sie mal lauter, ich kann Sie so schlecht verstehen – wo sind Sie?!?“, klang es vom anderen Ende. Der Empfang war schlecht.

„Im Watt!!! Irgendwo vor Husum!!!“, brüllte ich. „Sie müssen versuchen, mich über das Handy zu orten! Ich ... Hallo?! – Sind Sie noch ...?“

Das Rauschen war weg, das Display dunkel.

Der Gesang der Engelschöre erstarb. Ich versuchte, das Handy wieder einzuschalten. Es blieb genauso tot, wie ich auch bald sein würde. Aber vielleicht hatte man mich schon geortet und ... Nein, mit Sicherheit hatte man das nicht. Und jetzt würde man es nicht mehr können, weil das Handy aus war.

Ein Gefühl unendlicher Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit bemächtigte sich meiner. Der Schmerz in meinem Kopf kam in hämmernden Impulsen zurück. Ich war so dumm – ich hätte mit der letzten Energiereserve des Akkus eine SMS schreiben sollen, an jemanden, der ein richtiges Telefon hatte. Eine SMS wäre viel besser gewesen, das war mir nun sonnenklar. Aber dafür war es jetzt zu spät.

Ich dachte an die Erzählung „Das Feuer im Schnee“ von Jack London: Sie handelt von einem Trapper, der mit seinem Hund in der winterkalten Einsamkeit Alaskas unterwegs ist. Er hat alles unter Kontrolle, bis er durch eine kleine Unachtsamkeit mit dem Fuß durchs Eis eines zugefrorenen Flusslaufs bricht. Er weiß, dass er schnell ein Feuer machen muss, um seinen Fuß zu trocknen, bevor dieser abfriert. Er reagiert ruhig und besonnen, aber er macht das Feuer unter einem Baum. Das Feuer bringt den Schnee auf einem tief hängenden Ast zum Schmelzen, sodass er herunterfällt und das Feuer löscht. Der Trapper wird nervös, denn seine Zeit wird knapp – genau wie seine Streichhölzer und so reihen sich in der Geschichte winzige Fehler und unglückliche Zufälle aneinander, die schließlich dazu führen, dass der Mann erfriert und der Hund alleine seinen Weg fortsetzt. Ich hatte nicht mal einen Hund. ‚Das war’s dann wohl, Alter’, dachte ich resigniert.


Im Watt kann man sich zum Trübsalblasen und Auf-den-sicheren-Tod-Warten nicht mal hinsetzen, wie beispielsweise im ewigen Eis oder in der Wüste. Also stand ich einfach nur so da – vor Kälte zitternd, alleine, verloren. Der Gedanke ‚Wüste’ führte sofort dazu, dass ich bemerkte, furchtbar durstig zu sein. Mein Mund war trocken und meine Zunge fühlte sich an wie ein aufgedunsenes totes Pelztier. Ich dachte an Seefahrer-Romane: Niemals Salzwasser trinken! Ich lauschte in die Dunkelheit, ob ich es irgendwo plätschern hören könnte, um zu wissen, wo das Wasser war – aber das stete Rauschen des Windes überdeckte fast alle anderen Geräusche. Hier und da gluckste es ein bisschen aus verborgenen Luftblasen im Schlick. Ich fragte mich blödsinnigerweise, wie die auflaufende Flut hier draußen wohl klingen würde? – Es würde nicht mehr allzu lange dauern, dann wüsste ich es. Zu schade, dass ich es niemandem mehr würde erzählen können, außer vielleicht den Krabben, Wattwürmern und all den anderen krabbelnden, schwimmenden und buddelnden Meeresbewohnern, die sicherlich überall um mich herum mit den existenziellen Dingen beschäftigt waren, die ihnen die Evolution zugedacht hatte: Fressen, Scheißen, Sich-Fortpflanzen und sterben. Sterben – das war das Stichwort. Ich würde immerhin eine gehaltvolle Nahrungsquelle für viele kleine und große Krabben und Fische werden und so das große Ziel von allem, den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen, vollenden. Völlig in Ordnung im Grunde – nur der Zeitpunkt passte mir ganz und gar nicht.


Es ist schon seltsam, wie man denkt, wenn man sich in einer Situation wie dieser befindet. Noch lebte ich und eigentlich wäre alles gar nicht so schlimm gewesen. Irgendwo dort im Dunkel, nur wenige Kilometer weg von hier, war meine Wohnung; ein heißes Bad, ein Satz trockene Kleidung und alles wäre wieder gut. Eine Erkältung würde vielleicht zurückbleiben und die Beule – nichts Lebensgefährliches ... Aber unter den gegebenen Umständen würde ich es nicht bis dahin schaffen, sondern demnächst ganz einfach in der kommenden Flut ertrinken. Jemand hatte mir mal erzählt, Ertrinken sei ein besonders unangenehmer Tod – ähnlich wie Ersticken, und dass es am besten wäre, das Wasser gleich tief einzuatmen, um sich nicht lange quälen zu müssen. Ich erinnerte mich auch, einmal gehört zu haben, dass Seefahrer früherer Zeiten oft nicht schwimmen konnten, weil es besser war, gleich zu ertrinken, wenn man über Bord ging, als noch lange sinnlos herumzupaddeln.

Andererseits war das eine Sorte Fatalismus, die mir fernlag. Einfach hier zu bleiben und auf das Wasser zu warten, war keine befriedigende Alternative. Ich wollte leben – und zwar so lange wie möglich. Ich musste loslaufen. Egal wohin. Nur in Bewegung bleiben. Dem Schicksal die allerletzte Möglichkeit abtrotzen, es vielleicht doch noch gut mit mir zu meinen. Außerdem würde mir dann vielleicht etwas wärmer werden. Ich war schon so unterkühlt, dass ich Teile meines Körpers gar nicht mehr spürte. Dafür hatten sich meine Augen inzwischen an die Umgebung gewöhnt und offenbar hatte sich der Nebel auch etwas gelichtet: Ich konnte die glatte, graue, von kleinen Knötchen und Gräben durchzogene Fläche, die mich umgab, im Umkreis von vielleicht zwanzig Metern erkennen. Ich beschloss, so zu gehen, dass ich den Wind im Rücken hatte, denn an der nordfriesischen Küste herrscht meistens Westwind, und wenn das – wie ich hoffte – in dieser Nacht auch so war, würde ich in etwa die richtige Richtung erwischen.


Das Laufen tat gut. Es war zwar mühsam, denn ich versank manchmal tief im Schlick, der mir in die Schuhe quoll und fordernd an ihnen saugte, aber ich tat etwas und durch die körperliche Anstrengung wurde mir tatsächlich wärmer. Die Schmerzen in meinem Kopf pendelten sich zu einem erträglichen dumpfen Puckern ein. Ich durchwatete kleine, zum Teil trockengefallene Priele und großflächige flache Pfützen und kam bald auf eine Sandbank, auf deren festem Grund es sich recht gut gehen ließ, sodass ich wieder Zeit hatte, darüber nachzudenken, wie ich überhaupt hierher gekommen war. Es lag natürlich nahe, dass Durak Bybar mich loswerden wollte. Mit dem Mord hatten er und seine Leute vielleicht wirklich nichts zu tun – jedenfalls nicht unmittelbar – aber Bybar war nichtsdestotrotz ein Gangster und ein ziemlich unangenehmer Mensch dazu. Was er sagte, hatte zwar schlüssig geklungen: Warum hätte er jemanden umbringen sollen, von dem er noch Geld bekommen konnte? Andererseits konnte man dem Mann nicht wirklich über den Weg trauen. Und dann war da noch seine unmissverständliche Warnung, nicht zu mutig zu sein. Vielleicht hatte er sich, nachdem ich die ‚Rote Laterne’ verlassen hatte, überlegt, dass es doch nicht so klug war, einen Journalisten mit dem Wissen über seinen illegalen Spielbetrieb davonkommen zu lassen. Dass ihm mein Besuch nicht recht gewesen war, war jedenfalls so klar wie der Nachthimmel jetzt leider nicht. Und wer käme sonst in Frage, mich niedergeschlagen und hier hinaus geschleppt zu haben? Hans Peter Petersen? – Nein, warum sollte er? Christine Petersen? – Eigentlich auch unwahrscheinlich... Obwohl... Ihr unbekannter Liebhaber? – Nun, der war eben unbekannt. Wenn einer oder mehrere von ihnen mit dem Mord zu tun hatten, war das eventuell Motiv genug, mich loswerden zu wollen. Jedenfalls hatte ich den Verdacht, dass Christine Petersen etwas verschwieg und ich traute ihr durchaus ein gewisses schauspielerisches Talent zu. Immerhin hatte sie jetzt den Reiterhof ganz für sich – sie war die eigentliche Nutznießerin des Mordes an Kai Petersen. Aber wie hing das dann alles zusammen? Oder steckte vielleicht etwas ganz anderes dahinter? Etwas, worauf ich noch gar nicht gekommen war? Hatte mich der Wagen hinter mir vielleicht doch verfolgt, als ich zur Roten Laterne fuhr? Und wenn ja, wer hatte darin gesessen?

Je mehr ich über den Fall nachdachte, desto mehr Fragen und Abgründe taten sich auf.

„Abgründe!“, dachte ich und verlor im selben Moment den Boden unter den Füßen: Ich stolperte und rutschte einen glitschigen Hang hinunter, überschlug mich und stürzte in strömendes Seewasser. Für einen Moment wusste ich nicht mehr, wo oben und unten war, schluckte Wasser, ruderte panisch mit den Armen, versuchte verzweifelt an die Oberfläche zu kommen und spürte Sand an den Händen, während ich von der Strömung mitgerissen wurde. Ich drehte mich, fand mit den Füßen für einen Augenblick Halt und stieß mich mit aller Kraft ab. Mein Kopf tauchte aus dem Wasser. Ich würgte, japste und hustete; versuchte mit den Händen Halt zu finden und griff ins Leere. Strudel zerrten an meinen Beinen. Ich dachte nur daran, den Kopf oben zu behalten und irgendwie hier heraus zu kommen. Mit messerscharfer Klarheit schossen mir in Sekundenbruchteilen alle Optionen durch den Kopf: Ich war in einen Priel gestürzt; einen breiten und ziemlich tiefen Priel. Die Strömung trieb mich entweder in Richtung Land – oder – viel schlimmer – zog mich in Richtung der offenen See – je nachdem, ob noch Ebbe oder schon Flut war. Wohin auch immer – ich musste sofort hier heraus.

Ich kämpfte gegen das strudelnde Wasser um mich, erreichte irgendwie den Rand des Priels, krallte mich mit Armen und Beinen in den Sand, wurde aber immer wieder weggerissen. Meine physischen Kräfte schienen sich verzehnfacht zu haben. Ich dachte an nichts mehr. Ich war nur noch Arme und Beine, Muskeln und Sehnen, die versuchten, den ganzen schwabbeligen Rest zu retten. Plötzlich stieß ich an etwas Großes, Festes. Mit den Reflexen eines Gibbons umfassten meine Arme es und hielten es fest. Aber meine Kräfte schwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Ich krabbelte, robbte, kroch mit einer letzten Anstrengung aus dem reißenden Wasserstrom, der mich nicht freigeben zu wollen schien. Wie durch ein Wunder schaffte ich es. Schwer atmend und erschöpft blieb ich liegen, den Gegenstand, der mich gerettet hatte, umschlingend wie ein Schiffbrüchiger die Planke, auf der er schwimmt.

Wie lange das alles dauerte und wie lange ich so lag, kann ich nicht mehr sagen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wahrscheinlich waren es nur wenige Minuten, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit.


Als ich wieder aufblickte, bemerkte ich, dass es anfing zu dämmern. Dunst hing über der unendlich scheinenden ebenen Fläche des Watts. Im Osten begann fahles zartrosa Morgenlicht zu schimmern und ich konnte zum ersten Mal in meinem Leben das Wort ‚Hoffnungsschimmer’ ermessen. Wenn ich in Richtung der aufgehenden Sonne ging, musste ich früher oder später die Küste erreichen. Ich war zwar völlig durchnässt und erschöpft, aber ich lebte und das gab mir neue Kraft. Ich war dem Blanken Hans fürs Erste noch mal aus der Badewanne gesprungen – fragte sich nur, für wie lange. Und ich konnte jetzt wieder etwas sehen, wenn auch der Dunst den Blick in die Ferne verschleierte:

Ich lag am Rand des circa acht Meter breiten Priels, der in einem Bogen das Watt durchschnitt und in dem das Wasser der Nordsee toste, als wolle es seiner Wut, in dieser Rille eingepfercht zu sein, Ausdruck geben. Es toste in Richtung des Sonnenaufgangs, was bedeutete, dass die Flut längst eingesetzt hatte.

Der Gegenstand, der mir das Leben gerettet hatte, war offenbar aus Metall, halb im Sand vergraben und sah auf den ersten Blick aus, wie eine große Boje. An dem sich nach oben verjüngenden, aus dem Sand ragenden Teil des zylindrischen Gegenstandes befand sich eine Art Halterung. Das Ganze war beinahe flächendeckend mit Muscheln und Algen bewachsen, aber an manchen Stellen schimmerte es in einer für Bojen eher unüblichen Farbe: es schimmerte golden. Und jetzt erkannte ich auch Strukturen von Ornamenten. Dieses Ding war keine Boje – es war ... eine Glocke! Eine goldene Glocke. Für eine über Bord gegangene Schiffsglocke war sie aber viel zu groß. Dies war eine Kirchenglocke. Ich begann, sie mit zitternden Händen frei zu graben. Mein Herz schlug schneller, denn jeder, der hier an der Küste lebt, kennt sie, die Geschichte der sagenhaften Stadt Rungholt, die angeblich wegen der Gotteslästerlichkeit ihrer Bewohner von der Flut geholt wurde und bei der „Groten Mandränke“, einer ungeheuren Orkanflut im Jahre des Herren 1362, mitsamt allen Menschen, die dort lebten, für immer in der Nordsee versank. Ein nordfriesisches Babylon und Atlantis gleichermaßen. Und manchmal, in stürmischen Nächten, heißt es in der Sage von Rungholt, läuten die goldenen Glocken der untergegangenen Stadt am Meeresboden. Tatsache ist wohl, dass es einst eine kleine Handelsstadt namens Rungholt gegeben hat und es stimmt auch, dass sie während der erwähnten großen Flut unterging, aber der aktuellen Forschung zufolge war Rungholt keine reiche Metropole des Nordens mit goldenen Palästen, sondern ein ziemlich normaler mittelalterlicher Fischer- und Handelsort. Man hatte südlich der Hallig Südfall nur noch wenige Reste der Siedlung gefunden, von denen ein Teil im Nissenhaus – dem Husumer Heimatmuseum (5) – ausgestellt ist, jedoch keine der sagenhaften Glocken. Sollte dies eine von ihnen sein? – Das wäre eine Sensation, ein archäologischer Fund von unschätzbarem Wert. Dass sie einem gotteslästerlichen Menschen wie mir das Leben gerettet hatte, passte irgendwie zu der Geschichte.

Vor lauter Überraschung und Begeisterung hatte ich beinahe vergessen, in welcher Lage ich mich befand, aber das wurde mir jetzt alarmierend in Erinnerung gerufen, denn das Wasser im Priel war schon wieder ein ganzes Stück gestiegen, spülte bereits die von mir gegrabenen Löcher an der Glocke wieder zu und würde bald den Wattrücken erreichen und überfluten. Ich musste mich beeilen. Und die Glocke? – Mitnehmen konnte ich sie nicht und da ich nicht wusste, wo genau ich war, gab es auch keine sichere Möglichkeit, mir zu merken, wo sie lag. Es war tragisch – ich hatte vermutlich eine der größeren Entdeckungen der jüngeren nordfriesischen Geschichte gemacht. Eine weitere Titelstory; eine, die Erlmeier vermutlich vor Wut würde aufheulen lassen und einige andere Leute auch; eine, die international vermarktbar war – aber es nutzte mir überhaupt nichts.

Bis jetzt hatte ich halb im Sand gekauert und als ich mich nun aufzurichten versuchte, wurde mir schwarz vor Augen. Ich hatte kaum noch Kraft, mich auf den Beinen zu halten. Im Grunde genommen wusste ich nicht mal genau, ob meine Beine überhaupt noch da waren. Ich war wie eine Gummipuppe, der man das Drahtskelett herausgezogen hat. Aber die Flut leckte an meinen Füßen und das trieb mich vorwärts. Ich stellte fest, dass ich einen meiner Schuhe verloren hatte, zog den anderen auch aus und warf ihn weg. Sehr wahrscheinlich würde ich nie wieder Schuhe brauchen.


Ich taumelte mehr als ich ging, der Sonne entgegen, die sich jetzt im Dunst am östlichen Horizont erhob und diesen Teil des Himmels in flammendes Orangerot und schimmerndes Violett tauchte. Unter anderen Umständen hätte ich innegehalten und diesen wundervollen Anblick genossen, aber im Moment war mir nicht danach. Ich spähte durch den Dunst in der Hoffnung, Land zu sehen, aber vor mir war nur das im aufkommenden Sonnenlicht wie eine durchbrochene Spiegelfläche glänzende, bizarre Muster des Watts.

Wie eine Maschine schleppte ich mich mit halb geschlossenen Augen vorwärts, dem Priel folgend. Hier und da huschten Krabben über meinen Weg. Wenn ich mich tatsächlich südlich der Hallig Südfall befand, dann war ich gute sechs Kilometer von der Küste Nordstrands, der großen Halbinsel vor Husum entfernt. Sechs Kilometer! Ich blickte mich um und sah, dass die Schlangenlinie meiner Spur schon vom auflaufenden Wasser verschluckt worden war. Ich war viel zu langsam. Ich würde es nicht schaffen. Es sei denn, es gelänge mir, die Hallig zu finden.

Ich blickte um mich herum, aber durch den Dunst konnte man höchstens zweihundert Meter weit sehen und in meinem Sichtfeld hob sich nirgends die rettende Wölbung einer Hallig oder Warft von der Ebene ab. Also trottete ich weiter, wie lange, weiß ich nicht; vielleicht eine, vielleicht zwei Stunden. Auch als das Wasser begann, meine Knöchel zu umspülen, die Flut mich also überholt hatte, lief ich weiter; bis ich fiel. Ich schlug einfach lang hin. Nicht plötzlich, sondern langsam – wie in Zeitlupe. Wie eine liebende Mutter zog mich die Schwerkraft an ihre Brust und ich klatschte in das flache Wasser. Ich wehrte mich nicht dagegen – es war beinahe angenehm. Ich gab mich dem Meer hin und es fühlte sich an meinem ausgekühlten Körper warm an. Ich würde aufgeben. Es hatte keinen Sinn mehr, sich zu wehren. Es war vorbei.

Ich hatte schon längere Zeit den Verdacht gehabt, ein Verlierer zu sein – seit ich von der goldenen Leiter des Top-Journalismus gefallen war spätestens. Auch vorher hatte es schon reichlich Indizien gegeben, und nun manifestierte es sich endgültig. Ich hob den Kopf, um Atem zu holen und noch einen Blick in die aufgehende Sonne zu werfen, die ich heute zum letzten Mal sehen würde. Über mir flogen Möwen elegante Kreise und ihre gackernden Rufe klangen, als lachten sie mich aus. Eine landete direkt vor mir und sah mich aus ihren kleinen schwarzen Vogelaugen interessiert an. Sie sah ein bisschen aus, als hätte sie Mitleid mit mir, aber wahrscheinlich taxierte sie nur meinen Nährwert. Ich blinzelte. Hinter der Möwe, vielleicht hundert Meter entfernt, ragte etwas auf, das aussah wie ein Monsterinsekt oder eine völlig überdimensionierte mutierte Krabbe. Ich überlegte, ob es im Watt so etwas wie Fata Morganas gibt – soweit ich wusste, war das nicht der Fall. Es war natürlich trotzdem möglich, dass ich vor Entkräftung schon halluzinierte, dass das Schicksal mich gnädig mit Wahnsinn schlug, um mir die Todesqualen zu erleichtern. Ich kniff die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können und jetzt erkannte ich das Ding als das, was es war: Ein Prielbagger. Manchmal wurden diese Baumaschinen zur Vertiefung der Schifffahrtswege im Watt stehen gelassen, wenn das Meer an der Stelle auch bei Hochwasser flach genug war, sie nicht zu überspülen. „Flach genug, sie nicht zu überspülen!“, echote es in meinem halb bewusstlosen Hirn. Ich robbte vorwärts.



Fußnote:

(5) Jetzt Nordseemuseum

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